decision_id
stringlengths 36
36
| language_id
int64 1
3
| chamber_id
int64 78
84
| file_id
int64 1.33M
1.49M
| date
int64 -504,921,600,000
1,666B
⌀ | topic
stringclasses 1
value | year
float64 1.95k
2.02k
| language
stringclasses 3
values | facts
stringlengths 0
31.3k
| facts_num_tokens_bert
int64 2
9.03k
| facts_num_tokens_spacy
int64 0
6.27k
| considerations
stringlengths 0
133k
| considerations_num_tokens_bert
int64 2
56.3k
| considerations_num_tokens_spacy
int64 0
22.1k
| rulings
stringlengths 0
175k
| rulings_num_tokens_bert
int64 2
42.6k
| rulings_num_tokens_spacy
int64 0
27.8k
| chamber
stringclasses 7
values | court
stringclasses 1
value | canton
stringclasses 1
value | region
stringclasses 1
value | file_name
stringlengths 26
37
| html_url
stringlengths 393
402
| pdf_url
stringclasses 1
value | file_number
stringlengths 10
15
|
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
ebbd4374-51db-436a-8ec4-04f4f4e8f296 | 1 | 82 | 1,337,232 | null | 2,024 | de | Sachverhalt
ab Seite 111
BGE 127 III 111 S. 111
Am 29. Dezember 1999 und 3. Januar 2000 nahm das Betreibungsamt X. für Mietzinsforderungen der Y. AG gegenüber der Z. AG von Fr. 20'060.- in den gemieteten Räumlichkeiten eine Retentionsurkunde auf. Im Verlaufe des Vollzugs der Retention liess das Betreibungsamt das Schloss der Eingangstüre zu den erwähnten
BGE 127 III 111 S. 112
Räumlichkeiten auswechseln, den Schliesszylinder des direkt in die Räume führenden Warenlifts entfernen und die Türe zum Lift mit einem Stahlkabel absperren. Erst später wurde im Sinne von
Art. 283 Abs. 3 SchKG
die Betreibung eingeleitet.
Das Betreibungsamt nahm in die für den Vollzug der Retention erstellte Kostenrechnung (Totalbetrag: Fr. 1'626.40) unter anderem Fr. 217.70 als "Kosten Schlüsseldienst" auf.
Mit Eingabe vom 19. Januar 2000 erhob die Z. AG beim Bezirksgericht als unterer kantonaler Aufsichtsbehörde in Schuldbetreibungs- und Konkurssachen Beschwerde und verlangte, es sei festzustellen, dass das Vorgehen des Betreibungsamtes bei der Vornahme der Retention unzulässig gewesen sei, und die Position "Kosten Schlüsseldienst" der im Retentionsverzeichnis enthaltenen Kostenrechnung zu streichen.
Das Bezirksgericht hiess die Beschwerde am 18. September 2000 teilweise gut und wies das Betreibungsamt an, die Kostenrechnung um Fr. 169.30 zu kürzen. Zur Begründung erklärte es, das vom Amt angeordnete Auswechseln der Schliesszylinder sei unzulässig gewesen und die durch diese Vorkehr verursachten Kosten dürften daher nicht der Retentionsschuldnerin überbunden werden.
Den vom Betreibungsamt erhobenen Rekurs wies das Obergericht (II. Zivilkammer) des Kantons Zürich als obere kantonale Aufsichtsbehörde durch Beschluss vom 16. November 2000 ab, soweit darauf einzutreten war.
Hiergegen ist das Betreibungsamt an die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer des Bundesgerichts gelangt, die die Beschwerde abweist, soweit darauf einzutreten ist. | 444 | 311 | Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Im Gegensatz zum Obergericht ist das beschwerdeführende Betreibungsamt unter Berufung auf die Bestimmungen von
Art. 98 Abs. 1 und 3 SchKG
der Ansicht, es sei befugt gewesen, im Sinne einer Sicherungsvorkehr die strittige Auswechslung der Türzylinder anzuordnen; die Retentionsschuldnerin habe daher die damit verbundenen Kosten zu ersetzen.
a) In
Art. 98 SchKG
sind besondere Vorkehren zur Sicherung beweglicher Pfändungsobjekte vorgesehen. So hat das Betreibungsamt Geld, Banknoten, Inhaberpapiere, Wechsel und andere indossable Papiere wie auch Edelmetalle und andere Kostbarkeiten, die es mit Pfändungsbeschlag belegt, in Verwahrung zu nehmen (
Art. 98 Abs. 1 SchKG
). Die gleiche Massnahme trifft es bei anderen
BGE 127 III 111 S. 113
Gegenständen, wenn es dafür hält, sie erscheine zur Sicherung der durch die Pfändung begründeten Rechte als geboten (
Art. 98 Abs. 3 SchKG
). Nach einem schon wenige Jahre nach Inkrafttreten des Schuldbetreibungs- und Konkursgesetzes gefällten Urteil der erkennenden Kammer kommt eine sinngemässe Anwendung dieser pfändungsrechtlichen Bestimmungen auf das Retentionsverfahren (
Art. 283 SchKG
) erst von dem Zeitpunkt an in Frage, da dieses Verfahren in ein Stadium getreten sei, das sich der Pfändung in der gewöhnlichen Betreibung gleichstellen lasse. Davon könne erst gesprochen werden, wenn die Forderung, deren Befriedigung aus den Retentionsobjekten angestrebt werde, in Betreibung gesetzt, das Zwangsvollstreckungsverfahren also eingeleitet sei (
BGE 29 I 71
E. 2 S. 74).
In einem Entscheid der Aufsichtsbehörde des Kantons Bern vom 6. Mai 1949 (veröffentlicht in: BlSchK 1952 S. 90 ff., insbes. S. 91, E. 2) und in der Literatur wird die Meinung vertreten, eine Verwahrung der mit Retentionsbeschlag belegten Gegenstände durch das Betreibungsamt sei unzulässig, solange (in der Prosequierungsbetreibung auf Pfandverwertung) nicht ein allfälliger Rechtsvorschlag beseitigt bzw. das Verwertungsbegehren gestellt worden sei (JAEGER, Kommentar zum SchKG, Zürich 1911, N. 6 zu Art. 283, S. 346; JAEGER/DAENIKER, Schuldbetreibungs- und Konkurs-Praxis der Jahre 1911-1945, N. 2 zu Art. 98 und N. 6 zu Art. 283, S. 472; OTTO STUDER, Die betreibungsamtlichen Funktionen im Retentionsverfahren für Miet- und Pachtzinsforderungen, in: BlSchK 1952 S. 167; vgl. auch ERNST BLUMENSTEIN, Handbuch des Schweizerischen Schuldbetreibungsrechts, S. 537 unten, und PIERRE-ROBERT GILLIÉRON, Commentaire de la loi fédérale sur la poursuite pour dettes et la faillite, N. 20 zu Art. 98, die sich darauf beschränken, auf
BGE 29 I 71
ff. zu verweisen). Vorbehalten werden Fälle, in denen gegen den Mieter eine vollstreckbare Ausweisungsverfügung vorliegt (vgl. den erwähnten Entscheid der Aufsichtsbehörde des Kantons Bern, in: BlSchK 1952 S. 91 f., E. 2; FRITZSCHE/WALDER, Schuldbetreibung und Konkurs nach schweizerischem Recht, 3. Aufl., II. Bd., § 63 Rz. 23; SCHNYDER/WIEDE, Kommentar zum SchKG, N. 62 zu Art. 283). Ebenso wird unter Berufung auf
BGE 37 I 556
die Möglichkeit einer amtlichen Verwahrung im Hinblick auf einen in Analogie zu
Art. 124 Abs. 2 SchKG
durchzuführenden Verkauf rasch verderblicher oder hohe Unterhaltskosten verursachender Sachen erwähnt (FRITZSCHE/WALDER, a.a.O.; GILLIÉRON, a.a.O.; SCHNYDER/WIEDE, a.a.O.).
BGE 127 III 111 S. 114
b) Ein Sonderfall mit Dringlichkeitscharakter der angeführten Art liegt hier nicht vor, so dass dahingestellt bleiben mag, von welchem Stadium des Retentionsverfahrens an eine amtliche Verwahrung der mit Beschlag belegten Gegenstände bei einem solchen Fall als zulässig zu erachten wäre. Für den Normalfall ist daran festzuhalten, dass eine sinngemässe Anwendung von
Art. 98 SchKG
erst dann in Betracht fällt, wenn ein Verfahrensstand erreicht ist, der sich bei der Betreibung mit demjenigen der Pfändung vergleichen lässt. Von der Anerkennung des Zahlungsbefehls abgesehen, darf die Pfändung erst vollzogen werden, nachdem der Rechtsvorschlag beseitigt worden ist, mit andern Worten nach einer (wenn auch im Falle der provisorischen Pfändung nicht abschliessenden) Prüfung des Bestandes der der Betreibung zugrunde liegenden Forderung durch den Richter. Das Gleiche hat im Falle der Aufnahme eines Retentionsverzeichnisses bezüglich der Prosequierungsbetreibung zu gelten. Auch hier kommt
Art. 98 SchKG
mithin erst nach Beseitigung eines allfälligen Rechtsvorschlags zum Tragen.
c) Der vom beschwerdeführenden Betreibungsamt angestellte Vergleich mit dem Arrest geht fehl: Wohl ist die Aufnahme eines Retentionsverzeichnisses in gewisser Hinsicht dem Arrestvollzug ähnlich. Indessen beruht dieser auf einem Arrestbefehl, der im Anschluss an eine wenn auch bloss summarische Prüfung des Bestandes der geltend gemachten Forderung durch den Richter, d.h. einer vom Betreibungsbeamten unabhängigen Instanz, erlassen wird (
Art. 272 Abs. 1 Ziff. 1 und
Art. 274 Abs. 1 SchKG
). Hinzu kommt, dass der vom Arrest Betroffene beim Arrestrichter sofort Einsprache erheben kann (
Art. 278 SchKG
). Im Gegensatz zum Fall der Aufnahme eines Retentionsverzeichnisses sieht das Gesetz (
Art. 275 SchKG
) schliesslich ausdrücklich vor, dass beim Arrestvollzug neben anderen Bestimmungen des Pfändungsrechts auch
Art. 98 SchKG
sinngemäss anwendbar ist.
4.
Mit dem Auswechseln der Türschlösser hat das Betreibungsamt bewirkt, dass von der Retentionsschuldnerin ermächtigte Personen am freien Zugang zu den retinierten Gegenständen gehindert wurden. Im Ergebnis kommt seine Vorkehr einer amtlichen Verwahrung gleich. Da die Massnahme schon vor Einleitung der Betreibung zur Prosequierung des Retentionsverfahrens angeordnet wurde, war sie nach dem Gesagten unzulässig, und es geht deshalb nicht an, die mit ihr verbundenen Auslagen der Retentionsschuldnerin zu überbürden. Die Beschwerde ist daher unbegründet. | 1,424 | 1,024 | 2 | 0 | CH_BGE_005 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_005_BGE-127-III-111_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=27&from_date=&to_date=&from_year=2001&to_year=2001&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=270&highlight_docid=atf%3A%2F%2F127-III-111%3Ade&number_of_ranks=284&azaclir=clir | BGE_127_III_111 |
|||
ebda2e77-147c-4e1e-bfe7-678b98b38823 | 3 | 80 | 1,349,183 | null | 2,024 | it | Sachverhalt
ab Seite 350
BGE 104 Ib 348 S. 350
Per l'acquisto del terreno necessario alla costruzione della Strada nazionale N. 2 dal km 47.880 al km 55.039 in territorio dei Comuni di Camorino, Giubiasco, Sementina, Montecarasso e Bellinzona, lo Stato del Cantone Ticino ha deciso di procedere in via espropriativa. La procedura fu dichiarata aperta con decreto del 17 ottobre 1967 dal Presidente della Commissione federale di stima (CFS) del 7o circondario (ora circondario 13). Essa concerne anche numerosi fondi del Consorzio correzione Fiume Ticino. La notificazione delle pretese avvenne il 16 novembre 1967 e l'immissione in possesso fu accordata dal Consorzio all'udienza di conciliazione del 12 gennaio 1968. Poi la procedura fu sospesa perché le parti intendevano trattare direttamente. Fallita l'intesa, una nuova udienza di conciliazione e di stima fu tenuta il 2 dicembre 1974: si convenne che le parti avrebbero esposto le rispettive tesi e domande in due allegati scritti.
Nella memoria del 30 gennaio 1975, lo Stato asseriva che, in virtù della legge cantonale sui consorzi del 21 luglio 1913 (LCons), il Consorzio, il cui scopo è quello di costruire opere di premunizione, non può legittimamente esser proprietario che di beni amministrativi. Ammetteva invero che terreni sottratti
BGE 104 Ib 348 S. 351
al pubblico demanio con opere di premunizione diventano per legge proprietà del Consorzio, ma rilevava che quest'ultimo li può cedere di regola solo a consorziati, e che per l'eccezionale vendita a terzi occorre il consenso del Consiglio di Stato. Ne deduceva che il patrimonio finanziario del Consorzio si è formato in contrasto con la legge, sia pure con l'approvazione del Governo. Da codeste premesse veniva tratta la conclusione che il Consorzio non potesse in espropriazione richiedere indennità superiore al valore che i fondi avevano avuto prima dell'esecuzione delle opere di premunizione, oltretutto largamente sussidiate da Cantone e Confederazione, e che, ove in origine si fosse trattato di letto di fiume, nessun indennizzo fosse dovuto dallo Stato per l'espropriazione. Lo Stato rilevava inoltre di aver provveduto, con la costruzione della Strada nazionale, ad opere di arginatura nuove ed alla sistemazione di rialzi laterali, con corrispondente sgravio del Consorzio e chiedeva che, in applicazione diretta o almeno analogica dell'
art. 20 cpv. 2 LEspr
., codesti vantaggi si imputassero. Lo Stato concludeva pertanto che - tenuto conto di un volontario pagamento di Fr. 208 000.- effettuato senza pregiudizio - fosse riconosciuto che nessuna indennità era dovuta dall'espropriante. Nella risposta del 5 marzo 1975, il Consorzio rilevava che, in virtù della legge, è determinante il valore venale; che un'espropriazione delle opere di premunizione è possibile solo se vengono adottati dall'espropriante gli opportuni provvedimenti sostitutivi, e che anche in questi casi, ricorrendo determinate circostanze, l'espropriato ha diritto ad un indennizzo giusta l'
art. 16 LEspr
.; che per gli altri terreni l'esproprio obbedisce alle regole normali. Dopo aver sottolineato che nessuna disposizione legale obbliga un consorzio a cedere allo Stato terreni per la costruzione delle strade nazionali gratuitamente o a condizioni preferenziali, l'espropriato contestava nei particolari le allegazioni e argomentazioni dello Stato.
La CFS si è pronunciata con decisione del 14 maggio 1976. Dopo aver rilevato che il Consorzio è proprietario di fondi destinati ad adempiere lo scopo consortile e di fondi che a tale scopo non servono direttamente, che questi ultimi debbono - ai fini espropriativi - essere assimilati ai beni patrimoniali di un ente pubblico, e che l'
art. 20 cpv. 2 LEspr
. non era applicabile in casu nei confronti del Consorzio, la Commissione è passata all'esame delle singole particelle espropriate; in particolare, ha negato ogni indennità per i fondi destinati a suo giudizio
BGE 104 Ib 348 S. 352
al raggiungimento dei fini consortili, quali gli argini, le golene, ecc., eccezion fatta tuttavia per gli alberi delle piantagioni.
Tanto il Consorzio, quanto l'ente espropriante hanno impugnato la decisione della CFS con tempestivo ricorso di diritto amministrativo. Per quanto concerne le questioni di principio che qui interessano, i gravami portano in sostanza sul trattamento dei fondi di proprietà consortile nell'ambito della procedura espropriativa, in special modo sui criteri che debbono applicarsi alla determinazione delle indennità, nonché sull'eventuale applicazione degli
art. 60 e 20 cpv. 2 LEspr
.
Decidendo con sentenza parziale le suddette questioni di principio, il Tribunale federale ha respinto il ricorso dello Stato nella misura in cui chiedeva l'annullamento puro e semplice della decisione impugnata con o senza rinvio degli atti alla CFS, ed ha stabilito che l'istruttoria di causa sarebbe continuata per quanto concerne le valutazioni dei singoli fondi espropriati. | 1,772 | 848 | Erwägungen
Considerando in diritto:
2.
Il primo quesito concerne i fondi di proprietà del Consorzio che non costituiscono opere di arginatura e non servono quindi direttamente all'adempimento degli scopi perseguiti dalla corporazione.
a) Oggetto dell'espropriazione a' sensi dell'
art. 5 LEspr
. possono essere, in linea di principio, anche i diritti costituiti sopra fondi usati per scopi di pubblica utilità: ciò risulta espressamente dall'
art. 7 cpv. 1 LEspr
. Per l'applicabilità di questo disposto, è indifferente che i fondi da espropriare siano di proprietà pubblica o privata, e a chi tale proprietà appartenga. Determinante è esclusivamente, secondo la volontà del legislatore, la destinazione dei fondi, cioè lo scopo d'interesse pubblico ch'essi servono (cfr. Boll. sten. CN 1928, pag. 616; F. HESS, Enteignungsrecht des Bundes, ad
art. 7 LEspr
., ni. 1 e 2, pag. 21; v. inoltre,
DTF 104 Ib 337
e segg.). Se i fondi servono al perseguimento di un fine di pubblica utilità, la loro espropriazione è subordinata alla possibilità per l'espropriante di adottare quei provvedimenti sostitutivi che la legge riserva al cpv. 1 dell'art. 7 e menziona nel cpv. 2 della stessa disposizione (Boll. sten. CN 1928, pag. 597; HESS, op.cit., ad
art. 7 LEspr
., n. 5, pagg. 24/25; per le strade nazionali, cfr. inoltre gli art. 42 e 43
BGE 104 Ib 348 S. 353
della relativa legge dell'8 marzo 1960 - LSN). Su tali provvedimenti non statuisce la CFS, ma l'autorità amministrativa chiamata a pronunciarsi sulle opposizioni (cfr.
art. 35 lett. b e 55 cpv. 1 LEspr
.; HESS, op.cit., ad
art. 7 LEspr
., ni. 36/39, pagg. 31/32) e, in materia di strade nazionali, dato che il procedimento di opposizione è disgiunto da quello d'espropriazione e lo precede (
art. 39 cpv. 2 LSN
; cfr.
DTF 104 Ib 32
consid. 3b;
DTF 99 Ib 204
consid. 1 e riferimenti), l'autorità chiamata ad approvare i progetti esecutivi (
art. 27 cpv. 2 LSN
).
b) La categoria di fondi ora in discussione non è adibita direttamente al conseguimento dei fini di utilità pubblica perseguiti dal Consorzio. L'adozione di provvedimenti sostitutivi ai sensi dell'art. 7 cpv. 2 non è quindi neppure configurabile. Ciò stante, non può porsi nemmeno il problema di sapere se e quali conseguenze l'esecuzione di misure previste all'
art. 7 cpv. 2 LEspr
., imposta all'espropriante, possa o debba avere per riguardo all'indennità dovuta all'espropriato.
A giusta ragione la Commissione ha pertanto ritenuto che questi fondi di proprietà del Consorzio debbono esser trattati alla stessa stregua di quelli che costituiscono il patrimonio finanziario di un ente pubblico. L'indennità dovuta deve commisurarsi seguendo il principio ancorato nell'
art. 16 LEspr
. ed i criteri specificati negli art. 19 e 20 della stessa legge.
c) A torto, nel ricorso, l'espropriante rimprovera alla CFS di non aver seguito, cadendo in un diniego di giustizia, la procedura prevista dall'
art. 69 LEspr
. Tale disposizione si applica infatti nei casi in cui l'espropriante contesti l'esistenza del diritto per il quale l'espropriato chiede un'indennità. Le premesse per l'applicazione dell'
art. 69 LEspr
. non sono date in casu: non solo l'espropriante non contesta che il Consorzio sia proprietario dei fondi in questione, ma anzi l'ha riconosciuto, includendo quest'ente nelle tabelle di espropriazione.
d) L'espropriante vuol tuttavia sostenere che, in virtù del diritto cantonale, il Consorzio sarebbe tenuto a cedergli i fondi suddetti a condizioni particolari, anzi a titolo gratuito.
Certo, la legislazione cantonale può prevedere che determinati enti pubblici, segnatamente comuni o corporazioni, siano astretti a mettere gratuitamente a disposizione fondi o materiali di loro proprietà per l'esecuzione di opere pubbliche (v. ad es. l'art. 20 della legge stradale del Cantone dei Grigioni del
BGE 104 Ib 348 S. 354
3 marzo 1957; cfr. in proposito la sentenza inedita del 17 novembre 1971 in re Comune di Susch c. Piccolo Consiglio grigionese, in part. consid. 4). Un simile obbligo, statuito dal diritto cantonale, costituisce una contribuzione in natura ed è suscettibile di rendere superflua la procedura espropriativa. Spetta tuttavia all'autorità cantonale competente decidere circa l'esistenza e la portata d'un tale obbligo, ed una procedura espropriativa fondata sul diritto federale sarà in simili casi aperta solo dopo che l'autorità cantonale avrà riconosciuto l'insussistenza dell'obbligo di cessione fondato sul diritto cantonale (v.
DTF 27 I 467
segg., in part. 473; HESS, op.cit., ad
art. 7 LEspr
. n. 3b, note 11 e 12, pagg. 25/26). Ma, come giustamente ha rilevato la CFS, non ci si trova qui in un caso del genere: lo Stato del Cantone Ticino non ha fatto capo ad alcuna procedura fondata sul diritto cantonale, ma è invece ricorso immediatamente alla procedura espropriativa prevista dal diritto federale. Ora, l'ente pubblico che, munito del potere d'espropriazione del diritto federale (
art. 1, 2, 3 LEspr
.;
art. 39 cpv. 1 LSN
; cfr.
DTF 104 Ib 31
consid. 3b), lo esercita, come in casu ha fatto il Cantone, deve farlo nei modi, nelle forme e con le conseguenze che la legge federale d'espropriazione comporta, e la CFS non ha da esaminare se, seguendo altre vie, il Cantone sarebbe potuto pervenire allo stesso risultato in modo più economico, così come non ha da esaminare se, in virtù dei suoi poteri di vigilanza sui consorzi, il Cantone sia per avventura in grado di influire sulla destinazione che il Consorzio vorrà dare all'indennità d'espropriazione versatagli.
e) D'altronde, come osservato dalla Commissione, le disposizioni del diritto cantonale invocate dallo Stato non contraddirebbero comunque, se si volesse tenerle in considerazione, questo risultato. Disponendo all'art. 24 cpv. 1 LCons che la corporazione consortile - riservate eccezioni che qui non interessano - diventa proprietaria di "tutti i terreni conquistati che prima erano letto di fiume, torrente o corso d'acqua o lago", la legge stessa ha consentito la formazione di patrimonio finanziario dei consorzi. Contrariamente a quanto sembra sostenere lo Stato, tale conclusione non è smentita, ma confermata dal par. 2 dello stesso capoverso. Il fatto che la legge imponga che la realizzazione di questo patrimonio (senza peraltro, come giustamente rileva la CFS, fissarne il momento) avvenga nelle vie della licitazione fra i consorziati, e che essa esiga
BGE 104 Ib 348 S. 355
per la vendita eccezionale ai confinanti il consenso del Consiglio di Stato, significa che il legislatore ha voluto assicurare al consorzio un introito quanto più possibile prossimo al valore venale dei fondi alienandi, e che tale introito deve servire al finanziamento degli oneri del consorzio. Il riferimento ai disposti della legge cantonale non fa quindi che confortare il risultato cui porta l'applicazione della legge federale.
3.
Il secondo quesito concerne quei fondi (argini, canali, golene) che servono immediatamente allo scopo d'utilità pubblica perseguito dal Consorzio, e costituiscono pertanto indubbiamente patrimonio amministrativo.
a) Codeste opere pubbliche sono state sostituite dallo Stato con la costruzione delle strade nazionali. Sull'adeguatezza di tale sostituzione, che poteva formar oggetto di contestazione in sede di approvazione dei progetti esecutivi (cfr. sopra, consid. 2a), la CFS non aveva da pronunciarsi per mancanza di competenza. Neppure il Tribunale federale, che non è stato adito a suo tempo con ricorsi di diritto amministrativo volti contro l'approvazione del progetto esecutivo (cfr.
art. 28 LSN
; 5 PA; 97, 98 lett. g, 99 lett. c e 115 OG), deve occuparsene in questa sede.
Nemmeno è da statuire in questa sede su un eventuale riparto della spesa tra gli interessati a' sensi degli
art. 45 e 47 cpv. 2 LSN
e 116 lett. k OG (cfr. sul tema,
DTF 96 I 485
segg.;
DTF 97 I 706
segg.).
b) L'incompetenza della Commissione a pronunciarsi circa le misure sostitutive richieste dall'
art. 7 cpv. 2 LEspr
. e, per il caso specifico delle strade nazionali, dall'
art. 42 cpv. 2 LSN
, non trae però seco anche l'incompetenza a pronunciarsi sul problema di sapere se la sostituzione delle opere di premunizione soppresse, ordinata nei progetti esecutivi, esaurisca nel concreto caso ogni pretesa di risarcimento dell'espropriato nella procedura espropriativa, oppure se, nonostante questa sostituzione, sussista ancora un pregiudizio risarcibile. La competenza ed il dovere della CFS di pronunciarsi in proposito sono espressamente ancorate nell'art. 64 cpv. 1 lett. c LEspr., secondo il quale la Commissione statuisce "sulle domande di indennità derivanti dall'obbligo di tutelare l'interesse pubblico e quello dei fondi vicini (art. 7)" (HESS, op.cit., ad
art. 7 LEspr
., ni. 3 e 39, pagg. 24 e 32). Tale competenza di principio stabilita dalla LEspr. non è toccata né modificata dalla LSN, che s'è limitata
BGE 104 Ib 348 S. 356
a disgiungere il procedimento di opposizione da quello di espropriazione, ed a limitare quest'ultimo al trattamento delle domande di indennità (cfr. sopra, consid. 2a in fine).
c) La Commissione di stima non ha d'altronde disatteso questo problema di principio, sì vero che essa, pur negando ogni risarcimento per il terreno delle golene espropriate, ha concesso un indennizzo per i pioppi che vi si trovavano. Essa ha ammesso pertanto che i fondi espropriati, oltre a costituire patrimonio amministrativo, erano almeno in linea di principio suscettibili di assicurare al Consorzio anche certe entrate finanziarie. Nel suo gravame, lo Stato non critica d'altronde la corresponsione di queste indennità. Se ne deve dedurre che la pretesa del Consorzio di ottenere un indennizzo anche per le golene, nella misura in cui avrebbero assicurato un reddito finanziario che le opere sostitutive più non dessero, non può esser respinta in limine per motivi di principio. Altra questione è evidentemente quella di sapere se la pretesa di indennizzo sia concretamente fondata, ed a quanto l'indennizzo ammonti, questioni sulle quali sarà possibile pronunciarsi soltanto previa istruttoria.
4.
Il terzo quesito concerne l'applicabilità del principio sancito dall'
art. 20 cpv. 2 LEspr
. al caso in esame, negata dalla Commissione, affermata invece nel ricorso dell'espropriante.
Come la CFS ha giustamente sottolineato, la regola dell'
art. 20 cpv. 2 LEspr
. non ha praticamente importanza in caso di espropriazione totale, perché gli oneri, il cui valore venale andrebbe dedotto da quello del fondo secondo questo disposto, non possono esser né diritti di pegno (che si estinguono con l'esproprio) né servitù gravanti sul fondo espropriato, del cui effetto sul valore venale dello stesso già va tenuto conto nel quadro dell'
art. 21 cpv. 1 LEspr
., e ciò indipendentemente dall'indennità che per la loro estinzione potessero richiedere gli aventi diritto a norma dell'
art. 23 LEspr
. (HEss, op.cit., ad art. 20, n. 7, pag. 66; ad art. 21, n. 1, pag. 68; ad
art. 23 LEspr
., n. 11 segg., pagg. 74/75). D'altronde, è superfluo esaminare oltre tale questione, perché gli oneri di cui l'espropriante vorrebbe si tenesse conto, non gravano sui fondi oggetti dell'esproprio, ma sono costituiti dai compiti che l'espropriato, nella sua qualità di corporazione del diritto pubblico, deve assolvere: compiti che - secondo il ricorso - sarebbero stati assolti parzialmente, a sgravio del Consorzio, dalle Strade Nazionali.
BGE 104 Ib 348 S. 357
Quel che l'espropriante vuol dedurre dall'indennizzo espropriativo è quindi in realtà un contributo del Consorzio all'opera eseguita dalle Strade Nazionali per i vantaggi che a questo Consorzio (e indirettamente ai suoi membri contribuenti) ridonderebbero dai lavori. È evidente che tale problema esorbita chiaramente dai limiti della controversia espropriativa, e che esso non può esser né posto, né risolto in codesta sede, ma eventualmente nel quadro - regolato dal diritto cantonale dei rapporti Stato-Consorzio, oppure in quello - regolato dalla LSN - della ripartizione delle spese per la costruzione delle strade nazionali. Anche sotto questo profilo, la critica di principio contenuta nel ricorso dell'espropriante si avvera pertanto infondata. | 4,652 | 2,386 | 2 | 0 | CH_BGE_003 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_003_BGE-104-Ib-348_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=2&from_date=&to_date=&from_year=1978&to_year=1978&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=18&highlight_docid=atf%3A%2F%2F104-IB-348%3Ade&number_of_ranks=339&azaclir=clir | BGE_104_Ib_348 |
|||
ebecfd03-bec4-469c-903b-a7e13bdb29cb | 1 | 79 | 1,361,734 | null | 2,024 | de | Sachverhalt
ab Seite 201
BGE 113 Ia 200 S. 201
Unter dem Namen "Zweckverband Regionale Wasserversorgung Gäu" besteht im Kanton Solothurn ein öffentlichrechtlicher Zweckverband mit eigener Rechtspersönlichkeit im Sinne von § 10 des solothurnischen Gemeindegesetzes. Neben andern Einwohnergemeinden gehört dem Zweckverband als Mitglied die Einwohnergemeinde Egerkingen an. Der Verband bezweckt den Bau und Betrieb einer gemeinsamen Grundwasserfassungsanlage mit Pumpwerk und Trafostation in Neuendorf und die Versorgung der Verbandsgemeinden mit Wasser gemäss den in den Statuten enthaltenen Bestimmungen. Die Statuten des Zweckverbandes wurden vom Regierungsrat des Kantons Solothurn mit Beschluss vom 24. Januar 1975 genehmigt. Sie regeln im einzelnen die Organisation des Verbandes (Art. 7 ff.), den Bau, Unterhalt, Betrieb und Wasserbezug (Art. 26 ff.), die Finanzierung, Kostenverteilung und Haftung (Art. 36 ff.), Staatsaufsicht und Streitigkeiten (Art. 47 ff.), Auflösung, Liquidation und Austritt (Art. 50 f.) und enthalten verschiedene Schlussbestimmungen (Art. 53 ff.). Hinsichtlich der Änderung der Statuten ist vorgesehen, dass eine solche der Zustimmung
BGE 113 Ia 200 S. 202
von zwei Dritteln der Delegierten in der Delegiertenversammlung sowie der Zustimmung von zwei Dritteln der Verbandsgemeinden bedarf (Art. 55 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 50 Ziff. 1 und 2 und Art. 6b Abs. 2).
Aufgrund massgeblicher Projektänderungen und infolge der Redimensionierung des Planungszieles hat der Zweckverband Regionale Wasserversorgung Gäu eine Revision der Statuten durchgeführt. Die Delegiertenversammlung hat der Revision am 23. Januar 1985 mit der erforderlichen Zweidrittels-Mehrheit zugestimmt. Die Zustimmung erteilten ferner alle Verbandsgemeinden ausser der Einwohnergemeinde Egerkingen.
In der Folge genehmigte der Regierungsrat des Kantons Solothurn die revidierten Statuten mit Beschluss vom 15. April 1986. Im Genehmigungsbeschluss führte der Regierungsrat aus, dass die Revision angesichts der Art. 55 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 50 Ziff. 2 der Statuten trotz der fehlenden Zustimmung der Einwohnergemeinde Egerkingen rechtsgültig zustande gekommen sei.
Gegen diesen Genehmigungsbeschluss des Regierungsrates reichte die Einwohnergemeinde beim Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung ihrer Autonomie ein. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt. | 494 | 384 | Erwägungen
Auszug aus den Erwägungen:
1.
a) Der Zweckverband Regionale Wasserversorgung Gäu ist nach Art. 1 Abs. 1 der Statuten eine öffentlichrechtliche Körperschaft im Sinne von § 10 des Gemeindegesetzes des Kantons Solothurn vom 27. März 1949 (GG). Den beteiligten Verbandsgemeinden obliegen nach den Statuten Verpflichtungen auf dem Gebiete der Grundwasserfassung und der Wasserversorgung. Mit der Revision der Statuten werden diese Verpflichtungen geändert. Der Beschluss des Regierungsrates, die Statutenrevision zu genehmigen, trifft die beschwerdeführende Gemeinde damit in ihrer Eigenschaft als Trägerin hoheitlicher Gewalt. Die Beschwerdeführerin ist daher legitimiert, mit staatsrechtlicher Beschwerde eine Verletzung ihrer Autonomie zu rügen. Ob ihr im betreffenden Bereich tatsächlich Autonomie zusteht, ist keine Frage der Legitimation, sondern bildet Gegenstand der materiellen Beurteilung (
BGE 111 Ia 252
E. 2, 110 a 198 E. 1, mit Hinweisen). Unter diesem Gesichtswinkel steht dem Eintreten auf die Beschwerde nichts entgegen.
BGE 113 Ia 200 S. 203
b) Das Bau-Departement macht in seiner Vernehmlassung in verschiedener Hinsicht geltend, auf die Beschwerde könne nicht eingetreten werden.
Zum einen führt es aus, die Einwohnergemeinde Egerkingen habe keinen förmlichen Entscheid über die von der Delegiertenversammlung verabschiedete Statutenrevision nach Art. 6a der Statuten getroffen; es könne daher nicht behauptet werden, die Beschwerdeführerin habe den neuen Statuten nicht zugestimmt. Das Bau-Departement übersieht indessen, dass tatsächlich keine Zustimmung von Seiten der Beschwerdeführerin vorliegt. Der Regierungsrat hat denn die Statutenrevision auch ungeachtet der Form der Nichtzustimmung genehmigt und keinen vorgängigen Entscheid der Einwohnergemeinde Egerkingen verlangt. Bei dieser Sachlage steht der Einwand des Bau-Departementes dem Eintreten nicht entgegen.
Zum andern wendet das Departement ein, die Beschwerdeführerin hätte vorgängig beim Regierungsrat Beschwerde nach Art. 49 der Statuten erheben müssen. Nach Art. 49 Abs. 1 der Statuten sind Beschwerden u.a. gegen Beschlüsse der Delegiertenversammlung innert zehn Tagen beim Regierungsrat einzureichen, sofern sich aus den Statuten nichts anderes ergibt. Es ist indessen fraglich, ob der Regierungsrat auf eine Beschwerde der Einwohnergemeinde Egerkingen überhaupt eingetreten wäre, welche sich gegen die Beschlussfassung über die Statutenrevision gerichtet hätte und mit welcher eine Verletzung der Gemeindeautonomie geltend gemacht worden wäre. Denn unmittelbar im Anschluss an den Beschluss der Delegiertenversammlung stand noch keineswegs fest, ob eine den Statuten entsprechende Mehrheit der Mitglieder-Gemeinden die neuen Statuten tatsächlich genehmigen würde, und demnach konnte sich die Beschwerdeführerin in jenem Zeitpunkt auch noch nicht über eine Autonomieverletzung beschweren. Die gerügte Autonomieverletzung kam aus der Sicht der Beschwerdeführerin vielmehr erst mit der regierungsrätlichen Genehmigung der neuen Statuten zustande. Bestanden demnach an der Zulässigkeit der Beschwerde nach Art. 49 Abs. 1 der Statuten ernstliche Zweifel, so brauchte dieses Rechtsmittel nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung unter dem Gesichtswinkel von
Art. 86 Abs. 2 und
Art. 87 OG
nicht ergriffen zu werden (
BGE 110 Ia 213
E. 1,
BGE 106 Ia 58
oben, mit Hinweisen). Demnach kann auch in dieser Hinsicht auf die Beschwerde eingetreten werden.
BGE 113 Ia 200 S. 204
c) Die Beschwerdeführerin macht nicht geltend, der Regierungsrat habe die Statutenbestimmungen betreffend die Statutenrevision in verfassungswidriger Weise angewendet und sie dadurch in ihrer Autonomie verletzt. Sie behauptet vielmehr, die Statutenbestimmungen stünden in diesem Punkte mit § 10 GG im Widerspruch; deren Anwendung verletzte sie daher in ihrer Autonomie. Damit verlangt sie ausdrücklich eine vorfrageweise Überprüfung der Statutenbestimmungen auf ihre Gesetzmässigkeit. Es fragt sich daher, ob das Bundesgericht eine solche vorfrageweise Überprüfung der Statuten vornehmen kann.
Der Zweckverband Regionale Wasserversorgung Gäu ist, wie oben dargelegt, eine öffentlichrechtliche Körperschaft. Die Statuten bilden gewissermassen die Verfassung des Zweckverbandes und haben rechtssatzähnlichen Charakter mit bindender Wirkung für die beteiligten Gemeinden (vgl. MARCEL SCHENKER, Das Recht der Gemeindeverbände, Diss. St. Gallen 1986, S. 113; HANS-MARTIN ALLEMANN, Gemeinde- und Regionalverband im bündnerischen Recht, Diss. Basel 1983, S. 147; THOMAS PFISTERER, Das Recht der Abwasserzweckverbände, Diss. Bern 1968, S. 107). In dieser Hinsicht steht einer vorfrageweisen Überprüfung der Statuten nichts entgegen. Die Zulässigkeit der Überprüfung wird auch nicht durch den Umstand ausgeschlossen, dass die Beschwerdeführerin bei der Gründung des Zweckverbandes den Statuten und den darin enthaltenen Bestimmungen über die Statutenrevision zugestimmt hatte. Die Gemeinde Egerkingen brauchte sich damals nicht Rechenschaft darüber zu geben, wie die streitigen Statutenbestimmungen sie eines Tages treffen würden; die Tragweite dieser Bestimmungen konnte vielmehr erst im Laufe der Zeit und mit den wachsenden Aufgaben des Zweckverbandes erfasst werden (vgl.
BGE 107 Ia 95
,
BGE 104 Ia 175
). Für sie bestand daher im Gründungsstadium kein Anlass, den Statuten nicht zuzustimmen oder eine entsprechende Beschwerde zu erheben. Die vorliegende Situation unterscheidet sich damit nicht grundlegend von derjenigen, in der ein Bürger eine vorfrageweise Überprüfung eines kantonalen Gesetzes oder einer kantonalen Verordnung verlangt (vgl.
BGE 111 Ia 185
f.).
Demnach erweist sich die vorliegende Beschwerde auch unter diesem Gesichtswinkel als zulässig. Schreitet das Bundesgericht indessen zu einer inzidenten Normenkontrolle, so stellt es lediglich eine allfällige Verfassungswidrigkeit der zugrunde liegenden Norm fest, mit der Folge, dass die entsprechende Norm im konkreten
BGE 113 Ia 200 S. 205
Fall nicht angewendet und der angefochtene Entscheid aufgehoben wird; die Gutheissung führt nicht zur formellen Aufhebung der als verfassungswidrig erkannten Bestimmung (
BGE 111 Ia 185
f.,
BGE 107 Ia 54
E. a, 129 E. 1a, mit Hinweisen). Analog verhält es sich im vorliegenden Fall, in dem die Beschwerdeführerin eine vorfrageweise Überprüfung der Statuten verlangt. Aus diesem Grunde kann auf den Antrag der Beschwerdeführerin, Art. 6b Abs. 2 und Art. 55 Abs. 1 der alten Statuten seien aufzuheben, nicht eingetreten werden (
BGE 107 Ia 235
).
2.
a) Eine Gemeinde ist nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung in einem Sachbereich autonom, wenn das kantonale Recht dafür keine abschliessende Ordnung trifft, sondern diese ganz oder teilweise der Gemeinde zur Regelung überlässt und ihr dabei eine relativ erhebliche Entscheidungsfreiheit einräumt (
BGE 111 Ia 253
,
BGE 110 Ia 199
E. 2,
BGE 109 Ia 45
E. b, mit Hinweisen). Im vorliegenden Fall zieht das Bau-Departement die Autonomie der Einwohnergemeinde Egerkingen auf dem Gebiete der Wasserversorgung in Zweifel.
Art. 54 der solothurnischen Kantonsverfassung und § 3 GG garantieren den solothurnischen Gemeinden in allgemeiner Weise Autonomie und bestimmen, dass die Gemeinden ihre Angelegenheiten im Rahmen von Verfassung und Gesetzgebung selbständig ordnen. In bezug auf die Wasserversorgung sieht
§ 28 Abs. 1 des Gesetzes über die Rechte am Wasser (Wasserrechtsgesetz, WRG)
vor, dass diese im Rahmen des Gesetzes den Gemeinden obliegt. Nach § 10 GG können sich die Gemeinden zur Erfüllung ihrer Aufgaben zu Zweckverbänden zusammenschliessen. Diese Ordnung zeigt, dass die Einwohnergemeinden die Aufgabe der Wasserversorgung selbständig erfüllen und dass ihnen dabei eine relativ erhebliche Entscheidungsfreiheit zukommt. Daran ändert der Umstand nichts, dass der Regierungsrat unter Umständen zugunsten von Gruppenwasserversorgungen Massnahmen anordnen und mehrere Gemeinden zu gemeinsamer Wasserversorgung verpflichten kann (
§ 28 Abs. 3 WRG
sowie § 3 der Verordnung über Gruppenwasserversorgungen; unveröffentlichtes Urteil vom 18. November 1977 i.S. Gemeinde Senèdes, E. 3). Auch wird der Grundsatz der Autonomie der Gemeinde nicht dadurch beeinträchtigt, dass mit der Gründung eines Zweckverbandes die beteiligten Gemeinden tatsächlich einen Teil ihrer Autonomie auf den Zweckverband übertragen; die Gemeinden sind grundsätzlich frei, im
BGE 113 Ia 200 S. 206
Rahmen der restriktiven Bestimmungen der Statuten aus einem Zweckverband wieder auszutreten. Bei dieser Sachlage ist im vorliegenden Fall davon auszugehen, dass der Beschwerdeführerin auf dem Gebiete der Wasserversorgung tatsächlich Autonomie im Sinne der Rechtsprechung zukommt.
b) Ist eine Gemeinde in einem Sachbereich autonom, so kann sie sich mit staatsrechtlicher Beschwerde dagegen zur Wehr setzen, dass die kantonale Behörde im Genehmigungs- oder Rechtsmittelverfahren ihre Prüfungsbefugnis überschreitet. Die Gemeinde kann sodann verlangen, dass die kantonale Behörde materiell die kommunalen, kantonalen und bundesrechtlichen Vorschriften nicht verletze, die den Sachbereich, in dem Autonomie besteht, ordnen. Das Bundesgericht prüft den Entscheid der kantonalen Behörden auf Willkür hin, soweit Gesetzes- oder Verordnungsrecht in Frage steht; mit freier Kognition entscheidet es, wenn es sich um Verfassungsrecht des Bundes oder der Kantone handelt (
BGE 111 Ia 132
E. 4a, 253 E.3,
BGE 110 Ia 200
E. b,
BGE 109 Ia 45
E. b, mit Hinweisen).
Im vorliegenden Fall macht die Beschwerdeführerin nicht geltend, der Regierungsrat habe mit seinem Entscheid seine Überprüfungsbefugnis in formeller Hinsicht überschritten. Sie wirft ihm vielmehr vor, ihre Autonomie in materieller Hinsicht zu verletzen. Der Umfang der Gemeindeautonomie ist nicht bundesverfassungsrechtlich garantiert (vgl.
BGE 100 Ia 274
, ZBl 82/1981 S. 550); Art. 54 der solothurnischen Kantonsverfassung gewährt den Gemeinden Autonomie lediglich im Rahmen der Gesetzgebung. Im vorliegenden Fall stellt sich die Frage nach der Auslegung und Anwendung von § 10 GG und damit von Gesetzesrecht. Nach dem Gesagten ist daher die Beschwerde entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin lediglich unter dem Gesichtswinkel der Willkür zu prüfen. Den weitern Rügen der Beschwerdeführerin, der angefochtene Beschluss verletze auch das Willkürverbot und das Legalitätsprinzip, kommt daher keine eigenständige Bedeutung zu.
3.
Die Beschwerdeführerin macht geltend, ihre Autonomie werde verletzt, wenn eine Statutenrevision nach dem in den Statuten vorgesehenen Mehrheitsverfahren entgegen ihrem Willen zustande kommt und genehmigt werde. Die Statutenbestimmungen stünden demnach insoweit im Widerspruch zur Garantie der Gemeindeautonomie und insbesondere zu § 10 GG. Die einschlägigen Bestimmungen haben folgenden Wortlaut.
BGE 113 Ia 200 S. 207
Statuten des Zweckverbandes
Art. 55 - Revision der Statuten
1.) Für die Änderung der Statuten gelten die Erfordernisse von Art. 50
Ziff. 1-3
...
Art. 50 - Auflösung oder Fusion des Verbandes
Für die Auflösung oder Fusion des Verbandes sind erforderlich:
1. Ein mit den Stimmen von zwei Dritteln der anwesenden Delegierten gefasster Beschluss der Delegiertenversammlung;
2. Die Zustimmung von zwei Dritteln der Verbandsgemeinden;
3. Die Genehmigung durch den Regierungsrat des Kantons Solothurn.
Gemeindegesetz (GG)
§ 10 - Zweckverbände der Gemeinden
1 Gemeinden, die besondere Aufgaben gemeinsam erfüllen wollen, können sich zu einem öffentlich-rechtlichen Zweckverband zusammenschliessen oder eine gemeinsame Anstalt gründen.
2 Organisationsstatut und Reglemente des Zweckverbandes müssen von jeder der beteiligten Gemeinden wie alle andern Gemeindereglemente behandelt und beschlossen werden. Dabei finden die entsprechenden Bestimmungen dieses Gesetzes Anwendung.
3 Wenn eine Einigung über das Statut oder ein Reglement durch die angeschlossenen Gemeinden nicht erfolgt, wird ein Schiedsgericht bestellt. Jede der beteiligten Gemeinden wählt einen Schiedsrichter. Die Schiedsrichter bestimmen den Obmann; wenn sie sich nicht einigen können, wird der Obmann vom Regierungsrat bezeichnet.
4 Das von allen beteiligten Gemeinden eines Zweckverbandes angenommene Organisationsstatut muss vom Regierungsrat genehmigt werden. Er kann die Genehmigung verweigern, wenn die Vorschriften des Statuts über den Austritt und die Haftung keinen genügenden Schutz des Verbandszweckes und des Verbandsvermögens gewährleisten.
5 Der Regierungsrat löst einen Zweckverband oder eine Anstalt auf, wenn der Zweck unerreichbar geworden ist oder wenn seine Verfolgung vom Staat unmittelbar übernommen wird.
6 Die Zweckverbände unterstehen der Aufsicht des Regierungsrates.
a) Im vorliegenden Fall ist nicht streitig, dass nach dem Wortlaut der Statuten des Zweckverbandes eine Statutenrevision u.a. dann gültig zustandekommen kann, wenn ihr zwei Drittel der Verbandsgemeinden zustimmen. In dieser Hinsicht wirft die Beschwerdeführerin dem Regierungsrat keine unrichtige oder willkürliche Anwendung der Statuten vor.
BGE 113 Ia 200 S. 208
b) Nach Abs. 2 von § 10 GG bedarf das Organisationsstatut des Zweckverbandes der Zustimmung aller beteiligten Gemeinden. Es steht ausser Zweifel, dass diese Bestimmung für die Gründung des Zweckverbandes sowie für den erstmaligen Erlass der Statuten gilt. Sie will verhindern, dass einer Gemeinde entgegen ihrem Willen von andern Gemeinden der Beitritt zu einem Zweckverband und ihr nicht genehme Statuten aufgezwungen werden. Mit dem Einstimmigkeitsprinzip dient diese Bestimmung dem Schutze der Autonomie der Gemeinden. Daran vermag auch das in § 10 Abs. 3 GG vorgesehene Schiedsverfahren nichts zu ändern.
c) Es stellt sich nun aber die Frage, ob Einstimmigkeit auch für die Revision der Statuten erforderlich ist. Während das Bau-Departement die Auffassung vertritt, für die Revision der Statuten genüge - sofern von den Statuten wie im vorliegenden Fall vorgesehen - ein Mehrheitsentscheid, macht die Beschwerdeführerin geltend, eine solche könne nach § 10 GG lediglich bei Einstimmigkeit zustande kommen.
Für die Auffassung des Bau-Departements spricht vorerst der Umstand, dass § 10 Abs. 1 GG vom Zusammenschluss von Gemeinden und damit von der Gründung von Zweckverbänden handelt. Demnach kann der folgende Abs. 2 von § 10 GG, in dem Zustimmung aller beteiligten Gemeinden verlangt wird, ebenfalls als eine die Gründung und den erstmaligen Erlass der Statuten betreffende Bestimmung verstanden werden. Es ist darin nicht vom Verfahren der Statutenrevision die Rede. So wie den beteiligten Gemeinden bei der Gestaltung der Statutenbestimmungen grosse Freiheit eingeräumt wird, kann auch gesagt werden, der Gesetzgeber habe es ihnen überlassen, in den Statuten über das Revisionsverfahren zu befinden und allenfalls ein Verfahren mit Mehrheitsentscheid vorzusehen.
Auf der andern Seite lassen sich für die Auffassung der Beschwerdeführerin, wonach für eine Statutenrevision grundsätzlich Einstimmigkeit der Verbandsgemeinden erforderlich sei, haltbare Gründe vorbringen. § 10 Abs. 2 GG verlangt für die Statuten Einstimmigkeit, ohne zwischen dem Gründungsstadium und dem Verfahren der Statutenrevision zu differenzieren. Der oben erwähnte Schutz der Gemeinden im Zusammenhang mit der Gründung eines Zweckverbandes kann bis zu einem gewissen Grade illusorisch werden, wenn die Statuten mit einer (allenfalls qualifizierten) Mehrheit der beteiligten Gemeinden revidiert werden können. Auch das in § 10 Abs. 3 GG vorgesehene Schiedsverfahren
BGE 113 Ia 200 S. 209
spricht insofern eher für das Einstimmigkeitsprinzip, als es darum geht, unter Aufrechterhaltung des Zweckverbandes eine notwendig erscheinende Statutenrevision zu ermöglichen. Ähnlich wie bei der Revision von Erlassen kann auch im Hinblick auf Statuten die Meinung vertreten werden, eine Revision sei grundsätzlich im gleichen Verfahren wie der Erlass der Statuten selbst vorzunehmen (vgl. PFISTERER, a.a.O., S. 116 oben; ALLEMANN, a.a.O., S. 149). Schliesslich wird in der Literatur die Auffassung vertreten, das Einstimmigkeitsprinzip gelte nach § 10 Abs. 2 GG implizit auch für Statutenrevisionen (SCHENKER, a.a.O., S. 121 mit Fn. 50).
Es lassen sich demnach für beide Standpunkte gute Gründe anführen. Eine kantonale Praxis zu dieser Auslegungsfrage scheint nicht zu bestehen, und auch den Materialien zum Gemeindegesetz lassen sich, soweit ersichtlich, keine Hinweise entnehmen. Bei dieser Sachlage kann trotz der gewichtigen Einwendungen der Beschwerdeführerin nicht gesagt werden, die Auffassung des Bau-Departementes sei geradezu unhaltbar und damit willkürlich im Sinne der Rechtsprechung. Die Frage, ob nach § 10 GG für Statutenrevisionen Einstimmigkeit erforderlich ist oder ob diese Bestimmung es zulasse, dass in den Statuten ein Revisionsverfahren mit Mehrheitsentscheid vorgesehen wird, braucht indessen nicht in allgemeiner und abstrakter Weise beantwortet zu werden. Angesichts des Umstandes, dass im vorliegenden Fall eine inzidente Kontrolle der Statuten vorzunehmen ist, gilt es vielmehr zu prüfen, ob die Beschwerdeführerin durch den angefochtenen Beschluss im Hinblick auf die konkret streitige Statutenrevision in ihrer Autonomie verletzt worden ist. Für die Beurteilung dieser Frage gilt es vorerst, die sich gegenüberstehenden Interessen aufzuzeigen.
d) Das Erfordernis der Einstimmigkeit für Statutenrevisionen auf der einen Seite vermag den Schutz der einzelnen beteiligten Gemeinde in optimaler Weise zu garantieren. Es können ihr von der (allenfalls qualifizierten) Mehrheit keine ihr nicht genehme Statuten aufgezwungen werden, und das Vertrauen der Verbandsgemeinden in den Verband und dessen Tätigkeit kann gestärkt werden. Auf der anderen Seite kann das Einstimmigkeitsprinzip die Handlungsfähigkeit des Verbandes lähmen. Deshalb erleichtert ein Mehrheitsverfahren etwa eine Anpassung an veränderte Umstände oder eine Weiterentwicklung der Aufgaben (vgl. SCHENKER, a.a.O., S. 120; PFISTERER, a.a.O., S. 114). Dieser Grundkonflikt zwischen Schutzbedürfnis der einzelnen Gemeinden und der Handlungsfähigkeit des Verbandes wird in den einzelnen Kantonen
BGE 113 Ia 200 S. 210
etwa in dem Sinne gelöst, dass grundlegende Bestimmungen der Statuten nur unter Zustimmung aller beteiligten Gemeinden revidiert werden können, während Statutenbestimmungen von untergeordneter Bedeutung mit (einfacher oder qualifizierter) Mehrheit einer Revision unterzogen werden dürfen. Zu den grundlegenden Statutenbestimmungen können etwa solche gezählt werden, welche die Stellung der Verbandsgemeinden grundsätzlich und unmittelbar betreffen wie die Umschreibung des Verbandszweckes, des Kostenverteilers, der Haftung und Auflösung und ähnliches mehr. In die gleiche Richtung weist auch die Literatur, welche in bezug auf die Frage des Einstimmigkeits- bzw. Mehrheitsprinzips bei Statutenrevisionen eine Differenzierung nach deren Bedeutung befürwortet (vgl. SCHENKER, a.a.O., S. 121 ff.; PFISTERER, a.a.O., S. 114 ff.; ALLEMANN, a.a.O., S. 149; BARBARA SCHELLENBERG, Die Organisation der Zweckverbände, Diss. Zürich 1975, S. 89 ff.; ANDRÉ GRISEL, Traité de droit administratif, Neuchâtel 1984, S. 275; je mit Hinweisen auf die Regelung in verschiedenen Kantonen).
Unter diesem Gesichtswinkel ist im folgenden zu prüfen, ob der Regierungsrat mit der Genehmigung der ohne die Zustimmung der Beschwerdeführerin zustande gekommenen, konkreten Statutenrevision die Gemeindeautonomie verletzt hat.
e) Die Beschwerdeführerin macht in ihrer Beschwerde geltend, sie werde durch die neuen Statuten in erheblichem Ausmass stärker belastet, indem sie einen grösseren Anteil der Anlagekosten und diverse Bauten übernehmen sowie einen Kostenanteil an neu zu bauende Anlagen entrichten müsse. Im einzelnen begründet sie das Ausmass der Mehrbelastung nicht. Demgegenüber legt der Zweckverband in seiner Vernehmlassung aufgrund einer detaillierten Rechnung dar, dass die Einwohnergemeinde Egerkingen nach den neuen Statuten finanziell weniger belastet werde. Aufgrund eines Vergleiches der alten mit den neuen Statuten und nach den eingereichten Unterlagen ergibt sich folgendes Bild.
Die alten Statuten des Zweckverbandes Regionale Wasserversorgung Gäu basieren auf einem generellen Projekt des Ingenieur Büros Emch + Berger aus dem Jahre 1972 (vgl. Art. 11 der alten Statuten). Diesem Projekt lag ein Planungsziel zugrunde, das sich als überdimensioniert erwies. Aufgrund eines neu festgelegten Planungszieles arbeitete das Ingenieur Büro Emch + Berger im Jahre 1982 ein neues allgemeines Projekt aus, auf das die neuen Statuten abstellen (vgl. Art. 11 der neuen Statuten). Dieses neue Projekt und
BGE 113 Ia 200 S. 211
eine etwas modifizierte Konzeption führten zur Änderung der Statuten. Dabei bleibt der Zweck des Verbandes im wesentlichen der gleiche (Art. 2 in alter und neuer Fassung). Entsprechend dem Ziel der Redimensionierung des Projektes wurden die Wasserbezugsrechte der einzelnen Gemeinden neu umschrieben (Art. 33). Der Umfang der Verbandsanlagen wird in den neuen Statuten gegenüber der alten Regelung ausgedehnt (Art. 26); hinzu kommt, dass der Verband in erweitertem Ausmass bestehende Anlagen - gegen entsprechende Abgeltung - übernimmt (Art. 29 sowie Art. 41 Ziff. 4 der revidierten Statuten). Wie bisher sind die Gemeinden verpflichtet, Einzelanlagen selbst zu erstellen (Art. 27); darüber hinaus werden die Gemeinden an einzelnen Verbandsanlagen direkt beteiligt (Art. 41 Ziff. 3 sowie Art. 33bis der revidierten Statuten). Die Verteilung der Anlagekosten auf die Verbandsgemeinden wird nach einem neuen Schlüssel für den Grossteil gemäss Art. 41 Ziff. 1 der revidierten Statuten vorgenommen; danach hat die Einwohnergemeinde Egerkingen anstatt 24,90% neu lediglich noch 22,60% zu übernehmen. Im übrigen ist die Revision organisatorischer Natur und sieht u.a. vor, dass gewisse Beschlüsse und Statutenrevisionen nur noch mit Einstimmigkeit beschlossen werden können (Art. 6bis, Art. 6ter sowie Art. 50 Ziff. 2 der neuen Statuten).
Gesamthaft gesehen zeigt ein Vergleich der alten mit den neuen Statuten, dass die Grundordnung nicht in grundlegender Weise verändert worden ist. Der Zweck des Verbandes ist im wesentlichen gleich geblieben. Die neue Kostenverteilung stellt für die Beschwerdeführerin keinen einschneidenden Eingriff dar: Einer allenfalls grösseren Belastung in bezug auf einzelne Verbandsanlagen und Einzelanlagen steht die geringere Beteiligung der Einwohnergemeinde Egerkingen nach Art. 41 Ziff. 1 der revidierten Statuten gegenüber; darüber hinaus ist unter diesem Gesichtspunkt zu berücksichtigen, dass mit dem reduzierten Projekt die Gesamtkosten niedriger gehalten werden sollen (vgl. Kostenvoranschlag vom 16. August 1984 und den überarbeiteten technischen Bericht vom Dezember 1984 des Ingenieur Büros Emch + Berger). Angesichts des Umstandes, dass neu für gewisse Beschlüsse und für eine Statutenrevision Einstimmigkeit der Verbandsgemeinden gefordert wird, wird die Beschwerdeführerin in ihren Mitwirkungsrechten nicht beeinträchtigt, sondern erhält mehr Rechte. Die Statutenrevision betrifft damit im wesentlichen eine Anpassung an die veränderten Umstände und hält im einzelnen in detaillierter Weise
BGE 113 Ia 200 S. 212
die technischen Angaben über die zu erstellenden Angaben fest. Sie verändert die Struktur des Zweckverbandes nicht tiefgreifend und ist somit nicht von grundlegender Bedeutung.
f) Die streitige Statutenrevision des Zweckverbandes Regionale Wasserversorgung Gäu ist demnach nicht von grundlegender Bedeutung. Sie trifft daher die Beschwerdeführerin nicht in zentraler Weise in ihrem Autonomiebereich. Trotz der fehlenden Zustimmung der Beschwerdeführerin durfte der Regierungsrat im Hinblick auf § 10 GG gestützt auf die geltenden Statutenbestimmungen die streitige Statutenrevision als gültig zustande gekommen betrachten und genehmigen, ohne in Willkür zu verfallen. Aus diesen Gründen hat der Regierungsrat die Autonomie der Beschwerdeführerin nicht verletzt. Demnach erweist sich die Rüge der Autonomieverletzung als unbegründet. | 4,848 | 3,823 | 2 | 0 | CH_BGE_002 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_002_BGE-113-Ia-200_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=25&from_date=&to_date=&from_year=1987&to_year=1987&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=248&highlight_docid=atf%3A%2F%2F113-IA-200%3Ade&number_of_ranks=357&azaclir=clir | BGE_113_Ia_200 |
|||
ebeeac29-802e-4d8c-b463-8903cecf3f9a | 1 | 84 | 1,348,161 | null | 2,024 | de | Sachverhalt
ab Seite 29
BGE 128 V 29 S. 29
A.-
F. (geboren 1941) führt seit 1964 ein eigenes Coiffeurgeschäft. 1987 erlitt er einen Skiunfall, bei welchem er sich eine Schulterdistorsion zuzog. Im Laufe des Jahres 1996 nahmen die damit in Zusammenhang stehenden Beschwerden zu, sodass er sich am 17. Januar 1997 einer Rotatorenmanschettenrekonstruktion unterziehen musste. In der Folge war er ab 16. Januar 1997 zu 100% und ab 6. Mai 1997 zu 50% arbeitsunfähig (Bericht des Dr. med. R., Spezialarzt für Innere Medizin, vom 1. April 1998). Mit Anmeldung vom 27. Februar 1998 ersuchte F. um Zusprechung einer Invalidenrente.
BGE 128 V 29 S. 30
Die IV-Stelle des Kantons Thurgau lehnte sein Begehren mit der Begründung ab, dass keine rentenbegründende Erwerbseinbusse von mindestens 40% vorliege (Verfügung vom 29. März 1999).
B.-
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies die AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau mit Entscheid vom 22. Oktober 1999 ab.
C.-
F. lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und die Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids sowie die Zusprechung einer ganzen Invalidenrente beantragen.
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) verzichtet auf eine Stellungnahme. | 313 | 223 | Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Nach
Art. 4 Abs. 1 IVG
gilt als Invalidität die durch einen körperlichen oder geistigen Gesundheitsschaden als Folge von Geburtsgebrechen, Krankheit oder Unfall verursachte, voraussichtlich bleibende oder längere Zeit dauernde Erwerbsunfähigkeit.
Nach
Art. 28 Abs. 1 IVG
hat der Versicherte Anspruch auf eine ganze Rente, wenn er mindestens zu 66 2/3%, auf eine halbe Rente, wenn er mindestens zu 50% oder auf eine Viertelsrente, wenn er mindestens zu 40% invalid ist; in Härtefällen hat der Versicherte nach
Art. 28 Abs. 1bis IVG
bereits bei einem Invaliditätsgrad von mindestens 40% Anspruch auf eine halbe Rente.
Bei erwerbstätigen Versicherten ist der Invaliditätsgrad auf Grund eines Einkommensvergleichs zu bestimmen. Dazu wird das Erwerbseinkommen, das der Versicherte nach Eintritt der Invalidität und nach Durchführung allfälliger Eingliederungsmassnahmen durch eine ihm zumutbare Tätigkeit bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage erzielen könnte, in Beziehung gesetzt zum Erwerbseinkommen, das er erzielen könnte, wenn er nicht invalid geworden wäre (
Art. 28 Abs. 2 IVG
). Der Einkommensvergleich hat in der Regel in der Weise zu erfolgen, dass die beiden hypothetischen Erwerbseinkommen ziffernmässig möglichst genau ermittelt und einander gegenübergestellt werden, worauf sich aus der Einkommensdifferenz der Invaliditätsgrad bestimmen lässt. Insoweit die fraglichen Erwerbseinkommen ziffernmässig nicht genau ermittelt werden können, sind sie nach Massgabe der im Einzelfall bekannten Umstände zu schätzen und sind die so gewonnenen Annäherungswerte miteinander zu vergleichen. Lassen sich die beiden hypothetischen
BGE 128 V 29 S. 31
Erwerbseinkommen nicht zuverlässig ermitteln oder schätzen, so ist in Anlehnung an die spezifische Methode für Nichterwerbstätige (
Art. 27 IVV
) ein Betätigungsvergleich anzustellen und der Invaliditätsgrad nach Massgabe der erwerblichen Auswirkungen der verminderten Leistungsfähigkeit in der konkreten erwerblichen Situation zu bestimmen. Der grundsätzliche Unterschied des ausserordentlichen Bemessungsverfahrens zur spezifischen Methode (gemäss
Art. 28 Abs. 3 IVG
in Verbindung mit
Art. 26bis und 27 Abs. 1 IVV
) besteht darin, dass die Invalidität nicht unmittelbar nach Massgabe des Betätigungsvergleichs als solchem bemessen wird. Vielmehr ist zunächst anhand des Betätigungsvergleichs die leidensbedingte Behinderung festzustellen; sodann aber ist diese im Hinblick auf ihre erwerbliche Auswirkung besonders zu gewichten. Eine bestimmte Einschränkung im funktionellen Leistungsvermögen eines Erwerbstätigen kann zwar, braucht aber nicht notwendigerweise, eine Erwerbseinbusse gleichen Umfangs zur Folge zu haben. Wollte man bei Erwerbstätigen ausschliesslich auf das Ergebnis des Betätigungsvergleichs abstellen, so wäre der gesetzliche Grundsatz verletzt, wonach bei dieser Kategorie von Versicherten die Invalidität nach Massgabe der Erwerbsunfähigkeit zu bestimmen ist (ausserordentliches Bemessungsverfahren;
BGE 104 V 137
Erw. 2c; AHI 1998 S. 120 Erw. 1a).
2.
Entgegen der Ansicht des Versicherten kommt vorliegend die Methode des ausserordentlichen Bemessungsverfahrens zur Anwendung, da auf Grund der Tatsache, dass auch invaliditätsfremde Faktoren - Strukturänderungen im Coiffeurgewerbe und die vom Versicherten selbst angeführten Abschreibungen infolge des Umbaus - das Geschäftsergebnis beeinflusst haben und deshalb nicht ohne weiteres von der Einkommenseinbusse auf den Invaliditätsgrad geschlossen werden kann (vgl. Erw. 1).
3.
a) Dr. med. R. attestierte dem Beschwerdeführer in seinem Beruf als Coiffeur (Arbeiten auf der Horizontalen) eine Arbeitsfähigkeit von 50% (eines Vollzeitpensums) und für Tätigkeiten ohne diese Arbeitshaltung, wie z.B. Bürotätigkeiten, eine solche von 100% (Bericht vom 1. April 1998). Entgegen der Ansicht des Versicherten kann auf diese Aussage abgestellt werden, zumal er seit seinem Skiunfall im Jahre 1987 beim betreffenden Arzt in Behandlung ist, dieser seinen Gesundheitszustand deshalb besonders gut kennt und sich dessen Einschätzung mit der Beurteilung des Dr. med. B., Spezialarzt für Orthopädie, Klinik X., deckt (Bericht vom 23. Januar 1998).
BGE 128 V 29 S. 32
Nach dem Gesagten ist der Bemessung des Invaliditätsgrades eine Arbeitsfähigkeit von 50% bezüglich der Tätigkeit als Coiffeur sowie von 100% bezüglich der Leitung des Betriebs zu Grunde zu legen.
b) Gemäss den Abklärungen des Berufsberaters verwendete der Beschwerdeführer vor Eintritt der gesundheitlichen Beeinträchtigung 75% seiner gesamten Arbeitszeit für die Ausübung des Coiffeurberufs und 25% für die Erledigung administrativer Arbeiten sowie die Betriebsleitung. Davon ist in der Folge auszugehen.
c) Im Rahmen des Betätigungsvergleichs ergibt sich eine Einschränkung von 50% als Coiffeur, vollumfängliche Arbeitsfähigkeit als Betriebsleiter sowie eine Arbeitsaufteilung in 75% Coiffeurtätigkeit und 25% Betriebsleitung/Administration.
4.
Es muss nun ermittelt werden, inwiefern sich die leidensbedingte Behinderung bei der Arbeit in erwerblicher Hinsicht auswirkt (wirtschaftliche Gewichtung).
a) Der Bemessung des Invaliditätsgrades durch die Vorinstanz kann nicht gefolgt werden. Einerseits stellt sie bezüglich des "Valideneinkommens" nur auf die letzten beiden Jahre vor Eintritt des Gesundheitsschadens sowie beim "Invalideneinkommen" lediglich auf das erste Jahr nach dessen Eintritt ab. Andererseits vermag die Ermittlung des "bereinigten" Gewinns nicht zu überzeugen. Nicht nachvollziehbar ist aber insbesondere die Gleichstellung des arithmetischen Mittels aus Betätigungsvergleich und angeblichem Gewinnrückgang mit dem Invaliditätsgrad. Zudem nimmt sie einen Einkommensvergleich vor. Die ausserordentliche Methode ist jedoch keine Untervariante der allgemeinen Methode, da sie in jenen Fällen zur Anwendung gelangt, in welchen selbst eine hypothetische Ermittlung der Erwerbseinkommen nicht möglich ist (
BGE 104 V 137
Erw. 2c); sie lehnt sich vielmehr an die spezifische Methode (
Art. 27 IVV
) an, indem sie einen Betätigungsvergleich verlangt, welcher danach erwerblich zu gewichten ist (
BGE 104 V 138
Erw. 2c). Wenn nun aber eine Ermittlung der Einkommen möglich wäre, wird die Anwendung der ausserordentlichen Methode hinfällig, und es könnte die Bemessung des Invaliditätsgrades direkt nach der allgemeinen Methode des Einkommensvergleichs erfolgen.
b) Um die gesetzlich geforderte wirtschaftliche Gewichtung vorzunehmen, bietet sich an, den Wert der verschiedenen Betätigungen im Verhältnis zueinander festzustellen und mit der Einschränkung im jeweiligen Tätigkeitsbereich in Beziehung zu setzen. Bei der Geschäftsführung, welche die Versicherten in der Regel weiterhin uneingeschränkt ausüben können, muss geprüft werden, welcher
BGE 128 V 29 S. 33
Wert ihr im Vergleich zu den übrigen, vom Versicherten nicht mehr oder nur noch reduziert ausgeübten Tätigkeiten zukommt. Dabei ist vom Grundsatz auszugehen, dass der Funktion als Geschäftsführer ein grösseres Gewicht als der branchenspezifischen Tätigkeit zukommt (vgl. AHI 1998 S. 123 Erw. 3). Da die Geschäftsführung keinen direkten Ertrag abwirft, sondern Arbeiten umfasst, die in der Regel unabhängig vom Geschäftsgang zu erledigen sind (Buchhaltung, Abrechnung der Mehrwertsteuer, Werbung, Kundenakquisition, etc.), kann der Wert dieser Arbeit nicht aus den Betriebsergebnissen ermittelt werden. Ebensowenig ist von dem um die invaliditätsfremden Faktoren bereinigten Gewinn oder Umsatz auszugehen. Denn einerseits kommt die ausserordentliche Methode - wie oben dargelegt - gerade dann zum Zug, wenn kein Vergleich der Einkommen möglich ist; andererseits würde dabei die leidensbedingte Behinderung nach dem Betätigungsvergleich ein zweites Mal berücksichtigt. Da somit nicht auf die Betriebsergebnisse abgestellt werden kann, sind statistische Werte heranzuziehen. Dies bewirkt weder eine Schlechterstellung noch eine ungenauere Invaliditätsermittlung der Selbstständigerwerbenden gegenüber den Unselbstständigerwerbenden, wird doch bei letzteren ebenfalls auf statistische Löhne (Schweizerische Lohnstrukturerhebung; LSE) abgestellt, wenn die konkrete Festsetzung des Invalideneinkommens nicht möglich ist.
c) Für die Bemessung des wirtschaftlichen Werts einer Tätigkeit liegt es nahe, von den diesbezüglichen, möglichst einzelfallbezogenen Ansätzen auszugehen; diese könnten etwa bei den branchenspezifischen Berufsverbänden erfragt werden. Die konkrete erwerbliche Gewichtung sieht für Fälle wie den vorliegenden wie folgt aus:
Tätigkeit
T (Anteil an
B (Behinderung
s (Ansatz
Gesamttätigk.)
in Tätigkeit)
in Fr./h)
Geschäftsführer
25%
0%
? Fr./h
Coiffeur
75%
50%
? Fr./h
T1 x B1 x s1 + T2 x B2 x s2
----------------------------------- = Invaliditätsgrad
T1 x s1 + T2 x s2
Dabei entspricht T dem Anteil der entsprechenden Tätigkeit an der Gesamttätigkeit (= T1 + T2 = 100%) in Prozenten, B der Arbeitsunfähigkeit in der jeweiligen Tätigkeit in Prozenten und s dem Lohnansatz für die betreffende Tätigkeit.
BGE 128 V 29 S. 34
d) Im Falle des Versicherten wäre demnach zu ermitteln, was für ein Stundenansatz einem Coiffeur mit seiner Erfahrung sowie einem angestellten Geschäftsführer bei einem Salon der Grösse des beschwerdeführerischen Betriebs in der Stunde bezahlt werden müsste. Die notwendigen Angaben könnten etwa beim Berufsverband der betroffenen Branche eingeholt werden. Vorliegend kann die zahlenmässige wirtschaftliche Gewichtung jedoch offen bleiben; denn die Tätigkeit als Geschäftsführer ist im Vergleich zur Arbeit als Coiffeur zumindest gleichwertig, wenn nicht höher zu veranschlagen (vgl. AHI 1998 S. 123 Erw. 3), sodass der Invaliditätsgrad die allein im Bereich der Coiffeurtätigkeit vorliegende Behinderung (50% von 75%, d.h. 37.5%) ungeachtet der tatsächlichen monetären Grössen nicht übersteigen kann, weshalb auf jeden Fall ein nicht rentenbegründender Invaliditätsgrad resultiert.
e) In diesem Zusammenhang ist auch auf das zwischenzeitlich überarbeitete Kreisschreiben über Invalidität und Hilflosigkeit (KSIH; vormals Wegleitung über Invalidität und Hilflosigkeit, WIH) des BSV zu verweisen, welches in Rz 3115 ebenfalls eine Möglichkeit der Invaliditätsbemessung aufzeigt. Diesbezüglich ist jedoch zu präzisieren, dass bei dieser Lösung - welche rechnerisch einen Einkommensvergleich vornimmt, was angesichts des Umstandes, dass der ausserordentlichen Methode die spezifische und nicht die allgemeine Methode zu Grunde liegt, zu Bedenken Anlass gibt (vgl. oben Erw. 4a) - bei den hypothetischen Einkommen zumindest nicht einfach auf die schweizerische Lohnstrukturerhebung des Bundesamtes für Statistik (LSE) abgestellt werden darf, sondern deren Ermittlung unter Berücksichtigung der einzelfallbezogenen Kriterien (Betriebsgrösse, Branche, Erfahrung des Betriebsinhabers, etc.) zu erfolgen hat. | 2,298 | 1,735 | 2 | 0 | CH_BGE_007 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_007_BGE-128-V-29_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=29&from_date=&to_date=&from_year=2002&to_year=2002&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=283&highlight_docid=atf%3A%2F%2F128-V-29%3Ade&number_of_ranks=303&azaclir=clir | BGE_128_V_29 |
|||
ebf3bb10-320f-4f3b-9091-8bd3cf99dde6 | 1 | 84 | 1,333,233 | 725,846,400,000 | 1,993 | de | Sachverhalt
ab Seite 298
BGE 119 V 298 S. 298
A.-
Die Eheleute Susanna und Ulrich B., seit 1. September 1969 Mitglieder der Krankenkasse KKB, traten auf den 1. Januar 1992 von der Kollektiv- in die Einzelversicherung über. Dabei wurde festgestellt, dass sie wegen einer falschen Altersgruppenzuteilung (Altersgruppe V statt IV) bei Kasseneintritt für die Krankenpflegeversicherung, seit 1. Februar 1974 auch für die Zusatzversicherung, zu hohe Prämien bezahlt hatten. Mit Verfügung vom 20. Juli 1992 anerkannte die KKB einen Rückerstattungsanspruch, dies jedoch nur für die letzten 5 Jahre, 1987 bis 1991; für die weiter zurückliegenden Jahre sei der Anspruch verwirkt.
B.-
Beschwerdeweise beantragte Ulrich B., die KKB sei zur "Rückzahlung der vom 1.2.74 - 31.12.91 unrechtmässig zuviel erhobenen
BGE 119 V 298 S. 299
Prämien" zu verpflichten; allenfalls sei, in "Anwendung der 10jährigen Verjährungsfrist nach OR", der Rückerstattungsanspruch für die Jahre 1982 bis 1991 zu schützen.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wies die Beschwerde mit Entscheid vom 7. Dezember 1992 ab.
C.-
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde erneuert Ulrich B. das im kantonalen Verfahren gestellte Eventualbegehren.
Die KKB beantragt Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde; das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) verzichtet auf eine Stellungnahme. | 579 | 233 | Erwägungen
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
(Kognition)
2.
Nach einem allgemeinen Rechtsgrundsatz unterliegen öffentlichrechtliche Forderungen auch beim Fehlen einer ausdrücklichen Gesetzesbestimmung der Verjährung. Regelt der massgebende Erlass Beginn und Dauer der Verjährungsfrist nicht, sind die gesetzlichen Fristenregelungen anderer Erlasse für verwandte Ansprüche heranzuziehen. Dabei ist in erster Linie auf die Ordnung, die das öffentliche Recht für verwandte Fälle aufgestellt hat, zurückzugreifen. Beim Fehlen entsprechender gesetzlicher Vorschriften ist die Verjährungsfrist schliesslich nach allgemeinen Grundsätzen festzulegen (
BGE 112 Ia 262
E. 5 mit Hinweisen; vgl. auch
BGE 113 Ia 154
E. 3d; IMBODEN/RHINOW/KRÄHENMANN, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, Nr. 34 I, III). Ob es sich bei der Frist um eine Verwirkungsfrist handelt, ergibt sich durch Analyse des massgebenden Erlasses (
BGE 111 V 136
E. 3b mit Hinweisen; IMBODEN/RHINOW/KRÄHENMANN, a.a.O., VII).
3.
Das Gesetz über die Krankenversicherung (KUVG) wie auch die Statuten der Beschwerdegegnerin regeln die Verjährung oder Verwirkung des Anspruchs auf Rückerstattung von zu Unrecht zuviel bezahlten Prämien nicht. Das Eidg. Versicherungsgericht hat sich mit dieser Frage bisher nur im Fall der irrtümlichen - wie es entschieden hat zu annullierenden - Aufnahme in die Mitgliedschaft einer Krankenkasse befasst (
BGE 101 V 225
). Mit Bezug auf die geleisteten Prämienzahlungen hielt das Gericht fest, dass es mit der Sozialversicherung kaum vereinbar wäre, der Kasse das Recht einzuräumen, diese ganz oder teilweise zu behalten. Denn zu Unrecht bezahlte Beiträge (Prämien) sind, wie namentlich
Art. 16 Abs. 3
BGE 119 V 298 S. 300
AHVG
statuiert, grundsätzlich rückzuerstatten (
BGE 101 V 228
E. 3).
Die Krankenversicherung ist Teil der Sozialversicherung. Es ist daher, wie Beschwerdegegnerin und kantonales Gericht richtig feststellen, vorab im (übrigen) Sozialversicherungsrecht nach einer passenden Regelung zu suchen.
4.
a) Nach
Art. 16 Abs. 3 Satz 1 AHVG
erlischt der Anspruch auf Rückerstattung zuviel bezahlter Beiträge mit Ablauf eines Jahres, nachdem der Beitragspflichtige von seinen zu hohen Leistungen Kenntnis erhalten hat, spätestens aber fünf Jahre nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Beiträge bezahlt wurden. Sinn und Zweck dieser Bestimmung bestehen darin, dass "aus Gründen der Rechtssicherheit und aus verwaltungstechnischen Erwägungen (...) nach Ablauf eines bestimmten Zeitraumes in einem bestimmten Schuldverhältnis zwischen AHV und Beitragspflichtigen Ruhe eintreten" solle (
BGE 97 V 148
E. 2a). Gemäss Rechtsprechung handelt es sich bei diesen Fristen um Verwirkungsfristen (
BGE 111 V 136
E. 3b mit Hinweisen). Die Rückerstattungsordnung nach
Art. 16 Abs. 3 Satz 1 AHVG
gilt kraft gesetzlicher Vorschrift auch in der Invalidenversicherung, der Erwerbsersatzordnung, der Unfallversicherung, der Arbeitslosenversicherung und bei den Familienzulagen in der Landwirtschaft (
Art. 3 Abs. 2 IVG
,
Art. 27 Abs. 3 EOG
,
Art. 94 Abs. 2 UVG
,
Art. 6 AVIG
sowie
Art. 18 Abs. 3 FLG
).
b) aa) Der Rückforderungsanspruch im Leistungsbereich unterliegt nach
Art. 47 Abs. 2 AHVG
grundsätzlich ebenfalls einer relativen einjährigen und einer absoluten fünfjährigen Verwirkungsfrist (
BGE 111 V 137
E. 3c). Gleichgeschaltete Regelungen finden sich in
Art. 49 IVG
,
Art. 27 Abs. 1 ELV
,
Art. 20 Abs. 2 EOG
und
Art. 11 Abs. 2 FLG
. Die einschlägigen Bestimmungen in der Unfall- und in der Arbeitslosenversicherung, nämlich
Art. 52 Abs. 2 UVG
und
Art. 95 Abs. 4 AVIG
(in Kraft seit 1. Januar 1984), sind
Art. 47 Abs. 2 AHVG
nachgebildet (BBl 1976 III S. 141; BBl 1980 III S. 632). Demgegenüber verwies der bis 31. Dezember 1983 gültig gewesene Art. 99 Abs. 1 aKUVG für die Rückforderung nicht geschuldeter Leistungen der Unfallversicherung (noch) auf das Institut der ungerechtfertigten Bereicherung (
Art. 62 ff. OR
).
bb) Im Bereich der Krankenversicherung fehlt eine Bestimmung. Das Eidg. Versicherungsgericht hat im Grundsatzurteil EVGE 1967 S. 5, bestätigt in
BGE 102 V 99
E. 1 (vgl. auch
BGE 115 V 118
E. 3b,
BGE 112 V 194
oben), festgestellt, dass bei Fehlen einer statutarischen Regelung für diesen Leistungsbereich
Art. 47 AHVG
sinngemäss
BGE 119 V 298 S. 301
anwendbar sei. Das Gericht führte zur Begründung an, dass (auch privatrechtlich organisierte) Kassen trotz ihrer Autonomie (
Art. 1 Abs. 2 KUVG
) eine öffentliche Aufgabe erfüllen. Dies äussere sich namentlich in ihrer Verfügungskompetenz gemäss
Art. 30 KUVG
. Die Rückerstattungsfrage könne daher nicht nur eine Frage des Zivilrechts und die Regeln über die ungerechtfertigte Bereicherung nach
Art. 62 ff. OR
könnten nicht (nicht einmal vermutungsweise) unmittelbar anwendbar sein. Somit liege eine Lücke vor, welche durch eine passende, dem wesentlichen Charakter der Krankenversicherung Rechnung tragende Lösung in verwandten Rechtsgebieten zu füllen sei. Stünden hier die Merkmale der Sozialversicherung im Vordergrund, so dränge sich die sinngemässe Übernahme der in der AHV und weiteren Bereichen der Sozialversicherung festgeschriebenen Rückerstattungsordnungen auf. Diese Regeln, namentlich
Art. 47 AHVG
, würden gleichzeitig den Zielen der Versicherung und dem Schutz der sozial legitimen Interessen der Versicherten bestens Rechnung tragen (EVGE 1967 S. 13 E. 3c).
In
BGE 103 V 152
E. 4 erklärte das Gericht
Art. 47 Abs. 2 AHVG
auch im Verhältnis Krankenkasse/Arzt für sinngemäss anwendbar.
c) Aus den genannten Gründen, namentlich mit Blick auf die vom Sozialversicherungsgesetzgeber angestrebte Harmonisierung der Rückerstattungsordnungen im Beitrags- und im Leistungsbereich (E. 4a, b hievor; vgl. auch Art. 32 in Verbindung mit Art. 1 des Entwurfs zu einem Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts [BBl 1992 II S. 186 ff., 195]), muss
Art. 16 Abs. 3 Satz 1 AHVG
sinngemäss (auch) in der sozialen Krankenversicherung zur Anwendung gelangen. Damit unterliegen Rückforderungsansprüche von Krankenkassen und Versicherten derselben Verwirkungsordnung. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass (zugunsten der Versicherten) das Gesetz Härtefällen Rechnung trägt (
Art. 47 Abs. 1 AHVG
) und gemäss Rechtsprechung der Vertrauensschutz uneingeschränkt auch im Anwendungsbereich von
Art. 47 AHVG
greift (
BGE 116 V 298
).
5.
Ist nach dem Gesagten auf den streitigen Rückerstattungsanspruch
Art. 16 Abs. 3 Satz 1 AHVG
sinngemäss anwendbar, kann sich der Beschwerdeführer nicht auf die obligationenrechtliche Verjährungsordnung berufen. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde erweist sich somit als unbegründet. | 2,880 | 1,265 | 2 | 0 | CH_BGE_007 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_007_BGE-119-V-298_1993 | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=12&from_date=&to_date=&from_year=1993&to_year=1993&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=118&highlight_docid=atf%3A%2F%2F119-V-298%3Ade&number_of_ranks=378&azaclir=clir | BGE_119_V_298 |
|||
ebf529dd-c536-408a-bc4b-381581fac45c | 2 | 78 | 1,359,171 | null | 2,024 | fr | Sachverhalt
ab Seite 227
BGE 86 I 226 S. 227
Ignace Rey est propriétaire à Val d'Illiez d'un chalet et d'une scierie, se trouvant côte à côte en bordure de la route Troistorrents-Champéry. L'Etat du Valais envisage de corriger cette route et de la faire passer sur un pont au travers du terrain où la scierie est exploitée. Ignace Rey a réclamé une indemnité totale de 100 000 fr. en raison d'une moins-value de son chalet et des inconvénients que la modification du tracé de la route entraînerait pour l'exploitation de la scierie.
La Commission d'estimation alloua à Rey une indemnité globale de 24 000 fr. Une Commission de revision désignée à la suite d'un recours de Rey refusa tout dédommagement pour le chalet et, en ce qui concerne la scierie, fixa la somme due par l'Etat à 16 000 fr., plus une indemnité mensuelle de 500 fr. pendant la durée des travaux, afin de compenser la perte de gain subie par Rey et par son fils, qui exploité la scierie avec lui; en outre, la Commission de revision invita l'Etat du Valais a céder à Rey une surface de 350 m2 pour assurer les dégagements nécessaires à l'entreprise.
Agissant par la voie d'un recours de droit public pour arbitraire, Ignace Rey a requis le Tribunal fédéral d'annuler la décision de la Commission de revision. Celle-ci ainsi que le Département des travaux publics du canton du Valais ont conclu au rejet du recours. | 336 | 286 | Erwägungen
Considérant en droit:
En vertu de l'art. 90 litt.b OJ, l'acte de recours doit contenir un exposé des faits essentiels et un exposé succinct des droits constitutionnels ou des principes juridiques violés, précisant en quoi consiste la violation. D'après la jurisprudence, l'état de fait prévu par cette disposition doit permettre à lui seul au Tribunal fédéral de savoir exactement quelles sont les circonstances du litige porté devant lui. Il a pour but d'éviter à la Chambre de droit public de devoir rechercher, parmi les pièces du dossier, les faits pertinents pour statuer sur le recours. Le recourant
BGE 86 I 226 S. 228
ne peut se dispenser de le présenter que s'il déclare faire sien un exposé complet de ces faits, exposé déjà contenu dans une pièce déterminée du dossier (par exemple la décision attaquée) à laquelle il se réfère clairement. Quant à l'exposé des droits constitutionnels, il faut, s'agissant d'un recours pour arbitraire, qu'il tende à démontrer, par une argumentation précise, que la décision attaquée repose sur une administration ou une appréciation des preuves, sur une interprétation ou une application de la loi manifestement insoutenables. Le renvoi à des mémoires produits en procédure cantonale est en principe exclu. Le recourant doit exposer tous ses moyens dans l'acte de recours. Il ne peut être autorisé à le compléter que dans l'hypothèse prévue par l'art. 93 al. 2 OJ (RO 86 I 40;
83 I 272
; arrêts non publiés du 16 décembre 1959 dans la cause Gonvers contre Vaud et du 5 octobre 1960 dans la cause Gruaz contre Vaud).
Le recours présenté en l'espèce ne satisfait pas à ces exigences. Il ne contient pas d'exposé des faits essentiels. En effet, il ne désigne pas les parcelles dont le recourant est propriétaire; il ne décrit pas la situation actuelle des lieux; il n'explique pas en quoi ni dans quelle mesure les travaux envisagés par l'autorité cantonale touchent son entreprise et son habitation; enfin, il ne rappelle que partiellement les principales étapes de la procédure cantonale. Pour se renseigner sur ces différents points, il faut dépouiller l'ensemble du dossier. L'argumentation juridique du recours ne remplit pas non plus les conditions posées par la jurisprudence. Si le recourant invoque l'art. 4 Cst. et taxe d'arbitraire la décision attaquée, il n'explique pas d'une manière suffisante en quoi et pourquoi l'opinion de l'autorité cantonale est manifestement dépourvue de toute justification. Comme le recourant ne peut se prévaloir d'aucune des exceptions rappelées ci-dessus, son recours est irrecevable. | 560 | 494 | 2 | 0 | CH_BGE_001 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_001_BGE-86-I-226_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=5&from_date=&to_date=&from_year=1960&to_year=1960&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=41&highlight_docid=atf%3A%2F%2F86-I-226%3Ade&number_of_ranks=206&azaclir=clir | BGE_86_I_226 |
|||
ec05604d-1525-4093-bc86-688b8f356e5a | 1 | 82 | 1,349,349 | null | 2,024 | de | Sachverhalt
ab Seite 371
BGE 127 III 371 S. 371
Als im Jahre 1995 über A. der Konkurs eröffnet wurde, stand ihm bei der WIR Bank ein Verrechnungsguthaben von Fr. 5'516.30 zu. Die WIR Bank erklärte sich mit Schreiben vom 29. November 1995 gegenüber dem Konkursamt zu einer Geldüberweisung bereit mit dem Hinweis, sie bestehe für den Fall einer Einstellung des Konkursverfahrens mangels Aktiven auf einer Rückerstattung. In der Folge wurde der Betrag von Fr. 5'494.10 überwiesen.
BGE 127 III 371 S. 372
Mangels Aktiven wurde das Konkursverfahren am 4. September 2000 rechtskräftig eingestellt. Mit Verfügung vom 8. Januar 2001 ordnete das Konkursamt an, das Guthaben von Fr. 5'494.10, das sich aus der Saldierung des WIR-Kontos Nr. x ergeben habe, werde samt Zins im Betrage von Fr. 70.30 - durch Auszahlung an die WIR Bank - A. zurückerstattet.
Mit Eingabe vom 17. Januar 2001 erhob A. beim Kantonsgericht St. Gallen als kantonaler Aufsichtsbehörde für Schuldbetreibung und Konkurs Beschwerde und verlangte, der Betrag von Fr. 5'564.40 sei direkt ihm auszuzahlen. Die Beschwerde wurde am 27. Februar 2001 abgewiesen.
Soweit die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer des Bundesgerichts auf die von A. gegen den Entscheid der kantonalen Aufsichtsbehörde erhobene Beschwerde eintritt, heisst sie diese gut. | 563 | 236 | Erwägungen
Aus den Erwägungen:
4.
In der Verfügung des Konkursamtes, wonach der Betrag von Fr. 5'494.10 und der Zins von Fr. 70.30 an die WIR Bank überwiesen werden sollen, erblickt der Beschwerdeführer einen Verstoss gegen
Art. 230 SchKG
: Nach Erlass der Einstellungsverfügung gehe das Verfahren in die Zuständigkeit des Konkursrichters über und verbleibe der Konkursverwaltung einzig noch die Befugnis, die Einstellungsverfügung zu publizieren und die Höhe der für eine allfällige Durchführung des Konkursverfahrens sicherzustellenden Kosten zu bemessen.
a) Die Konkursmasse wird durch das gesamte pfändbare Vermögen gebildet, das dem Schuldner zur Zeit der Konkurseröffnung gehört (
Art. 197 Abs. 1 SchKG
). Dazu zählte hier auch das WIR-(Verrechnungs-)Guthaben des Beschwerdeführers. Da für dieses Guthaben kein Anspruch auf Barauszahlung bestand (dazu
BGE 95 II 176
E. 3 S. 179; Ziff. 3.1.1. der "Geschäftsbedingungen für offizielle WIR-Teilnehmer", Ausgabe vom 1. November 1996), hätte es sich nicht im Sinne von
Art. 243 Abs. 1 SchKG
durch das Konkursamt eintreiben lassen; der Anspruch hätte öffentlich versteigert oder allenfalls freihändig veräussert werden müssen (
Art. 256 Abs. 1 SchKG
; vgl. JOHANNA MAYER-LADNER, Verwertung von WIR-Guthaben, in: Insolvenz- und Wirtschaftsrecht [IWIR] 1999, S. 14). Die WIR Bank kam den Konkursgläubigern, ohne Anerkennung einer Rechtspflicht, entgegen und überwies der Konkursverwaltung den dem Guthaben entsprechenden Geldbetrag,
BGE 127 III 371 S. 373
allerdings mit der Erklärung, dass dieser im Falle einer Einstellung des Konkurses mangels Aktiven zurückzuerstatten wäre. Strittig ist letztlich die Verbindlichkeit dieses Vorbehalts.
b) Die WIR Bank macht zu Recht nicht etwa geltend, sie habe den erwähnten Geldbetrag lediglich hinterlegt. Für eine blosse Hinterlegung liesse sich im Konkursrecht keine Grundlage finden. Wie denn auch aus der vom Beschwerdeführer angefochtenen Verfügung vom 8. Januar 2001 hervorgeht, ist der Betrag auf das Depositenkonto bei der St. Galler Kantonalbank überwiesen worden. Er ist damit in die Masse geflossen und vom Konkursbeschlag erfasst worden (vgl. Art. 18 Abs. 2 der Verordnung des Bundesgerichts vom 13. Juli 1911 über die Geschäftsführung der Konkursämter [KOV; SR 281.32]; Ziffer 2 der Richtlinien der Schuldbetreibungs- und Konkurskammer vom 30. August 1972 für das konkursamtliche Rechnungswesen, abgedruckt in:
BGE 98 III 1
ff.). Mit der richterlichen Einstellung des Konkursverfahrens und dem Ablauf der Frist nach
Art. 230 Abs. 2 SchKG
für ein allfälliges Begehren eines Gläubigers, das Verfahren gleichwohl durchzuführen, sind sodann die Befugnisse der Konkursorgane hinsichtlich Verwaltung und Verwertung der Masse dahingefallen. Ebenso ist das Beschlagsrecht der Konkursgläubiger am noch vorhandenen Vermögen des Gemeinschuldners erloschen. Es besteht mit andern Worten kein Massavermögen mehr, aus dem der in Frage stehende Betrag an die WIR Bank überwiesen werden könnte (dazu
BGE 102 III 85
E. 2 S. 87 mit Hinweisen). Eine solche Überweisung fällt auch aus einem andern Grund ausser Betracht: Das Vermögen, das dem ehemaligen Konkursiten grundsätzlich wieder zur freien Verfügung steht, haftet dessen Gläubigern neu in der Weise, dass die vor der Konkurseröffnung eingeleiteten Betreibungen wieder aufleben (
Art. 230 Abs. 4 SchKG
) und dass während zwei Jahren neue Betreibungen auch auf Pfändung eingeleitet werden können (
Art. 230 Abs. 3 SchKG
). Durch eine Rückerstattung an die WIR Bank, wie sie das Konkursamt gestützt auf deren Vorbehalt für den Fall der Einstellung des Konkurses mangels Aktiven in Aussicht genommen hat, würde dieses Haftungssubstrat in gesetzwidriger Weise geschmälert. Als Aussenstehende haben die Gläubiger des Beschwerdeführers sich weder die Geschäftsbedingungen der WIR Bank noch Erklärungen der Organe der Bank entgegenhalten zu lassen.
5.
Der Vorbehalt der WIR Bank, der der angefochtenen Verfügung des Konkursamtes zugrunde liegt, widerspricht nach dem
BGE 127 III 371 S. 374 | 1,739 | 712 | Gesagten den die Verhältnisse nach Einstellung des Konkursverfahrens regelnden Bestimmungen. Er ist für die Konkursorgane daher unbeachtlich. In Aufhebung von Dispositiv-Ziffer 2 der Verfügung vom 8. Januar 2001 ist das Konkursamt daher anzuweisen, (auch) den strittigen Betrag - direkt - dem Beschwerdeführer herauszugeben. Ob der Beschwerdeführer allenfalls verpflichtet ist, bei der WIR Bank ein Verrechnungskonto zu unterhalten bzw. neu eröffnen zu lassen und ob er in diesem Zusammenhang den strittigen Betrag an die Bank zu überweisen hat, bestimmt sich ausschliesslich nach den Geschäftsbedingungen der WIR Bank. Die Frage ist - ausserhalb des Konkursverfahrens - gegebenenfalls vom Richter zu beurteilen. | 308 | 113 | CH_BGE_005 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_005_BGE-127-III-371_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=16&from_date=&to_date=&from_year=2001&to_year=2001&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=158&highlight_docid=atf%3A%2F%2F127-III-371%3Ade&number_of_ranks=284&azaclir=clir | BGE_127_III_371 |
||
ec1b9d05-065f-4c58-bde0-bc6b86bb2b8e | 1 | 82 | 1,333,036 | 631,152,000,000 | 1,990 | de | Sachverhalt
ab Seite 56
BGE 116 III 56 S. 56
A.-
In einer Lohnpfändung verlangte die Gläubigerin Lipo-Möbelposten AG vom Betreibungsamt Bremgarten, es habe die Zinsberechnung auf die Forderung bis zur Auszahlung des Erlöses an die Gläubigerin vorzunehmen. Demgegenüber berechnete das Betreibungsamt den Zins nur bis zum Zeitpunkt, wo der Arbeitgeber den gepfändeten Lohnanteil dem Betreibungsamt zahlte.
Die Lipo-Möbelposten AG beschwerte sich beim Gerichtspräsidium Bremgarten, indem sie im wesentlichen (mit dem Rechtsbegehren Ziff. 1) beantragte, es sei ihr eine Zinsdifferenz von Fr. 25.90, evtl. Fr. 24.80 zu vergüten, und weiter (mit dem Rechtsbegehren Ziff. 2) verlangte, es sei ihr eine Zinsdifferenz von Fr. 42.50, evtl. Fr. 39.30 zu vergüten.
Die untere kantonale Aufsichtsbehörde hiess die Beschwerde insofern gut, als sie das Betreibungsamt Bremgarten anwies, von
BGE 116 III 56 S. 57
der ersten Lohnpfändungsrate vorab die Betreibungskosten von Fr. 97.50 an die Forderung anzurechnen (
Art. 68 Abs. 2 SchKG
). Die Auffassung der Gläubigerin hinsichtlich der Zinsberechnung wurde vom Gerichtspräsidium Bremgarten indessen mit der Begründung verworfen, dass nach
Art. 12 Abs. 2 SchKG
die Schuld durch Zahlung an das Betreibungsamt getilgt werde. Dies treffe auch für eine bestrittene Lohnpfändung zu, da die Zahlung an das Betreibungsamt als Hinterlegung zu betrachten sei. Die Hauptforderung sei daher jeweils in der Höhe der eingegangenen Lohnpfändungen vermindert worden, so dass die Zinspflicht vom Eingang der Lohnpfändung an nur noch für die verminderte Forderung weitergelaufen sei.
B.-
Die Schuldbetreibungs- und Konkurskommission des Obergerichts des Kantons Aargau wies in ihrer Sitzung vom 6. Juni 1990 die Beschwerde gegen den erstinstanzlichen Entscheid ab, soweit darauf eingetreten werden konnte.
Ebenso wies die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer des Bundesgerichts den von der Gläubigerin erhobenen Rekurs ab aus folgenden | 460 | 324 | Erwägungen
Erwägungen:
2.
Zu beantworten ist im vorliegenden Fall die Frage der Zinsberechnung bei der Lohnpfändung. Sie hat sich - wie der angefochtene Entscheid festhält - in der vorliegenden Lohnpfändung nicht nur gestellt, weil mit der Auszahlung der Lohnquoten an die Gläubigerin bis nach Ablauf des Lohnpfändungsjahres zugewartet wurde, sondern auch, weil nach Beginn der Lohnpfändung (am 1. April 1989) ein Widerspruchsverfahren gemäss
Art. 107 SchKG
eingeleitet wurde und sich dadurch die Verteilung an die Gläubiger verzögerte.
a) Während
Art. 209 SchKG
klar bestimmt, dass mit der Eröffnung des Konkurses gegenüber dem Gemeinschuldner der Zinsenlauf für alle Forderungen, mit Ausnahme der pfandversicherten, aufhöre, fehlt eine analoge Vorschrift für die Betreibung auf Pfändung und auf Pfandverwertung.
Art. 144 Abs. 4 SchKG
, worauf sich die Rekurrentin beruft, hält im Hinblick auf die Verteilung lediglich fest, dass der Reinerlös den beteiligten Gläubigern bis zur Höhe ihrer Forderungen, einschliesslich des laufenden Zinses und der Betreibungskosten, ausgerichtet werden; dasselbe schreibt
Art. 157 Abs. 2 SchKG
für die Betreibung auf Pfandverwertung
BGE 116 III 56 S. 58
vor. Auf die Frage, wie lange die Zinsen laufen, geben die beiden letzteren Gesetzesbestimmungen keine Antwort.
b) Die Rekurrentin beruft sich auf den Kommentar JAEGER (3. Auflage Zürich 1911; N. 6 zu
Art. 144 SchKG
), wo wörtlich gesagt wird: "Als Endtermin des Zinsenlaufs ist der Tag der Auflegung des Verteilungsplanes anzunehmen." Auch sieht sie ihre Auffassung an anderer Stelle desselben Kommentars (N. 17 zu
Art. 67 SchKG
) bestätigt. Sie könnte sich überdies bei JOOS (Handbuch für die Betreibungsbeamten der Schweiz, Wädenswil 1964, S. 266) bestätigt sehen, der - bezüglich der Betreibung auf Pfändung - ausführt, es sei in den Kollokationsplan der Zins, ausgerechnet auf den Tag der Auflegung des Kollokationsplanes, einzutragen.
Die Meinung der Rekurrentin verträgt sich in der Tat mühelos mit der Betreibung auf Pfändung, die zur Verwertung von Vermögensgegenständen des Schuldners führt. Vorliegend geht es indessen um eine Lohnpfändung. Sie rechtfertigt die Betrachtungsweise des Betreibungsamtes und der kantonalen Aufsichtsbehörden, dass die Pflicht des Schuldners zur Verzinsung seiner Schuld in dem Umfang und von dem Zeitpunkt an aufhöre, da beim Betreibungsamt Lohnquoten des Schuldners eingehen. Wie im kantonalen Verfahren zutreffend erkannt worden ist, lässt sich diese Auffassung auf
Art. 12 Abs. 2 SchKG
stützen, wonach die Schuld durch die Zahlung an das Betreibungsamt erlischt. In diesem Sinne führt denn auch der Kommentar JAEGER (N. 5 zu
Art. 12 SchKG
) aus, die Schuld erlösche mit dem Tag der Zahlung an das Betreibungsamt ohne Rücksicht darauf, ob überhaupt und wann das Geld von diesem dem Gläubiger abgeliefert werde (ebenso, schon von der Vorinstanz zitiert, BLUMENSTEIN, Handbuch des Schweizerischen Schuldbetreibungsrechtes, Bern 1911, S. 47; FRITZSCHE/ WALDER, Schuldbetreibung und Konkurs, Band I, Zürich 1984, § 12 Rz. 2; AMONN, Grundriss des Schuldbetreibungs- und Konkursrechts, 4. Auflage Bern 1988, § 4 N. 18). Mögen wohl die zitierten Autoren nur oder in erster Linie den Fall vor Augen haben, wo der Schuldner aus eigenem Antrieb seine Schuld durch vollständige Zahlung an das Betreibungsamt begleicht, so ist doch nicht einzusehen, weshalb nicht durch die Zahlung von Lohnquoten in der Lohnpfändung die Schuld als teilgetilgt betrachtet werden sollte (vgl. zur teilweisen Befreiung durch Teilzahlung GILLIÉRON, Poursuite pour dettes, faillite et concordat, 2. Auflage Lausanne 1988, S. 48 oben).
BGE 116 III 56 S. 59
Zu beachten ist nun aber vor allem, dass es bei einer Lohnpfändung nicht zu einer Versteigerung der gepfändeten Vermögenswerte kommt. Der Einzug der fälligen Beträge erübrigt die Verwertung (AMONN, a.a.O., §§ 65 f.). Charakteristischer Zeitpunkt ist somit nicht der Zeitpunkt, wo zur Verwertung und Verteilung geschritten wird, sondern der Augenblick, wo die Lohnquoten beim Betreibungsamt eingehen. Es ist daher auch aus dieser Sicht folgerichtig, wenn der Schuldner entsprechend der Zahlung von Lohnquoten von der Schuld und der damit verbundenen Zinspflicht befreit wird. | 1,010 | 757 | 2 | 0 | CH_BGE_005 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_005_BGE-116-III-56_1990 | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=15&from_date=&to_date=&from_year=1990&to_year=1990&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=145&highlight_docid=atf%3A%2F%2F116-III-56%3Ade&number_of_ranks=406&azaclir=clir | BGE_116_III_56 |
|||
ec1bf2a9-e621-4834-aee4-a8297f4306ad | 1 | 78 | 1,340,254 | null | 2,024 | de | Sachverhalt
ab Seite 507
BGE 93 I 506 S. 507
Aus dem Tatbestand:
Die Kantone St.Gallen, Schwyz und Zürich und die Schweizerische Südostbahn vereinbarten im Jahre 1938, die Strasse und die Eisenbahn über den Zürichsee zwischen Rapperswil und Pfäffikon (Schwyz) auf einen neuen Damm zu verlegen und einen neuen, diesen Damm kreuzenden Schiffahrtskanal durch die auf Schwyzer Gebiet liegende Hurdener Landzunge zwischen dem oberen und dem unteren Zürichsee zu erstellen. Für diese Werke, insbesondere den Kanalbau, wurde Land der Korporation Pfäffikon, einer juristischen Person des schwyzerischen Rechts, in Anspruch genommen.
In einem öffentlich beurkundeten Vertrag vom 16. Juni 1939, welchen der Kanton Schwyz, die Südostbahn und das aus den Kantonen St.Gallen, Schwyz und Zürich sowie der Südostbahn bestehende Bauunternehmen mit der Korporation Pfäffikon abschlossen, wurden verschiedene die Bauvorhaben betreffende Fragen geordnet. Nach Art. 10 dieses Vertrages übernahm die Korporation die Erstellung des Kanalabschnitts zwischen der neuen Strassen- und Eisenbahnbrücke und dem oberen Zürichsee. In lit. b daselbst wurde bestimmt, dass das vorgesehene Kanalprofil "auch bei späteren und erweiterten Ausbaggerungen" dauernd offen gehalten werden müsse. In Art. 11 des Vertrages wurde vereinbart, dass das oberseeseitige Teilstück des Kanals nach seiner Fertigstellung unentgeltlich in das Eigentum des Kantons Schwyz übergehe und dieser dagegen der Korporation das unentgeltliche Recht einräume, "den Seegrund des Kanals tiefer zu baggern oder baggern zu lassen".
Die Korporation übertrug die Erstellung des oberseeseitigen Kanalabschnitts der Kibag AG gegen Entschädigung für die damit verbundene Kies- und Sandausbeutung. Der Kanal wurde in den Jahren 1939 und 1940 gebaut.
Später erwarb die Kibag AG von der Korporation das Recht zur Kies- und Sandausbeutung in einer Parzelle im Hurdenerfeld südlich des oberseeseitigen Teilstücks des neuen Kanals. Die Korporation will nun den Kanal in diesem Abschnitt durch die Kibag AG breiterbaggern lassen. Sie ersuchte den Regierungsrat des Kantons Schwyz um Feststellung, dass sie hiezu nach dem Vertrag vom 16. Juni 1939 berechtigt sei. Der Regierungsrat wies das Begehren am 23. August 1965 ab.
Diesen Entscheid ficht die Korporation mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
BGE 93 I 506 S. 508
beim Bundesgericht an; sie erneuert ihr Feststellungsbegehren, unter Hinweis auf die Verhandlungen vor dem Abschluss des Vertrages vom 16. Juni 1939.
Der Regierungsrat ist der Meinung, dass die Beschwerdeführerin kein rechtliches Interesse an der von ihr begehrten Feststellung habe und ihr Begehren auf jeden Fall unbegründet sei.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut. | 596 | 443 | Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Der Kanton Schwyz hat gestützt auf
Art. 114 bis Abs. 4 BV
in § 1 Abs. 3 seines Gesetzes über die Verwaltungsrechtspflege vom 18. Juli 1951 (VRPG) Verwaltungsstreitfälle, bei denen er als Partei beteiligt ist, mit Ausnahme der Steuer- und Expropriationsstreitigkeiten dem Bundesgericht als Verwaltungsgericht zur Beurteilung überwiesen. Auf diese Streitfälle ist das für die Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht vorgesehene Verfahren anzuwenden; die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist zulässig gegen Entscheide des Regierungsrates des Kantons Schwyz (Art. 2 BB vom 16. Dezember 1952 über die Genehmigung von § 1 Abs. 3 VRPG). Auf diese Ordnung stützt sich die vorliegende Verwaltungsgerichtsbeschwerde, die gegen einen Entscheid des schwyzerischen Regierungsrates gerichtet ist. Sie ist zulässig, wenn der Anstand zu den Verwaltungsstreitfällen gehört, die § 1 Abs. 3 VRPG dem Bundesgericht zuweist.
Die Beschwerdeführerin will den oberseeseitigen Abschnitt des Hurdener Schiffahrtskanals breiterbaggern lassen. Auch wenn die Baggerei von ihrem Land im Hurdenerfeld her gegen den Kanal vorgetrieben werden soll, kann das Projekt doch nur durchgeführt werden, wenn Material (Kies und Sand), das heute unter der Wasserfläche des Kanals liegt, gehoben wird. Da der Kanton Schwyz heute Eigentümer des oberseeseitigen Kanalabschnitts ist, kann die Beschwerdeführerin ihr Vorhaben nur verwirklichen, wenn sie das Eigentum des Kantons in Anspruch nehmen darf. Sie behauptet, hiezu nach dem Vertrag, den sie am 16. Juni 1939 mit dem Kanton Schwyz (und weiteren Partnern) abgeschlossen hat, berechtigt zu sein, während der Kanton der Ansicht ist, dass dieser Vertrag ein solches Recht der Beschwerdeführerin gerade ausschliesse. Der Streit dreht
BGE 93 I 506 S. 509
sich deshalb in erster Linie um die Auslegung des Vertrages. Es ist zu prüfen, ob die Vertragsbestimmungen, auf die sich die Parteien berufen, privatrechtlicher oder verwaltungsrechtlicher Natur sind.
Dafür ist nicht entscheidend, ob die Korporation Pfäffikon eine juristische Person des öffentlichen oder aber des privaten kantonalen Rechts ist (was als unsicher erscheint, vgl. SCHÄDLER, Die Allmeind-Korporationen im Bezirke Einsiedeln, Diss. Freiburg 1941, S. 33 ff.); denn einen verwaltungsrechtlichen Vertrag kann ein Gemeinwesen auch mit einem Privaten abschliessen. Massgebend ist vielmehr der Inhalt des Vertrages.
Der Vertrag vom 16. Juni 1939 regelt einerseits in Art. 1 ff. und 14 ff. den Verkauf von Grundstücken der Beschwerdeführerin an den Kanton Schwyz und die Südostbahn zur Erstellung des neuen Bahn- und Strassentrasses und des unterseeseitigen Abschnitts des neuen Schiffahrtskanals durch das von den beteiligten Kantonen und der Bahn gebildete Unternehmen. Die Käufer hätten für diese im öffentlichen Interesse liegenden Werke das Enteignungsrecht in Anspruch nehmen können. Freihandkäufe unterstehen indessen dem Privatrecht auch dann, wenn sie vom Gemeinwesen für solche Zwecke getätigt werden (ZWAHLEN, Le contrat de droit administratif, ZSR 1958, S. 534 a). Als Enteignungsverträge, die dem öffentlichen Recht angehören, werden lediglich Einigungen betrachtet, die nach Einleitung und innerhalb des Enteignungsverfahrens zustande kommen (ZWAHLEN a.a.O., S. 535 a; IMBODEN, Der verwaltungsrechtliche Vertrag, ZSR 1958, S. 139 a).
Anderseits regelt der Vertrag vom 16. Juni 1939 in den Art. 10-13, wo sich die umstrittenen Bestimmungen finden, die Erstellung des oberseeseitigen Abschnitts des Kanals durch die Beschwerdeführerin. Auch hier hat man es mit einem dem öffentlichen Interesse dienenden Werk zu tun. Überträgt ein Gemeinwesen einem Unternehmen die Errichtung eines solchen Werkes gegen Entgelt, so liegt freilich ein privatrechtlicher Werkvertrag vor. Die Beschwerdeführerin hat jedoch die Erstellung des oberseeseitigen Kanalabschnitts unentgeltlich übernommen, und sie hat sogar das dafür beanspruchte Land unentgeltlich dem Kanton Schwyz abgetreten. Eine solche Abmachung ist nur denkbar, wenn der zur Ausführung des Werkes Verpflichtete ein besonderes Interesse an dessen Zustandekommen
BGE 93 I 506 S. 510
hat. So verhält es sich hier in der Tat; denn die Beschwerdeführerin wollte die in ihrem Boden liegenden Kies- und Sandvorkommen ausbeuten, und sie war in der Lage, die Aushebung des oberseeseitigen Kanalabschnitts der Kibag gegen Entschädigung für die damit verbundene Kies- und Sandausbeutung zu übertragen. Zwar hätte der Beschwerdeführerin die Ausbeutung des Kieses und Sandes im Gebiete, in dem sich heute der oberseeseitige Kanalabschnitt befindet, auch dann nicht verwehrt werden können, wenn der Kanal nicht gebaut worden wäre. Aber die Beschwerdeführerin hätte jenen Kanalabschnitt ohne Bewilligung seitens des Kantons Schwyz nicht erstellen dürfen. Nach alldem fallen die Art. 10-13 des Vertrages vom 16. Juni 1939 aus dem Rahmen der privatrechtlichen Verträge heraus, die ein Gemeinwesen üblicherweise zur Verwirklichung seiner Aufgaben abschliesst. Sie sind als verwaltungsrechtlicher Vertrag zu betrachten ("contrat de collaboration", ZWAHLEN a.a.O., S. 632 a).
Auf diesen Vertrag ist in erster Linie das Verwaltungsrecht des Kantons Schwyz anwendbar. Bundesrecht kommt, soweit es nicht dem kantonalen Rechte vorgeht, nur als stellvertretendes kantonales Recht zur Anwendung. In diesem Sinne sind die Grundsätze heranzuziehen, die im Bundesrecht für die Auslegung der Verträge im allgemeinen und der verwaltungsrechtlichen Verträge im besonderen massgebend sind.
Somit handelt es sich hier um einen dem Schwyzer Recht unterstehenden Verwaltungsstreitfall, an dem der Kanton Schwyz als Partei beteiligt ist und der weder eine Steuer- noch eine Expropriationsstreitigkeit darstellt. Die Beschwerde richtet sich gegen einen Entscheid, den der Regierungsrat des Kantons Schwyz in diesem Streitfall als Hoheitsträger getroffen hat. Daraus folgt, dass das Bundesgericht nach § 1 Abs. 3 VRPG zur Beurteilung der Beschwerde zuständig ist.
2.
Die Beschwerdeführerin verlangt die Feststellung, dass ihr das Recht auf Breiterbaggerung des (oberseeseitigen) Kanals zustehe. Der Regierungsrat hat im angefochtenen Entscheide dieses Begehren nicht etwa als unzulässig erachtet; er ist vielmehr darauf eingetreten und hat es abgewiesen. Er kann daher im Verfahren vor Bundesgericht nicht mehr geltend machen, die Beschwerdeführerin habe kein rechtliches Interesse an der von ihr begehrten Feststellung. Die Beschwerdeführerin hat gemäss § 1 Abs. 3 VRPG Anspruch darauf, dass der Entscheid
BGE 93 I 506 S. 511
des Regierungsrates aufgehoben wird, wenn sich herausstellt, dass er ihr das Recht zur Breiterbaggerung des Kanals zu Unrecht abspricht. Auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist einzutreten.
3.
Der Vertrag vom 16. Juni 1939 behält in Art. 10 lit. b "spätere und erweiterte Ausbaggerungen" der oberseeseitigen Kanalstrecke durch die Beschwerdeführerin vor. Die Parteien streiten darüber, ob unter den "erweiterten Ausbaggerungen" nicht nur Tieferbaggerungen, sondern auch Breiterbaggerungen zu verstehen seien. In der Tat ist der Wortlaut des Vertrages in dieser Beziehung nicht eindeutig. Er bedarf daher der Auslegung.
Im Bundeszivilrecht gilt der Grundsatz, dass Verträge nach den Regeln von Treu und Glauben auszulegen sind (Vertrauensprinzip). Danach ist einer Willensäusserung der Sinn zu geben, den ihr der Empfänger auf Grund der Umstände, die ihm im Zeitpunkt des Empfangs bekannt waren oder hätten bekannt sein müssen, in guten Treuen beilegen durfte (
BGE 90 II 454
Erw. 3; MERZ, Komm. zu
Art. 2 ZGB
, N. 121 ff.). Schon bei den Verhandlungen vor dem Vertragsabschluss haben die Parteien sich nach Treu und Glauben zu verhalten. Insbesondere muss eine Partei die andere in einem gewissen Umfang über Umstände aufklären, die für deren Entscheidung, einen Vertrag überhaupt oder unter bestimmten Bedingungen abzuschliessen, massgebend sind (
BGE 90 II 455
Erw. 4). Unterlässt sie dies, so muss sie dulden, dass der Vertrag so ausgelegt wird, wie ihn der Partner angesichts der ihm bekannten oder erkennbaren Tatsachen verstehen durfte.
Auch verwaltungsrechtliche Verträge sind grundsätzlich nach dem Vertrauensprinzip auszulegen. Immerhin ist zu beachten. dass die Verwaltung beim Abschluss solcher Verträge den öffentlichen Interessen Rechnung tragen muss. In Zweifelsfällen ist zu vermuten, dass sie keinen Vertrag abschliessen will, der mit den von ihr zu wahrenden öffentlichen Interessen in Widerspruch steht, und dass auch der Vertragspartner sich hierüber Rechenschaft gibt (
BGE 61 I 74
ff.,
BGE 78 I 389
,
BGE 90 I 126
Erw. 5; ZWAHLEN a.a.O., S. 630 a). Indessen wäre es verfehlt, in allen Fällen der dem öffentlichen Interesse besser dienenden Auslegung den Vorzug zu geben. Die Wahrung der öffentlichen Interessen findet vielmehr gerade ihre Schranke im Vertrauensprinzip, d.h. sie darf nicht dazu führen, dass bei der Vertragsauslegung dem gewaltunterworfenen Vertragspartner Auflagen
BGE 93 I 506 S. 512
gemacht werden, die er beim Vertragsabschluss vernünftiger weise nicht voraussehen konnte. | 1,938 | 1,523 | 2 | 0 | CH_BGE_001 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_001_BGE-93-I-506_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=11&from_date=&to_date=&from_year=1967&to_year=1967&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=107&highlight_docid=atf%3A%2F%2F93-I-506%3Ade&number_of_ranks=203&azaclir=clir | BGE_93_I_506 |
|||
ec1ff7cb-f1d9-4ec3-bde3-73fce9c77892 | 1 | 83 | 1,338,337 | -94,694,400,000 | 1,967 | de | Sachverhalt
ab Seite 63
BGE 93 IV 63 S. 63
A.-
Von der Crone holte am 10. Dezember 1965 gegen 18.45 Uhr mit seinem Personenauto auf der Hauptstrasse von Oberentfelden nach Suhr eine mit 60-70 km/Std fahrende, aus einem Lastwagen und drei nachfolgenden Personenwagen bestehende Kolonne ein und begann diese sogleich mit einer Geschwindigkeit von ca. 80 km/Std zu überholen. Als er dem hintersten Wagen vorgefahren war, musste er wegen Fahrzeugen, die aus der Gegenrichtung auftauchten, sein Überholmanöver vorzeitig abbrechen und zwischen den zwei letzten Wagen, die einen Abstand von 20-30 m voneinander hatten, in die Kolonne einbiegen.
BGE 93 IV 63 S. 64
B.-
Das Bezirksgericht Aarau verurteilte von der Crone wegen Widerhandlung gegen
Art. 35 Abs. 2 und 3 SVG
in Anwendung von
Art. 90 Ziff. 1 SVG
zu einer Busse von Fr. 40.-.
Das Obergericht des Kantons Aargau wies die Berufung, die der Verurteilte gegen das bezirksgerichtliche Urteil einreichte, am 26. Januar 1967 ab.
C.-
Von der Crone führt gegen das Urteil des Obergerichts Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, er sei freizusprechen. | 265 | 213 | Erwägungen
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1.
Nach
Art. 35 Abs. 2 SVG
ist das Überholen nur gestattet, wenn der nötige Raum übersichtlich und frei ist und der Gegenverkehr nicht behindert wird. Im Kolonnenverkehr darf nur überholen, wer die Gewissheit hat, rechtzeitig und ohne Behinderung anderer Fahrzeuge wieder einbiegen zu können.
Der Beschwerdeführer begann die aus vier Motorfahrzeugen bestehende Kolonne zu überholen, weil er kein entgegenkommendes Fahrzeug sehen konnte. Die Tatsache allein, dass zu Beginn des Überholens kein Gegenverkehr herrschte, genügte jedoch nicht, um das Überholen für zulässig zu halten. Beim Überholen einer geschlossenen Kolonne gilt die Regel des
Art. 35 Abs. 2 Satz 1 SVG
ebenso wie beim Überholen eines einzelnen Fahrzeuges. Das Überholen ist nur gestattet, wenn der Überholende von Anfang an damit rechnen darf, dass die zum Überholen erforderliche Strecke bis zum vollständigen Abschluss des Manövers auch frei bleiben werde. In diesem Sinne ist schon früher entschieden worden (
BGE 86 IV 117
Erw. 2;
BGE 89 IV 147
Erw. 3/b).
Gleich verhält es sich, wenn die vorausfahrenden Fahrzeuge keine geschlossene Kolonne bilden, sondern zwischen einzelnen oder mehreren Fahrzeugen Abstände eingehalten werden, die so gross sind, dass sie einem Überholenden ohne weiteres das Wiedereinbiegen in die rechte Fahrbahn ermöglichen. Das Überholen einzelner oder in geschlossenen Gruppen fahrender Fahrzeuge ist dann insoweit erlaubt, als der Überholende zum voraus sicher sein darf, dass er das Unternehmen gefahrlos abschliessen, d.h. ohne Behinderung des Gegenverkehrs und der zu Überholenden in einer Lücke wieder nach rechts einschwenken kann (
BGE 86 IV 119
).
Art. 35 Abs. 2 Satz 2 SVG
, der ausdrücklich vorschreibt,
BGE 93 IV 63 S. 65
dass im Kolonnenverkehr der Überholende die Gewissheit haben muss, rechtzeitig und ohne Behinderung anderer Fahrzeuge wieder einbiegen zu können, bestätigt nur die bisherige Rechtsprechung. Wenn sich die Bestimmung auf den Kolonnenverkehr bezieht, so wird damit nur der Fall hervorgehoben, in welchem der aus der früheren Rechtsprechung übernommene Grundsatz erhöhte Bedeutung hat. Dieser Grundsatz ist jedoch lediglich die Folgerung aus der grundlegenden Vorschrift des
Art. 35 Abs. 2 Satz 1 SVG
bzw. aus der früher entsprechenden des
Art. 46 Abs. 1 Satz 1 MFV
. Er ist daher weiterhin allgemein anwendbar, sowohl beim Überholen eines einzelnen Fahrzeuges als auch beim Überholen einer geschlossenen oder unterbrochenen Fahrzeugkolonne.
2.
Der Beschwerdeführer wollte nach seinen eigenen Angaben die vier Fahrzeuge in einem Zug überholen. Das war nach
Art. 35 Abs. 2 Satz 1 SVG
unzulässig, da feststeht, dass er sein Vorhaben nicht hätte zu Ende führen können, indem sich bereits Fahrzeuge aus der Gegenrichtung näherten, als er erst den am Schlusse der Kolonne fahrenden Wagen überholt hatte. Auch die Berufung auf
Art. 35 Abs. 2 Satz 2 SVG
und darauf, dass der Abstand zwischen dem letzten und zweitletzten Wagen der Kolonne 20-30 m betrug, hilft dem Beschwerdeführer nicht. Das Obergericht stellt fest, dass der Führer des überholten Wagens genötigt war, sein Fahrzeug abzubremsen, um dem Beschwerdeführer, der wegen des Gegenverkehrs das Überholmanöver abbrechen und in die Kolonne einschwenken musste, das Einbiegen zu ermöglichen. Diese tatsächliche Feststellung bindet den Kassationshof (
Art. 273 Abs. 1 lit. b und
Art. 277 bis Abs. 1 BStP
). Aus ihr ergibt sich, dass der überholte Fahrzeugführer seine Fahrt nicht ungestört fortsetzen konnte, somit durch das Einbiegen des Beschwerdeführers behindert wurde, und dass demzufolge der Beschwerdeführer auch dann unzulässigerweise überholt hat, wenn er von Anfang an das Wiedereinbiegen in die Kolonne in Betracht zog, da er keine Gewissheit hatte, dass er es ohne Behinderung anderer werde tun können.
Der Beschwerdeführer hat daher wegen unzulässigen Überholens
Art. 35 Abs. 2 SVG
übertreten und ausserdem wegen mangelnder Rücksichtnahme
Art. 35 Abs. 3 SVG
verletzt, indem er den überholten Kolonnenfahrer durch brüskes Wiedereinbiegen zum Abbremsen zwang. | 864 | 730 | 2 | 0 | CH_BGE_006 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_006_BGE-93-IV-63_1967 | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=14&from_date=&to_date=&from_year=1967&to_year=1967&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=137&highlight_docid=atf%3A%2F%2F93-IV-63%3Ade&number_of_ranks=203&azaclir=clir | BGE_93_IV_63 |
|||
ec262abc-431f-4599-a169-07952d9595bf | 1 | 78 | 1,356,580 | null | 2,024 | de | Sachverhalt
ab Seite 427
BGE 80 I 427 S. 427
Der in Biel wohnhafte italienische Staatsangehörige Caliaro heiratete im Jahre 1938 die Schweizerin Dorothea Bodmer. Diese Ehe wurde vom Amtsgericht Biel am
BGE 80 I 427 S. 428
3. Dezember 1946 getrennt. Am 19. September 1948 sprach dasselbe Gericht auf Klage der Ehefrau, die sich inzwischen wieder ins Schweizerbürgerrecht hatte aufnehmen lassen, die Scheidung aus.
In der Folge lebte Caliaro mit Fanny Wydler von Aarau zusammen. Diese gebar am 6. August 1949 den Knaben Michel. Ein Einbürgerungsgesuch Caliaros wurde von den bernischen Behörden abgewiesen.
Am 11. Juni 1953 wurden Caliaro und Fanny Wydler vor dem Register Office von Holborn (England) getraut, nachdem die Braut am 28. Mai 1953 vor der Schweiz. Gesandtschaft in London die Erklärung abgegeben hatte, nach der Eheschliessung das Schweizerbürgerrecht beibehalten zu wollen (Art. 9 des Bundesgesetzes vom 29. September 1952 über Erwerb und Verlust des Schweizerbürgerrechts). Als "residence" der beiden zur Zeit der Heirat nennt der vom Register Office ausgestellte Eheschein ein Hotel in Holborn.
Am 12. März 1954 richteten Caliaro und Fanny Wydler an die Justizdirektion des Kantons Aargau das Gesuch, diese Ehe sei ins Zivilstandsregister einzutragen; ausserdem sei ihr gemeinsames Kind Michel als ihr eheliches Kind einzutragen. In Übereinstimmung mit der Justizdirektion hat der Regierungsrat des Kantons Aargau dieses Gesuch am 21. Mai 1954 abgewiesen.
Diesen Entscheid haben die Gesuchsteller mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht weitergezogen. Der Regierungsrat beantragt Abweisung der Beschwerde. Das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement enthält sich eines Antrags. | 384 | 285 | Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Nach
Art. 137 Abs. 1 der Verordnung über das Zivilstandswesen vom 1. Juni 1953 (ZStV)
dürfen ausländische Urkunden nur mit Bewilligung der kantonalen Aufsichtsbehörde eingetragen werden. Das Gesuch, das die Beschwerdeführer am 12. März 1954 bei der aargauischen
BGE 80 I 427 S. 429
Justizdirektion gestellt haben, geht seinem Sinne nach auf Erteilung dieser Bewilligung. Die örtliche Zuständigkeit der aargauischen Behörden ergibt sich daraus, dass zur Eintragung der in England erfolgten Eheschliessung ins Eheregister und der Legitimation des gemeinsamen Kindes der Beschwerdeführer ins Legitimationsregister, wenn eine solche Eintragung in der Schweiz überhaupt in Frage kommt, nach Art. 95 bzw. 97 ZStV das Zivilstandsamt der Stadt Aarau zuständig ist, die infolge der Erklärung vom 28. Mai 1953 auch dann Heimatort der Beschwerdeführerin Fanny Wydler bliebe, wenn die am 11. Juni 1953 geschlossene Ehe in der Schweiz und in Italien, dem Heimatlande des Beschwerdeführers Caliaro, anerkannt würde. (
Art. 95 ZStV
spricht freilich nur von der Eintragung der im Ausland erfolgten Eheschliessung eines Schweizerbürgers, für die keine zivilstandsamtliche Urkunde vorgelegt werden kann. Falls wie hier eine solche Urkunde vorgelegt werden kann, muss jedoch die Eintragung ins Eheregister des Heimatortes, die nach Art. 118 Abs. 2 die Voraussetzung für die Eintragung ins Familienregister bildet, ebenfalls möglich sein.)
2.
Bei Beurteilung einer Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen einen Entscheid über ein Gesuch im Sinne von Art. 133 der Zivilstandsverordnung vom 18. Mai 1928, dem Art. 137 der geltenden Verordnung entspricht, hat das Bundesgericht erklärt, die Prüfungsbefugnis der Zivilstandsbehörden sei notwendigerweise beschränkt. Ihre Aufgabe sei es vor allem, feststehende Tatsachen zu registrieren. Wenn sie auch bisweilen vorfrageweise über bestrittene Rechte zu befinden hätten (z.B. über die Ehelichkeit eines Kindes,
Art. 252 ZGB
), könnten sie doch nur verhältnismässig einfache Fragen des zeitgenössischen schweizerischen Rechts, namentlich des geltenden Bundesrechts, entscheiden. Bei verwickelten Fragen oder bei Streitigkeiten, die - sei es auch nur teilweise - vom alten oder vom ausländischen Rechte beherrscht werden, sei die Eintragung aufzuschieben, bis der zuständige
BGE 80 I 427 S. 430
Richter gesprochen habe (
BGE 63 I 197
/98). Hält man sich an diese Grundsätze, so erweist sich ohne weiteres als gerechtfertigt, dass die Vorinstanz dem Gesuch der Beschwerdeführer, das heikle Fragen des internationalen Privatrechts aufwirft, nicht entsprochen hat. Die Beschwerde kann aber auch dann keinen Erfolg haben, wenn man den Zivilstandsbehörden im vorliegenden Fall deswegen eine weitergehende Prüfungsbefugnis zugestehen will, weil hier anders als in dem in
BGE 63 I 194
ff. beurteilten Falle die tatsächlichen Verhältnisse klar sind und die rechtlichen Schwierigkeiten nicht in einer nach alten Satzungen zu beurteilenden Vorfrage (betr. den Fortbestand eines angeblich im 18. Jahrhundert anerkannten Bürgerrechts) liegen und weil überdies unklar ist, wie die heutigen Beschwerdeführer eine gerichtliche Feststellung über die Gültigkeit ihrer Ehe für die Schweiz herbeiführen könnten (insbesondere gegen wen die unter sich einigen Beschwerdeführer klagen müssten).
3.
Das Haager Abkommen zur Regelung des Geltungsbereichs der Gesetze auf dem Gebiete der Eheschliessung vom 12. Juni 1902, dem die Schweiz und Italien beigetreten sind, kommt nach seinem Art. 8 Abs. 1 im vorliegenden Falle nicht zur Anwendung, weil Grossbritannien, wo die streitige Ehe geschlossen wurde, nicht zu den Vertragsstaaten gehört. Die Frage der Rechtsanwendung ist daher nach den einschlägigen Vorschriften des schweizerischen Landesrechts zu entscheiden.
4.
Art. 54 BV
stellt in Abs. 1 das Recht zur Ehe unter den Schutz des Bundes und bestimmt in Abs. 3, die in einem Kanton oder im Ausland nach der dort geltenden Gesetzgebung abgeschlossene Ehe solle im Gebiet der Eidgenossenschaft als Ehe anerkannt werden. Diese Verfassungsvorschriften kommen bei Beurteilung der Gültigkeit einer in der Schweiz oder im Ausland geschlossenen Ehe nicht mehr unmittelbar zur Anwendung, seitdem die Bundesgesetzgebung diese Materie geordnet hat. Sie bleiben in diesem Zusammenhang nur insofern von Bedeutung, als
BGE 80 I 427 S. 431
das Gesetzesrecht im Lichte von
Art. 54 BV
auszulegen ist (vgl.
BGE 68 I 79
). Dabei fällt in Betracht, dass
Art. 54 BV
zwar grundsätzlich auch für Ausländer gilt, dass aber die lapidare Vorschrift von Abs. 3 auch beim Fehlen einer bundesgesetzlichen Ordnung nicht ohne Rücksicht auf die internationalrechtlichen Konflikte, mit denen namentlich bei der Eheschliessung von Ausländern zu rechnen ist, zur Anwendung gebracht werden könnte (vgl. BURCKHARDT, Komm. der BV, 3. Aufl. S. 500, der bei Erörterung von Abs. 1 erklärt'dass grundsätzlich auch Ausländer sich auf Art. 54 berufen können, dass aber die auf internationalen Erwägungen begründeten Einschränkungen vorbehalten bleiben).
Art. 54 BV
steht daher einer Auslegung der bundesgesetzlichen Bestimmungen, die solche Konflikte zu vermeiden sucht, nicht im Wege.
5.
Die Gültigkeit einer Eheschliessung wird nach
Art. 7 c Abs. 1 NAG
, wenn der Bräutigam oder die Braut oder beide Ausländer sind, in Bezug auf jedes von ihnen nach dem heimatlichen Rechte beurteilt. Diese Vorschrift gilt nicht etwa nur bei der Eheschliessung, sondern gemäss den unzweideutigen romanischen Fassungen, die von "validité d'un mariage" bzw. "validità d'un matrimonio" sprechen, auch bei Beurteilung der Frage der Gültigkeit einer geschlossenen Ehe (
BGE 69 II 344
; im gleichen Sinne die einhellige Lehre zum ähnlich lautenden Art. 13 Abs. 1 des EG zum deutschen BGB; vgl. statt vieler RAAPE, Internat. Privatrecht, 3. Aufl. 1950, S. 158 oben). Sie steht an der Spitze der Bestimmungen über die Eheschliessung und die Anerkennung geschlossener Ehen im internationalen Verhältnis und bringt den Grundsatz zum Ausdruck, der diese Materie beherrscht: den Grundsatz der Massgeblichkeit des Heimatrechts, zu dem der schweizerische Gesetzgeber sich im Eherecht bekannt hat, um nach Möglichkeit zu vermeiden, dass eine Ehe in der Schweiz als gültig, im Heimatstaate der Parteien dagegen als ungültig behandelt wird oder umgekehrt. Entsprechend ihrem allgemeinen Wortlaut und dem Zweck, den sie hienach verfolgt, gilt
BGE 80 I 427 S. 432
die Vorschrift von Art. 7 c Abs. 1 entgegen der Auffassung, die STAUFFER und BECK in ihren Kommentaren vertreten (N. 1 und 5 bzw. N. 1 und 2 zu
Art. 7 c NAG
), nicht bloss für die Eheschliessung in der Schweiz, sondern auch für die im Ausland geschlossenen Ehen (vgl.
BGE 68 II 13
/14, wo beiläufig bemerkt wurde, die Frage, ob die nach den Angaben der Frau in Costa Rica getrauten Parteien verheiratet seien, beurteile sich gemäss
Art. 7 c NAG
nach Heimatrecht. Der die gleichen Parteien betreffende Entscheid
BGE 71 II 128
ff. behandelt nicht die Frage der Rechtsanwendung, sondern nur die Frage des Gerichtsstandes für die Klage auf Feststellung des Bestehens der Ehe, die wegen der ausländischen Staatsangehörigkeit beider Parteien auf Grund von
Art. 8 NAG
im Sinne der Unzuständigkeit der schweizerischen Gerichte entschieden wurde).
Das Gegenteil (Geltung von Art. 7 c Abs. 1 nur für die Eheschliessung in der Schweiz) lässt sich nicht etwa aus Art. 7 c Abs. 2 ableiten, wonach die Form einer in der Schweiz erfolgenden Eheschliessung sich nach schweizerischem Rechte bestimmt. Diese Bestimmung hat lediglich den Sinn, hinsichtlich der Form einer in der Schweiz zu schliessenden oder geschlossenen Ehe eine Ausnahme von Art. 7 c Abs. 1 zu schaffen, der nach seinem Wortlaut auch auf diese Frage angewendet werden könnte, weil die Gültigkeit der Eheschliessung, die er behandelt, u.a. von der Beobachtung der Form abhängt (vgl. zu Art. 7 c Abs. 2 im übrigen
BGE 76 IV 114
ff. Erw. 3). Der Entscheid darüber, nach welchem Rechte die Gültigkeit einer in der Schweiz oder im Ausland geschlossenen Ehe sich beurteilt, ist also aus Art. 7 c Abs. 1 zu gewinnen, sofern nicht Art. 7 c Abs. 2 oder eine andere Sondervorschrift eingreift.
Eine solche Sondervorschrift liegt in
Art. 7 f Abs. 1 NAG
, der bestimmt, dass eine Ehe, die im Ausland nach dem dort geltenden Recht abgeschlossen worden ist, in der Schweiz als gültig betrachtet wird, wenn ihr Abschluss nicht in der offenbaren Absicht, die Nichtigkeitsgründe des schweizerischen
BGE 80 I 427 S. 433
Rechts zu umgehen, ins Ausland verlegt worden ist. Diese Vorschrift gilt jedoch, wie schon in
BGE 69 II 345
festgestellt, trotz ihrer allgemeinen Fassung nur für Schweizer. Die Begründung, die im eben angeführten Entscheide für diese Auslegung gegeben wurde, ist freilich nicht zwingend. Wenn Ausländer die Nichtigkeitsgründe des schweizerischen Rechts nicht umgehen können, weil die
Art. 7 c und 7 e NAG
ihre Eheschliessung dem Heimatrecht unterstellen, so folgt hieraus zunächst nur, dass die in Art. 7 f Abs. 1 vorgesehene Ausnahme von der Regel, dass eine nach dem Recht des Abschlussortes gültige Ehe in der Schweiz anerkannt wird, sich bei Ausländern nicht verwirklichen kann. Aus dem Umstand, dass eine Ausnahmevorschrift auf einen bestimmten Personenkreis nicht zutreffen kann, ergibt sich nicht ohne weiteres, dass auch die Regel für diese Personen nicht gelte. Die Notwendigkeit, Art. 7 f Abs. 1 im erwähnten Sinne einschränkend auszulegen, tritt jedoch klar zutage, sobald man die vom Gesetz verfolgte Tendenz berücksichtigt, Konflikte mit dem Heimatrecht der Ehegatten nach Möglichkeit zu vermeiden. Mit diesem Bestreben ist es durchaus vereinbar, eine Ehe, die Schweizer im Ausland nach dortigem Rechte geschlossen haben, auch dann anzuerkennen, wenn ihr Abschluss in der Schweiz nicht möglich gewesen wäre. Indem die Schweiz für ihre eigenen Angehörigen unter den in Art. 7 f Abs. 1 umschriebenen Voraussetzungen auf die Anwendung des schweizerischen Rechts verzichtet, das nach Art. 7 c als Heimatrecht anwendbar wäre, schafft sie keinen internationalrechtlichen Konflikt, sondern beugt im Gegenteil einem solchen vor. Ganz anders verhält es sich aber in dieser Hinsicht, wenn zwei Ausländer im Ausland nach Massgabe der dort geltenden Gesetzgebung heiraten. Würde die Schweiz eine solche Ehe ohne Rücksicht darauf als gültig behandeln, ob der ausländische Heimatstaat sie anerkennt, so liefe dies dem vom Gesetz verfolgten Zwecke zuwider. Dies ist der entscheidende Grund dafür, dass Art. 7 f Abs. 1 auf Ehen zwischen Ausländern
BGE 80 I 427 S. 434
nicht anzuwenden ist, sondern dass für solche Ehen Art. 7 c massgebend bleibt, auch wenn die Eheschliessung im Ausland erfolgte. Im übrigen wäre es ungereimt, die nach dem Rechte des ausländischen Abschlussortes gültigen Ehen von Schweizern nur unter dem Vorbehalte der Gesetzesumgehung, diejenigen von Ausländern dagegen ohne solchen Vorbehalt anzuerkennen.
Was mit Bezug auf Ehen unter Ausländern gesagt wurde, muss auch für den Fall der Eheschliessung zwischen einem Ausländer und einer Schweizerin gelten, und zwar selbst dann, wenn diese auf Grund von Art. 9 des neuen Bürgerrechtsgesetzes die Erklärung abgegeben hat, das Schweizerbürgerrecht beibehalten zu wollen. Der Umstand, dass die Frau Schweizerin ist und bleibt, ändert nichts daran, dass die Anerkennung der Ehe in der Schweiz ohne Rücksicht auf die Stellungnahme des Heimatstaates des Mannes zu einer Konfliktslage führen könnte, wie das Gesetz sie verhindern will. (Was im Falle der Heirat zwischen einem Schweizer und einer Ausländerin gilt, braucht hier nicht untersucht zu werden.)
Erklärt das internationale Privatrecht des ausländischen Heimatstaates nicht das materielle Recht dieses Landes für anwendbar, sondern verweist es auf das Recht eines andern Landes (z.B. das Recht des Abschlussortes oder des Wohnsitzstaates), so ist dieser Verweisung Rechnung zu tragen, da in diesem Falle die Anerkennung der Ehe im Heimatstaat, auf die es ankommt, eben vom Rechte des andern Staates abhängt.
Ausgeschlossen ist die Anwendung des nach den Konfliktsregeln massgebenden ausländischen Rechtes dann, wenn sie zu einem mit der schweizerischen öffentlichen Ordnung unverträglichen Ergebnis führen würde. In solchen Fällen lässt das schweizerische Recht ausnahmsweise "hinkende Ehen" zu (
BGE 76 IV 114
ff., 116 unten). Vorbehalten bleiben staatsvertragliche Vorschriften, welche die Berufung auf den ordre public bestimmten Beschränkungen unterwerfen.
BGE 80 I 427 S. 435
7.
Das italienische Recht, das bei Beurteilung der Gültigkeit der Ehe der Beschwerdeführer nach
Art. 7 c NAG
als Heimatrecht des Bräutigams bzw. Ehemannes zu berücksichtigen ist, stellt in Art. 115 Abs. 1 des Codice civile, der von der Ehe der Italiener im Ausland handelt, den Grundsatz auf, dass der (italienische) Staatsangehörige den Vorschriften des ersten Abschnitts "dieses Kapitels" (des dritten Kapitels des 6. Titels des ersten Buches), d.h. den Art. 84 ff. unterworfen ist, auch wenn er im Ausland gemäss den dort geltenden Formen heiratet. Das italienische Recht lässt also die italienischen Vorschriften über die Voraussetzungen der Eheschliessung zur Geltung kommen, wenn ein Italiener im Ausland heiratet. Nach diesen Vorschriften konnte der Beschwerdeführer Caliaro die Beschwerdeführerin Wydler nicht heiraten, weil Italien, wie die Vorinstanz auf Grund eines Berichtes der Italienischen Botschaft in Bern festgestellt hat, die in der Schweiz ausgesprochene Scheidung der ersten Ehe Caliaros nicht anerkennt, sondern diese Ehe als noch bestehend betrachtet, sodass die Voraussetzung des ledigen Standes (libertà di stato, Art. 86 des Codice civile) nicht gegeben ist. Die gleichwohl geschlossene Ehe ist nach italienischem Recht ungültig, d.h. sie kann gemäss Art. 117 des Codice civile von den Gatten, den nächsten Aszendenten, der Staatsanwaltschaft und allen denjenigen, die ein rechtliches Interesse haben, mit der Nichtigkeitsklage angefochten werden. Sie wird, wie im Berichte der Italienischen Botschaft ausdrücklich gesagt wird, in Italien nicht anerkannt. Eine im Heimatland des Ehemannes nicht anerkannte Ehe kann nach
Art. 7 c Abs. 1 NAG
auch in der Schweiz nicht anerkannt werden. Die Ehe der Beschwerdeführer ist deshalb in der Schweiz nicht einzutragen.
Die Anwendung des ausländischen Rechts. die zu diesem Ergebnis führt, kann nicht unter Berufung auf den schweizerischen ordre public abgelehnt werden. Es ist unbestritten und unbestreitbar, dass die Beschwerdeführer in der Schweiz nicht hätten heiraten können, weil Art. 1 des
BGE 80 I 427 S. 436
Haager Eheschliessungsabkommens, das in diesem Fall anwendbar gewesen wäre, wie
Art. 7 c Abs. 1 NAG
grundsätzlich das Heimatrecht als massgebend erklärt und keiner der in Art. 2 und 3 des Abkommens abschliessend aufgezählten Fälle vorliegt, in welchen die Anwendung des Heimatrechts verweigert werden kann. (Das in der Nichtanerkennung der Scheidung begründete Verbot der Wiederverheiratung gilt nicht als ein Verbot, das ausschliesslich auf Gründen religiöser Natur beruht; vgl. BECK N. 8 zu Art. 3 des Abkommens.) Die Erkenntnis der Unmöglichkeit, in der Schweiz zu heiraten, war denn auch offensichtlich der Grund, weshalb die Beschwerdeführer sich zur Eheschliessung nach England begaben. Verweigert das Heimatrecht die Anerkennung einer in einem dritten Staate geschlossenen Ehe, die in der Schweiz nach den für diesen Fall geltenden staatsvertraglichen Abmachungen nicht hätte geschlossen werden können, so verstösst dies keineswegs gegen den schweizerischen ordre public.
Der Anwendung des italienischen Rechts kann der schweizerische ordre public im übrigen auch dann nicht entgegengehalten werden, wenn man davon absieht, dass ein Staatsvertrag den Beschwerdeführern die Eheschliessung in der Schweiz verbot. Es kann von vornherein keine Rede davon sein, dass das schweizerische Rechtsgefühl schon dadurch in unerträglicher Weise verletzt werde, dass Italien die Scheidung des Italieners Caliaro nicht anerkennt, sondern die frühere Ehe als noch bestehend ansieht, solange die geschiedene Frau noch am Leben ist, und sich demzufolge einer Wiederverheiratung Caliaros widersetzt. Dass die Anwendung des italienischen Rechts gegenüber Caliaro der öffentlichen Ordnung der Schweiz zuwiderlaufe, lässt sich aber auch dann nicht mit Grund behaupten, wenn man berücksichtigt, dass ein schweizerisches Gericht die Scheidung ausgesprochen hat. Zur Scheidung durch ein schweizerisches Gericht konnte es kommen, weil die erste Ehefrau Caliaros nach der Trennung, die auch nach italienischem Rechte zulässig war, wieder ins Schweizerbürgerrecht aufgenommen
BGE 80 I 427 S. 437
wurde und seither ohne Rücksicht darauf, ob sie die durch die Ehe erworbene italienische Staatsangehörigkeit behielt oder nicht, in der Schweiz den für Schweizer geltenden Vorschriften untersteht und weil angenommen wird, dass
Art. 7 h NAG
entsprechend seinem Wortlaut nur gelte, sofern der ausländische Ehegatte die Scheidung verlangt, nicht dagegen, wenn der schweizerische dies tut (vgl.
BGE 40 I 427
,
BGE 58 II 96
/97). Wenn aus diesen Gründen die Scheidung ohne Rücksicht auf das sie verbietende Heimatrecht des Ehemanns ausgesprochen wurde, so folgt daraus nicht, dass die Schweiz sich auch bei der Wiederverheiratung des Mannes über dessen Heimatrecht hinwegsetzen müsse, um ein für die schweizerische Rechtsauffassung unannehmbares Ergebnis zu vermeiden. Beim Eheabschluss ist die Anerkennung durch den Heimatstaat wichtiger, die Nichtanerkennung folgenschwerer als bei der Scheidung, sodass sich eine verschiedene Behandlung der beiden Fälle rechtfertigen lässt. Endlich kann auch die Tatsache, dass von geschiedenen Ehegatten verschiedener Nationalität der eine wieder heiraten kann, der andere dagegen nicht, in einem dem Heimatprinzip huldigenden Lande nicht als derart stossend angesehen werden, dass dem Heimatrecht des ausländischen Gatten, das sich dessen neuer Eheschliessung widersetzt, die Anwendung zu versagen wäre.
8.
Kann die Ehe der Beschwerdeführer in der Schweiz nicht anerkannt werden, so ist ohne weiteres klar, dass auch eine Legitimation ihres gemeinsamen Kindes nicht in Frage kommt. | 3,784 | 3,144 | Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird abgewiesen. | 17 | 13 | CH_BGE_001 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_001_BGE-80-I-427_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=5&from_date=&to_date=&from_year=1954&to_year=1954&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=49&highlight_docid=atf%3A%2F%2F80-I-427%3Ade&number_of_ranks=224&azaclir=clir | BGE_80_I_427 |
||
ec29bab3-4f6f-4837-bad2-7f77cdef8de3 | 3 | 83 | 1,342,311 | null | 2,024 | it | Sachverhalt
ab Seite 308
BGE 134 IV 307 S. 308
A.
Il 21 maggio 2007, il Procuratore pubblico del Cantone Ticino emanava un decreto d'accusa nei confronti di A. Questi veniva ritenuto autore colpevole di ripetuta carente diligenza in operazioni finanziarie per avere, nel periodo 1992-2003, a Lugano, agendo a titolo professionale, accettato, aiutato a collocare e/o a trasferire valori patrimoniali altrui senza accertare, con la diligenza richiesta dalle circostanze, l'identità dell'avente economicamente diritto, segnatamente per avere aperto e mantenuto in essere tre relazioni presso diversi istituti bancari - l'allora banca X. di Lugano e la banca Y. - omettendo di accertare l'identità del reale avente economicamente diritto, ovvero sottoscrivendo i formulari A indicandovi, contrariamente al vero, C. (relazioni n. r intestata alla R. Ltd, Panama, e n. s intestata alla S. Ltd, Dublino) e D. (relazione n. t intestata alla T. Ltd, Dublino) quali aventi diritto economico e tralasciando anche in seguito di modificare tale errata indicazione.
BGE 134 IV 307 S. 309
Con il medesimo decreto d'accusa il Procuratore pubblico riteneva A. autore colpevole anche di dichiarazione falsa di una parte in giudizio per avere, il 24 ottobre 2000, a Lugano, dopo essere stato avvertito dal giudice dell'obbligo di dire la verità e delle conseguenze penali in cui poteva incorrere, dichiarato il falso quale parte in una causa civile su fatti della contestazione che costituisce un mezzo di prova, e meglio per avere in qualità di convenuto nell'ambito di una causa civile di rendiconto pendente dinanzi alla Pretura del Distretto di Lugano, sezione 1, dichiarato contrariamente al vero di non avere "mai detenuto beni del prof. B.E., questo neppure indirettamente tramite società di cui egli era avente diritto economico", mentre in realtà egli era o era stato procuratore generale di diverse società, riconducibili economicamente al Gruppo E. ovvero a B.E., e/o avente diritto di firma sulle relazioni bancarie a loro intestate.
In applicazione della pena, il Procuratore pubblico proponeva la condanna di A. alla pena pecuniaria di fr. 16'200.-, pari a 90 aliquote di fr. 180.- l'una, sospesa condizionalmente per un periodo di prova di due anni, e alla multa di fr. 1'000.- commutabile in una pena detentiva di 10 giorni in caso di mancato pagamento. C.E. veniva rinviata al competente foro per le pretese di natura civile.
B.
Statuendo sull'opposizione di A. contro il suddetto decreto d'accusa, il 17 ottobre 2007, il Presidente della Pretura penale confermava le imputazioni a carico dell'accusato e lo condannava alla pena pecuniaria di 75 aliquote giornaliere di fr. 190.-, per un totale di fr. 14'250.-, sospesa condizionalmente per un periodo di due anni nonché alla multa di fr. 1'000.- commutabile in una pena detentiva sostitutiva di 10 giorni in caso di mancato pagamento. A. veniva inoltre condannato a pagare alla parte civile C.E. fr. 4'000.- a titolo di ripetibili. Quest'ultima veniva rinviata al competente foro civile per eventuali ulteriori pretese di corrispondente natura.
C.
Con sentenza del 5 marzo 2008, la Corte di cassazione e di revisione penale del Tribunale d'appello (CCRP) respingeva, per quanto ammissibile, il ricorso per cassazione presentato dal condannato.
D.
Avverso questa sentenza A. insorge al Tribunale federale con ricorso in materia penale. In via principale, postula la riforma del giudizio dell'ultima istanza cantonale nel senso che egli è prosciolto dai reati di cui agli art. 305
ter
e 306 CP, subordinatamente dall'accusa di carente diligenza per le operazioni finanziarie antecedenti il 17 ottobre 2000; domanda inoltre che venga annullata la condanna al
BGE 134 IV 307 S. 310
versamento di indennità di patrocinio a favore di C.E. In via subordinata, chiede l'annullamento della sentenza impugnata. | 1,436 | 691 | Erwägungen
Dai considerandi:
2.
Sul piano del diritto materiale, il ricorrente lamenta la violazione dell'art. 305
ter
CP. La carente diligenza in operazioni finanziarie non sarebbe un reato di omissione, bensì un'infrazione per commissione. Egli rileva di essere stato condannato non solo per aver accertato in modo insufficiente oppure errato l'identità dell'avente economicamente diritto al momento dell'apertura dei conti, ma anche per aver omesso di rettificare rispettivamente correggere le indicazioni da lui fornite agli istituti bancari. Trattandosi di un'infrazione per commissione, con particolare riguardo alla questione della prescrizione, il reato ex art. 305
ter
CP sarebbe un reato istantaneo e non, come erroneamente ritenuto nella sentenza contrastata, un reato permanente.
2.1
Secondo la giurisprudenza, la carente diligenza in operazioni finanziarie è un reato di pericolo. Il comportamento incriminato consiste nell'effettuare operazioni finanziarie senza accertarsi dell'identità dell'avente economicamente diritto, malgrado particolari indizi inducano a ritenere che la controparte non corrisponde all'avente economicamente diritto dei valori patrimoniali. La violazione del dovere di identificazione è sufficiente. Non è per contro di rilievo sapere se l'avente economicamente diritto abbia acquisito in modo penalmente riprensibile i valori patrimoniali. L'art. 305
ter
CP reprime un reato per commissione. Il fulcro del comportamento incriminato consiste nel concludere affari, attività il cui esercizio a titolo professionale permette di qualificare colui che agisce come autore dell'infrazione, quando omette di accertare l'identità dell'avente economicamente diritto con la diligenza richiesta dalle circostanze. Una commissione per omissione è possibile nella misura in cui l'autore assume una posizione di garante (
DTF 125 IV 139
consid. 3b).
2.2
Nel caso specifico, a A. non è stato rimproverato esclusivamente di essersi astenuto dall'agire laddove era tenuto a farlo. I fatti imputatigli consistevano infatti non solo nella mancata corretta identificazione dell'avente economicamente diritto, bensì pure in operazioni di gestione delle tre relazioni bancarie in parola, ossia nella loro apertura e nel loro mantenimento in essere. Così com'è formulata la critica cade quindi nel vuoto. In realtà, la censura del ricorrente riguarda un'altra questione - determinante per la prescrizione dell'azione penale
BGE 134 IV 307 S. 311
- ovvero quella di sapere se la fattispecie dell'art. 305
ter
CP costituisce un reato permanente, segnatamente se l'obbligo di rettificare le informazioni perduri sino alla fine delle relazioni d'affari, come ritenuto in sede cantonale.
2.3
Contrariamente a quanto sostenuto nel gravame, l'enumerazione delle operazioni finanziarie contenuta nell'art. 305
ter
CP (accettare, prendere in custodia, aiutare a collocare o a trasferire valori patrimoniali) non è esaustiva. Conformemente all'opinione della dottrina maggioritaria, si tratta piuttosto della descrizione di atti caratterizzanti l'attività di intermediario finanziario volta più a individuare l'autore anziché il suo comportamento (tra gli altri: STEFAN TRECHSEL, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Kurzkommentar, 2
a
ed., Zurigo 1997, n. 3 ad art. 305
ter
CP; MARK PIETH, Strafrecht II, commentario basilese, 2
a
ed., n. 8 ad art. 305
ter
CP; NIKLAUS SCHMID, Einziehung, Organisiertes Verbrechen, Geldwäscherei, Kommentar, vol. II, Zurigo 2002, § 6, n. 69 ad art. 305
ter
CP; URSULA CASSANI, Commentaire du droit pénal suisse, vol. 9, Berna 1996, n. 14 ad art. 305
ter
CP; nello stesso senso anche
DTF 125 IV 139
consid. 3b che stabilisce un nesso tra l'attività volta a concludere affari e la qualità di autore dell'infrazione "Der Schwerpunkt des Tatbestandes liegt bei den Tätigkeiten des Geschäftsabschlusses, deren berufsmässige Vornahme den Handelnden als Täter qualifizieren [...]" nonché
DTF 129 IV 338
consid. 2.3). Non è pertanto necessario determinare con precisione e qualificare ciascun atto di gestione come se ognuno di questi facesse decorrere un termine di prescrizione.
2.4
Non è possibile seguire il ricorrente neppure laddove sostiene che, in quanto reato per commissione, la carente diligenza in operazioni finanziarie sia un'infrazione istantanea definitivamente ed esclusivamente consumata al momento della conclusione della relazione contrattuale. A prescindere dal fatto che quest'opinione non trova alcun riscontro nella dottrina, gli autori che si chinano su questo aspetto propendono a ritenere la fattispecie dell'art. 305
ter
CP un reato permanente: l'infrazione comincia con l'inizio del rapporto d'affari e termina, al più tardi, alla fine dello stesso o nel momento in cui l'intermediario finanziario assolve al proprio dovere di identificazione (v. MARLÈNE KISTLER, La vigilance requise en matière d'opérations financières, tesi Losanna 1994, pag. 171, per cui però l'art. 305
ter
CP sanziona un reato di omissione; NIKLAUS SCHMID, op. cit., § 6, n. 47, n. 259 ad art. 305
ter
CP, per cui la carente diligenza in operazioni finanziare è - anche - un reato permanente). Sebbene non
BGE 134 IV 307 S. 312
pronunciandosi espressamente sulla prescrizione, taluni autori sostengono che l'infrazione è consumata dall'atto di gestione (BERNARD CORBOZ, Les infractions en droit suisse, vol. II, Berna 2002, n. 6 ad art. 305
ter
CP; STEFAN TRECHSEL, op. cit., n. 7 ad art. 305
ter
CP). Questa opinione è senz'altro condivisibile. Difatti, l'art. 305
ter
CP, quale reato per commissione, punisce l'intermediario finanziario che compie atti di gestione su valori patrimoniali di cui non ha identificato l'avente economicamente diritto con la diligenza richiesta dalle circostanze. La questione di sapere se si tratta di un'infrazione istantanea o permanente dev'essere quindi risolta alla luce dell'atto di gestione che l'intermediario finanziario è chiamato a fornire. La legge federale del 10 ottobre 1997 relativa alla lotta contro il riciclaggio di denaro nel settore finanziario (legge sul riciclaggio di denaro, LRD; RS 955.0), che disciplina la diligenza richiesta in materia di operazioni finanziarie (cfr.
art. 1 LRD
), opera un distinguo tra relazioni e operazioni. Nella prima ipotesi, essa impone all'intermediario finanziario di procedere all'identificazione della controparte e dell'avente economicamente diritto al momento dell'avvio della relazione d'affari (art. 3 unitamente all'
art. 4 LRD
). Se nel corso della relazione d'affari sorgono dubbi in merito all'identità della controparte o dell'avente economicamente diritto, egli deve procedere nuovamente a un'identificazione o un accertamento conformemente agli
art. 3 e 4 LRD
(
art. 5 cpv. 1 LRD
). L'obbligo di identificazione sorge dunque con la conclusione di una relazione d'affari e perdura fino al termine della stessa. Se la prestazione dell'operatore finanziario dura nel tempo (come ad esempio la presa in custodia), la carente diligenza in operazioni finanziarie si configura reato permanente in quanto l'obbligo di accertare l'identità dell'avente economicamente diritto dei valori patrimoniali sussiste fino al termine della relazione contrattuale. Per contro, se la prestazione fornita è "istantanea" anche il reato di cui all'art. 305
ter
CP è tale. In senso analogo si esprime anche GRÜNINGER per cui la carente diligenza in operazioni finanziarie costituisce un reato istantaneo (Zustandsdelikt) con riguardo all'accettazione, al collocamento o al trasferimento di valori patrimoniali, mentre il reato è permanente (Dauerdelikt) in caso di presa in custodia di valori patrimoniali (PHILIPPE GRÜNINGER, Die Strafbarkeit der Verletzung von Sorgfaltspflichten bei Finanzgeschäften, tesi Zurigo 2005, pag. 58). Di conseguenza, l'operatore finanziario che, nell'ambito di una duratura relazione d'affari (v. sulla distinzione tra clientela occasionale - Laufkunden - e clientela permanente - Dauerkunden - MARK PIETH, op. cit., n. 20 seg. ad art. 305
ter
CP), compie atti di gestione
BGE 134 IV 307 S. 313
senza accertarsi dell'identità dell'avente economicamente diritto agisce in modo permanentemente contrario al diritto. In simili circostanze, la carente diligenza in operazioni finanziarie costituisce quindi un reato permanente. Il termine di prescrizione comincia a decorrere dal giorno in cui è cessata la relazione d'affari e con essa il relativo dovere di identificazione o dal giorno in cui l'operatore finanziario ha posto un termine alla situazione illecita creatasi accertando l'identità dell'avente economicamente diritto dei valori patrimoniali gestiti.
In concreto, è stato appurato che il ricorrente si è occupato dei valori patrimoniali in modo permanente, aprendo e mantenendo in essere tre diverse relazioni bancarie senza accertare l'identità dell'avente economicamente diritto dei valori in questione. In simili circostanze, la carente diligenza in operazioni finanziarie si configura come reato permanente, sicché su questo punto il gravame va disatteso.
2.5
Il ricorrente sostiene inoltre che l'obbligo di correggere o retti ficare il risultato dell'identificazione viziata contrasterebbe con il principio
nemo tenetur se detegere
. Difatti, prosegue l'insorgente, se la banca dovesse ricevere da parte di un intermediario finanziario la comunicazione di rettifica dell'identità dell'avente economicamente diritto, essa ne ricaverebbe un motivo di sospetto tale da segnalare il caso all'autorità competente giusta l'
art. 9 LRD
.
Sennonché, l'insorgente equivoca sulla portata di questo principio che concerne la procedura penale e dal quale non può dunque dedurre alcunché a sostegno della sua tesi per quanto attiene alle informazioni destinate a istituti bancari al di fuori di una procedura penale. Del resto, egli misconosce che non è tanto il carattere erroneo dell'accertamento dell'identità dell'avente economicamente diritto, quanto la carente diligenza richiesta dalle circostanze che è sanzionata dall'art. 305
ter
CP. Così, chi non identifica correttamente l'avente diritto economico sebbene abbia fatto prova di tutta la diligenza richiesta dalle circostanze non è punibile e può pertanto correggere senza rischi le informazioni. Per contro, la possibilità di scoprire, all'occasione di una rettifica, che l'intermediario finanziario non aveva effettuato le ricerche necessarie e possibili, e di incriminarlo a questo stadio appare conforme allo scopo della norma in questione.
2.6
A mente dell'insorgente, l'autorità cantonale avrebbe pure interpretato estensivamente l'art. 305
ter
CP rimproverandogli di aver omesso di rettificare le informazioni relative all'avente economicamente diritto.
BGE 134 IV 307 S. 314
A dire il vero, non è tanto l'omessa rettifica che fonda l'infrazione quanto l'omissione di procedere alle verifiche del caso. L'omessa rettifica concretizza piuttosto la persistenza di uno stato di fatto illecito oltre l'atto di gestione propriamente detto. La questione di sapere se il ricorrente, quale intermediario finanziario, aveva un obbligo di rettifica prima dell'entrata in vigore della LRD può restare indecisa. È possibile tuttavia constatare che, per lo meno due anni dopo l'entrata in vigore di questa legge il 1° aprile 1998 (art. 42 cpv. 3 unitamente all'
art. 2 cpv. 3 LRD
), ossia il 1° aprile 2000, in un momento in cui le tre relazioni bancarie erano ancora aperte, sull'insorgente gravava chiaramente tale obbligo (
art. 5 cpv. 1 LRD
).
2.7
Nel gravame viene inoltre eccepita l'impossibilità di procedere a qualsiasi rettifica a partire dal momento in cui le banche sono state informate delle divergenze relative all'identità dell'avente economicamente diritto, divergenze poi confermate dal decreto di sequestro emanato dal Ministero Pubblico. Il ricorrente sostiene che, da quel momento, nessuna delle banche coinvolte avrebbe effettuato le rettifiche da lui richieste.
Su questo punto l'insorgente sviluppa un'argomentazione che si fonda su fatti che divergono da quanto accertato in sede cantonale, sicché non v'è ragione di entrare nel merito di tale censura (v.
art. 105 cpv. 1 LTF
). Peraltro egli dimostra di misconoscere la portata del suo obbligo di accertare l'identità del reale avente economicamente diritto, obbligo autonomo e indipendente da quello dell'istituto bancario. Egli è tenuto ad accertare ed eventualmente rettificare l'identità dell'avente economicamente diritto anche qualora, per ipotesi, non collochi i valori patrimoniali in un istituto bancario ma li prenda semplicemente in custodia. Non può pertanto dedurre alcunché in suo favore pretendendo che, in taluni casi, le banche rifiutino di modificare le indicazioni relative all'avente economicamente diritto.
2.8
Infine, secondo il ricorrente, l'azione penale sarebbe prescritta. Egli riprende le argomentazioni addotte in relazione al genere di reato punito dall'art. 305
ter
CP. Su questo punto si può rinviare a quanto sopraesposto (v. consid. 2.4). L'insorgente precisa che ritenere che l'infrazione cominci con l'inizio della relazione d'affari e termini alla fine della stessa condurrebbe a una situazione assurda, laddove l'intermediario finanziario responsabile dell'apertura di una relazione bancaria in modo viziato dovesse successivamente abbandonare la sua funzione di responsabile. In questo caso, infatti,
BGE 134 IV 307 S. 315
l'intermediario in questione continuerebbe a essere punibile giusta l'art. 305
ter
CP sino alla chiusura della relazione d'affari malgrado non assuma più alcun tipo di responsabilità in relazione ai valori patrimoniali. Nel caso specifico questa questione può tuttavia restare indecisa, dal momento che il ricorrente non contesta di essere stato responsabile dei conti bancari in parola fino al termine delle relazioni d'affari.
L'insorgente non può dedurre nulla in suo favore nemmeno dallo scopo della norma. Non si scorge infatti perché la lotta al riciclaggio di denaro sporco imponga necessariamente di considerare l'infrazione ex art. 305
ter
CP come un reato istantaneo. Al contrario, ritenere che l'infrazione perduri fintantoché la relazione d'affari è ancora in essere rafforza l'obbligo di accertare con cura l'avente economicamente diritto. Nella fattispecie, le relazioni d'affari sono continuate fino al 30 aprile 2001 (conto T.) rispettivamente fino al 22 marzo 2002 (conto S.). Per quanto attiene al terzo conto bancario (R.), dalla sentenza di primo grado risulta che fosse ancora aperto il 24 novembre 2000, ossia nel momento in cui l'interessato ha fatto le dichiarazioni oggetto di un'altra imputazione. In simili circostanze, non è possibile ritenere che le autorità cantonali hanno violato il diritto federale per non aver accertato la prescrizione dell'azione penale sia sotto l'egida del vecchio diritto che del nuovo. Di conseguenza, il gravame, infondato, dev'essere respinto e la sentenza impugnata confermata. | 5,384 | 2,560 | 2 | 0 | CH_BGE_006 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_006_BGE-134-IV-307_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=9&from_date=&to_date=&from_year=2008&to_year=2008&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=87&highlight_docid=atf%3A%2F%2F134-IV-307%3Ade&number_of_ranks=277&azaclir=clir | BGE_134_IV_307 |
|||
ec3a6536-f0e9-4c9e-aa1f-78c47aa0c959 | 1 | 79 | 1,339,362 | null | 2,024 | de | Sachverhalt
ab Seite 160
BGE 109 Ia 160 S. 160
S. war von 1969 bis 1977 bei Z. auf Provisionsbasis im Aussendienst tätig. Nach Auflösung des Vertragsverhältnisses leitete er gegen diesen einen Forderungsprozess ein, der bis heute erst zu einem Teil rechtskräftig entschieden ist. Im Rahmen dieses Verfahrens liess Z. bei einem Treuhandunternehmen einen Prüfungsbericht erstellen, wobei die noch vorhandenen Bestellscheindoppel überprüft und mit den im Zivilprozess eingelegten Belegen verglichen wurden. Aufgrund dieser Nachkontrolle soll sich ergeben haben, dass verschiedene von S. geltend gemachte Forderungen
BGE 109 Ia 160 S. 161
unrichtig, teilweise sogar fingiert waren. Gestützt auf den Prüfungsbericht reichte Z. beim Amtsstatthalteramt Sursee gegen S. Strafklage ein wegen fortgesetzten Betrugs, Betrugsversuches sowie wegen fortgesetzter Urkundenfälschung.
Am 30. Juni 1982 wurde dem Amtsstatthalteramt mitgeteilt, S. sei gestorben. Der Amtsstatthalter stellte daher die gegen ihn geführte Strafuntersuchung ein und überband die Untersuchungskosten sowie die Hälfte der klägerischen Anwaltskosten der Hinterlassenschaft des Verstorbenen.
Einen von den Erben S. gegen die Kostenbelastung erhobenen Rekurs wies die Kriminal- und Anklagekommission des Obergerichts des Kantons Luzern am 12. Oktober 1982 ab.
Das Bundesgericht heisst die von den Erben S. gegen diesen Entscheid erhobene staatsrechtliche Beschwerde gut. | 290 | 215 | Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Zur Kostenauflage an die Erben des während des Strafverfahrens verstorbenen S. führte der Amtsstatthalter aus, es sei nicht restlos erstellt, inwieweit die Strafklage berechtigt gewesen sei. Jedenfalls ergebe sich aber aus dem eingereichten Prüfungsbericht mit genügender Klarheit, dass die Klagebegehren mindestens teilweise hätten geschützt werden müssen. Es rechtfertige sich daher, die ergangenen Untersuchungskosten und die Hälfte der klägerischen Parteikosten dem Nachlass des Verstorbenen zu überbinden.
Das Obergericht hielt fest, beim vorgelegten Prüfungsbericht handle es sich um ein vom Privatkläger eingeholtes Privatgutachten. Dessen Verfasser sei jedoch vom Amtsstatthalter eingehend als Zeuge über seine Feststellungen und Schlussfolgerungen befragt worden. Der Zeuge, an dessen Glaubwürdigkeit zu zweifeln kein Anlass bestehe, habe u.a. ausgesagt, es habe sich anhand der von ihm vorgenommenen Sichtung und Nachkontrolle ergeben, dass S. offensichtlich sogar fiktive Forderungen gestellt habe und teils auch solche, die bereits beglichen worden seien. Bei dieser Sachlage habe der Amtsstatthalter ohne Willkür davon ausgehen können, S. habe sich nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv verdächtig verhalten, als er seine Nachforderung gegenüber seinem früheren Arbeitgeber geltend gemacht habe. Zu Recht seien daher dem Angeklagten bzw. gemäss § 283 Abs. 1 des Gesetzes über die Strafprozessordnung des Kantons Luzern (StPO) den Erben Kosten überbunden worden. Der vorinstanzliche Kostenentscheid sei somit nicht zu beanstanden.
BGE 109 Ia 160 S. 162
3.
Die Beschwerdeführer erheben u.a. die Rüge, durch die Anwendung der §§ 277 bzw. 283 Abs. 2 StPO werde Art. 6 Ziff. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt. Mit der Kostenauflage an die Erben des verstorbenen Angeschuldigten werde eine Verdachtsstrafe ausgesprochen, die einer strafrechtlichen Sanktion gleichkomme.
Art. 6 Ziff. 2 EMRK
hat folgenden Wortlaut:
"Bis zum gesetzlichen Nachweis seiner Schuld wird vermutet, dass der wegen einer strafbaren Handlung Angeklagte unschuldig ist."
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellte kürzlich in einer gegen die Schweizerische Eidgenossenschaft gerichteten Beschwerdesache eine Verletzung dieser Bestimmung fest (Urteil vom 25. März 1983 in Sachen Minelli, EuGRZ 1983 S. 475 ff.). Diesem Urteil lag - kurz zusammengefasst - folgender Sachverhalt zugrunde: Ein Journalist war wegen Ehrverletzung durch die Presse vor dem Zürcher Geschworenengericht angeklagt. Dieses Privatstrafklageverfahren wurde bis zur Erledigung eines gleichartigen Prozesses sistiert, und das Geschworenengericht liess die Anklage schliesslich wegen Eintritts der absoluten Verjährung nicht zu. Dagegen verpflichtete es den Journalisten zur Bezahlung von zwei Dritteln der Verfahrenskosten und einer reduzierten Prozessentschädigung an die beiden Ankläger mit der Begründung, bei Nichteintritt der Verjährung hätte der eingeklagte Zeitungsartikel sehr wahrscheinlich zur Verurteilung des Beschuldigten geführt. Eine von diesem erhobene Nichtigkeitsbeschwerde wies das Kassationsgericht des Kantons Zürich ab, ebenso das Bundesgericht eine staatsrechtliche Beschwerde. Der Europäische Gerichtshof hielt
Art. 6 Ziff. 2 EMRK
deshalb für verletzt, weil sich aus den Urteilserwägungen des Geschworenengerichts ergebe, dass dieses den Journalisten für schuldig hielt, obschon das Verfahren materiell wegen Eintritts der Verjährung nicht zu Ende geführt werden konnte. Das Bundesgericht habe diese Erwägungen wohl präzisiert, ohne damit aber an deren Sinn und Tragweite etwas zu ändern.
4.
Es besteht Anlass, im Anschluss an dieses Urteil des Europäischen Gerichtshofes die Praxis des Bundesgerichts in Fällen, in denen trotz Einstellung des Verfahrens oder Freispruch dem Beschuldigten Kosten auferlegt werden, kurz darzustellen und zu prüfen, welche Auswirkungen das Urteil in Sachen Minelli auf diese Rechtsprechung hat.
BGE 109 Ia 160 S. 163
a) Nach § 277 Abs. 1 der luzernischen Strafprozessordnung können dem Angeschuldigten trotz Freispruch oder Einstellung des Verfahrens die Kosten ganz oder teilweise auferlegt werden, wenn er dieses durch ein verwerfliches, leichtfertiges oder verdächtiges Verhalten veranlasst hat. Unter denselben Voraussetzungen können gemäss
§ 283 Abs. 2 StPO
die Kosten beim Tod des Angeschuldigten seinen Erben auferlegt werden. Wie sich aus
BGE 107 Ia 166
f. ergibt, finden sich auch in den meisten übrigen kantonalen Strafprozessordnungen gleichartige oder ähnliche Bestimmungen. Der Europäische Gerichtshof hat in seinem Urteil in Sachen Minelli solche Vorschriften nicht als konventionswidrig bezeichnet. Die Auffassung, dass nicht jede Kostenauflage ohne Verurteilung konventionswidrig sei, wird auch in der Rechtslehre vertreten (STEFAN TRECHSEL, Struktur und Funktion der Vermutung der Schuldlosigkeit, in: SJZ 77/1981, S. 339; JOCHEN FROWEIN, Zur Bedeutung der Unschuldsvermutung in Art. 6 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention, in: Festschrift für Hans Huber zum 80. Geburtstag, Bern 1981, S. 559 f.). Es ist deshalb an sich nicht unzulässig, einem Beschuldigten die Kosten auch bei Freispruch oder Einstellung aufzuerlegen, wenn er das Verfahren durch verwerfliches oder leichtfertiges Verhalten veranlasst oder verlängert hat. Eine solche Kostenauflage hält aber vor der Verfassung und der EMRK nur unter bestimmten Voraussetzungen stand.
Einmal ist erforderlich, dass zwischen dem vorwerfbaren Verhalten des Beschuldigten und den entstandenen Kosten ein Kausalzusammenhang besteht. Die Haftung des Beschuldigten darf dabei nicht weiter gehen, als der Kausalzusammenhang zwischen dem ihm vorgeworfenen fehlerhaften Verhalten und den Kosten verursachenden behördlichen Handlungen reicht. Aus dieser Überlegung heraus hat das Bundesgericht schon entschieden, es sei zwar zulässig gewesen, dem Beschuldigten die Kosten der Voruntersuchung aufzuerlegen, doch hätten ihm jene des Gerichtsverfahrens nicht überbunden werden dürfen, da nach dem Ergebnis der Untersuchung kein hinreichender Anlass bestanden habe, Anklage zu erheben (Urteil vom 4. Mai 1983 i.S. A.R.).
Eine Kostenauflage ist sodann nur zulässig, wenn dem Beschuldigten ein schuldhaftes Verhalten zur Last gelegt werden kann. Es genügt nicht, dass er durch sein Verhalten objektiv zur Untersuchung oder Verlängerung des Verfahrens Anlass gegeben hat. Die Kosten können bloss auferlegt werden, wenn das Verhalten aufgrund
BGE 109 Ia 160 S. 164
zivilrechtlicher oder ethischer Regeln vorwerfbar ist, und zwar unbekümmert darum, ob die betreffende kantonale Strafprozessordnung ausdrücklich ein schuldhaftes Verhalten verlangt. Man pflegt dabei von einer Haftung für prozessuales Verschulden oder, besser ausgedrückt, von einer zivilrechtlichen Grundsätzen angenäherten Haftung für ein fehlerhaftes Verhalten zu sprechen. Kommt es mangels Beweises zu einer Einstellung des Verfahrens oder zu einem Freispruch, so dürfen die Kosten nicht allein deswegen auferlegt werden, weil ein - allenfalls schwerer - Tatverdacht weiterbesteht; das liefe auf eine unzulässige Verdachtsstrafe hinaus.
b) Im Zusammenhang mit der Kostenauflage bei Einstellung des Verfahrens oder Freispruch lassen sich zwei Gruppen von Fällen unterscheiden:
Es kann dem Beschuldigten ein prozessuales Verschulden im engeren Sinn zur Last fallen. Das trifft etwa zu, wenn er die Untersuchung durch wahrheitswidrige Angaben auf eine falsche Fährte führt oder das Verfahren erschwert und verlängert, indem er nicht zu Verhandlungen erscheint. Soweit durch solches Verhalten Kosten entstehen, können sie dem Beschuldigten wegen prozessualen Verschuldens auferlegt werden.
Die zweite Gruppe bilden die Fälle, in denen dem Beschuldigten wegen des Verhaltens, das Gegenstand des Strafverfahrens war, die Kosten auferlegt werden mit der Begründung, dieses Verhalten sei zwar nicht strafbar, aber unter zivilrechtlichen oder ethischen Gesichtspunkten vorwerfbar. Man kann dabei zum Beispiel an den Fall denken, in dem jemand einen andern durch lügenhafte Angaben getäuscht und damit ein Darlehen erwirkt hat, das wegen Betruges eingeleitete Strafverfahren aber mit einem Freispruch endet, weil das Gericht das Tatbestandsmerkmal der Arglist verneint mit der Begründung, es wäre dem Opfer ohne grosse Mühe möglich gewesen, die täuschenden Angaben zu überprüfen. Aus der bundesgerichtlichen Praxis sei der Fall erwähnt, in dem das zu einem Kassenmanko führende Verhalten eines Buchhalters zwar strafrechtlich nicht erfassbar war, dieser aber seine Buchführungspflicht grob vernachlässigt hatte (nicht veröffentlichte Erwägungen zu
BGE 107 Ia 166
), oder der Fall, in dem fremde Häuserfassaden mit Plakaten beklebt wurden, ohne dass eine strafbare Sachbeschädigung gegeben war (Urteil vom 4. Mai 1983 i.S. A.R.). Weder das in der Sache Minelli ausgesprochene Urteil noch andere Entscheide des Europäischen Gerichtshofs geben Anlass, die bundesgerichtliche
BGE 109 Ia 160 S. 165
Rechtsprechung in dieser Hinsicht zu ändern. Der Europäische Gerichtshof hielt im Urteil in Sachen Minelli im wesentlichen fest, der Grundsatz der Unschuldsvermutung sei verletzt, wenn sich ohne ein die strafrechtliche Schuld feststellendes Urteil aus dem Entscheid ergebe, dass der Richter den Beschuldigten als schuldig betrachte. Das treffe im Fall Minelli zu, da trotz Einstellung des Verfahrens gesagt worden sei, er wäre "sehr wahrscheinlich" bestraft worden, wobei sich aus allen schweizerischen Urteilen ergeben habe, dass die Richter den Beschuldigten im Sinne des Strafrechts für schuldig gehalten hätten. Es geht somit nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs in Sachen Minelli nicht an, trotz Einstellung des Verfahrens oder Freispruch jemandem direkt oder indirekt vorzuwerfen, er habe sich strafbar gemacht. Dagegen ist es nicht ausgeschlossen, dass sich das fehlerhafte Verhalten, das Anlass zur Kostenauflage gibt, sachlich mit dem Vorwurf deckt, der Gegenstand der strafrechtlichen Anschuldigung war, wobei die rechtlichen Voraussetzungen für eine Verurteilung nach dem entsprechenden Straftatbestand fehlten.
c) Es ergibt sich aus dem Gesagten, dass Vorschriften wie diejenigen des § 277 Abs. 1 und des § 283 Abs. 2 der luzernischen Strafprozessordnung als solche nicht gegen den in
Art. 6 Ziff. 2 EMRK
verankerten Grundsatz der Unschuldsvermutung verstossen.
Die kantonalen Instanzen haben im vorliegenden Fall die erwähnten Vorschriften jedoch in einer Weise angewandt, die sich mit
Art. 6 Ziff. 2 EMRK
nicht vereinbaren lässt. Indem der Amtsstatthalter die Kosten des eingestellten Verfahrens den Erben des verstorbenen Beschuldigten mit der Begründung überband, es sei rechtsgenüglich erstellt, dass die Begehren der Strafklage mindestens teilweise hätten geschützt werden müssen, hat er den Beschuldigten für schuldig erachtet, strafbare Handlungen begangen zu haben. Das Obergericht hat sich in seinem Entscheid wohl etwas anders ausgedrückt, ohne sich aber von der Begründung des Amtsstatthalters zu distanzieren. Obwohl S. nicht durch ein im ordentlichen Verfahren zustandegekommenes Strafurteil schuldig erklärt worden war, warfen ihm die luzernischen Behörden mehr oder weniger direkt vor, sich (teilweise) strafbar gemacht zu haben. Dies lässt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gestützt auf
Art. 6 Ziff. 2 EMRK
nicht zu, und in dieser Hinsicht wird das Bundesgericht kantonale Entscheide kritischer zu prüfen haben und hat es der strengen Praxis des europäischen Gerichts
BGE 109 Ia 160 S. 166
Rechnung zu tragen. Hinzugefügt sei, dass bei der Prüfung der Gründe für die Kostenauflage stets auch darauf zu achten ist, dass durch die Auferlegung von Kosten an einen nicht strafrechtlich verurteilten Beschuldigten nicht etwa Freiheitsrechte, namentlich die Meinungsäusserungsfreiheit, beeinträchtigt werden (vgl. Bericht der Europäischen Menschenrechtskommission i.S. Geerk, Decisions and Reports 12, 103).
Es verletzt den Grundsatz der Unschuldsvermutung, jemanden trotz Freispruch oder Einstellung des Verfahrens ausdrücklich oder sinngemäss als strafbar zu erklären, und der Kostenauflage kommt in einem solchen Fall sozusagen die Wirkung einer Strafe zu (vgl.
BGE 109 Ia 87
E. 2b). Gleich verhält es sich, wenn jemand in der erwähnten Art als strafbar bezeichnet und verpflichtet wird, an den Strafkläger eine Parteientschädigung zu bezahlen. Die Beschwerde ist somit wegen Verletzung von
Art. 6 Ziff. 2 EMRK
gutzuheissen, und der angefochtene Entscheid ist auf der ganzen Linie (Gerichtskosten und Parteientschädigung) aufzuheben. | 2,529 | 1,995 | 2 | 0 | CH_BGE_002 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_002_BGE-109-Ia-160_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=11&from_date=&to_date=&from_year=1983&to_year=1983&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=110&highlight_docid=atf%3A%2F%2F109-IA-160%3Ade&number_of_ranks=345&azaclir=clir | BGE_109_Ia_160 |
|||
ec480f82-d0e4-4c90-bbc9-aaae32e75ba0 | 2 | 83 | 1,361,887 | null | 2,024 | fr | Sachverhalt
ab Seite 57
BGE 132 IV 57 S. 57
Au début de l'année 2003, Y. a fait la connaissance et s'est liée d'amitié avec X., qui se faisait appeler Z. et qui l'a touchée en lui décrivant une vie difficile, avec un fils à charge qu'elle avait dû élever seule. Elle a aussi rencontré en sa compagnie un homme de race noire nommé A., dont elle ignorait qu'il était son mari et qui conduisait parfois sa voiture, une Opel de couleur blanche.
X. lui a montré une carte d'identité française au nom de Z., portant sa photo ainsi que l'indication d'un domicile à B., en France, et lui en a remis une copie. Elle lui a également donné une carte de visite portant ces mêmes nom et adresse et lui a dit gagner un salaire mensuel de 6'000 francs en travaillant auprès de la fiduciaire C., à Genève.
Y., d'origine serbe, avait à cette époque peu de connaissances en Suisse, où elle vivait depuis juin 1999, et ne parlait ni ne comprenait très bien le français.
En décembre 2003, X. a dit à son amie avoir un besoin impératif d'argent pour entreprendre des travaux dans sa maison. Y. a alors
BGE 132 IV 57 S. 58
accepté de lui prêter la somme nécessaire, soit 12'500 francs le 10 décembre 2003 et 2'000 francs le 16 décembre 2003, contre la promesse d'un remboursement rapide à une date indéterminée.
Chacune des parties a signé deux attestations datées du 10 décembre 2003, l'une portant sur la somme de 25'000 francs et l'autre sur un montant réduit à 20'000 francs. Selon ce second document, X. s'engageait à rembourser 20'000 francs à Y. en nature, soit par le biais de travaux. Cette dernière a expliqué n'avoir pas du tout compris le sens de cette attestation, confondant avec les travaux sur sa propre maison dont lui a parlé son amie, et persuadée qu'elle serait remboursée en espèces, comme convenu.
Par la suite, sans nouvelles de X., Y., avec son cousin, D., a cherché à la retrouver grâce à la copie de la carte d'identité en sa possession. Ils ont alors découvert, avec l'aide des autorités françaises, que le nom et l'adresse donnés étaient faux.
Finalement, ils ont retrouvé X. au Café E., attablée en compagnie de son mari et d'un autre homme. Lorsque Y. lui a parlé du prêt, son amie lui a répondu qu'elle ne la connaissait pas et a voulu quitter les lieux, raison pour laquelle la première a appelé la police. Dans l'intervalle, les deux compagnons de X. se sont éclipsés en emportant les documents se trouvant sur leur table, non sans que Y. parvînt à leur subtiliser la copie d'une autre carte d'identité française portant la photo de X., cette fois sous le nom de F.
Le 31 janvier 2004, Y. a déposé une plainte pénale contre X.
Par ordonnance du 15 novembre 2004, le Juge d'instruction du canton de Genève a condamné X., pour escroquerie et faux dans les titres, à quatre mois d'emprisonnement, sous déduction de la détention préventive.
Statuant sur opposition et par jugement du 11 avril 2005, le Tribunal de police genevois a acquitté X. des chefs d'escroquerie et de faux dans les titres. Il a retenu pour l'essentiel qu'il n'était pas établi que les parties se connaissaient et que les conclusions de l'expertise graphologique n'étaient pas suffisamment convaincantes pour admettre sans doute possible que X. était bien la signataire, sous le faux nom de Z., des attestations émises au moment du prêt litigieux.
Par arrêt du 19 septembre 2005, la Chambre pénale de la Cour de justice genevoise a annulé le jugement susmentionné, condamné
BGE 132 IV 57 S. 59
X., pour faux dans les titres et escroquerie, à six mois d'emprisonnement, sous déduction de la détention préventive, et ordonné la révocation du sursis accordé le 28 novembre 2001 par le Tribunal de police de Genève à la peine de quinze mois d'emprisonnement, sous déduction de la détention préventive. Elle l'a également condamnée à rembourser à Y. la somme de 14'500 francs avec intérêts à 5 % dès le 16 décembre 2003.
X. dépose un recours de droit public, pour arbitraire et violation du principe in dubio pro reo, ainsi qu'un pourvoi en nullité, pour violation des
art. 110 ch. 5, 146 et 251 CP
. Dans ses deux mémoires, elle conclut à l'annulation de l'arrêt cantonal, requiert l'assistance judiciaire et l'effet suspensif.
Le Tribunal fédéral a rejeté le recours de droit public et le pourvoi en nullité. | 1,674 | 852 | Erwägungen
Extrait des considérants:
II. Pourvoi en nullité
5.
La Chambre pénale reproche à la recourante d'avoir signé les attestations du 10 décembre 2003 sous le nom de Z. pour ensuite les utiliser comme quittances de l'argent reçu en prêt, le tout en s'appuyant sur la fausse carte d'identité française établie au même nom.
Pour la recourante, ces documents ne constituent pas des titres au sens de l'
art. 110 ch. 5 CP
et sa condamnation pour violation de l'
art. 251 CP
viole le droit fédéral.
5.1
Les infractions du droit pénal relatif aux titres protègent la confiance qui, dans les relations juridiques, est placée dans un titre comme moyen de preuve. C'est pourquoi parmi les titres on ne trouve notamment que les écrits destinés et propres à prouver un fait ayant une portée juridique (
art. 110 ch. 5 al. 1 CP
). Le caractère de titre d'un écrit est relatif. Par certains aspects, il peut avoir ce caractère, par d'autres non. Un écrit constitue un titre en vertu de cette disposition s'il se rapporte à un fait ayant une portée juridique et s'il est destiné et propre à prouver le fait qui est faux. La destination à prouver peut résulter directement de la loi, mais aussi du sens ou de la nature du document; quant à l'aptitude à prouver, elle peut être déduite de la loi ou des usages commerciaux (cf.
ATF 126 IV 65
consid. 2a p. 67 et les références citées).
Selon l'
art. 251 ch. 1 CP
sera puni de la réclusion pour cinq ans au plus ou de l'emprisonnement celui qui, dans le dessein de porter
BGE 132 IV 57 S. 60
atteinte aux intérêts pécuniaires ou aux droits d'autrui ou de se procurer ou de procurer à un tiers un avantage illicite, aura créé un titre faux, falsifié un titre, abusé de la signature ou de la marque à la main réelles d'autrui pour fabriquer un titre supposé, ou constaté ou fait constater faussement, dans un titre, un fait ayant une portée juridique, ou aura, pour tromper autrui, fait usage d'un tel titre.
Cette disposition vise aussi bien un titre faux ou la falsification d'un titre (faux matériel), qu'un titre mensonger (faux intellectuel).
5.1.1
Il y a faux matériel lorsque une personne fabrique un titre dont l'auteur réel ne coïncide pas avec l'auteur apparent. Le faussaire crée un titre qui trompe sur l'identité de celui dont il émane en réalité (
ATF 128 IV 265
consid. 1.1.1 p. 268 et les références citées). En principe, il importe peu que le nom utilisé soit connu, appartienne à un tiers, soit fictif, que le faussaire se soit déjà fait connaître, avant la signature du titre, sous son faux nom auprès de la partie adverse ou qu'il le signe en présence de cette dernière (G. GRIBBOHM, StGB, Leipziger Kommentar, Grosskommentar, 11
e
éd., § 267 n. 163 et 165; P. CRAMER, in A. Schönke/H. Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 26
e
éd., § 267 n. 49). Il est également sans importance de savoir si le contenu d'un tel titre est mensonger ou non (
ATF 123 IV 17
consid. 2 p. 21).
5.1.2
Il existe toutefois des situations où le fait de signer d'un autre nom que le sien ne constitue pas un faux.
Ainsi, il n'y a en principe pas de création d'un titre faux si l'auteur signe du nom d'autrui avec l'accord de cette personne, et cela même en cas de représentation dite cachée, l'auteur apparent du titre coïncidant alors avec l'auteur réel, soit le représenté, qui veut le titre quant à son existence et à son contenu; restent cependant réservés les cas des titres qui doivent être établis personnellement (
ATF 128 IV 265
consid. 1.1.2 et 1.1.3 p. 268 s. et les références citées).
Il n'y a pas non plus de création d'un titre faux si l'auteur signe de son nom d'artiste, de son pseudonyme ou de son nom d'emprunt, qu'il est connu ou se fait connaître sous ce nom et qu'il ne résulte aucune tromperie sur l'identité du signataire (M. BOOG, Basler Kommentar, Strafgesetzbuch II, n. 11 ad
art. 251 CP
; G. STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, BT II, § 36 n. 10; B. CORBOZ, Les infractions en droit suisse, vol. II, n. 62 ad.
art. 251 CP
; A. DONATSCH/ W. WOHLERS, Strafrecht IV, Delikte gegen die Allgemeinheit, 3
e
éd., p. 146; G. GRIBBOHM, op. cit., § 267 n. 172).
BGE 132 IV 57 S. 61
Certains auteurs nient encore qu'il puisse y avoir un faux dans les titres lorsqu'une des parties n'est pas intéressée par le nom donné par son cocontractant, mais veut uniquement conclure avec son vis-à-vis, comme par exemple l'hôtelier avec ses hôtes; dans ces cas, le nom est sans importance pour l'identité de l'auteur (G. STRATENWERTH, op. cit., § 36 n. 10; cf. G. GRIBBOHM, op. cit., § 267 n. 163 et K. KÜHL, in K. Lackner/K. Kühl, Strafgesetzbuch mit Erläuterungen, 24
e
éd., § 267 n. 18). D'autres admettent en revanche que ces cas constituent également des faux dans les titres (M. BOOG, op. cit., n. 12 ad
art. 251 CP
; cf. P. CRAMER, in A. Schönke/H. Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 26
e
éd., § 267 n. 48).
5.1.3
Dans un arrêt non publié, le Tribunal fédéral a jugé que la signature apposée à un contrat ou à un titre semblable devait permettre de retrouver sans difficulté les parties en cause au cas où le document en question devait être administré comme moyen de preuve dans le cadre, par exemple, d'une poursuite pour dettes ou d'un procès civil. Il a par conséquent admis qu'il y a faux dès qu'il y a tromperie sur le nom et que l'ignorance de l'identité véritable de l'auteur du titre empêche le cocontractant de faire valoir ses droits (arrêt du Tribunal fédéral 6S.193/1988 du 16 juin 1988 cité et approuvé par: M. BOOG, op. cit., n. 12 ad
art. 251 CP
; cf. P. CRAMER, in A. Schönke/H. Schröder, op. cit., § 267 n. 48). En revanche, il est vrai que les cas où l'identité de l'auteur du titre n'a absolument aucune importance pour les parties ne sauraient tomber sous le coup de la loi pénale.
Dans un
ATF 106 IV 372
, le Tribunal fédéral a admis que l'inculpé qui se présentait et signait un procès-verbal d'audition du nom d'un tiers ne commettait pas un faux dans les titres, relevant qu'un tel document n'émanait pas de la personne interrogée mais du fonctionnaire qui tenait le procès-verbal et que le prévenu n'avait pas trompé, ni voulu tromper autrui sur la réalité de son interrogatoire. Comme l'a précisé l'autorité de céans dans son arrêt du 16 juin 1988 (cf. ci-dessus), ce cas se distingue cependant de la signature de titres où la véritable identité de leur auteur a une portée plus large, en particulier pour les intérêts des autres parties en cause.
5.2
Selon les constatations cantonales, la recourante a signé d'un faux nom deux "attestations" dans lesquelles elle reconnaissait devoir effectuer des travaux pour des montants précis chez l'intimée. Ce faisant, elle a trompé cette dernière sur l'identité de la personne
BGE 132 IV 57 S. 62
qui s'obligeait, l'empêchant pratiquement de faire valoir ses droits dans d'éventuelles poursuites ou procédures civiles. Le fait qu'elle se soit toujours présentée sous le même nom fictif auprès de la partie adverse et ce durant environ une année est sans importance. Du reste, la situation est comparable à celle décrite dans l'arrêt du 16 juin 1988 et il n'existe aucun motif de s'en écarter (cf. supra, consid. 5.1.3). En effet, dans ce dernier cas, le Tribunal fédéral avait admis que l'auteur avait créé de faux matériels en apposant un faux nom sur des chèques, un ordre de virement bancaire et des quittances. Partant, la recourante a bien créé de faux documents, l'auteur réel ne coïncidant pas avec l'auteur apparent.
Ces "attestations" ont été établies sous forme d'écrits. Comme il s'agit de la création de faux documents, la conception restrictive de la jurisprudence en matière de faux intellectuel ne s'applique pas et il convient uniquement d'examiner si ces lettres sont destinées et propres à prouver un fait ayant une portée juridique. Les documents litigieux, établis sur papier à l'en-tête de Z., mentionnent que celle-ci s'engage à effectuer des travaux pour le compte de l'intimée pour un montant de 25'000 francs, puis de 20'000 francs. Il s'agit bien de titres, ces attestations étant destinées et propres à prouver l'existence d'un engagement de la part de Z. envers l'intimée.
D'un point de vue subjectif, il ressort des circonstances et des faits décrits que la recourante a agi intentionnellement et dans le dessein de porter atteinte aux intérêts pécuniaires de l'intimée.
5.2.1
Sur le vu de ce qui précède, la condamnation de la recourante pour faux dans les titres ne viole pas le droit fédéral. | 3,337 | 1,775 | 2 | 0 | CH_BGE_006 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_006_BGE-132-IV-57_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=1&from_date=&to_date=&from_year=2005&to_year=2005&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=3&highlight_docid=atf%3A%2F%2F132-IV-57%3Ade&number_of_ranks=281&azaclir=clir | BGE_132_IV_57 |
|||
ec564dac-f59d-40ee-923c-df623100150b | 2 | 84 | 1,361,861 | null | 2,024 | fr | Sachverhalt
ab Seite 176
BGE 105 V 176 S. 176
A.-
Victoria Lopez, née en 1943, décédée le 4 juillet 1978 après avoir été mariée à Francisco Honrado, était assurée de son vivant auprès de la Caisse-maladie de la Société suisse des hôteliers (Caisse Hotela) pour les soins médicaux et pour une indemnité journalière. Atteinte d'une grave affection cardiaque, elle dut cesser totalement le travail le 10 septembre 1975 pour ne jamais le reprendre. La caisse précitée lui versa l'indemnité assurée jusqu'au 30 avril 1976. Elle refusa de le faire au-delà de cette date, invoquant l'attitude de la prénommée, qui n'entendait alors pas se soumettre à une opération qu'elle jugeait trop dangereuse et trop aléatoire. La caisse précitée ne rendit pas de décision formelle dans ce sens; elle informa l'intéressée de ses intentions par simple lettre du 14 mai 1976, confirmée le 23 août 1976 après que l'intéressée eut été examinée par le professeur R.
B.-
Victoria Lopez protesta le 15 décembre 1976 auprès du Tribunal des assurances du canton de Vaud contre la suspension de son droit aux indemnités journalières. Elle soutenait qu'on ne pouvait pas sanctionner ainsi son refus de se soumettre à une intervention chirurgicale telle que celle qui lui avait été conseillée (remplacement de la valve aortique par
BGE 105 V 176 S. 177
une prothèse; ouverture du rétrécissement mitral ou même remplacement de la valve mitrale en cas d'atteinte trop grave; mise en place éventuelle d'une prothèse supplémentaire en raison d'une lésion tricuspidienne secondaire).
Après avoir pris l'avis du professeur R. qui estimait qu'en juillet 1976 l'opération susmentionnée comportait un risque d'échec ne dépassant "guère 4% et encore" et qu'elle présentait 20 à 40% de chances pour une reprise complète du travail ainsi que 70 à 90% de chances pour une reprise à quelque 50%, le Tribunal des assurances du canton de Vaud entra en matière et admit partiellement le recours le 13 avril 1978: il reconnut à l'intéressée le droit aux pleines indemnités jusqu'au 31 décembre 1976, et aux indemnités réduites de 50% dès le 1er janvier 1977. Les premiers juges ont considéré en bref: qu'un refus ou une réduction des prestations peuvent être opposés à un assuré qui n'entend pas se prêter à une opération à laquelle on peut raisonnablement exiger qu'il se soumette, cela même en l'absence de disposition statutaire le prévoyant expressément, en application du principe général du droit des assurances qui prescrit au lésé de contribuer à l'atténuation du dommage; que l'intervention chirurgicale conseillée ne présentait qu'un risque "faible à modéré", en juillet 1976, et était par conséquent exigible au regard du résultat attendu de cette opération; que, si celle-ci avait été effectuée, l'assurée n'aurait de toute façon pas pu travailler jusqu'à la fin de 1976; que, dès le 1er juillet 1977, on pouvait tenir pour vraisemblable que l'intéressée n'aurait pu exercer qu'une activité de 50%, l'octroi dès cette date de prestations réduites dans cette mesure apparaissant par conséquent équitable.
C.-
Francisco Honrado a interjeté recours de droit administratif le 19 septembre 1978, après le décès de son épouse. Il conclut au paiement des indemnités non réduites dès février 1978, alléguant que sa femme avait accepté à cette époque de se faire opérer, comme l'établissait le fait qu'elle avait subi des examens préparatoires en mars 1978 déjà.
La caisse intimée conclut au rejet du recours, que l'Office fédéral des assurances sociales propose en revanche d'admettre. | 783 | 671 | Erwägungen
Considérant en droit:
1.
L'assurée étant décédée, c'est son mari qui a interjeté recours de droit administratif. Il était légitimé à le faire dans
BGE 105 V 176 S. 178
l'intérêt pécuniaire de la succession (cf.
ATF 99 V 58
, ainsi que p. ex. l'arrêt du 24 mai 1978 en la cause Zuliani).
2.
Le premier titre de la LAMA ne contient aucune disposition enjoignant aux assurés de se soumettre à une mesure thérapeutique apte à réduire le dommage assuré (p. ex. une opération de nature à rendre inutile la poursuite d'un traitement ambulatoire ou à permettre une reprise de l'activité lucrative). Or il s'agit là, comme le relèvent les premiers juges, d'un principe essentiel du droit des assurances, rappelé parfois expressément par la loi: les art. 10 al. 2 et 31 al. 1 LAI prescrivent à l'ayant-droit de faciliter toutes les mesures prises en vue de sa réadaptation à la vie professionnelle, voire de tenter d'améliorer sa capacité de gain de sa propre initiative; les art. 18 al. 3 et 4 ainsi que 39 al. 4 LAM permettent d'exiger d'un patient militaire qu'il se soumette à une intervention apte à entraîner une amélioration notable, ou qu'il accepte un changement d'activité propre à améliorer notablement sa capacité de gain; dans l'assurance-chômage, l'assuré a l'obligation de faire son possible pour trouver par lui-même une activité convenable et d'accepter une telle activité que lui propose l'Office du travail (
art. 29 al. 1 let
. e et f LAC). Par ailleurs, MAURER (Recht und Praxis der Schweizerischen obligatorischen Unfallversicherung, 2e édition, 1963, p. 198, note 74a en particulier) admet que ce principe trouve son application dans l'assurance-accidents obligatoire également. Il ne saurait en aller autrement dans l'assurance-maladie, cela même si les dispositions internes d'une caisse ne contiennent aucune règle dans ce sens. La Cour de céans a du reste déjà jugé que certains principes fondamentaux de l'assurance s'imposent aux caisses quelle que soit la teneur de leurs statuts (voir p. ex.
ATF 98 V 8
, 144, RJAM 1977 No 285, p. 83, en matière de sanctions; ATFA 1967 p. 123, 1968 p. 5,
ATF 96 V 8
, RJAM 1971 No 113, p. 225, en matière de réserves en cours d'affiliation; RJAM 1973 No 174, p. 126, en matière de compensation; ATFA 1967 p. 5,
ATF 101 V 225
, RJAM 1971 No 98, p. 123, 1973 No 178, p. 157, 1976 No 252, p. 115, en matière de restitution de l'indu).
3.
Il faut dès lors examiner si l'on pouvait exiger de l'assurée qu'elle se soumît à l'intervention chirurgicale qui lui avait été proposée en 1976 et comportait, en juillet de cette année, un risque opératoire que le professeur R. estimait "à 4% et encore". Or, dans d'autres domaines des assurances sociales, le
BGE 105 V 176 S. 179
Tribunal fédéral des assurances a déjà eu l'occasion de juger que l'on ne pouvait pas imposer à un assuré une opération présentant un danger de mort (ATFA 1945 p. 147, en matière d'assurance militaire). Plus récemment, il a considéré que n'était pas exigible l'opération d'une hernie médicalement indiquée, alors qu'une précédente intervention de même nature avait entraîné chez le patient deux embolies pulmonaires dangereuses pour sa vie (ATFA 1965 p. 35, en matière d'assurance-invalidité; cf.
art. 31 al. 2 LAI
, selon lequel des mesures qui impliquent un risque pour la vie ou la santé ne sont pas raisonnablement exigibles). Dans l'assurance-accidents, MAURER (op. cit., p. 198, en particulier note 75) admet que l'assuré doit se soumettre à une intervention qui, selon l'expérience, n'offre pas de difficultés, ne présente pas un danger pour la vie, entraînera avec certitude ou grande vraisemblance la guérison totale ou une amélioration importante de l'affection et, par là, un accroissement notable de la capacité de gain, et enfin ne provoque pas de souffrances excessives.
On ne peut qu'appliquer ces critères dans le domaine de l'assurance-maladie aussi. Ils conduisent à nier en l'occurrence le caractère exigible de l'opération conseillée à l'assurée, opération dont la gravité, malgré les chances de réussite retenues par le professeur R., est généralement reconnue et dont on ne saurait dire qu'elle n'implique, même faite dans de bonnes conditions, aucun danger pour la vie du patient.
Dans ces circonstances, il y a lieu d'admettre le recours et d'ordonner le versement de l'indemnité journalière non réduite au-delà du 31 décembre 1976 (et non pas seulement dès le 1er février 1978, comme le demande le recourant; cf.
art. 132 let
. c OJ), sans qu'il soit nécessaire d'examiner encore si les probabilités de récupération de la capacité de travail et de gain eussent permis elles aussi d'imposer la mesure recommandée à l'assurée. Il incombera à la caisse de rendre une nouvelle décision chiffrant les prestations encore dues, au regard notamment de l'
art. 12bis al. 3 LAMA
. | 1,204 | 1,027 | Dispositiv
Par ces motifs, le Tribunal fédéral des assurances prononce:
Le recours est admis et le jugement cantonal, réformé dans le sens que l'assurée a eu droit, de son vivant, aux prestations non réduites de la caisse au-delà du 31 décembre 1976, conformément aux considérants. | 64 | 55 | CH_BGE_007 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_007_BGE-105-V-176_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=10&from_date=&to_date=&from_year=1979&to_year=1979&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=96&highlight_docid=atf%3A%2F%2F105-V-176%3Ade&number_of_ranks=371&azaclir=clir | BGE_105_V_176 |
||
ec5821f2-d407-4c87-843a-b8ad94f2d32c | 1 | 81 | 1,355,605 | null | 2,024 | de | Sachverhalt
ab Seite 65
BGE 105 II 65 S. 65
A.-
Mit Verfügung der Justizdirektion des Kantons Basel-Landschaft vom 27. April 1977 wurde der am 14. August 1942 geborene Peter K. von seinem Stiefvater Hans W. adoptiert. Durch die Adoption verloren der Adoptierte und seine Ehefrau den bisherigen Familiennamen K. und erhielten denjenigen des Adoptivvaters W.
B.-
Am 26. Januar 1978 ersuchten die Ehegatten Peter und Rosemarie W. beim Justizdepartement ihres Wohnsitzkantons Basel-Stadt um die Bewilligung, ihren früheren Namen K. beibehalten zu dürfen. Das Justizdepartement wies das Namensänderungsgesuch mit Entscheid vom 12. April 1978 ab. Ein Rekurs gegen diesen Entscheid wurde vom Regierungsrat des Kantons Basel-Stadt mit Beschluss vom 15. August 1978 abgewiesen.
BGE 105 II 65 S. 66
C.-
Gegen den Beschluss des Regierungsrats führten die Eheleute W. sowohl Berufung als auch staatsrechtliche Beschwerde ans Bundesgericht. Die staatsrechtliche Beschwerde wurde mit Urteil vom heutigen Tag abgewiesen, soweit darauf einzutreten war. Mit der Berufung wird beantragt, es sei den Berufungsklägern zu bewilligen, fortan wieder den Namen "K." zu führen, eventuell sei der Regierungsrat bzw. das Justizdepartement Basel-Stadt anzuweisen, den Berufungsklägern die Bewilligung zu erteilen, ab sofort wieder den Namen "K." zu führen. | 309 | 219 | Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Nach
Art. 44 lit. a OG
in der Fassung vom 25. Juni 1976, in Kraft seit 1. Januar 1978, ist gegen letztinstanzliche kantonale Entscheide, mit denen eine beantragte Namensänderung verweigert wird, im Gegensatz zur Rechtslage, wie sie früher bestand (vgl.
BGE 99 Ia 563
E. 2,
BGE 98 Ia 452
E. 2, 457 E. 1), die Berufung ans Bundesgericht zulässig. Auf die Berufung ist daher einzutreten.
2.
Nach dem revidierten
Art. 30 Abs. 1 ZGB
kann einer Person durch die Regierung ihres Wohnsitzkantons die Änderung des Namens bewilligt werden, wenn wichtige Gründe vorliegen. Ob diese Voraussetzung erfüllt ist, ist eine Ermessensfrage, die von der Behörde nach Recht und Billigkeit zu beantworten ist (
Art. 4 ZGB
;
BGE 99 Ia 563
E. 2,
BGE 98 Ia 451
, 457/458,
BGE 96 I 429
). Als Berufungsinstanz prüft das Bundesgericht grundsätzlich frei, ob wichtige Gründe für eine Namensänderung gegeben sind. Doch pflegt es sich bei der Überprüfung von Ermessensentscheiden der kantonalen Behörden eine gewisse Zurückhaltung aufzuerlegen (vgl.
BGE 100 II 81
E. 4 mit Bezug auf das Besuchsrecht gemäss
Art. 156 ZGB
,
BGE 98 II 166
mit Bezug auf die Höhe der Rente gemäss
Art. 151 ZGB
). Das Bundesgericht schreitet in solchen Fällen nur ein, wenn die Vorinstanz bei ihrer Entscheidung Umstände berücksichtigt hat, die nach dem Sinn des Gesetzes keine Rolle spielen durften, oder wenn sie wesentliche Gesichtspunkte ausser acht gelassen hat (
BGE 100 II 81
E. 4,
BGE 98 II 166
). Diese Zurückhaltung drängt sich auch bei der Überprüfung von Entscheiden der vorliegenden Art auf. Ob wichtige Gründe im Sinne von
Art. 30 Abs. 1 ZGB
vorliegen oder nicht, lässt sich weitgehend nur aus der Kenntnis örtlicher und
BGE 105 II 65 S. 67
persönlicher Gegebenheiten, Anschauungen und Gepflogenheiten und durch Gewichtung der persönlichen Umstände, in denen der Gesuchsteller lebt, beantworten. Dazu sind die kantonalen Behörden am Wohnsitz des Gesuchstellers in der Regel besser in der Lage als das Bundesgericht. Gerade weil die Behörde des Wohnsitzes mit den massgebenden örtlichen Verhältnissen besser vertraut ist, hat der Gesetzgeber anlässlich der Revision des Kindesrechts die Zuständigkeit für die Namensänderung von der Regierung des Heimatkantons auf diejenige des Wohnsitzkantons übertragen (Botschaft des Bundesrates vom 5. Juni 1974, BBl 1974 II 93).
3.
Der Berufungskläger wurde von seinem Stiefvater, von dem er seit der Wiederverheiratung seiner Mutter im Jahre 1953 erzogen worden war, im Alter von bereits 35 Jahren adoptiert. Nach
Art. 267 Abs. 1 ZGB
erhält das Adoptivkind die Rechtsstellung eines Kindes der Adoptiveltern. Die Adoption hatte somit von Gesetzes wegen zur Folge, dass der Adoptierte und seine Ehefrau den Familiennamen ihres Adoptivvaters erwarben (
Art. 270 ZGB
; HEGNAUER, Die Adoption, N. 34 zu
Art. 267 ZGB
). Diese Folge, die bereits dem alten Adoptionsrecht eigen war, ist in der Revision von 1972 ohne jede Einschränkung übernommen worden. Mit der Revision strebte der Gesetzgeber bewusst die Volladoption an; er wollte also das Adoptivverhältnis grundsätzlich dem ehelichen Kindesverhältnis gleichstellen. Mit diesem Zweck wäre es nicht vereinbar, wenn das Adoptivkind seinen bisherigen Namen beibehielte. Dass das Adoptivkind die Rechtsstellung eines Kindes der Adoptiveltern erhält, gilt vollumfänglich (mit der einzigen Ausnahme des Bürgerrechts; vgl.
BGE 101 Ib 115
) auch für die Erwachsenenadoption. Dabei war dem Gesetzgeber die Problematik der Adoption Erwachsener durchaus bewusst (vgl. Botschaft des Bundesrates vom 12. Mai 1971, BBl 1971 I 1211f., 1222 f.; Amtl. Bull. 1971, S 724 f., 1972 N 588 f., 606 ff., 1001). Dennoch wurde von keiner Seite beantragt, es sei bezüglich der Übernahme des Namens der Adoptiveltern eine Wahlfreiheit oder sonstwie eine Erleichterung vorzusehen. Angesichts dieser klaren Ordnung widerspricht daher die Auffassung der Vorinstanz, wonach "die üblichen Folgeerscheinungen des Namenswechsels nach der Adoption" nicht als wichtige Gründe für eine Namensänderung angesehen werden dürfen, grundsätzlich nicht dem Bundesrecht. Würde
BGE 105 II 65 S. 68
man anders entscheiden, so liefe dies auf ein Wahlrecht des Adoptierten hinaus, was gegen
Art. 267 Abs. 1 ZGB
verstiesse. Wer sich adoptieren lassen will, muss eben auch die gesetzlichen Folgen der Adoption auf sich nehmen. Mit Bezug auf den Namen ist das Adoptivkind in einer ähnlichen Stellung wie die verheiratete Frau, die nach
Art. 161 Abs. 1 ZGB
mit der Eheschliessung den Familiennamen des Mannes erhält. Wie das Bundesgericht in
BGE 98 Ia 449
ff. - allerdings unter dem Gesichtswinkel der Willkür - entschieden hat, kann diese keine Namensänderung verlangen bloss mit der Begründung, der mit der Eheschliessung verbundene Namenswechsel habe für sie auf beruflichem Gebiet gewisse Unannehmlichkeiten zur Folge.
4.
Zur Begründung ihres Namensänderungsgesuches hatten die Berufungskläger vorgebracht, sie seien beide berufstätig, da ihre Ehe kinderlos sei. Der Ehemann sei seit mehreren Jahren als Techniker bei den Industriellen Werken Basel tätig, während die Ehefrau als rechte Hand des Chefs eine verantwortungsvolle Stelle bei der Maneg AG, Basel, bekleide. Beide Ehegatten seien an ihren Arbeitsplätzen bei Vorgesetzten, Mitarbeitern und vor allem auch bei Dritten, mit denen sie zu tun hätten, allgemein unter dem Namen "K." bekannt. Es sei für sie äusserst peinlich, wenn sie nun unvermittelt unter dem neuen Namen "W." auftreten müssten. Unangenehmen Fragen über die Hintergründe dieser Namensänderung wären Tür und Tor geöffnet. Überdies wäre andauernd mit Missverständnissen und Verwechslungen zu rechnen, die den Arbeitsablauf stören könnten. Müsste insbesondere die Ehefrau ihren neuen Namen Dritten bekanntgeben, so würden diese logischerweise auf den Gedanken kommen, sie habe sich scheiden lassen, und indiskrete Anspielungen wären kaum zu vermeiden. Zu beachten sei ferner, dass die Ehegatten seit ihrer Verheiratung in Basel wohnten und dort einen sehr grossen Bekanntenkreis hätten, dem sie unter dem Namen "K." bekannt seien. Insbesondere figurierten sie in der von ihnen bewohnten Liegenschaft unter diesem Namen. Bei der Post habe sich bereits ein grosses Durcheinander ergeben, da eintreffende Briefe sowohl auf den Namen "K." als auch auf "W." lauteten. Schliesslich sei zu berücksichtigen, dass beide Gesuchsteller dem Tenissport stark verbunden seien. Auch in diesen Kreisen wäre mit Missverständnissen und lästigen Fragen zu rechnen, wenn sie
BGE 105 II 65 S. 69
unvermittelt unter dem Namen des Adoptivvaters auftreten müssten.
Diese Unannehmlichkeiten gehen nicht über das hinaus, was jeder Namenswechsel mit sich bringt. Was die Missverständnisse und die Gefahr von Verwechslungen bei der Post und dergleichen anbetrifft, so lassen sich diese ohne weiteres durch entsprechende Mitteilungen beseitigen, nicht anders als dies bei Adressänderungen regelmässig geschieht. Auch Freunde und Bekannte lassen sich auf diese Weise leicht aufklären. Eine solche Mitteilung hat nichts Peinliches an sich, da einer Adoption anders als etwa einer Scheidung gesellschaftlich kein Makel anhaftet. Schliesslich sind auch die beruflichen Unannehmlichkeiten nicht besonders schwerwiegend. Die Berufungskläger sind nicht etwa Künstler, Schriftsteller, Inhaber eines unter ihrem Namen geführten Geschäftes oder dergleichen; sie sind daher anders als diese Personen nicht in besonderem Masse an der Beibehaltung des Namens, unter dem sie bekannt sind, interessiert. Die Nachteile, die der Verlust des bisherigen Namens für sie zur Folge hat, sind jedenfalls weder ernsthafter noch dauernder Natur. Unter diesen Umständen verstösst es nicht gegen Bundesrecht, wenn die Vorinstanz ihnen die Beibehaltung des bisherigen Namens nicht bewilligte (vgl.
BGE 98 Ia 454
E. 4).
5.
Die Berufungskläger machen geltend, es bestehe kein wesentlicher Unterschied zwischen einem Namenswechsel infolge von Adoption und einem solchen infolge von Scheidung. Geschiedenen Ehefrauen werde aber von den basel-städtischen Behörden laufend und in tolerantester Weise bewilligt, den bisherigen ehelichen Namen beizubehalten. Dieses Argument schlägt indessen nicht durch. Einmal müssen auch für die Namensänderung der geschiedenen Ehefrau wichtige Gründe gegeben sein; die blosse Tatsache, dass diese während der Ehe den Namen des Mannes trug, vermag die Wiederannahme desselben nicht zu rechtfertigen (
BGE 81 II 405
). Sodann wird in der Mehrzahl der Fälle der geschiedenen Ehefrau die Beibehaltung des ehelichen Namens deswegen bewilligt, damit sie den gleichen Namen trägt wie die ihr bei der Scheidung zugeteilten unmündigen Kinder (
BGE 100 II 296
; BÜHLER, N. 20 zu
Art. 149 ZGB
). Dieses Bestreben, den Kindern die Unannehmlichkeiten zu ersparen, die dadurch hervorgerufen werden können, dass ihr Name anders lautet als derjenige der Mutter, mit der sie zusammenleben, fällt beim Namensänderungsgesuch
BGE 105 II 65 S. 70
des Adoptierten ausser Betracht. Zu berücksichtigen ist ferner, dass Frauen häufig gegen ihren Willen oder ohne ihr Verschulden geschieden werden, während ein Erwachsener ohne seine Zustimmung nicht adoptiert werden kann (
Art. 265 Abs. 2 ZGB
) und es daher allein von ihm abhängt, ob er seinen Namen aufgeben will. Überhaupt ist die Situation geschiedener Frauen nicht ohne weiteres vergleichbar mit derjenigen der mündigen Adoptierten; sie weist vielmehr erhebliche Besonderheiten auf, die seit Jahrzehnten zu Diskussionen Anlass boten und denen die Namensänderungspraxis der kantonalen Regierungen in unterschiedlichem Masse, im Ganzen aber doch in grosszügiger Weise Rechnung zu tragen versucht (vgl. hiezu
BGE 100 II 295
ff. E. 3b, mit Hinweisen).
Art. 149 Abs. 1 ZGB
, der die geschiedene Ehefrau dazu verpflichtet, wieder den vor der Eheschliessung getragenen Namen anzunehmen, wird dementsprechend in der Literatur als unbefriedigend bezeichnet, und in den Vorarbeiten für die Revision des Familienrechts wird deshalb seine Abänderung vorgeschlagen (BÜHLER, N. 38 zu
Art. 149 ZGB
). Demgegenüber hat sich der Gesetzgeber bei der jüngst erfolgten Revision des Adoptionsrechts, wie bereits gesagt, nicht veranlasste gesehen, bei der Adoption Erwachsener mit Bezug auf den Namenswechsel eine Ausnahme vorzusehen.
6.
Dass die Berufungskläger von den zuständigen Behörden vor der Adoption auf die namensrechtlichen Konsequenzen dieses Schrittes hingewiesen worden sind, hat die Vorinstanz für das Bundesgericht verbindlich festgestellt (
Art. 63 Abs. 2 OG
). Im übrigen ist diese Frage für den Entscheid über das Namensänderungsgesuch nicht erheblich. Es war Sache der Berufungskläger, sich rechtzeitig über die Folgen der von ihnen in Aussicht genommenen Adoption zu informieren.
Die Berufung erweist sich somit als unbegründet. | 2,380 | 1,906 | 2 | 0 | CH_BGE_004 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_004_BGE-105-II-65_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=31&from_date=&to_date=&from_year=1979&to_year=1979&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=303&highlight_docid=atf%3A%2F%2F105-II-65%3Ade&number_of_ranks=371&azaclir=clir | BGE_105_II_65 |
|||
ec5bc8e0-4dfd-4d59-9276-8c989b1e8f48 | 1 | 81 | 1,361,335 | null | 2,024 | de | Sachverhalt
ab Seite 205
BGE 82 II 205 S. 205
Auf Antrag der Vormundschaftsbehörde Oberrieden errichtete der Bezirksrat Horgen am 10. Juni 1955 für Frl. Hiestand eine Beiratschaft im Sinne von
Art. 395 Abs. 1 und 2 ZGB
. Hiegegen rekurrierte Frl. Hiestand an die Direktion der Justiz des Kantons Zürich. Diese hat am 27. Dezember 1955 verfügt, der Rekurs werde in dem Sinne gutgeheissen, dass die Rekurrentin unter blosse Mitwirkungsbeiratschaft nach
Art. 395 Abs. 1 ZGB
gestellt werde.
Gegen diesen Entscheid hat Frl. Hiestand die Berufung an das Bundesgericht erklärt mit dem Antrag, er sei aufzuheben und die Handlungsfähigkeit sei ihr unbeschränkt zu belassen; eventuell sei die Sache zur Ergänzung der Akten und zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. | 190 | 138 | Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Gemäss § 91 Abs. 1 des zürcherischen Einführungsgesetzes zum ZGB (EG) erfolgen die Beschränkung
BGE 82 II 205 S. 206
der Handlungsfähigkeit (
Art. 395 ZGB
) und die Aufhebung dieser Beschränkung durch den Bezirksrat auf Antrag des Waisenamtes. Im vorliegenden Falle wirkte demgemäss die Vormundschaftsbehörde Oberrieden als Antragsstellerin, der Bezirksrat dagegen wie nachher die Justizdirektion als entscheidende Behörde. Daher kann im Berufungsverfahren ausser der Berufungsklägerin nur die Vormundschaftsbehörde als Partei gelten.
2.
In Verfahren, welche die Entmündigung, die Anordnung einer Beistandschaft oder die Aufhebung dieser Verfügungen zum Gegenstand haben, ist nach
Art. 44 lit. c OG
die Berufung an das Bundesgericht zulässig. Wie aus den in dieser Gesetzesbestimmung angeführten Artikeln des ZGB (Art. 369-372, 392-395) klar hervorgeht, ist hier unter "Beistandschaft" die Beiratschaft im Sinne von
Art. 395 ZGB
mitzuverstehen. Der angefochtene Entscheid ist also in einer Sache ergangen, die mit der Berufung vor das Bundesgericht gebracht werden kann.
Die Berufung ist indes nach
Art. 48 OG
nur gegen Entscheide zulässig, die nicht durch ein ordentliches kantonales Rechtsmittel angefochten werden können. Ob ein Entscheid einer kantonalen Behörde durch ein ordentliches kantonales Rechtsmittel angefochten werden könne, ist dem Grundsatze nach eine Frage des kantonalen Rechts, die das Bundesgericht bei der ihm obliegenden Entscheidung über die Zulässigkeit der Berufung zu prüfen hat.
Die Zuständigkeit der Justizdirektion des Kantons Zürich zur Beurteilung von Rekursen gegen bezirksrätliche Entscheide über die Anordnung einer Beiratschaft kann ihren Grund nur darin haben, dass der Bezirksrat gemäss §§ 41 und 75 EG vormundschaftliche Aufsichtsbehörde erster Instanz und die Justizdirektion die vom Regierungsrat auf Grund von § 44 Ziff. 9 und § 75 EG als vormundschaftliche Aufsichtsbehörde zweiter Instanz bezeichnete Amtsstelle ist; denn die Justizdirektion ist nach der zürcherischen Behördenorganisation nur in ihrer Eigenschaft als obere vormundschaftliche Aufsichtsbehörde
BGE 82 II 205 S. 207
Rekursinstanz gegenüber dem Bezirksrat (vgl. O. FEHR, Die Verwaltungsrechtspflege im Kanton Zürich, S. 235, 228). Gegen Entscheide der vormundschaftlichen Aufsichtsbehörde zweiter Instanz ist nach dem letzten Satzteil von § 75 EG Rekurs an den Regierungsrat zulässig. Diese Bestimmung entspricht § 13 Abs. 2 des zürcherischen Gesetzes betr. die Organisation und Geschäftsordnung des Regierungsrates und seiner Direktionen vom 26. Februar 1899, wonach gegen alle Verfügungen in Sachen, die einer Direktion zur Erledigung zugewiesen sind, das Recht des Rekurses an den Regierungsrat offensteht, und dem in § 46 EG ausgesprochenen Grundsatze, dass gegen alle Entscheidungen und Verfügungen einer untern Verwaltungsbehörde Rekurs an die obere Behörde zulässig ist. Der hier in Frage stehende Rekurs ist ein ordentliches Rechtsmittel; er hat Devolutiveffekt und grundsätzlich auch Suspensiveffekt (vgl. § 46 EG). Nach kantonalem Recht ist also der angefochtene Entscheid kein letztinstanzlicher im Sinne von
Art. 48 OG
, sondern wäre diese Eigenschaft erst einem auf Rekurs hin ergangenen Entscheid des Regierungsrates, der obersten kantonalen Verwaltungsbehörde, zugekommen.
Im Entscheide
BGE 47 II 17
Erw. 2, den die Berufungsklägerin anruft, hat das Bundesgericht nun allerdings erklärt, nach
Art. 361 ZGB
seien die Kantone nur berechtigt, eine oder zwei Instanzen der vormundschaftlichen Aufsichtsbehörde vorzusehen; die Einführung einer dritten Instanz sei bundesrechtwidrig; daher könne (wo ein solcher Weiterzug möglich ist) schon der Entscheid der zweitinstanzlichen Aufsichtsbehörde an das Bundesgericht weitergezogen werden, auch wenn das kantonale Recht, wie es nach den angeführten Bestimmungen im Kanton Zürich der Fall ist, eine dritte Instanz vorsieht. In
BGE 64 II 336
und
BGE 67 II 205
hat das Bundesgericht diese Rechtsprechung dann aber dahin verdeutlicht, dass die aus
Art. 361 ZGB
sich ergebende Beschränkung des kantonalen Instanzenzugs nur für die Angelegenheiten gilt,
BGE 82 II 205 S. 208
die das Bundesrecht den vormundschaftlichen Behörden im Sinne dieser Bestimmung übertragen hat. Wo dagegen das Bundesrecht die Bezeichnung der sachlich zuständigen Behörden den Kantonen überlässt, sind diese in der Ausgestaltung des Instanzenzuges frei, und zwar gilt dies auch dann, wenn ein Kanton eine Angelegenheit, für die er die sachliche Zuständigkeit nach seinem Gutfinden ordnen kann, den vormundschaftlichen Behörden zuweist.
Der Entscheid darüber, ob die Verfügung der Justizdirektion vom 27. Dezember 1955 der Berufung an das Bundesgericht unterliege oder ob dieses Rechtsmittel erst gegen einen Rekursentscheid des Regierungsrates hätte ergriffen werden können, hängt demnach davon ab, ob die Errichtung einer Beiratschaft im Sinne von
Art. 395 ZGB
kraft Bundesrechts Sache der vormundschaftlichen Behörden ist oder ob das Bundesrecht die Bestimmung der hiefür zuständigen Behörden den Kantonen überlässt.
3.
Art. 395 ZGB
sagt nichts darüber, welche Behörde zuständig ist, im Sinne dieser Bestimmung die Handlungsfähigkeit einer Person zu beschränken und ihr einen Beirat zu geben. Die Antwort auf diese Frage muss daher anderswo gesucht werden.
Auf Art. 395, der mit dem Randtitel "III. Beschränkung der Handlungsfähigkeit" im Unterabschnitt "A. Fälle der Beistandschaft" des Abschnittes über "Die Beistandschaft" steht, folgt unter dem Randtitel "B. Zuständigkeit" der Art. 396, der bestimmt, die Vertretung durch einen Beistand werde für die der Beistandschaft bedürftige Person von der Vormundschaftsbehörde ihres Wohnsitzes angeordnet (Abs. 1); die Anordnung einer Vermögensverwaltung erfolge durch die Vormundschaftsbehörde des Ortes, wo das Vermögen in seinem Hauptbestandteil verwaltet worden oder der zu vertretenden Person zugefallen ist (Abs. 2). Art. 397, der mit dem Randtitel "C. Bestellung des Beistandes" versehen ist, sagt sodann in Abs. 1: "Für das Verfahren gelten die gleichen Vorschriften wie bei der Bevormundung."
BGE 82 II 205 S. 209
Unter der Anordnung der Vertretung durch einen Beistand bzw. einer Vermögensverwaltung, wofür Art. 396 die Zuständigkeit regelt, ist nach allgemeinem Sprachgebrauch nicht etwa bloss die Wahl des Beistandes, d.h. die Bezeichnung der mit der Führung der Beistandschaft betrauten Person, sondern vor allem die Errichtung der Beistandschaft, d.h. der Beschluss zu verstehen, der anordnet, dass in einem bestimmten Fall eine Beistandschaft errichtet wird. Hätte das Gesetz in Art. 396 nur die Zuständigkeit für die Wahl des Beistandes ordnen wollen, so hätte es sich anders ausdrücken müssen. Daher ist anzunehmen, dass Art. 396 nicht nur für die Wahl des Beistands, sondern auch für die Errichtung der Beistandschaft gelte. Der französische und der italienische Text dieser Bestimmung können nicht zu einem andern Schlusse führen. Sie sind zwar so gefasst, dass es möglich wäre, sie bloss auf die Zuständigkeit für die Wahl des Beistands zu beziehen (Le curateur est nommé ..." bzw. "... désigné ..."; "La nomina del curatore ..."). In einem weitern Sinne können aber die Ausdrücke "Ernennung", "nomination" und "nomina", auf einen Beistand bezogen, auch die Anordnung der Beistandschaft bezeichnen (vgl. den deutschen und italienischen Text von Art. 392 und 393, wo die entsprechenden Zeitwörter "ernennen", "nominare" im Zusammenhang mit der Frage verwendet werden, in welchen Fällen eine Beistandschaft zu errichten ist, und auch den Randtitel "Bestellung des Beistandes", "Nomination", "Nomina del curatore" zu dem vom Verbeiständungsverfahren handelnden Art. 397). Die romanischen Texte von Art. 396 zwingen daher keineswegs zu einer Auslegung, die dem klaren Sinne des deutschen Textes widerspräche. Es liesse sich im übrigen kein vernünftiger Grund dafür finden, die örtliche Zuständigkeit (um die es in Art. 396 in erster Linie geht) für die Wahl des Beistandes anders zu ordnen als für die Errichtung der Beistandschaft. Die Rechtsprechung hat denn auch stets angenommen, dass Art. 396 die örtliche Zuständigkeit für die
BGE 82 II 205 S. 210
Anordnung (= Errichtung) der Beistandschaft festsetzt (
BGE 46 II 3
unten,
BGE 81 II 419
).
Da Art. 396 die Anordnung der Vertretung durch einen Beistand und die Anordnung einer Vermögensverwaltung je der "Vormundschaftsbehörde" eines bestimmten Ortes, zuweist, ist darin nicht nur eine Vorschrift über die örtliche, sondern auch eine solche über die sachliche Zuständigkeit zur Errichtung einer Beistandschaft zu erblicken (so auch KAUFMANN, 2. Aufl., N. 1 und 26 zu Art. 396). Für die Errichtung einer Beistandschaft sind also nach Bundesrecht die vormundschaftlichen Behörden zuständig. - Stellt Art. 396 demnach eine Sondervorschrift für die örtliche und sachliche Zuständigkeit zur Errichtung einer Beistandschaft dar, so kann die in Art. 397 enthaltene Verweisung auf die Vorschriften über die Bevormundung nicht den Sinn haben, dass diese Zuständigkeit sich in örtlicher Beziehung nach Art. 376 und in sachlicher Beziehung nach Art. 373 richte (vgl.
BGE 81 II 420
, wo festgestellt wurde, dass die den Kantonen in Art. 376 Abs. 2 eingeräumte Befugnis, für ihre im Kanton wohnenden Bürger die vormundschaftlichen Behörden der Heimat als zuständig zu erklären, mit Bezug auf die Anordnung einer Vertretungsbeistandschaft nicht gelte).
Art. 396 kann nun aber trotz dem durch die Systematik des Gesetzes vermittelten Zusammenhang mit Art. 395 nicht ohne weiteres auf die Errichtung einer Beiratschaft Anwendung finden. Sein erster Absatz, der von der Anordnung der "Vertretung durch einen Beistand" spricht, bezieht sich nach seinem Wortlaut auf die Vertretungsbeistandschaft im Sinne von Art. 392, nicht dagegen auf die Mitwirkungs- oder Verwaltungsbeiratschaft im Sinne von Art. 395, und sein zweiter Absatz ist offensichtlich für die Verwaltungsbeistandschaft im Sinne von Art. 393 aufgestellt worden, die zur Voraussetzung hat, dass ein Vermögen vorhanden ist, das niemand verwaltet (vgl.
BGE 80 II 198
), nicht für den Fall, dass zum Schutze einer Person, die die tatsächliche Möglichkeit zur Verwaltung
BGE 82 II 205 S. 211
ihres Vermögens besitzt, eine Beschränkung ihrer Handlungsfähigkeit hinsichtlich der Vermögensverwaltung als notwendig erscheint; denn indem Art. 396 Abs. 2 für die Anordnung der Vermögensverwaltung die Vormundschaftsbehörde des Ortes, wo das Vermögen in seinem Hauptbestandteil verwaltet worden oder der zu vertretenden Person zugefallen ist, als zuständig bezeichnet, nimmt er nur gerade auf den Fall Bezug, dass irgendwo ein Vermögen liegt, um das sich niemand kümmert. Die Fassung von Art. 396 wurde eben im wesentlichen aus dem Vorentwurf von 1900 übernommen, der im entsprechenden Abschnitt (über "Die Anordnung der Beistandschaft", Art. 422-425) als Fälle der Beistandschaft nur die Vertretung und die Vermögensverwaltung im Sinne der heutigen Art. 392 und 393 vorsah. Art. 396 bestätigt also hinsichtlich der sachlichen Zuständigkeit nach seinem Wortlaut nur, was sich schon aus Art. 392 und 393 ergibt: dass es nämlich in den Fällen dieser Artikel Sache der Vormundschaftsbehörde ist, einen Beistand zu ernennen, d.h. eine Beistandschaft zu errichten. Lässt sich Art. 396 demnach im Falle des Art. 395 nicht unmittelbar anwenden, so kann sich nur noch fragen, ob und wieweit jene Bestimmung auf die Anordnung einer Beiratschaft im Sinne von Art. 395 analog angewendet werden könne.
Mit Bezug auf die örtliche Zuständigkeit hat die Rechtsprechung diese Frage in der Weise beantwortet, dass sie unter Hinweis auf Art. 396 Abs. 1 (und 376) die Behörden des Wohnsitzes der schutzbedürftigen Person für die Anordnung beider Formen der Beiratschaft als zuständig erklärte (
BGE 46 II 3
ff.,
BGE 81 II 419
). Auf die Verwaltungsbeiratschaft im Sinne von Art. 395 Abs. 2 den von der "Vermögensverwaltung" handelnden Art. 396 Abs. 2 anzuwenden, wurde abgelehnt mit der Begründung, der Gesetzessystematik komme hier keine erhebliche Bedeutung zu, weil Art. 395 erst in der parlamentarischen Beratung (vom Ständerat) in den Abschnitt über die Beistandschaft eingeschoben worden sei; bei solchen Einschiebungen liege
BGE 82 II 205 S. 212
die Gefahr nahe, "dass sie dem übrigen Gesetzesinhalt nicht nach jeder Hinsicht angepasst sind und das System in der einen oder andern Richtung durchbrechen"; das treffe zweifellos im Verhältnis zwischen Art. 395 Abs. 2 und 396 Abs. 2 zu; Art. 396 Abs. 2 passe für die reine Vermögensverwaltung des Art. 393, weil diese sehr wohl von der Person des in seiner Handlungsfähigkeit unbeschränkten Verbeiständeten losgelöst und am Ort, wo das Vermögen liegt, vorgenommen werden könne, nicht dagegen für die Beiratschaft, die stets die Handlungsfähigkeit des Betroffenen beschränke; denn im Falle, dass die Beiratschaft nicht an dessen Wohnort geführt würde, stünde der Beirat den von ihm zu berücksichtigenden Verhältnissen des Verbeirateten oft fremd gegenüber und wäre die Beschränkung der Handlungsfähigkeit für diesen wegen Erschwerung des Kontakts mit dem Beirat weit drückender als bei Führung der Beiratschaft am Wohnort (
BGE 46 II 3
ff.). Es hätte beigefügt werden können, dass die Behörden des Wohnsitzes in der Regel mit den Tatsachen, die zur Anordnung einer Beiratschaft (sei es eine Mitwirkungs-, sei es eine Verwaltungsbeiratschaft) Anlass geben können, in der Regel am besten vertraut sind und am raschesten handeln können (vgl.
BGE 81 II 419
unten), und dass für die Verwaltungsbeiratschaft schon deshalb nicht eine andere örtliche Zuständigkeit gelten kann als für die Mitwirkungsbeiratschaft, auf die Art. 396 Abs. 2 offensichtlich nicht angewendet werden kann, weil unter Umständen beide Massnahmen miteinander zu verbinden sind (vgl.
BGE 66 II 14
,
BGE 81 II 266
). Die Praxis hat also auf beide Formen der Beiratschaft den in 396 Abs. 1 und 376 Abs. 1 ZGB ausgesprochenen Grundsatz der Zuständigkeit der Wohnsitzbehörden angewendet, weil dadurch die Verwirklichung der Zwecke, denen die Vorschriften über die Beiratschaft dienen sollen, am besten gewährleistet wird.
Entsprechende Überlegungen müssen auch bei der Lösung der Frage wegleitend sein, welche Behörden für
BGE 82 II 205 S. 213
die Anordnung einer Beiratschaft sachlich zuständig seien. Die im Abschnitt über die Beistandschaft geregelte Beiratschaft ist ihrer Natur nach in Wirklichkeit eine Vormundschaft minderen Grades (
BGE 80 II 17
). Ihre Anordnung setzt nach dem Wortlaut von
Art. 395 ZGB
voraus, dass eine Entmündigung nicht geboten, aber doch eine Beschränkung der Handlungsfähigkeit notwendig ist, und ihre Wirkungen sind zwar nicht so umfassend wie diejenigen der Vormundschaft, haben aber in dem Bereiche, auf den sie sich erstrecken, ähnlichen Charakter wie diese, da sie den Verbeirateten am selbständigen Abschluss bestimmter Geschäfte hindern (Abs. 1) bzw. ihm die Befugnis entziehen, sein Vermögen selber zu verwalten (Art. 2). In der Praxis können sich leicht Fälle ergeben, wo man sich ernstlich fragen kann, ob eine Vormundschaft oder nur eine Beiratschaft am Platze sei. Es wäre also unzweckmässig und einer richtigen Anwendung des Gesetzes abträglich, wenn über die Anordnung einer Beiratschaft eine andere Behörde zu befinden hätte als über die Entmündigung. Daher ist auf die sachliche Zuständigkeit für die Anordnung einer Beiratschaft ungeachtet der Tatsache, dass Art. 395 unter den Bestimmungen über die Beistandschaft steht, nicht der für diese massgebende Art. 396, sondern der für die Entmündigung geltende
Art. 373 ZGB
analog anzuwenden, d.h. für die Anordnung einer Beiratschaft muss wie für die Entmündigung gelten, dass die Kantone die sachlich zuständigen Behörden bestimmen (so auch schon
BGE 67 II 205
f. in Übereinstimmung mit KAUFMANN, 2. Aufl., N. 30 zu Art. 396 und N. 21 zu Art. 397, und EGGER, 2. Aufl., N. 6 zu
Art. 397 ZGB
). Die in
BGE 56 II 423
ohne nähere Begründung vertretene Auffassung, dass nach
Art. 376 und 396 ZGB
die Entmündigung und die Bestellung eines Beirats (gemeint die Anordnung einer Beiratschaft) wie die Verbeiständung Sache der vormundschaftlichen Behörden seien, erweist sich als unzutreffend. (Ob aus den gleichen Gründen anzunehmen sei, dass die Kantone mit heimatlicher
BGE 82 II 205 S. 214
Armenfürsorge die Anordnung einer Beiratschaft für ihre im Kanton wohnenden Bürger wie gemäss Art. 376 Abs. 2 die Anordnung und Führung einer Vormundschaft den heimatlichen Behörden übertragen können, trotzdem diese Bestimmung, wie schon bemerkt, für die Anordnung einer Beistandschaft nicht gilt, braucht heute nicht entschieden zu werden.)
Die analoge Anwendung von Art. 373 auf die sachliche Zuständigkeit für die Beiratschaft schafft freilich keine absolute Gewähr dafür, dass für die Verbeiratung überall die gleichen Behörden zuständig sind wie für die Entmündigung, weil diese Vorschrift sich darauf beschränkt, die Bezeichnung der zuständigen Behörden den Kantonen zu überlassen, und folglich die Kantone nicht zwingt, die Anordnung der Beiratschaft den gleichen Behörden zuzuweisen wie die Entmündigung. Sie macht dies den Kantonen aber wenigstens möglich, und die meisten Kantone scheinen von dieser Möglichkeit denn auch Gebrauch gemacht zu haben (vgl. KAUFMANN, 2. Aufl., N. 22 ff. zu
Art. 397 ZGB
). Eine Ausnahme macht allerdings gerade Zürich, wo gemäss § 85 EG der auf Grund von Art. 369 oder 370 ZGB zu Entmündigende nach Zustellung des Beschlusses des Bezirksrats eine gerichtliche Entscheidung verlangen kann und der Rekurs an die obere Aufsichtsbehörde und den Regierungsrat ausgeschlossen ist, während im Falle der Beschränkung der Handlungsfähigkeit im Sinne von
Art. 395 ZGB
gemäss § 91 Abs. 2 EG ein gerichtliches Verfahren nicht stattfindet. Diese Besonderheit des zürcherischen Rechts kann aber auf die Auslegung der bundesrechtlichen Zuständigkeitsvorschriften keinen Einfluss haben.
Im vorliegenden Falle haben also der Bezirksrat und die Justizdirektion nicht eine Kompetenz ausgeübt, die ihnen als vormundschaftlichen Behörden von Bundesrechts wegen zukäme, sondern sie haben als die Behörden gehandelt, die nach dem in dieser Hinsicht massgebenden kantonalen Recht für den Entscheid über die Anordnung
BGE 82 II 205 S. 215
einer Beiratschaft zuständig sind. Die Verfügung der Justizdirektion hätte daher durch Rekurs an den Regierungsrat angefochten werden können, was nach
Art. 48 OG
ihre Anfechtung durch Berufung an das Bundesgericht ausschliesst. | 4,091 | 3,232 | Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Auf die Berufung wird nicht eingetreten. | 18 | 15 | CH_BGE_004 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_004_BGE-82-II-205_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=12&from_date=&to_date=&from_year=1956&to_year=1956&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=115&highlight_docid=atf%3A%2F%2F82-II-205%3Ade&number_of_ranks=207&azaclir=clir | BGE_82_II_205 |
||
ec5c8f94-025d-400f-9a68-3c7dfbbd4411 | 1 | 83 | 1,347,921 | -157,766,400,000 | 1,965 | de | 2 | 0 | Erwägungen
ab Seite 211
BGE 91 IV 210 S. 211
Aus den Erwägungen:
2.
Bei Unfällen mit blossem Sachschaden obliegt dem Schädiger die Pflicht zur Meldung, der er genügt, wenn er den Geschädigten sofort benachrichtigt und diesem Namen und Adresse angibt (
Art. 51 Abs. 3 SVG
). Nur wenn der benachrichtigte Geschädigte die Polizei beiziehen will, ist der Schädiger ausserdem verpflichtet, bei der polizeilichen Feststellung des Tatbestandes mitzuwirken, bis er von der Polizei entlassen wird (
Art. 56 Abs. 2 VRV
). Diese weitere Pflicht ist nicht Bestandteil der Meldepflicht, sondern hat selbständigen Charakter. Das ergibt sich daraus, dass
Art. 51 Abs. 3 SVG
es bei der Anzeigepflicht des Schädigers bewenden lässt und eine Pflicht zur Mitwirkung bei der polizeilichen Tatbestandsfeststellung, die vom Geschädigten veranlasst wird, nicht vorsieht. Die weitergehende Vorschrift des
Art. 56 Abs. 2 VRV
wurde offenbar im Hinblick auf Fälle erlassen, in denen es unklar oder bestritten ist, welcher der Beteiligten für den Sachschaden verantwortlich ist; die Bestimmung spricht deshalb nicht vom Schädiger, sondern nur von den am Unfall Beteiligten. Der Schädiger, der der gesetzlichen Meldepflicht nachkommt, sich aber der Pflicht zur Mitwirkung bei der polizeilichen Feststellung des Sachverhaltes entzieht, handelt daher nur der Ausführungsvorschrift des
Art. 56 Abs. 2 VRV
zuwider, nicht auch
Art. 51 Abs. 3 SVG
.
(Folgen Ausführungen darüber, dass der Schädiger, der dem anwesenden Geschädigten durch Überreichung des Versicherungsausweises Namen und Adresse bekannt geben wollte, trotz Ablehnung dieses Angebotes durch den Geschädigten seine Meldepflicht erfüllte und dadurch, dass er sich hierauf entfernte, obschon er erkennen konnte, dass der Geschädigte die Polizei holen ging, bloss gegen
Art. 56 Abs. 2 VRV
verstiess.) | 786 | 338 | 2 | 0 | CH_BGE_006 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_006_BGE-91-IV-210_1965 | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=4&from_date=&to_date=&from_year=1965&to_year=1965&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=38&highlight_docid=atf%3A%2F%2F91-IV-210%3Ade&number_of_ranks=219&azaclir=clir | BGE_91_IV_210 |
||||
ec5e10e6-2b44-4dd1-999b-2ffaac3bb342 | 1 | 81 | 1,339,208 | null | 2,024 | de | Sachverhalt
ab Seite 451
BGE 130 II 449 S. 451
Die W. SA (nachfolgend: W.) betreibt Kabelnetze, welche 15 Gemeinden in den Regionen X. und Y. versorgen. Sie hat ca. 12'500 Abonnenten, denen sie 24 Fernseh- und 16 Radioprogramme anbietet.
Am 28. September 1999 eröffnete der Preisüberwacher eine Untersuchung gegen die W. Mit Verfügung vom 4. September 2001 stellte er fest, dass die von der W. verlangten Abonnementspreise (von bisher Fr. 23.70 pro Monat, exkl. Taxen und Mehrwertsteuer) missbräuchlich seien; er legte den monatlichen Abonnementspreis für die Dauer vom 1. Januar 2002 bis 31. Dezember 2004 auf Fr. 17.- fest.
Gegen diese Verfügung erhob die W. Beschwerde an die Rekurskommission für Wettbewerbsfragen. Diese wies das Rechtsmittel mit Entscheid vom 21. Mai 2003 ab.
Am 23. Juni 2003 erhob die W. Verwaltungsgerichtsbeschwerde ans Bundesgericht. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab. | 370 | 172 | Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Die Vorinstanz hat im Wesentlichen festgehalten, die Beschwerdeführerin habe auf dem relevanten Markt (Verbreitung von Fernsehprogrammen über Kabel) eine marktbeherrschende Stellung; ihre Preise seien nicht Wettbewerbspreise und aufgrund der Kostenrechnung missbräuchlich. Die Beschwerdeführerin rügt in formeller Hinsicht eine Verletzung von
Art. 29 BV
und
Art. 6 EMRK
; sie macht geltend, die Rekurskommission habe ihre Kognition in unzulässiger Weise nicht ausgeschöpft und sich sowohl in Bezug auf die Abgrenzung des relevanten Marktes als auch bei der Beurteilung des vom Preisüberwacher festgesetzten Preises auf eine Willkürprüfung beschränkt. In materieller Hinsicht sind einerseits die Abgrenzung des sachlich relevanten Marktes, andererseits die Erzielung angemessener Gewinne (Art. 13 Abs. 1 lit. b des Preisüberwachungsgesetzes vom 20. Dezember 1985 [PüG; SR 942.20]) und die Ermittlung der im Hinblick darauf massgeblichen Kostenentwicklung (
Art. 13 Abs. 1 lit. c PüG
) umstritten.
4.
4.1
Die Rekurskommission hat Entscheide des Preisüberwachers voll zu überprüfen mit Einschluss der Angemessenheit (
Art. 49 und 71a
BGE 130 II 449 S. 452
Abs. 2 VwVG
i.V.m.
Art. 22 PüG
). Beschränkt sie ihre Überprüfung auf eine reine Rechtskontrolle oder gar eine blosse Willkürprüfung, so begeht sie eine formelle Rechtsverweigerung. Freilich darf auch eine Rechtsmittelbehörde, welcher eine volle Kognition zusteht, in Ermessensfragen einen Entscheidungsspielraum der Vorinstanz respektieren. Sie hat eine unangemessene Entscheidung zu korrigieren, kann aber der Vorinstanz die Wahl unter mehreren angemessenen Lösungen überlassen (vgl.
BGE 127 II 238
E. 3b/aa S. 242;
BGE 123 II 210
E. 2c S. 212 f.). Wenn es um die Beurteilung technischer oder wirtschaftlicher Spezialfragen geht, in denen die Vorinstanz über ein besonderes Fachwissen verfügt, kann den Rekursinstanzen zugebilligt werden, nicht ohne Not von der Auffassung der Vorinstanz abzuweichen (
BGE 116 Ib 270
E. 3b S. 273; BENOÎT BOVAY, Procédure administrative, Bern 2000, S. 397 f.; ALFRED Kölz/Isabelle Häner, Verwaltungsverfahren und Verwaltungsrechtspflege des Bundes, 2. Aufl., Zürich 1998, S. 229 f.; PIERRE MOOR, Droit administratif, Bd. I, Bern 1994, S. 384). Dies gilt freilich dort nicht, wo von der Rekursinstanz verlangt werden kann, über vergleichbare Fachkenntnisse wie die Vorinstanz zu verfügen (
BGE 116 Ib 270
E. 3c S. 273 f.). Eine Fach-Beschwerdeinstanz darf den Entscheid der Vorinstanz nur dann schützen, wenn sie geprüft hat, ob sich keine zweckmässigere, angemessenere Lösung anbietet.
Die Rekurskommission für Wettbewerbsfragen ist eine Spezialrekurskommission, welche gebildet worden ist, um eine unabhängige richterliche, trotzdem aber fachkundige Rechtsmittelinstanz sicherzustellen. Sie ist nur für wenige Spezialgebiete zuständig und hat über das Fachwissen in diesen Gebieten zu verfügen. Es besteht also kein Grund für eine besondere Einschränkung der Kognition.
4.2
Der Preisüberwacher betrachtete als sachlich relevanten Markt den Kabelempfang von Fernsehprogrammen, da der Satellitenempfang nicht als Ausweichmöglichkeit betrachtet werden könne. Die Beschwerdeführerin bezeichnete in ihrer Beschwerde an die Rekurskommission den Satellitenempfang als gleichwertige Ausweichmöglichkeit. Die Rekurskommission erwog dazu, die Definition des relevanten Marktes sei eine Ermessensfrage, die auf technische Kenntnisse und in gewisser Hinsicht auch auf politische Überlegungen Bezug nehme; das Gericht müsse in dieser Frage seine Überprüfungsbefugnis einschränken und der Behörde einen gewissen Beurteilungsspielraum belassen; die Auffassung der
BGE 130 II 449 S. 453
Beschwerdeführerin, wonach der Satellitenempfang ein Substitut für den Kabelempfang sei, erscheine nicht als überzeugender als diejenige des Preisüberwachers; da die von diesem vorgenommene Definition des sachlich relevanten Marktes nicht offensichtlich unhaltbar sei, bestehe kein Grund, davon abzuweichen.
Bei der Beurteilung sodann, ob ein Preismissbrauch vorliege, hat die Rekurskommission erwogen, der missbräuchliche Preis sei in
Art. 13 PüG
nicht definiert, sondern nur durch nicht abschliessende Beurteilungselemente umschrieben; daraus folge ein sehr grosser Ermessensspielraum des Preisüberwachers; der Begriff des missbräuchlichen Preises sei ein unbestimmter Rechtsbegriff, der auf technische Kenntnisse und bis zu einem bestimmten Grad auch auf politische Überlegungen Bezug nehme; der Richter müsse daher in der Überprüfung Zurückhaltung üben und der Behörde einen gewissen Beurteilungsspielraum belassen; die Rekursinstanz dürfe sich nicht ohne Not von der Auffassung der Vorinstanz entfernen in Bezug auf Fragen, die ihrer Natur nach kaum oder sehr schwer überprüfbar seien; die angefochtene Verfügung sei daher nur dann aufzuheben, wenn sie offensichtlich unhaltbar erscheine.
4.3
Die Formulierungen, der angefochtene Entscheid werde nur aufgehoben, wenn er offensichtlich unhaltbar sei, können bei isolierter Betrachtung in der Tat den Eindruck entstehen lassen, die Rekurskommission habe ihre Überprüfung in gesetzwidriger Weise auf eine Willkürprüfung beschränkt. Sie sind jedoch im Zusammenhang mit den vorangehenden (zutreffenden) Aussagen zu lesen, wonach das Gesetz dem Preisüberwacher einen erheblichen Beurteilungsspielraum eingeräumt habe. In Wirklichkeit hat sich die Rekurskommission in E. 5.1 ihres Entscheids auf rund 9 Seiten ausführlich mit der Abgrenzung des sachlichen Marktes auseinandergesetzt und ist zum Ergebnis gekommen, es gebe keine absoluten Kriterien, sondern nur Indizien, um den relevanten Markt zu definieren. Der Preisüberwacher stütze sich auf ein Bündel von Elementen, um die Substituierbarkeit zu verneinen. Desgleichen hat sich die Rekurskommission in E. 8.2 ihres Entscheides auf rund 7
1
/2 Seiten mit der Festsetzung des Preises befasst und die einzelnen von der Beschwerdeführerin vorgebrachten Kritikpunkte überprüft und als unbegründet beurteilt. Sie hat unter anderem auch ausgeführt, der Preisüberwacher habe den Gewinn auf eine angemessene Weise berücksichtigt
BGE 130 II 449 S. 454
.
Die allenfalls missverständlichen Ausführungen, der angefochtene Entscheid sei nicht offensichtlich unhaltbar, bedeuten in diesem Zusammenhang bloss, dass die Rekurskommission nicht beansprucht, unter mehreren rechtmässigen, angemessenen und gleichwertigen Lösungen die richtige festzulegen. Soweit das Gesetz tatsächlich dem Preisüberwacher einen erheblichen Beurteilungsspielraum einräumt, ist diese Auffassung nach dem vorne Ausgeführten mit
Art. 49 VwVG
vereinbar. Eine unzulässige Einschränkung der Kognition in Bezug auf die Angemessenheitsprüfung liegt nicht vor. Unbegründet ist angesichts der durch die Vorinstanz getroffenen Abklärungen auch der Vorwurf der Beschwerdeführerin, der rechtserhebliche Sachverhalt sei unvollständig oder sonstwie im Sinne von
Art. 105 Abs. 2 OG
qualifiziert unrichtig ermittelt worden. Die Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz sind damit für das Bundesgericht verbindlich, und Raum für entsprechende Ergänzungen im bundesgerichtlichen Verfahren besteht nicht.
5.
5.1
Das Preisüberwachungsgesetz gilt in sachlicher Hinsicht nach seinem Art. 1 für Preise von Waren und Dienstleistungen einschliesslich der Kredite mit Ausnahme der Löhne und anderer Leistungen aus einem Arbeitsverhältnis sowie der Kredittätigkeit der Schweizerischen Nationalbank, in persönlicher Hinsicht nach seinem Art. 2 für Wettbewerbsabreden im Sinne des Kartellgesetzes vom 6. Oktober 1995 (KG; SR 251) und für marktmächtige Unternehmen des privaten und des öffentlichen Rechts. Stellt der Preisüberwacher aufgrund einer Abklärung einen Preismissbrauch fest, strebt er mit den Betroffenen eine einvernehmliche Regelung an (
Art. 9 PüG
). Kommt eine solche nicht zustande, untersagt er eine Preiserhöhung oder verfügt eine Preissenkung (
Art. 10 PüG
). Preismissbrauch im Sinne des Preisüberwachungsgesetzes kann nur vorliegen, wenn die Preise auf dem betreffenden Markt nicht das Ergebnis wirksamen Wettbewerbs sind (
Art. 12 Abs. 1 PüG
). Wirksamer Wettbewerb besteht insbesondere, wenn die Abnehmer die Möglichkeit haben, ohne erheblichen Aufwand auf vergleichbare Angebote auszuweichen (
Art. 12 Abs. 2 PüG
).
Sowohl für die Beurteilung einer Marktmacht im Sinne von
Art. 2 PüG
als auch für die Abgrenzung des "betreffenden" Marktes im Sinne von
Art. 12 Abs. 1 PüG
muss analog zum Kartellrecht ein räumlich und sachlich relevanter Markt definiert werden (vgl. dazu
BGE 129 II 18
E. 7.2 S. 33). Die Definition des sachlich relevanten
BGE 130 II 449 S. 455
Marktes erfolgt im Lichte der Zielsetzung der Preisüberwachung aus der Sicht der Abnehmer; massgebend ist, ob aus deren Optik Waren oder Dienstleistungen miteinander im Wettbewerb stehen. Dies hängt davon ab, ob sie vom Nachfrager hinsichtlich ihrer Eigenschaften und des vorgesehenen Verwendungszwecks als substituierbar erachtet werden (LEO SCHÜRMANN/WALTER R. SCHLUEP, KG+PüG, Gesetzestexte und Kommentar, Zürich 1988, N. III.3 zu
Art. 12 PüG
;
BGE 129 II 18
E. 7.3.1 S. 33 mit Hinweisen).
5.2
Unbestritten ist die Beschwerdeführerin in ihrem Versorgungsgebiet die einzige Anbieterin von Kabelanschlüssen. Wird der Kabelanschluss auch sachlich als eigener Markt betrachtet, so ist die Beschwerdeführerin ohne weiteres im Sinne von
Art. 2 PüG
marktmächtig, und es besteht im Sinne von
Art. 12 PüG
kein Wettbewerb. Umstritten ist jedoch, ob der Kabelempfang wirklich einen eigenen Markt darstellt oder ob es dazu vergleichbare Alternativen gibt, namentlich ob der Satellitenempfang ein Substitut ist.
5.3
Die Vorinstanzen haben dies verneint.
5.3.1
Der Preisüberwacher hat in seiner Verfügung vom 4. September 2001 die Substituierbarkeit von Kabel- und Satellitenempfang mit folgender Argumentation verneint: Die Verwendung von Aussenantennen sei bisweilen durch Mietverträge beschränkt;
Art. 53 des Bundesgesetzes vom 21. Juni 1991 über Radio und Fernsehen (RTVG; SR 784.40)
gebe den Kantonen die Möglichkeit, das Errichten von Aussenantennen in bestimmten Gebieten zu verbieten, wenn der Schutz des Landschafts- und Ortsbildes oder von geschichtlichen Stätten oder von Natur- und Kunstdenkmälern dies verlange; die Beschwerdeführerin signalisiere in ihrer Stellungnahme vom 11. November 2000, dass in der Altstadt von X. ein solches Verbot bestehe; zudem erlaube die geographische Lage gewisser Wohnungen die Erreichung der betreffenden Satelliten nicht; schliesslich empfingen im Versorgungsgebiet der Beschwerdeführerin 77 % der Haushalte das Fernsehen mit Kabelnetz; die grosse Mehrheit der Konsumenten betrachte offenbar den Satellitenempfang nicht als Substitut zum Kabelempfang.
5.3.2
Die Rekurskommission hat zunächst ausgeführt, das digitale terrestrische Fernsehen sei nach dem aktuellen Stand der Technik noch keine valable Alternative zu den bisherigen Empfangsmethoden. Zur Substituierbarkeit von Satelliten- und Kabelempfang hat sie erwogen, der Satellitenempfang könne auf die Dauer billiger
BGE 130 II 449 S. 456
sein als der Kabelempfang, wenn nur der Anschaffungspreis der Antenne berücksichtigt werde, doch seien auch Betriebs- und Entsorgungskosten sowie die Wertverminderung zu berücksichtigen. Das technische Argument hat die Kommission relativiert; so sei heute kein nach Süden gerichteter Balkon mehr notwendig, um eine Antenne anzubringen; Empfangsstörungen könnten heute ebenfalls rasch und kostengünstig behoben werden; der Preisüberwacher gebe keine Hinweise, dass in der betroffenen Region der Satellitenempfang behindert sei; die technischen Schranken, welche den Satellitenempfang weniger attraktiv machten als den Kabelempfang, seien daher zu relativieren, sie vermöchten aber bei technisch nicht bewanderten Personen einen nicht vernachlässigbaren negativen Effekt auszuüben.
Zum Argument der juristischen Hindernisse hat die Rekurskommission ausgeführt, die im Kanton Jura üblichen Mietverträge verlangten die Zustimmung des Vermieters für die Anbringung von Aussenantennen, während es in der Region Y. keine solchen Regeln gebe; baurechtliche Hindernisse für die Errichtung von Aussenantennen gebe es in den historischen Zentren von X. und Y., wobei die Bestimmungen in Y. elastisch seien; zudem könnten heute Antennen unauffällig angebracht werden; die bau- und privatrechtlichen Beschränkungen könnten somit die Substituierbarkeit einschränken, würden aber für sich allein nicht die Folgerung zulassen, dass der Satellitenempfang keine taugliche Ausweichmöglichkeit sei.
Weiter hat die Rekurskommmission dargelegt, gesamtschweizerisch hätten etwa 90 % der Haushalte mit Fernsehempfang einen Kabelanschluss, in der betreffenden Region wahrscheinlich 80-90 %; zudem hätten die Kabelanschlüsse trotz der technischen Entwicklung und der Preissenkung der Antennen in den letzten Jahren zugenommen; die Neigung der Konsumenten, auf den Satellitenempfang auszuweichen, sei demnach offenbar gering; der Kabelempfang biete für den Benützer eine Anzahl Vorteile wie einfache Verbindung, konstante Bild- und Tonqualität, Kundendienst im Fall einer Panne; der Wechsel von Kabel- zu Satellitenempfang bedeute einen erheblichen Wechsel in der Art der Benützung; die Benützer, welche den Kabelempfang gewohnt seien, kennten die Vorteile des Satellitenempfangs nicht und könnten sie daher auch nicht bewerten; hinzu kämen die finanziellen, technischen, administrativen und rechtlichen Hindernisse, welche die Substituierbarkeit einschränkten.
BGE 130 II 449 S. 457
5.4
Die Beschwerdeführerin macht demgegenüber geltend, der Satellitenempfang sei eine gleichwertige Alternative zum Kabelempfang; die finanziellen, technischen und rechtlichen Hindernisse seien von der Vorinstanz selber stark relativiert worden; die von der Vorinstanz als entscheidend betrachtete subjektive Einschätzung durch die Konsumenten könne nicht ausschlaggebend sein. In ihrer Replik bringt sie zudem vor, auch der praktisch überall mögliche terrestrische Empfang sei bei der Abgrenzung des relevanten Marktes einzubeziehen; ein zusätzlicher Wettbewerbsdruck gehe zudem vom Internet und der zunehmenden Digitalisierung von Informationsinhalten aus; die Entwicklung der Informationstechnologie marginalisiere die Marktzutrittsschranken weiter; schon heute stünden zudem eine Reihe von alternativen Trägern für die nachgefragten Programminhalte zur Verfügung, wie Angebote über breitbandfähige Telefonnetze und auf festen Trägern (CD-Rom, DVD).
5.5
Als Substitutionsgüter kommen nur vergleichbare Angebote in Frage (
Art. 12 Abs. 2 PüG
). Selbstverständlich besteht immer eine eingeschränkte Substitution in dem Sinne, als manche Konsumenten schliesslich auf eine minderwertige Alternative ausweichen, wenn der Preis des gewünschten Gutes allzu hoch wird. Eine solche unvollkommene Substitutionsmöglichkeit vermag wohl eine gewisse disziplinierende Wirkung auf die Preisbildung eines marktmächtigen und selbst eines marktbeherrschenden Unternehmens auszuüben. Sie kann jedoch nicht als wirksamer Wettbewerb im Sinne von
Art. 12 PüG
betrachtet werden, da sie dem Monopolanbieter des höherwertigen Produkts erlaubt, eine Monopolrente zu erzielen, die er bei wirksamem Wettbewerb zwischen gleichwertigen Produkten nicht erzielen könnte. Gerade dies soll durch das PüG unterbunden werden.
5.6
In Bezug auf den konventionellen terrestrischen Empfang räumt die Beschwerdeführerin selber ein, dass dabei dem Fernsehkonsumenten ein eingeschränkteres Angebot zur Verfügung stehen würde als beim Kabelanschluss. Dies stellt offensichtlich kein vergleichbares Angebot dar. Ebenso wenig können Angebote wie Internet oder feste Träger (CD-Rom, DVD) als gleichwertige Alternativen zu einem Kabelfernsehempfang betrachtet werden. Abgesehen davon, dass sie mit einem herkömmlichen Fernsehempfang nicht vergleichbar sind, erschliessen sie nicht die gleichen Informations- bzw. Unterhaltungsquellen. Mit Recht hat die Vorinstanz schliesslich laufende oder künftige technische Entwicklungen (terrestrisches
BGE 130 II 449 S. 458
digitales Fernsehen oder weitere Entwicklungen) nicht einbezogen. Der relevante Markt hat auch eine zeitliche Komponente: Die meisten Konsumenten werden in der Regel Produkte, die erst in Entwicklung oder Einführung sind, nicht als Substitute für eingeführte und bewährte Produkte betrachten, jedenfalls nicht bei Produkten, die zum aktuellen Konsum bestimmt sind. Die streitige Verfügung ist bis zum Ende des Jahres 2004 befristet. Die Frage der Substituierbarkeit beurteilt sich für diesen Zeitraum. In diesem zeitlich relevanten Markt stehen die neuen Angebote noch nicht zur Verfügung. Ob in näherer Zukunft neue Techniken auf dem Markt sein werden, die dem Kabelempfang ebenbürtig sind, wird im Rahmen einer allfälligen erneuten Verfügung zu prüfen sein.
5.7
Als Substitutionsgut kommt derzeit ernsthaft nur der Satellitenempfang in Frage.
5.7.1
Die Beschwerdeführerin führt aus, entgegen der französischen Fassung von
Art. 12 Abs. 2 PüG
, welche stark auf den Preis abstelle ("Il y a concurrence efficace, en particulier, lorsque d'autres sources d'approvisionnement s'offrent aux acheteurs, cela à des prix comparables et sans qu'il en résulte pour eux des efforts considérables"), könne es für die Beurteilung, ob ein wirksamer Wettbewerb bestehe, nicht darauf ankommen, ob der Wettbewerb auf preislicher Ebene oder auf der Ebene anderer Wettbewerbsparameter spiele. Dies trifft wohl zu, ist aber vorliegend unerheblich, da die Vorinstanzen nicht entscheidend auf den Preis abgestellt haben. Im Gegenteil räumt der Preisüberwacher ein, dass der Satellitenempfang zugenommen habe und dessen Preis stark gesunken sei; trotzdem habe das Kabel kaum an Kunden verloren, was zeige, dass es sich um zwei verschiedene Märkte handle; dass kein Preiswettbewerb herrsche, ergebe sich auch aus dem grossen Preisunterschied zugunsten des Satellitenempfangs.
5.7.2
Die Beschwerdeführerin kritisiert, die Vorinstanzen hätten im Grunde nur auf das subjektive Verhalten der Konsumenten abgestellt.
Die Rekurskommission hat argumentiert, der Umstand, dass der prozentuale Anteil der Kabelabonnenten an der Gesamtheit der Fernsehempfänger hoch sei und in den letzten Jahren nicht gesunken sei, widerspiegle eine fehlende Substituierbarkeit in der Perzeption der Konsumenten. Ähnlich macht auch der Preisüberwacher in seiner Duplik geltend, selbst wenn Kabel- und Satellitenempfang
BGE 130 II 449 S. 459
substituierbar wären, würde der Marktanteil der Beschwerdeführerin von über 75 % eine beherrschende Stellung begründen, was wirksamen Wettbewerb ausschliesse.
Diese Argumentation mag allenfalls problematisch sein: Ein hoher Marktanteil ist zwar ein starkes Indiz für eine marktbeherrschende Stellung, bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass kein wirksamer Wettbewerb bzw. keine gleichwertigen Ausweichmöglichkeiten bestehen (Botschaft zum Preisüberwachungsgesetz, BBl 1984 II 771, S. 787). Er kann auch das Resultat von Wettbewerb sein, wenn nämlich die Kunden zur Auffassung kommen, dass das Angebot des Marktführers tatsächlich das günstigste ist, und somit nicht auf das andere Angebot ausweichen wollen, obwohl sie dies ohne weiteres könnten.
5.7.3
Indessen hat die Vorinstanz in Wirklichkeit nicht einzig auf den Marktanteil abgestellt. Sie hat vielmehr ein Bündel von Kriterien berücksichtigt, nämlich technische und juristische Schranken für den Satellitenempfang sowie Vorteile des Kabelempfangs in der Benützung. Wohl hat sie die Bedeutung der technischen Aspekte relativiert und zu den juristischen Hindernissen ausgeführt, diese würden für sich allein die Substituierbarkeit nicht ausschliessen. Massgebend ist aber nicht die isolierte Betrachtung der einzelnen Aspekte, sondern eine Gesamtwürdigung. Mehrere Aspekte, die je für sich allein die Substituierbarkeit nicht ausschliessen würden, können in ihrer Gesamtheit dazu führen, dass das Alternativangebot nicht als vergleichbar im Sinne von
Art. 12 Abs. 2 PüG
zu betrachten ist.
5.7.4
Wohl verlangt diese Bestimmung nur "vergleichbare", nicht aber "gleiche" Angebote. Eine vollständige Substituierbarkeit ist demzufolge nicht verlangt. Immerhin muss aber das Alternativangebot aus der Sicht des Kunden gleichwertig sein. Bei einem Produkt, welches - wie der Fernsehempfang - von einem Grossteil der Bevölkerung ohne spezielle technische Kenntnisse konsumiert wird, ist dabei auf die Sicht dieser durchschnittlichen Kundschaft abzustellen. In diesem Lichte ist insbesondere von Bedeutung, dass gemäss den von der Beschwerdeführerin nicht bestrittenen und für das Bundesgericht verbindlichen (
Art. 105 Abs. 2 OG
) Feststellungen der Vorinstanz der Kabelempfang für den Benützer wesentliche Bedienungsvorteile hat. Der durchschnittliche Konsument dürfte einen möglichst unkomplizierten und verlässlichen Empfang
BGE 130 II 449 S. 460
wünschen und erachtet eine Lösung, die von ihm technische Massnahmen oder Kenntnisse verlangt, kaum als vergleichbar. Derartige Angebote mögen allenfalls für technisch interessierte und versierte Kunden vergleichbar sein, nicht aber - jedenfalls nach dem aktuellen Stand der Technik - für das Durchschnittspublikum. Eine Substitutionsmöglichkeit, die nur von einem bestimmten Kundensegment als vergleichbar betrachtet wird, führt noch nicht zu einem wirksamen Wettbewerb.
Auch dass einige Hausverwaltungen dazu übergegangen sein mögen, selber Satellitenempfangsanlagen zu installieren und Kabelnetzbetreiber unter Druck zu setzen, führt noch nicht zu einem wirksamen Wettbewerb, solange dies bloss Einzelfälle sind. In denjenigen Miethäusern, in denen die Hausverwaltungen nicht für einen Satellitenempfang sorgen, müssen die Mieter nach wie vor selber dafür besorgt sein. Die Beschwerdeführerin legt nicht dar, dass eine grössere Zahl von Hausverwaltungen in ihrem Versorgungsgebiet ihren Mietern den Satellitenempfang anbieten würde.
5.7.5
Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf das Urteil 2A.142/2003 vom 5. September 2003, wo das Bundesgericht, wenn angesichts der Prozesskonstellation auch nicht abschliessend, den Standpunkt bestätigt hat, dass die Möglichkeit des Satellitenempfangs nichts daran ändere, dass eine Kabelnetzbetreiberin als marktbeherrschende Unternehmung zu betrachten sei, weil der Empfang via Kabel nicht durch den Satellitenempfang substituierbar sei (insbesondere E. 4.2.2).
5.7.6
Zu Unrecht beruft sich die Beschwerdeführerin schliesslich auf
BGE 129 II 18
E. 8.3.2 S. 36 f., um darzulegen, dass auch dann noch ein wirksamer Wettbewerb bestehen könne, wenn der Wettbewerb im Bereich der Fernsehempfangsmöglichkeiten nicht vollkommen spielen sollte. Dieser Entscheid bezog sich auf das Kartellrecht, welches zwischen erheblichen Wettbewerbsbeeinträchtigungen und Wettbewerbsbeseitigung unterscheidet. Diese ist (unter Vorbehalt von ausnahmsweisen Zulassungen gemäss
Art. 8 KG
) absolut unzulässig, jene sind unzulässig, wenn sie sich nicht durch Gründe der wirtschaftlichen Effizienz rechtfertigen lassen (
Art. 5 Abs. 1 KG
). Das Bundesgericht hat an der zitierten Stelle bloss erwogen, die Ausschaltung eines Wettbewerbsparameters führe noch nicht zwingend zur Beseitigung des wirksamen Wettbewerbs. Trotzdem lag in jenem Fall aber eine erhebliche Beeinträchtigung vor, die grundsätzlich ebenfalls unzulässig ist und - sofern sie nicht
BGE 130 II 449 S. 461
durch Gründe der wirtschaftlichen Effizienz gerechtfertigt wird - nicht als wirksamer Wettbewerb im Sinne von
Art. 12 Abs. 2 PüG
betrachtet werden kann.
5.8
Insgesamt erweist sich die von der Vorinstanz vorgenommene Abgrenzung des sachlich relevanten Marktes als rechtmässig. Demzufolge ist die Beschwerdeführerin als auf diesem Markt mächtige bzw. gar marktbeherrschende Unternehmung dem Gesetz unterstellt (
Art. 2 PüG
) und ist der von ihr verlangte Preis nicht das Ergebnis wirksamen Wettbewerbs (
Art. 12 PüG
).
6.
Zu prüfen ist sodann, ob die Vorinstanz zu Recht den von der Beschwerdeführerin verlangten Preis als missbräuchlich bezeichnet hat.
6.1
Bei der Prüfung, ob eine missbräuchliche Erhöhung oder Beibehaltung eines Preises vorliegt, hat der Preisüberwacher gemäss
Art. 13 Abs. 1 PüG
insbesondere die Preisentwicklung auf Vergleichsmärkten (lit. a), die Notwendigkeit der Erzielung angemessener Gewinne (lit. b), die Kostenentwicklung (lit. c), besondere Unternehmensverhältnisse (lit. d) und besondere Marktverhältnisse (lit. e) zu berücksichtigen. Das Gesetz enthält keine Definition des missbräuchlichen Preises, sondern nur Elemente, die bei der Beurteilung zu berücksichtigen sind. Diese Elemente sind nicht abschliessend und stehen nicht in einem hierarchischen Verhältnis (BBl 1984 II 773, S. 787; JACQUES BONVIN, in: Pierre Tercier/ Christian Bovet [Hrsg.], Commentaire Romand, Droit de la concurrence, 2002, Rz. 7 und 11 f. zu
Art. 13 PüG
; SCHÜRMANN/SCHLUEP, a.a.O., N. IV zu
Art. 13 PüG
). Dem Preisüberwacher steht daher in der Auswahl der anzuwendenden Methode ein erheblicher Ermessensspielraum zu (BONVIN, a.a.O., N. 13 zu
Art. 13 PüG
; RENÉ RHINOW, Kommentar [alte] BV, Rz. 38 f. zu Art. 31
septies
). Die Rekurskommission hat zwar die Ausübung dieses Ermessensspielraums zu überprüfen (vorne E. 4), doch steht ihr ihrerseits ein gleich grosser Spielraum zu, in den das Bundesgericht hingegen nur im Rahmen der Rechtmässigkeitsprüfung eingreifen kann (
Art. 104 OG
).
6.2
Der Preisüberwacher stellte auf der Basis der von der Beschwerdeführerin vorgelegten Jahresrechnung 1999/2000 eine Kostenrechnung an. Gegenüber den Angaben der Beschwerdeführerin reduzierte er den Posten "Salaires, charges sociales" um Fr. 200'000.-. Zudem zog er einen Betrag von Fr. 171'667.60 ab, der für Dritte erbracht und von diesen entschädigt werde
BGE 130 II 449 S. 462
(Verwaltung des Kabelnetzes Unterwallis). Insgesamt kam er damit (ohne Steuern, Salärkosten des Unternehmers und Gewinn) auf Kosten von Fr. 15.33 pro Abonnent und Monat. Unter Berücksichtigung eines zusätzlichen Betrags von ca. Fr. 250'000.- für Steuern, Salär sowie eines Gewinns ergaben sich Fr. 17.-, wodurch ein Gewinn ermöglicht werden sollte, der mindestens den als notwendig erachteten Renditesatz von 5,2 % auf dem buchmässig ausgewiesenen Eigenkapital garantierte.
Die Rekurskommission hat erwogen, die Vorinstanz habe mit Recht die Fr. 250'000.- angerechnet, da die Beschwerdeführerin keine Belege für die Salärhöhe geliefert habe; Anpassungskosten seien nur im Umfang der Abschreibungen zu berücksichtigen; der vom Preisüberwacher zugestandene Zins von 5,2 % auf dem investierten Eigenkapital sei angemessen; es sei auch richtig, auf den stillen Reserven keine Rendite zuzulassen, zumal die Beschwerdeführerin keine Belege dafür geliefert habe, dass die Nichtberücksichtigung der stillen Reserven sie in ihrer Geschäftstätigkeit und ihrer Entwicklung beeinträchtige; der geltend gemachte zwischenzeitliche Verkauf des Kabelnetzes Z. führe auch nicht dazu, dass der Betrag von Fr. 171'667.- nicht mehr abzuziehen wäre, da die Verwaltungskosten entsprechend gesunken seien; insgesamt sei die Kostenrechnung des Preisüberwachers nicht offensichtlich unhaltbar, zumal die Beschwerdeführerin kein angemessenes und transparentes Rechnungswesen habe.
6.3
Die Beschwerdeführerin bringt vor, sie habe die Existenz erheblicher stiller Reserven nachgewiesen. Sie beantragt dazu die Erstellung einer Expertise über die Höhe ihrer stillen Reserven. Im Einzelnen hält sie fest, ein Gewinn sei nicht nur auf dem buchmässig ausgewiesenen Eigenkapital, sondern auch auf den stillen Reserven zu berücksichtigen, zumal die Aktionäre 20 Jahre lang auf eine Dividende verzichtet hätten, um eine rasche Amortisation der Investitionen zu ermöglichen; die stillen Reserven seien zumindest teilweise nicht durch die Abonnenten, sondern durch Dividendenverzicht der Aktionäre gebildet worden; insoweit müssten sie in die Berechnung der Eigenkapitalrendite einbezogen werden, würde doch sonst die Eigentumsgarantie verletzt; zudem wären korrekterweise nicht nur 5,2 %, sondern 10 % Eigenkapitalrendite anzuerkennen, um eine angemessene Risikoprämie zu ermöglichen; schliesslich habe die Rekurskommission nicht berücksichtigt, dass die Kabelnetze Z. verkauft worden seien und der entsprechende Betrag nicht mehr als Einnahme anfalle.
BGE 130 II 449 S. 463
In der Replik führt sie zudem aus, entgegen der Auffassung der Rekurskommission dürfe sich diese nicht darauf beschränken, nicht ohne Not in den Ermessensspielraum einzugreifen, sondern habe angesichts der Unsicherheiten sehr streng zu überprüfen, ob tatsächlich ein Interventionsbedarf des Preisüberwachers bestehe; massgebend sei nicht der Kostenpreis, sondern ein (fiktiver) Wettbewerbspreis; der auf die historischen Kosten ausgerichtete Ansatz des Preisüberwachers sei verfehlt; zu berücksichtigen seien nicht die historischen Kosten, sondern die Kostenentwicklung, wobei namentlich die zukünftige Entwicklung in die Betrachtung mit einzubeziehen sei; dabei sei ein ausgewiesener künftiger Investitionsbedarf in Rechnung zu stellen; die Vorinstanzen hätten sich mit entsprechenden zukunftsgerichteten Kostenmodellen auseinandersetzen müssen.
6.4
Unzutreffend ist die von der Beschwerdeführerin in ihrer Replik vertretene Auffassung, aufgrund von
Art. 12 Abs. 1 PüG
könne Massstab für die Beurteilung der Missbräuchlichkeit nur der Preis sein, der das Ergebnis wirksamen Wettbewerbs wiedergibt. Die gesetzlich vorgesehene Möglichkeit des Preisüberwachers, bei missbräuchlichen Preisen einzuschreiten, ist für jene Fälle bestimmt, in denen es einen wirksamen Wettbewerb eben nicht gibt, weshalb ein konkreter Wettbewerbspreis gerade nicht zugrunde gelegt werden kann. Die Preisüberwachung muss deshalb zwangsläufig auf andere Beurteilungskriterien ausweichen, nämlich auf die in
Art. 13 PüG
genannten Elemente.
6.5
Nach
Art. 13 Abs. 1 lit. a PüG
ist die Preisentwicklung auf Vergleichsmärkten ein Beurteilungselement nebst anderen für die Prüfung, ob ein Preis missbräuchlich ist. Dieses Element kann aber nur berücksichtigt werden, wenn es überhaupt Vergleichsmärkte gibt, deren Preisentwicklung herangezogen werden kann. Vorausgesetzt ist zudem, dass die Preise auf dem Vergleichsmarkt ihrerseits das Ergebnis wirksamen Wettbewerbs sind (BBl 1984 II 771 f.; SCHÜRMANN/SCHLUEP, a.a.O., N. V zu
Art. 13 PüG
, S. 850; MARCO Toller, Die Preisüberwachung als Mittel der schweizerischen Wettbewerbspolitik, Zürich 1983, S. 79).
Wenn - was rechtmässig ist (vorne E. 5) - als relevanter Markt der Kabelempfang betrachtet wird, kann es kaum einen empirischen Vergleichsmarkt geben, der diese Voraussetzungen erfüllt, da sämtliche Kabelanbieter in ihrem Versorgungsgebiet ein
BGE 130 II 449 S. 464
Monopol haben. Mit Recht haben daher die Vorinstanzen nicht auf die Vergleichsmarktmethode abgestellt, sondern die Kostenmethode angewendet.
6.6
Die Beschwerdeführerin kritisiert, dass die Vorinstanzen auf die historischen Kosten und dabei einzig auf den Jahresabschluss 1999/2000 abgestellt hätten, weil diese Zahlen gerade zur Verfügung standen; massgebend sei nach
Art. 13 Abs. 1 lit. c PüG
die Kostenentwicklung, wobei eine vorwärtsgerichtete Betrachtung vorzunehmen sei; nur dies entspreche dem Ziel, (simulierte) Wettbewerbspreise zu ermitteln, da Wettbewerbspreise auf vorwärtsgerichteten Kosten beruhten; ein Abstellen auf historische Kosten sei insbesondere in dynamischen Netzwerkindustrien mit hohem zukünftigem Investitionsbedarf nicht zulässig; Kostenberechnungen könnten nur mit Hilfe so genannter Long-run incremental cost (LRIC)-Methoden sachgerecht vorgenommen werden; dabei dürften Fehlinvestitionen in der Vergangenheit nicht berücksichtigt werden; hingegen müssten die Kosten künftiger Investitionsvorhaben miteinbezogen werden.
6.6.1
Zur Kritik an der Vorgehensweise des Preisüberwachers ist zu bemerken, dass dieser zwar den Sachverhalt von Amtes wegen feststellt (
Art. 12 VwVG
), dass die Parteien jedoch eine Mitwirkungs- und Auskunftspflicht trifft (
Art. 13 VwVG
;
Art. 17 PüG
). Diese Pflicht besteht insbesondere hinsichtlich solcher Unterlagen, die naturgemäss nur die Parteien liefern können (
BGE 128 II 139
E. 2b S. 142 f.). Der Preisüberwacher hat die Beschwerdeführerin wiederholt aufgefordert, ihre Kalkulationsgrundlagen und weitere Unterlagen, namentlich auch hinsichtlich vorgesehener Investitionsvorhaben, einzureichen. Die Beschwerdeführerin hat sich jedoch geweigert, entsprechende Unterlagen zu liefern, oder ausgeführt, sie verfüge über keine entsprechenden Kalkulationen. Erst nach mehrmaliger Aufforderung hat sie mit Schreiben vom 30. Mai 2000 den Jahresabschluss 1998/1999 vorgelegt und zugleich erklärt, sie verfüge über kein formelles Budget. Am 9. Juli 2001 hat sie sodann den Jahresabschluss 1999/2000 eingereicht. Es ist daher rechtsmissbräuchlich, wenn die Beschwerdeführerin jetzt den Vorinstanzen vorwirft, diese hätten ihre Untersuchungspflicht verletzt. Dass diese und insbesondere der Preisüberwacher nur wenige Unterlagen zur Verfügung hatte, ist auf ihr Verhalten zurückzuführen.
6.6.2
Die Beschwerdeführerin macht freilich unter Berufung auf das Bundesgerichtsurteil 2A.492/2002 vom 17. Juni 2003 geltend,
BGE 130 II 449 S. 465
der Preisüberwacher habe es sich selber zuzuschreiben, dass seine Datenbeschaffung auf kleines Verständnis gestossen sei; sie habe von Anfang an bestritten, dass sie in den Geltungsbereich des Preisüberwachungsgesetzes falle; es wäre in dieser Situation Sache des Preisüberwachers gewesen, das Verfahren zunächst auf die Frage der Unterstellung unter den Geltungsbereich zu beschränken.
In dem von der Beschwerdeführerin zitierten Entscheid ging es darum, ob in einem konkreten Fall kantonalrechtliche Bestimmungen im Sinne von
Art. 3 Abs. 1 KG
bestehen, was bejahendenfalls zur Folge gehabt hätte, dass kein Anlass für weitere Untersuchungen der Wettbewerbskommission mehr bestanden hätten. Das Bundesgericht erwog, die Frage, ob es solche Vorschriften gebe, sei jedenfalls dann, wenn dies rechtzeitig, substantiiert und nicht offensichtlich unbegründet behauptet werde, regelmässig vorab zu klären, weil davon einerseits die Zulässigkeit weiterer Untersuchungsmassnahmen, andererseits die allfällige Zuständigkeit anderer Behörden abhänge; es führte aber zugleich aus, dies gelte nur in Bezug auf die in
Art. 3 Abs. 1 KG
vorbehaltenen Vorschriften, doch müsse auch in einem kartellrechtlichen Verfahren nicht für jedes Tatbestandselement eine gesonderte Teilverfügung erlassen werden (Urteil 2A.492/2002, E. 5.2.3; vgl. auch
BGE 129 II 497
E. 2.4 S. 506). Vorliegend hat die Beschwerdeführerin ihre Unterstellung unter das Preisüberwachungsgesetz hauptsächlich mit dem Argument bestritten, sie sei nicht marktmächtig. Die Beurteilung dieses Arguments setzt - anders als die Beurteilung, ob Vorschriften im Sinne von
Art. 3 Abs. 1 KG
bestehen - voraus, dass der relevante Markt, die Stellung des betreffenden Unternehmens auf diesem Markt sowie das Bestehen eines wirksamen Wettbewerbs festgestellt werden, wozu entsprechende Untersuchungen des Preisüberwachers erforderlich sind. Die Beschwerdeführerin hatte somit keinen Anlass, ihre Kooperation zu verweigern, und sie hat es sich selber zuzuschreiben, wenn der Preisüberwacher auf der Basis unvollständiger Unterlagen entscheiden musste.
6.6.3
Was künftige Investitionen betrifft, so hat der Preisüberwacher in seiner Kostenrechnung die Amortisationen für die Aufrechterhaltung des Netzes berücksichtigt, nicht aber Investitionen für künftige Erneuerungen. Dies ist nach Sinn und Zweck der Preisüberwachung gerechtfertigt: Sie bezieht sich auf den aktuell zu bezahlenden Preis, vorliegend für die Zeitdauer von 2002 bis 2004. Die Kostenmethode muss alle Kosten berücksichtigen, die
BGE 130 II 449 S. 466
zur Erstellung und Vermarktung einer Ware oder Leistung nötig sind; darunter fallen auch Aufwendungen für Forschung und Entwicklung (BBl 1984 II 788). Dies kann sich jedoch in der Regel nur auf Aufwendungen beziehen, die aktuell buchhalterisch berücksichtigt worden sind. Künftige Investitionen werden sich, nachdem sie vorgenommen worden sein werden, dannzumal in erhöhtem Amortisationsbedarf niederschlagen und in einer späteren Kostenrechnung allenfalls zu berücksichtigen sein. Sie sollen aber nicht schon im Voraus, bevor sie überhaupt feststehen, berücksichtigt werden, würde dies doch bedeuten, dass die Konsumenten einen Preis bezahlen für eine Dienstleistung, die noch gar nicht angeboten wird. Erst recht genügt es darum nicht, wie die Beschwerdeführerin allgemein auf die technische Entwicklung in einem Wirtschaftssektor hinzuweisen, ohne konkret aufzuzeigen, welche einzelnen technologischen Erneuerungen der eigenen Betriebseinrichtungen, die im Hinblick auf eine effiziente Leistungserbringung notwendig seien, unmittelbar anstünden.
6.6.4
Das methodische Vorgehen von Preisüberwacher und Rekurskommission ist somit rechtlich nicht zu beanstanden.
6.7
Die Beschwerdeführerin rügt, dass die Vorinstanzen keinen Gewinn auf den stillen Reserven anerkannt haben.
6.7.1
Nach
Art. 13 Abs. 1 lit. b PüG
ist bei der Prüfung der Missbräuchlichkeit die Notwendigkeit der Erzielung angemessener Gewinne zu berücksichtigen. Dabei geht es um die Gewinnmarge, die Kapitalrentabilität, d.h. das Verhältnis zwischen Gewinn und Eigenkapital (SCHÜRMANN/SCHLUEP, a.a.O., N. VI.2 und VI.4 zu
Art. 13 PüG
, S. 853 und 855; vgl. auch
BGE 123 III 171
E. 6a S. 174; PETER HIGI, Zürcher Kommentar, 1998, Rz. 36 und 59 ff. zu
Art. 269 OR
, je betreffend Ermittlung der Rendite bei Mietobjekten). Unbestritten beträgt das ausgewiesene Eigenkapital der Beschwerdeführerin Fr. 600'000.- (Aktienkapital Fr. 400'000.-; gesetzliche Reserven Fr. 200'000.-). Umstritten ist hingegen erstens, ob zum Eigenkapital auch die stillen Reserven gehören; wird diese Frage bejaht, stellt sich zweitens die Frage, wie hoch die stillen Reserven im konkreten Fall sind.
6.7.2
Die Preisüberwachung soll Missbräuche und Monopolrenten bekämpfen, aber nicht Gewinne verunmöglichen, wie sie marktüblich und für das Funktionieren eines marktwirtschaftlichen Systems unabdingbar sind (BBl 1984 II 772; SCHÜRMANN/SCHLUEP,
BGE 130 II 449 S. 467
a.a.O., N. VI.1 zu
Art. 13 PüG
, S. 852 f.; BONVIN, a.a.O., N. 47 zu
Art. 13 PüG
; RETO JACOBS, St. Galler Kommentar zur BV, Lachen/ Zürich 2002, Rz. 35 zu
Art. 96 BV
). Die Gewinnberechnung richtet sich nach den anerkannten betriebswirtschaftlichen Methoden (BONVIN, a.a.O., N. 48 zu
Art. 13 PüG
). Nach diesen Methoden gehören stille Reserven zum Eigenkapital (PETER FORSTMOSER/ ARTHUR MEIER-HAYOZ/PETER NOBEL, Schweizerisches Aktienrecht, Bern 1996, S. 643; ERNST BOSSARD, Zürcher Kommentar, 1984, Rz. 262 zu
Art. 958 OR
; KARL KÄFER, Berner Kommentar, 1980, Rz. 183 zu
Art. 960 OR
): Sie entsprechen zusammen mit dem buchmässigen Eigenkapital dem Wert des Unternehmens bzw. ungefähr dem Preis, den der Unternehmer bei einem Verkauf des Unternehmens erzielen könnte. Würde er das Unternehmen verkaufen, so könnte er den gesamten Erlös anlegen und darauf einen Ertrag erzielen. Verzichtet er stattdessen auf einen Verkauf, so ist dies gleichbedeutend mit einer Investition in der Höhe des gesamten Eigenkapitals inklusive stille Reserven. Geht man davon aus, dass der gesamte investierte Betrag bei der Gewinnberechnung zu berücksichtigen ist, so müssen demzufolge die stillen Reserven ebenfalls einbezogen werden.
6.7.3
Die Rekurskommission hat erwogen, die Entschädigung der stillen Reserven sei problematisch: Die stillen Reserven seien aufgrund ihrer Fluktuation nie endgültig festgelegt; sodann sei eine Entschädigung der stillen Reserven schwer vereinbar mit deren Funktion im internen und externen Verhältnis; im internen Verhältnis würden sie das Verlustrisiko begrenzen, das dauernde Gedeihen des Unternehmens oder eine gleichmässige Gewinnverteilung sicherstellen und die Eigenfinanzierung fördern; im externen Verhältnis würden sie die Kreditwürdigkeit des Unternehmens erhöhen. Schliesslich hat die Rekurskommission das Argument des Preisüberwachers als überzeugend betrachtet, in der spezifischen Monopolsituation sei es nicht akzeptabel, dass die Konsumenten zuerst hohe Preise bezahlten, um unnötig hohe Amortisationen zu finanzieren, und anschliessend hohe Preise bezahlen, um eine Entschädigung der so gebildeten stillen Reserven zu ermöglichen.
6.7.4
Es trifft zwar zu, dass die Höhe der stillen Reserven von Wertschwankungen abhängt, die von der Gesellschaft nicht beeinflusst werden können. Dies ist jedoch kein Argument gegen deren Berücksichtigung, denn die Reserven können auch dann Wertschwankungen unterworfen sein, wenn sie buchmässig ausgewiesen sind (und jeweils mit Wertberichtigungen korrigiert werden).
BGE 130 II 449 S. 468
Unerfindlich ist, inwiefern die Funktion der stillen Reserven deren Berücksichtigung bei der Gewinnberechnung ausschliessen sollen, sind diese Funktionen doch die gleichen wie diejenigen der buchmässig ausgewiesenen Reserven.
Auch dass die stillen Reserven durch Amortisationen zu Stande gekommen sind, die höher waren als technisch nötig gewesen wäre, ist kein Argument dafür, diese für die Gewinnberechnung nicht auch zu berücksichtigen: Wären nämlich diese Amortisationen unterlassen worden, so hätten die entsprechenden Gewinnüberschüsse an die Aktionäre ausbezahlt und von diesen wiederum anderweitig gewinnbringend investiert werden können. Das Stehenlassen der Überschüsse erweist sich insofern als Investition in die eigene Gesellschaft.
Aus diesen Überlegungen ergibt sich, dass die stillen Reserven dem Eigenkapital zuzurechnen und für die Bestimmung des angemessenen Gewinns im Sinne von
Art. 13 Abs. 1 lit. b PüG
mit zu berücksichtigen sind.
6.7.5
Der Preisüberwacher hat sowohl in seiner Verfügung vom 4. September 2001 als auch in seiner Vernehmlassung eingeräumt, dass gewisse stille Reserven bestehen, diese aber nicht quantifiziert. Auch die Rekurskommission hat über die Höhe der stillen Reserven keine Feststellungen gemacht, da sie diese ohnehin als unerheblich betrachtete. Insoweit ist an sich der Sachverhalt unvollständig festgestellt (
Art. 105 Abs. 2 OG
). Dies führt indessen aus den folgenden Gründen nicht zu einer Aufhebung der angefochtenen Verfügung:
Die Beschwerdeführerin machte im Schreiben vom 30. Mai 2000 an den Preisüberwacher ohne Belege geltend, sie habe stille Reserven von 11-13 Mio. Franken. Anlässlich der Besprechung vom 6. September 2000 erwähnte sie eine Analyse der A., welche stille Reserven von rund 13.8 Mio. Franken ausweise, sowie eine Kaufsofferte der B. für rund 17 Mio. Franken; sie machte geltend, der Steuerwert betrage 12 Mio. Franken. Der Preisüberwacher ersuchte daraufhin die Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 21. September 2000, die Berechnung der A. vorzulegen, was die Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 11. November 2000 ablehnte. Erst im Verfahren vor der Rekurskommission legte sie eine notarielle Bestätigung vor, worin die Kaufsofferte der B. sowie eine Berechnung des wirtschaftlichen Werts auf 13.9 Mio. Franken in
BGE 130 II 449 S. 469
einer Verkaufsdokumentation bestätigt werden. Diese Bestätigung enthält jedoch keinerlei weitere Angaben, so dass die Ernsthaftigkeit oder Plausibilität dieser Zahlen nicht überprüft werden kann. Nebst dieser Bestätigung hat die Beschwerdeführerin keine Unterlagen eingereicht, welche die Existenz oder Höhe stiller Reserven belegen würden. So hat sie auch nie Belege für die wiederholt gemachte Behauptung geliefert, ihre Aktionäre hätten während 20 Jahren auf eine Gewinnausschüttung verzichtet, was erst die hohen Amortisationen und eine Rückzahlung des Fremdkapitals erlaubt habe, obwohl die Gewinnverwendung zumindest für die letzten zehn Jahre anhand der Jahresrechnungen leicht belegbar sein sollte (vgl.
Art. 962 Abs. 1 OR
).
In ihrer Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die Beschwerdeführerin die Erstellung einer Expertise über die Höhe ihrer stillen Reserven. Indessen wäre es in erster Linie ihre Sache gewesen, Unterlagen einzureichen, welche die von ihr behaupteten Umstände beweisen (
Art. 108 Abs. 2 OG
). Es kann nicht Aufgabe des Bundesgerichts sein, eine Expertise anzuordnen, wenn die Beschwerdeführerin nicht einmal die vorhandenen Unterlagen, auf die sich selber beruft, vorlegt.
Hat die Beschwerdeführerin, obwohl es ihr möglich und zumutbar gewesen wäre, es unterlassen, für ihren Standpunkt sprechende Dokumente vorzulegen (vorne E. 6.6.1), so hat sie es selber zu verantworten, dass der Sachverhalt ungenügend abgeklärt ist. Unter diesen Umständen kann für die nachfolgenden, im Hinblick auf die Ermittlung einer angemessenen Rendite anzustellenden Überlegungen auf eine grobe Plausibilitätsschätzung abgestellt werden.
6.8
6.8.1
Nach
Art. 13 Abs. 1 lit. b PüG
sind "angemessene" Gewinne zulässig. Weder Lehre noch Praxis äussern sich präziser dazu, was unter "angemessen" im Sinne dieser Bestimmung zu verstehen ist. Wenig ergiebig ist für den vorliegenden Fall auch das Kriterium des branchenüblichen Durchschnittsgewinns, da ein Vergleich mit anderen Unternehmen nur sinnvoll ist, wenn diese ihrerseits unter Wettbewerbsbedingungen tätig sind, was im Falle von Kabelbetreibern (bisher) nicht der Fall ist (vgl. vorne E. 6.5). Unbestritten ist aber, dass der Gewinn eine übliche Verzinsung und eine marktgerechte Risikoprämie umfassen muss (BBl 1984 II 772; RHINOW, a.a.O., Rz. 37 zu
Art. 31
septies
aBV
, Anm. 58 S. 12).
BGE 130 II 449 S. 470
6.8.2
Die Rekurskommission erwähnt einen Zinssatz von 5,2 %, der sich zusammensetzt aus einem Zins für risikofreie Anlagen von 3,4 % und einem Zuschlag für das branchenspezifische Risiko. Die Beschwerdeführerin erachtet eine Rendite von mindestens 10 % für angebracht, weil die Werte, in welche ihre Mittel investiert seien, nicht einzeln, sondern nur als ganzes Netz verkäuflich und zudem durch neue technologische Entwicklungen einem hohen Entwertungsrisiko ausgesetzt seien. Nun aber hat sie ihr Netz weit unter den von ihr geltend gemachten Verkehrswert abgeschrieben und insoweit das Risiko bereits buchhalterisch (und damit auch kalkulatorisch) weitgehend antizipiert. Auch soweit daraus (wegen des prozessualen Verhaltens der Beschwerdeführerin nicht bezifferbare) stille Reserven resultieren, handelt es sich dabei gerade nicht um Risikokapital, auf welchem sich eine besondere Risikoprämie rechtfertigen liesse. Jedenfalls erscheinen die vom Preisüberwacher und von der fachkundigen Vorinstanz zur Angemessenheit der Gewinnquote gemachten Ausführungen nachvollziehbar. Es ist noch zu prüfen, ob dies im vorliegenden Fall im Ergebnis zu einer bundesrechtswidrigen Preisfestsetzung führt.
6.9
Der Preisüberwacher hat, ausgehend von der Kostenlage gemäss Buchhaltung, unter Annahme eines Unternehmerlohns von Fr. 200'000.- und nach Abzug der Steuern bei einem Abonnentenpreis von Fr. 17.- einen Gewinn von rund Fr. 40'000.- für möglich erachtet (Vernehmlassung an die Vorinstanz vom 5. November 2001 S. 4 und 5); im Verhältnis allein zum buchmässig nachgewiesenem Eigenkapital von Fr. 600'000.- beträgt die Rendite weit mehr als 5.2 %. Der Preisüberwacher hat sodann in seiner Berechnung (Verfügung vom 4. September 2001 S. 11 Ziff. 61) weitere Einnahmen von rund Fr. 288'000.- erwähnt, die eine zusätzliche Gewinnreserve darstellten. Mit dieser Reserve würde selbst unter Berücksichtigung (von der Beschwerdeführerin nicht ausgewiesener) stiller Reserven von mehreren Mio. Franken noch eine angemessene Rendite auf dem Eigenkapital erzielt.
Im Übrigen hat die Beschwerdeführerin in den Jahren 1998/1999 und 1999/2000 Reingewinne von je ca. 1,5 Mio. Franken erzielt. Unabhängig von der Grössenordnung allfälliger damals bestehender stiller Reserven sind bei solchen Gewinnsummen in der Vergangenheit klar überhöhte Gewinne erzielt worden; es drängt sich der Schluss auf, dass die Beschwerdeführerin in Ausnützung ihrer Marktmacht bzw. mangels wirksamen Wettbewerbs einen Preis hat
BGE 130 II 449 S. 471
festsetzen können, der ihr Gewinne ermöglichte, die höher als "angemessen" im Sinne von
Art. 13 Abs. 1 lit. b PüG
waren. Damit haben die Vorinstanzen zu Recht angenommen, die Äufnung stiller Reserven sei (teilweise) darauf zurückzuführen, dass die Abonnenten in der Vergangenheit überhöhte, missbräuchlich hohe Preise bezahlt haben. Selbst wenn die Beschwerdeführerin stille Reserven in der von ihr behaupteten Höhe nachgewiesen hätte, könnte von vornherein nur ein Teil davon der Gewinnberechnung zu Grunde gelegt werden.
6.10
Schliesslich beanstandet die Beschwerdeführerin, der angefochtene Entscheid habe nicht berücksichtigt, dass sie das Kabelnetz Z. verkauft habe; damit sei auch der bisherige Ertrag entfallen, der daraus resultiert habe, dass sie bisher für das Kabelnetz Z. die Verwaltung geführt und entsprechend fakturiert habe. Indessen hat die Vorinstanz dies nicht übersehen, sondern ist davon ausgegangen, dass mit dem Wegfall der Verwaltung für das Kabelnetz Z. nicht nur der daraus bisher gelöste Ertrag weggefallen, sondern auch der Aufwand entsprechend kleiner geworden sei. Dies entspricht einer normalen unternehmerischen Logik. Die Beschwerdeführerin bringt nichts vor, was diese Überlegung als unzutreffend erscheinen liesse.
6.11
Gesamthaft gesehen trifft es zu, dass die Beschwerdeführerin bisher einen missbräuchlich hohen Abonnentenpreis verlangt hat. Sodann erlaubt der von den Vorinstanzen festgesetzte Preis der Beschwerdeführerin die Erzielung eines angemessenen Gewinns. Die Preisfestsetzung ist im Ergebnis nicht rechtswidrig. | 20,943 | 8,064 | 2 | 0 | CH_BGE_004 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_004_BGE-130-II-449_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=18&from_date=&to_date=&from_year=2004&to_year=2004&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=176&highlight_docid=atf%3A%2F%2F130-II-449%3Ade&number_of_ranks=296&azaclir=clir | BGE_130_II_449 |
|||
ec6753c4-1f2f-4105-bbe6-e438220bc14f | 2 | 83 | 1,359,641 | 1,194,912,000,000 | 2,007 | fr | auch ihre Sachverhaltsfeststellung abgeändert hat. Vorbehalten bleiben erhebliche Tatsachen betreffend die Zulässigkeit der Beschwerde, die von Amtes wegen abzuklären sind. In den übrigen Fällen müssen neue Tatsachen oder Beweismittel mit einem Begehren um Wiederaufnahme des Verfahrens im Sinne von
Art. 385 StGB
geltend gemacht werden (E. 1).
Sachverhalt
ab Seite 48
BGE 134 IV 48 S. 48
Par jugement du 26 octobre 2006, le Tribunal cantonal valaisan a écarté l'appel interjeté par X. contre un jugement rendu le 2 juin 2005
BGE 134 IV 48 S. 49
par le Tribunal du III
e
arrondissement pour le district de Monthey. Elle l'a dès lors condamné, pour extorsion, viol, faux dans les certificats, circulation sans permis de conduire et usage abusif de permis, à la peine de 3 ans de réclusion, complémentaire à une autre de 3 mois d'emprisonnement prononcée le 25 juillet 2004, ainsi qu'à l'expulsion du territoire suisse pour une durée de 8 ans, l'astreignant en outre à payer une indemnité pour tort moral de 10'000 fr. à Y.
X. a formé un recours de droit public et un pourvoi en nullité au Tribunal fédéral, qui les a rejetés dans la mesure où ils étaient recevables par arrêt 6P.233/2006 et 6S.533/2006 du 2 mars 2007. Le Tribunal fédéral a, notamment, écarté le grief fait à la cour cantonale d'avoir entendu Z. en tant que personne appelée à fournir des renseignements, et non en qualité de témoin, et d'avoir, en conséquence, admis que celui-ci refuse de répondre, ainsi que le grief d'appréciation arbitraire des preuves.
X. demande la révision de l'arrêt du Tribunal fédéral du 2 mars 2007. Il conclut à son annulation, en sollicitant l'assistance judiciaire et l'effet suspensif. Des réponses n'ont pas été requises. | 482 | 342 | Erwägungen
Extrait des considérants:
1.
Le requérant fonde sa demande de révision sur l'
art. 123 al. 2 let. b LTF
. Produisant une attestation, datée du 7 août 2007, de Z., il fait valoir qu'elle constitue un élément de preuve nouveau, propre à modifier l'état de fait retenu par le jugement valaisan et repris dans l'arrêt dont il demande la révision, en tant qu'elle infirmerait l'accusation de viol portée contre lui par l'opposante.
1.1
Du Message du 28 février 2001 relatif à la révision totale de l'organisation judiciaire fédérale, il résulte que, sous réserve de quelques modifications en cas de révision pour violation de la CEDH (
art. 139 OJ
; art. 122 de la loi du 17 juin 2005 sur le Tribunal fédéral [LTF; RS 173.110]), la réglementation de cette voie de droit, telle qu'elle était prévue par les
art. 136 ss OJ
, est demeurée inchangée (FF 2001 p. 4000 ss, 4149). En particulier, le motif de révision prévu à l'
art. 137 let. b OJ
, qui permettait de demander la révision d'un arrêt du Tribunal fédéral pour faits nouveaux ou preuves nouvelles a été repris, de manière différenciée toutefois pour les affaires civiles et les affaires de droit public, d'une part, et pour les affaires pénales, d'autre part.
BGE 134 IV 48 S. 50
1.2
Dans les affaires civiles et les affaires de droit public, la révision pour faits nouveaux ou preuves nouvelles peut être demandée aux conditions de l'
art. 123 al. 2 let. a LTF
, à savoir "si le requérant découvre après coup des faits pertinents ou des moyens de preuve concluants qu'il n'avait pas pu invoquer dans la procédure précédente, à l'exclusion des faits ou moyens de preuve postérieurs à l'arrêt". Cette disposition correspond à l'
art. 137 let. b OJ
, qui permettait de demander la révision "lorsque le requérant a connaissance subséquemment de faits nouveaux importants ou trouve des preuves concluantes qu'il n'avait pas pu invoquer dans la procédure précédente". Le texte légal n'a subi qu'une modification de forme, en ce sens qu'à l'expression de faits nouveaux a été substituée celle de faits pertinents découverts après coup, sa portée demeurant toutefois la même (FF 2001 p. 4149; arrêt 4F_3/2007 du 27 juin 2007, consid. 3.1). Il en découle notamment que seuls peuvent justifier une demande de révision fondée sur l'
art. 123 al. 2 let. a LTF
les faits qui se sont produits jusqu'au moment où, dans la procédure principale, des allégations de faits étaient encore recevables, mais qui n'étaient pas connus du requérant malgré toute sa diligence, ces faits devant en outre être pertinents, c'est-à-dire de nature à modifier l'état de fait qui est à la base de l'arrêt entrepris et à conduire à un jugement différent en fonction d'une appréciation juridique correcte (cf. arrêt 4F_3/ 2007, consid. 3.1;
ATF 127 V 353
consid. 5b p. 358).
1.3
Dans les affaires pénales, lorsqu'elle est sollicitée en faveur du condamné, la révision pour faits nouveaux ou preuves nouvelles peut être demandée aux conditions de l'
art. 229 ch. 1 let. a PPF
, auquel renvoie notamment l'
art. 123 al. 2 let. b LTF
, à savoir "si des preuves ou faits décisifs, qui n'ont pas été soumis au tribunal, font douter de la culpabilité de l'accusé ou démontrent que l'infraction commise est moins grave que celle pour laquelle l'accusé a été condamné". Contrairement à ce qui est le cas pour les affaires civiles et les affaires de droit public, il n'est donc pas expressément exigé que les faits ou preuves décisifs n'aient pas pu être invoqués dans la procédure précédente, ce qui a été justifié par la compétence dont dispose dorénavant le Tribunal fédéral de réformer les jugements pénaux sur recours (cf. FF 2001 p. 4150).
1.4
Appliquée à la procédure de révision d'un arrêt du Tribunal fédéral, la règle de l'
art. 229 ch. 1 let. a PPF
, comme d'ailleurs la règle similaire de l'art. 229 ch. 2 relative à la révision d'un jugement pénal en défaveur du condamné, ne peut être comprise en ce sens
BGE 134 IV 48 S. 51
que de véritables faits nouveaux ou preuves nouvelles suffiraient à justifier une demande de révision. Une telle interprétation aurait pour conséquence que le Tribunal fédéral, alors même qu'il n'aurait pu le faire dans la procédure précédente, devrait examiner librement, voire corriger, l'état de fait du jugement qui lui avait été déféré sur recours, du seul fait que des faits ou preuves, qui ne l'avaient pas été dans la procédure précédente, lui seraient soumis.
L'
art. 105 al. 1 LTF
pose en effet le principe que le Tribunal fédéral, saisi d'un recours, statue sur la base des faits établis par l'autorité précédente. Il ne peut, exceptionnellement, s'en écarter que s'il est amené à faire application de l'
art. 105 al. 2 LTF
, soit à rectifier ou compléter d'office les constatations de fait de l'autorité précédente, parce que les faits ont été établis de façon manifestement inexacte ou en violation du droit au sens de l'
art. 95 LTF
. L'
art. 99 al. 1 LTF
prévoit par ailleurs qu'aucun fait nouveau ni aucune preuve nouvelle, à moins de résulter de la décision de l'autorité précédente, ne peut être soumis au Tribunal fédéral. Une interprétation de l'
art. 229 ch. 1 let. a PPF
, le cas échéant de l'
art. 229 ch. 2 PPF
, en ce sens que de véritables faits nouveaux ou preuves nouvelles suffiraient à justifier une demande de révision serait incompatible avec ces règles fondamentales de procédure et, plus généralement, avec le rôle, de juge du droit, du Tribunal fédéral.
1.5
Au vu de ces considérations, il y a lieu d'interpréter l'
art. 229 ch. 1 let. a PPF
, comme le cas échéant l'
art. 229 ch. 2 PPF
, en ce sens que, sous réserve des exceptions évoquées, de véritables faits nouveaux ou preuves nouvelles ne peuvent justifier une révision. Autrement dit, la révision, pour faits nouveaux ou preuves nouvelles, d'un arrêt rendu par le Tribunal fédéral dans une affaire pénale n'entre en considération, hormis en ce qui concerne les faits qui étaient déterminants pour juger de la recevabilité du recours et qu'il devait donc élucider lui-même, que dans les cas où, dans la procédure précédente, le Tribunal fédéral a non seulement réformé le jugement qui lui était déféré, comme il a désormais la compétence de le faire en matière pénale, mais a modifié l'état de fait de ce jugement sur la base de l'
art. 105 al. 2 LTF
. Ce n'est que dans ces cas que des faits nouveaux ou preuves nouvelles, au sens de l'
art. 229 PPF
, seraient propres à entraîner une modification de l'état de fait de l'arrêt du Tribunal fédéral. Dans les autres cas, c'est en réalité une modification de l'état de fait de la décision ayant fait l'objet du recours, sur lequel le Tribunal fédéral était tenu de se fonder, que les faits nouveaux ou
BGE 134 IV 48 S. 52
preuves nouvelles seraient susceptibles d'entraîner, de sorte que ceux-ci doivent être invoqués dans une demande de révision dirigée contre le jugement cantonal, selon le droit cantonal de procédure applicable, soit dans une demande de révision fondée sur l'
art. 385 CP
.
1.6
En l'espèce, les conditions auxquelles la révision d'un arrêt du Tribunal fédéral peut être demandée dans une affaire pénale ne sont pas réunies. L'attestation, datée du 7 août 2007, produite par le requérant est postérieure à l'arrêt dont il demande la révision et constitue donc une véritable pièce nouvelle. Elle ne vise manifestement pas à établir un fait qui eût été déterminant pour juger de la recevabilité des recours. Par ailleurs, dans son arrêt du 2 mars 2007, le Tribunal fédéral, non seulement n'a pas réformé le jugement cantonal qui lui était déféré, mais a rejeté dans la mesure de leur recevabilité le recours de droit public et le pourvoi en nullité qui lui étaient soumis; même s'il les avait admis, il n'aurait d'ailleurs pu le faire, au vu de la nature purement cassatoire de ces voies de droit. Il n'a au demeurant pas modifié l'état de fait de ce jugement sur la base de l'art. 277
bis
al. 1 in fine PPF. L'attestation litigieuse n'est donc pas propre à modifier l'état de fait de l'arrêt du Tribunal fédéral dont le requérant sollicite la révision. Elle devait dès lors être invoquée dans une demande de révision dirigée contre le jugement cantonal du 26 octobre 2006, ce qui, en l'occurrence, s'imposait de toute manière pour ce motif déjà que l'arrêt qui fait l'objet de la présente demande a été rendu sous l'empire de l'ancien droit de procédure (cf., pour le pourvoi en nullité,
ATF 124 IV 92
consid. 1 p. 93/94 et
ATF 121 IV 317
consid. 2 p. 322; pour le recours de droit public,
ATF 118 Ia 366
consid. 2 p. 367/368).
La demande est par conséquent irrecevable. | 2,057 | 1,867 | 2 | 0 | CH_BGE_006 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_006_BGE-134-IV-48_2007-11-13 | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=4&from_date=&to_date=&from_year=2007&to_year=2007&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=37&highlight_docid=atf%3A%2F%2F134-IV-48%3Ade&number_of_ranks=307&azaclir=clir | BGE_134_IV_48 |
|||
ec6aa89d-a97e-4df4-8587-500037fb4ea1 | 2 | 83 | 1,352,987 | null | 2,024 | fr | Sachverhalt
ab Seite 172
BGE 129 IV 172 S. 172
A.-
A., né en 1940, dirigeait une entreprise de pompes funèbres. De 1990 à 1997, de manière quasi systématique, à l'insu des familles, il a transféré les dépouilles, qui lui étaient confiées à des fins d'incinération, des cercueils d'apparat que les familles avaient choisis dans des cercueils bon marché de type "nova", facturant aux familles le prix plus élevé du cercueil d'apparat. Cette pratique a été appliquée à 373 cas et lui a procuré un enrichissement d'environ 360'000 francs.
En outre, il a demandé, à deux reprises, à son employé, B., d'enlever le stimulateur cardiaque à deux cadavres. Celui-ci a procédé à l'opération à l'aide d'un canif.
B.-
Par jugement du 26 mars 2001, le Tribunal du IIe arrondissement pour le district de Sion a condamné A. à une peine de trois ans et demi de réclusion pour escroquerie par métier (
art. 146 al. 2 CP
), tentative d'escroquerie par métier (art. 21 al. 1 et 146 al. 2 CP) et atteinte à la paix des morts (
art. 262 ch. 1 al. 3 CP
).
Par jugement du 29 novembre 2002, la Cour pénale II du Tribunal cantonal valaisan a admis partiellement l'appel interjeté par A. Elle l'a libéré du chef d'accusation d'atteinte à la paix des morts pour les transferts des dépouilles, a renoncé à appliquer la circonstance aggravante du métier et a réduit sa peine à trois ans d'emprisonnement.
C.-
A. se pourvoit en nullité contre ce jugement. Invoquant une violation de l'art. 262 ch. 1 et de l'
art. 63 CP
, il conclut à son annulation.
Le Tribunal fédéral a rejeté le pourvoi en nullité.
BGE 129 IV 172 S. 173 | 619 | 344 | Erwägungen
Extrait des considérants:
2.
Le recourant conteste sa condamnation en tant que coauteur du délit d'atteinte à la paix des morts (
art. 262 ch. 1 CP
). Il fait valoir que B. aurait respecté les cadavres humains qui devaient être incinérés, qu'il n'aurait pas utilisé un canif mais un instrument chirurgical pour retirer les stimulateurs cardiaques et qu'il aurait posé un pansement après l'extraction. Il précise en outre qu'il a enlevé les stimulateurs cardiaques pour éviter que le four n'explose et que son comportement était donc justifié par son devoir de profession (
art. 32 CP
).
2.1
Aux termes de l'
art. 262 ch. 1 al. 3 CP
, celui qui profane un cadavre humain est puni de l'emprisonnement ou de l'amende. La profanation se caractérise par le mépris et l'irrespect (CORBOZ, Les infractions en droit suisse, vol. II, Berne 2002, n. 2 ad
art. 262 CP
, p. 309). Selon le sentiment général, un cadavre n'est ni un objet de propriété, ni un bien sans maître que l'on peut traiter n'importe comment (
ATF 118 IV 319
consid. 2 p. 323). Celui qui inflige un mauvais traitement à une dépouille, la détrousse, la mutile ou effectue tout autre geste de mépris ou de dépréciation se rend coupable d'atteinte à la paix des morts. Une autopsie ou le prélèvement d'un organe contre la volonté du défunt ou de ses proches ne tombe pas sous le coup de l'
art. 262 ch. 1 CP
(cf.
ATF 72 IV 150
consid. 4), dès lors que ces interventions poursuivent des buts légitimes (raisons médicales, enquête pénale) et qu'elles n'impliquent aucun dénigrement du défunt. Il y aura en revanche profanation si la manière d'y procéder dénote un manque de respect, par exemple si l'auteur enlaidit ou défigure inutilement le cadavre; la profanation peut également résulter d'un manque de professionnalisme (FIOLKA, Basler Kommentar, n. 23 et 24 ad
art. 262 CP
). Sur le plan subjectif, l'auteur doit avoir l'intention - ne serait-ce que sous la forme du dol éventuel - de profaner le cadavre (CORBOZ, op. cit., n. 8 ad
art. 262 CP
, p. 310).
2.2
Il est constant qu'un stimulateur cardiaque ou neurologique peut provoquer, lors de l'incinération, l'explosion des installations de crémation et qu'il convient donc de le retirer des cadavres à incinérer. Dans la pratique, c'est le médecin qui constate le décès qui procède à l'ablation post mortem du stimulateur cardiaque; en cas d'oubli, il appartient aux employés des pompes funèbres de s'adresser à un médecin. Le prélèvement du stimulateur cardiaque constitue en effet une intervention chirurgicale et exige des connaissances
BGE 129 IV 172 S. 174
spéciales. C'est ainsi que, selon les instructions du Département de cardiologie médico-chirurgicale du Centre hospitalier universitaire vaudois à l'intention du corps médical du canton, il convient de procéder, en premier lieu, à une incision au bistouri d'environ 6 à 8 cm directement en projection du boîtier, puis, après la dissection du tissu sous-cutané graisseux, d'inciser largement la poche fibreuse du pacemaker pour que celui-ci puisse être facilement extrait, le boîtier étant libre de toute adhérence; il faut ensuite enlever la sonde en la tirant d'un coup sec pour la libérer sur quelques centimètres et la couper; enfin, une fois le boîtier extrait, il y a lieu de fermer l'incision à l'aide d'un fil serti ou non, passé en surjet, en un plan cutané.
2.3
En l'espèce, au lieu de faire appel à un médecin, le recourant a demandé à B. de prélever lui-même le stimulateur cardiaque, alors que celui-ci ne disposait ni des connaissances médicales nécessaires ni des instruments appropriés. Le recourant affirme que B. ne se serait pas servi d'un canif, comme le retient l'arrêt attaqué, mais d'un instrument chirurgical et qu'il aurait posé un pansement sur l'incision. Ce faisant, il s'éloigne de l'état de fait de l'arrêt attaqué, ce qu'il n'est pas habilité à faire dans le cadre du pourvoi en nullité (
art. 273 et 277bis PPF
). Dans tous les cas, l'instrument utilisé ne revêt guère d'importance, l'irrespect consistant à avoir demandé à une personne ne bénéficiant d'aucune formation spécifique de procéder à une intervention chirurgicale sur un cadavre. Seul en effet un professionnel qui possède les connaissances nécessaires est habile à ouvrir un cadavre pour extraire un organe ou tout appareil artificiel remplaçant un organe; un profane ne saurait procéder à une telle opération sans tomber sous le coup de l'
art. 262 ch. 1 CP
. En demandant à B. de retirer lui-même le stimulateur cardiaque, le recourant a manqué du respect élémentaire que l'on est en droit d'attendre d'un entrepreneur professionnel de pompes funèbres. L'élément objectif de l'infraction est donc réalisé.
Les conditions subjectives sont également réunies. Le recourant a intentionnellement profané les corps. En tant que professionnel des pompes funèbres, il ne pouvait ignorer que l'ablation post mortem des stimulateurs cardiaques était effectuée d'habitude par un médecin et que l'intervention d'une personne non qualifiée procédait d'un manque de respect; le refus de ses deux autres employés de la pratiquer ne pouvait du reste que lui faire apparaître son caractère choquant.
2.4
Le recourant invoque avoir agi en vertu d'un devoir de profession au sens de l'
art. 32 CP
. Selon lui, le dossier n'établit pas de
BGE 129 IV 172 S. 175
manière claire et précise si une telle intervention doit être opérée par un médecin et n'exclurait donc pas que les employés des pompes funèbres soient habilités à la pratiquer. Selon la jurisprudence et la doctrine, l'exercice d'une profession déterminée ne suffit pas pour supprimer le caractère illicite d'un acte, car celui qui l'exerce ne jouit pas pour autant de droits plus étendus que les autres citoyens; encore faut-il pour rendre l'acte licite que le devoir de profession invoqué découle d'une norme juridique écrite ou non écrite (
ATF 113 IV 4
consid. 3 p. 6). En l'espèce, aucune norme juridique fédérale ou valaisanne n'autorise les pompes funèbres à ôter les stimulateurs cardiaques. Au contraire, selon l'usage, seuls des médecins sont en principe autorisés à procéder à cette intervention. Ainsi, se fondant sur l'ordonnance du 17 mars 1999 du Conseil d'Etat valaisan sur la constatation des décès et les interventions sur les cadavres humains, le Département de la Santé publique du canton du Valais a édicté - certes postérieurement aux faits de la présente cause - des directives, qui prévoient que "le centre funéraire de Sion est seul habilité à procéder à [l'enlèvement des stimulateurs cardiaques], avec la collaboration des médecins pathologistes de l'Institut central des hôpitaux valaisans". Les conditions de l'état de nécessité font pour le surplus manifestement défaut, le risque d'explosion du four ne pouvant être considéré comme un danger imminent. En conséquence, les griefs du recourant relatifs à l'application de l'
art. 262 ch. 1 CP
sont infondés. | 2,602 | 1,312 | 2 | 0 | CH_BGE_006 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_006_BGE-129-IV-172_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=25&from_date=&to_date=&from_year=2003&to_year=2003&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=242&highlight_docid=atf%3A%2F%2F129-IV-172%3Ade&number_of_ranks=300&azaclir=clir | BGE_129_IV_172 |
|||
ec71fdfb-0c20-4903-ab1b-04b64519caff | 2 | 82 | 1,358,306 | null | 2,024 | fr | Sachverhalt
ab Seite 187
BGE 128 III 186 S. 187
Dès 1990, dame G. a contracté auprès de la compagnie d'assurances X. une assurance maladie complémentaire, en dernier lieu selon police du 3 novembre 1998 par laquelle X. laissait tomber une réserve antérieure excluant de la couverture d'assurance un fibrome utérin et ses suites éventuelles. La prime s'élevait à 3'575 fr. par an, payable trimestriellement.
Le 23 juin 1999, suite au non-paiement de la prime du deuxième trimestre de l'année 1999, la compagnie d'assurances a adressé à dame G. une sommation recommandée qui portait l'injonction de payer dans les quatorze jours la prime trimestrielle et l'avertissement que, à défaut de paiement, l'assurance serait suspendue pour tout sinistre subséquent. Dame G., alors en séjour à l'étranger, n'a pas pris connaissance de ce courrier, qui a été retourné à l'issue du délai de garde avec la mention "non réclamé".
Le 22 juillet 1999, la prime du deuxième trimestre 1999 n'ayant toujours pas été payée ensuite de la sommation recommandée du 23 juin 1999, X. a écrit à dame G. qu'elle n'entendait pas poursuivre le recouvrement du montant des primes mais qu'elle se départissait du contrat, avec effet au 31 mars 1999, en application de l'art. 21 al. 1 de la loi fédérale du 2 avril 1908 sur le contrat d'assurance (LCA; RS 221.229.1).
Ayant ouvert action aux fins de faire constater que le contrat d'assurance maladie individuelle du 3 novembre 1998 n'avait pas été valablement résilié, dame G. a été déboutée tant par le Tribunal de première instance que par la Cour de justice du canton de Genève.
Le Tribunal fédéral a admis le recours en réforme interjeté par dame G. contre l'arrêt de la Cour de justice. | 660 | 322 | Erwägungen
Extrait des considérants:
2.
La sommation adressée le 23 juin 1999 par la défenderesse à la demanderesse portait l'injonction de payer dans les quatorze jours la prime trimestrielle échue et l'avertissement que, à défaut de paiement, l'assurance serait suspendue pour tout sinistre subséquent;
BGE 128 III 186 S. 188
elle ne contenait en revanche pas l'avertissement que l'assureur pourrait alors se départir du contrat. Il se pose ainsi la question de savoir - et la contestation soumise au Tribunal fédéral porte uniquement sur ce point - si cette sommation a été valablement faite, et donc si le contrat a pu être valablement résilié le 22 juillet 1999. La cour cantonale a considéré que l'avertissement que l'assureur pourrait se départir du contrat à défaut de paiement dans les quatorze jours n'était pas nécessaire à la validité de la sommation et donc de la résiliation, ce que la demanderesse conteste.
a) L'
art. 20 LCA
dispose que si la prime n'est pas payée à l'échéance ou dans le délai de grâce accordé par le contrat, le débiteur doit être sommé par écrit, à ses frais, d'en effectuer le paiement dans les quatorze jours à partir de l'envoi de la sommation; la sommation doit rappeler les conséquences du retard (al. 1). Si la sommation reste sans effet, l'obligation de l'assureur est suspendue à partir de l'expiration du délai légal (al. 3).
Selon l'
art. 21 LCA
, l'assureur a alors le choix: il peut, dans les deux mois après l'expiration du délai fixé par l'
art. 20 LCA
, poursuivre le paiement de la prime en souffrance, son obligation reprenant alors effet dès le paiement; il peut aussi se départir du contrat et renoncer au paiement de la prime arriérée, cette résiliation se présumant à défaut de poursuite dans les deux mois (
ATF 103 II 204
consid. 1).
b) L'
art. 20 al. 1 LCA
exige que le débiteur soit informé de manière explicite et complète sur toutes les conséquences du retard (FRANZ HASENBÖHLER, Basler Kommentar, Bundesgesetz über den Versicherungsvertrag, 2001, n. 42 ad
art. 20 LCA
; MORITZ KUHN/PASCAL MONTAVON, Droit des assurances privées, 1994, p. 192). Une sommation qui n'indique pas ces conséquences est irrégulière et ne saurait produire les effets qu'elle omet de rappeler (HANS ROELLI/MAX KELLER, Kommentar zum Bundesgesetz über den Versicherungsvertrag, vol. I, 1968, p. 344 et les arrêts cités; BERNARD VIRET, Droit des assurances privées, 3e éd. 1991, p. 115 et 117; WILLY KOENIG, Schweizerisches Privatversicherungsrecht, 3e éd. 1967, p. 120).
c) Si une partie de la doctrine, à l'instar de la jurisprudence cantonale (cf. les décisions citées par OLIVIER CARRÉ, Loi fédérale sur le contrat d'assurance, édition annotée, 2000, p. 214 s.), ne mentionne, au titre des conséquences devant être rappelées dans la sommation, que la suspension de la couverture d'assurance à partir de l'expiration du délai légal (ALFRED MAURER, Privatversicherungsrecht, 3e éd. 1995, p. 293; KOENIG, op. cit., p. 121; FRITZ OSTERTAG/PAUL HIESTAND,
BGE 128 III 186 S. 189
Das Bundesgesetz über den Versicherungsvertrag, 2e éd. 1928, n. 7 ad
art. 20 LCA
), d'autres auteurs estiment que la sommation doit aussi indiquer les autres conséquences prévues par l'
art. 21 al. 1 LCA
, à savoir le droit de résilier le contrat, respectivement la fiction de résiliation (HASENBÖHLER, op. cit., n. 42 ad
art. 20 LCA
; ROELLI/KELLER, op. cit., p. 344). Quant au Tribunal fédéral, il a simplement exposé que "[l]'
art. 20 LCA
institue une mise en demeure qualifiée ayant un effet spécifique clairement exprimé à l'art. 20 al. 3: l'obligation de l'assureur est suspendue, le contrat demeurant en vigueur aux conditions de l'art. 21" (
ATF 103 II 204
consid. 5a).
d) La LCA déroge en faveur de l'assureur au régime commun de la demeure en ce sens que, à l'expiration du délai fixé au débiteur pour s'exécuter, non seulement l'assureur a le choix de poursuivre le paiement de la prime en souffrance ou de se départir du contrat (
art. 21 LCA
; cf.
art. 107 al. 2 CO
), mais encore son obligation est suspendue (
art. 20 al. 3 LCA
); si l'assureur ne se départit pas du contrat - la résiliation étant présumée si l'assureur n'a pas poursuivi le paiement de la prime en souffrance dans les deux mois après l'expiration du délai fixé par l'
art. 20 LCA
(
art. 21 al. 1 LCA
) -, son obligation ne reprend effet qu'à partir du moment où la prime arriérée a été acquittée avec les intérêts et les frais (
art. 21 al. 2 LCA
).
La suspension de la couverture d'assurance a été prévue par la loi pour tenir compte des particularités de l'assurance: le recouvrement juridique de la prime n'est pas compatible avec la nature de l'exploitation de l'assureur, lequel doit pouvoir compter sur le paiement ponctuel des primes (Message du Conseil fédéral sur le projet d'une loi fédérale concernant le contrat d'assurance, FF 1904 I 267 ss, 317; KOENIG, op. cit., p. 120), et il conduirait l'assureur à reporter les pertes dues aux mauvais payeurs en adaptant le tarif des primes pour l'ensemble des assurés (MAURER, op. cit., p. 293). C'est pour sauvegarder d'une manière convenable les intérêts du débiteur face aux conséquences économiques rigoureuses, sans équivalent dans le droit commun, que représente la suspension de la couverture d'assurance, que le législateur a rompu avec le système de la demeure suivant le droit commun - en vertu duquel l'interpellation du débiteur n'aurait même pas été nécessaire, s'agissant d'une dette échue à un terme fixe (
art. 108 ch. 3 CO
) - en prescrivant l'envoi d'une sommation répondant à des exigences strictes quant à sa forme et quant à son contenu.
BGE 128 III 186 S. 190
e) La cour cantonale n'a ainsi pas tort lorsqu'elle affirme que, selon une interprétation téléologique aussi bien qu'historique, c'est avant tout dans le souci de protéger l'assuré de la suspension de l'obligation de l'assureur, et non pas tant de la résiliation de son contrat, que le législateur a prévu l'observation de formes strictes pour la sommation. Il n'en demeure pas moins que l'exigence d'une sommation écrite et rappelant les conséquences du retard a été introduite dans un but de protection de l'assuré. Or si celui-ci est averti uniquement de ce que, à défaut de paiement dans un délai de quatorze jours, l'obligation de l'assureur est suspendue (pour ne reprendre effet qu'à partir du moment où la prime arriérée a été acquittée avec les intérêts et les frais), il ne saurait imaginer - l'avertissement incomplet étant au contraire de nature à l'induire en erreur sur ce point - que dès l'expiration du délai, l'assureur est en droit de se départir du contrat. Dès lors que la naissance de ce droit formateur de l'assureur - dont la loi, dans un but de protection de l'assuré (cf. le Message précité, p. 317), présume l'exercice à défaut de poursuite par l'assureur dans les deux mois - présuppose la demeure du débiteur et constitue ainsi indubitablement une conséquence de cette demeure, la sommation doit en informer le débiteur en vertu de l'art. 20 al. 1, 2e phrase, LCA.
f) Il résulte de ce qui précède que la défenderesse n'a pas pu valablement résilier le contrat d'assurance ensuite d'une sommation qui n'informait pas la demanderesse sur cette conséquence du retard. L'arrêt entrepris, qui viole le droit fédéral, doit ainsi être réformé dans le sens sollicité par la demanderesse. | 2,832 | 1,490 | 2 | 0 | CH_BGE_005 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_005_BGE-128-III-186_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=23&from_date=&to_date=&from_year=2002&to_year=2002&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=221&highlight_docid=atf%3A%2F%2F128-III-186%3Ade&number_of_ranks=303&azaclir=clir | BGE_128_III_186 |
|||
ec72a3c5-bd8d-4e60-a1d2-013e3fb9be63 | 1 | 83 | 1,348,031 | 1,304,553,600,000 | 2,011 | de | 2 | 0 | 2 | 0 | Das Zwangsmassnahmengericht hat den Haftentscheid 86 Stunden nach der Festnahme eröffnet, was in concreto nicht zu beanstanden ist. Der Verletzung der 48-stündigen Frist durch die Staatsanwaltschaft wurde vom Obergericht im angefochtenen Entscheid bereits Rechnung getragen, indem es eine entsprechende Feststellung ins Dispositiv aufnahm und entgegen dem Ausgang des Verfahrens die gesamten Gerichtskosten auf die Staatskasse nahm (E. 3.2.2 und 3.2.3).
Das Obergericht selber hat das Beschleunigungsgebot nicht verletzt, indem es die Sache ans Zwangsmassnahmengericht zurückwies, anstatt selber zu entscheiden (E. 3.2.4).
Sachverhalt
ab Seite 94
BGE 137 IV 92 S. 94
A.
X. wurde am 1. März 2011, um 19.30 Uhr, beim Grenzübertritt in Diepoldsau/SG vorläufig festgenommen wegen des Verdachts, einer international tätigen, auf Luxusautomobile spezialisierten Diebesbande anzugehören. Am 2. März 2011 wurde er der Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau zugeführt, welche ihn tags darauf befragte und ihm anschliessend die Festnahme eröffnete. Am 4. März 2011 beantragte die Staatsanwaltschaft Aarau-Lenzburg dem Zwangsmassnahmengericht des Kantons Aargau, gegen X. vorläufig bis zum 3. Juni 2011 Untersuchungshaft anzuordnen.
Am 5. März 2011 führte das Zwangsmassnahmengericht eine Verhandlung durch und versetzte X. bis zum 3. Juni 2011 in Untersuchungshaft.
Am 7. März 2011 erhob X. beim Obergericht des Kantons Aargau Beschwerde mit dem Antrag, ihn unverzüglich aus der Haft zu entlassen.
Am 21. März 2001 erkannte die Beschwerdekammer des Obergerichts:
"1. Es wird festgestellt, dass die Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau das prozessuale Beschleunigungsgebot in Haftsachen verletzt hat.
2. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und die Verfügung des Zwangsmassnahmengerichts des Kantons Aargau vom 5. März 2011 aufgehoben. Die Sache wird zur neuen Beurteilung im Sinne der Erwägungen an die Haftrichterin zurückgewiesen.
Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.
3. und 4. (Kosten- und Entschädigungsfolgen)"
B.
Am 25. März 2011 versetzte das Zwangsmassnahmengericht X. einstweilen bis zum 1. Juni 2011 in Untersuchungshaft. Die Beschwerde von X. gegen diesen Entscheid ist beim Obergericht hängig.
C.
Mit Beschwerde in Strafsachen vom 1. April 2011 beantragt X. in der Sache, Dispositiv-Ziffer 2 des Entscheids des Obergerichts vom 21. März 2011 aufzuheben und wie folgt neu zu fassen:
BGE 137 IV 92 S. 95
"Die Beschwerde wird gutgeheissen und die Verfügung des Zwangsmassnahmengerichts des Kantons Aargau vom 5. März 2011 aufgehoben. Der Beschwerdeführer wird unverzüglich aus der Haft entlassen."
(Zusammenfassung)
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Der Beschwerdeführer wurde am 1. März 2011, um 19.30 Uhr, festgenommen. Der Haftanordnungsantrag der Staatsanwaltschaft ging nach den unbestrittenen Feststellungen der kantonalen Instanzen am 4. März 2011, um 07.36 Uhr, beim Zwangsmassnahmengericht ein. Dieses führte die Haftverhandlung am 5. März 2011, ab 08.30 Uhr, durch und eröffnete dem Beschwerdeführer den Haftentscheid um 9.15 Uhr mündlich.
2.1
Nach Art. 224 Abs. 1 der am 1. Januar 2011 in Kraft getretenen (AS 2010 1881) Schweizerischen Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (StPO; SR 312.0) befragt die Staatsanwaltschaft die beschuldigte Person unverzüglich und gibt ihr Gelegenheit, sich zum Tatverdacht und zu den Haftgründen zu äussern. Sie erhebt unverzüglich jene Beweise, die zur Erhärtung oder zur Entkräftung des Tatverdachts und der Haftgründe geeignet und ohne Weiteres verfügbar sind. Bestätigen sich der Tatverdacht und die Haftgründe, so beantragt die Staatsanwaltschaft dem Zwangsmassnahmengericht unverzüglich, spätestens aber innert 48 Stunden seit der Festnahme, die Anordnung von Untersuchungshaft oder einer Ersatzmassnahme. Sie reicht ihren Antrag schriftlich ein, begründet ihn kurz und legt die wesentlichen Akten bei (Abs. 2). Nach
Art. 226 Abs. 1 StPO
hat daraufhin das Zwangsmassnahmengericht unverzüglich, spätestens aber innert 48 Stunden nach Eingang des Antrags zu entscheiden.
2.2
Die Staatsanwaltschaft beantragte die Anordnung von Untersuchungshaft rund 60 Stunden nach der Festnahme des Beschwerdeführers, mithin 12 Stunden zu spät. Das ist unstrittig und wurde vom Obergericht mit einer entsprechenden Feststellung in Dispositiv-Ziffer 1 des angefochtenen Entscheids sanktioniert.
Der Beschwerdeführer macht geltend,
Art. 224 Abs. 2 StPO
statuiere eine Gültigkeits-, keine blosse Ordnungsvorschrift. Sie könne zwar im Ausnahmefall zugunsten des Festgenommenen - z.B. für die Abnahme eines Entlastungsbeweises - in engem Rahmen überschritten werden. Abgesehen davon sei sie zwingend einzuhalten, bei Verletzung der Frist müsse der Festgenommene unverzüglich auf
BGE 137 IV 92 S. 96
freien Fuss gesetzt werden, da die Bestimmung sonst toter Buchstabe bleibe.
3.
3.1
Der Anspruch des Festgenommenen auf einen unverzüglichen richterlichen Entscheid über die Anordnung von Untersuchungshaft bzw. die entsprechende Pflicht der Strafverfolgungsbehörden, einen Haftantrag mit besonderer Beschleunigung dem zuständigen Haftrichter vorzulegen, ergeben sich unabhängig vom anwendbaren Prozessrecht aus den entsprechenden verfassungs- und konventionsrechtlichen Garantien von
Art. 31 BV
und
Art. 5 Ziff. 3 EMRK
; eine übermässige Haftdauer oder ungerechtfertigte, von den Strafverfolgungsbehörden zu vertretende Verzögerungen im Haftanordnungsverfahren stellen unverhältnismässige Beschränkungen dieser Grundrechte dar (
BGE 133 I 270
E. 1.2.2;
BGE 128 I 149
E. 2.2.1; je mit Hinweisen). Die Rechtsprechung zum Beschleunigungsgebot geht zwar davon aus, dass die Frist zwischen Festnahme und haftrichterlicher Anhörung 48 Stunden grundsätzlich nicht überschreiten sollte (
BGE 136 I 274
E. 2.2;
BGE 131 I 36
E. 2.6 S. 44). Diese Zeitspanne ist allerdings nicht als starre Frist zu verstehen; vielmehr ist stets im Einzelfall zu prüfen, ob die Zeitspanne zwischen Festnahme und haftrichterlicher Verhandlung unter Berücksichtigung aller massgeblicher Umstände noch als "unverzüglich" im Sinn der verfassungs- und konventionsrechtlichen Garantien gelten kann oder nicht. Die Verletzung des Beschleunigungsgebotes kann im Weiteren nur zur Haftentlassung führen, wenn die Verfahrensverzögerung geeignet ist, die Rechtmässigkeit der Untersuchungshaft in Frage zu stellen. Das ist nur der Fall, wenn sie besonders schwer wiegt und die Strafverfolgungsbehörden erkennen lassen, dass sie nicht gewillt oder in der Lage sind, das Verfahren nunmehr mit der für Haftfälle verfassungs- und konventionsrechtlich gebotenen Beschleunigung voranzutreiben (
BGE 128 I 149
E. 2.2.1; Urteil 1B_63/2007 vom 11. Mai 2007 E. 4.3, nicht publ. in:
BGE 133 I 168
).
3.2
Der Gesetzgeber hat für den Zeitablauf zwischen Festnahme und Haftentscheid nunmehr konkrete Fristen aufgestellt. Danach hat die Staatsanwaltschaft maximal 48 Stunden Zeit bis zur Einreichung des Haftantrags, und dem Zwangsmassnahmengericht stehen anschliessend maximal 48 Stunden zu, seinen Entscheid zu fällen (
Art. 224 Abs. 2,
Art. 226 Abs. 1 StPO
). Das Gesetz regelt die Säumnisfolgen nicht, und die Botschaft (BBl 2006 1085 ff., insbesondere 1230 ff.) schweigt sich dazu aus.
BGE 137 IV 92 S. 97
3.2.1
Diese gesetzlichen Fristen sollen offensichtlich die oben in E. 3.1 dargestellten verfassungs- und konventionsrechtlichen Vorgaben konkretisieren. Bereits daraus ergibt sich ohne Weiteres, dass es sich dabei nicht um reine Ordnungsfristen handelt, aus deren Überschreitung der Betroffene in der Regel nichts zu seinen Gunsten ableiten kann. Für den Festgenommenen entscheidend ist allerdings nur die Zeitspanne zwischen Festnahme und Haftentscheid. Von untergeordneter Bedeutung ist für ihn hingegen, wie sich die einzelnen Verfahrensschritte vor dem Haftentscheid zeitlich verteilen. Insofern richtet sich die Frist von
Art. 224 Abs. 2 StPO
in erster Linie an die Staatsanwaltschaft, die durch deren Einhaltung gezwungen werden soll, dem Haftrichter ausreichend Zeit für die Prüfung des Haftantrags einzuräumen. Es handelt sich damit um eine vor allem die inneren Abläufe der Strafverfolgungsbehörden betreffende Frist, deren Einhaltung grundsätzlich auch im Interesse der festgenommenen Person liegt. Daraus ergibt sich, dass die Aufrechterhaltung der Haft nicht schon dann gesetzwidrig wird, wenn die Staatsanwaltschaft den Haftantrag nicht innert 48 Stunden nach der Festnahme dem Haftrichter einreicht, sondern erst, wenn der Haftrichter den Haftentscheid dem Festgenommenen nicht innert 96 Stunden nach der Festnahme eröffnet hat.
Allerdings ist mit Nachdruck darauf hinzuweisen, dass das verfassungs- und konventionsrechtliche ebenso wie das strafprozessuale Beschleunigungsgebot eine besonders beförderliche Behandlung des Haftverfahrens verlangen, was bedeutet, dass diese gesetzlichen Maximalfristen im Normalfall weit unterschritten werden müssen und höchstens in begründeten Einzelfällen ausgeschöpft werden dürfen.
3.2.2
Vorliegend wurde der Beschwerdeführer am 1. März 2011, um 19.30 Uhr, bei der Einreise in die Schweiz im Kanton St. Gallen verhaftet und am nächsten Tag ins Bezirksgefängnis Unterkulm überführt, wo er um 17.30 Uhr eintraf. Die Erledigung der mit der Festnahme verbundenen Formalitäten und die Organisation des Transports sind mit einem nicht unerheblichen Zeitaufwand verbunden, weshalb diese Überführung in zeitlicher Hinsicht nicht zu beanstanden ist.
Die Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau führte mit dem Beschwerdeführer am 3. März 2011, um 08.25 Uhr, eine Einvernahme durch. Sie erstellte gleichentags den Antrag auf Anordnung von Untersuchungshaft und faxte diesen unbestrittenermassen um 17.45 Uhr dem Verteidiger des Beschwerdeführers. Dem
BGE 137 IV 92 S. 98
Zwangsmassnahmengericht stellte sie den Antrag am 4. März 2011, um 07.36 Uhr, zu. Das Obergericht hat zu Recht beanstandet, dass die Staatsanwaltschaft die Zustellung an das Zwangsmassnahmengericht ohne zwingenden Grund über Nacht hinausschob. Dieses hat den Haftentscheid dann innert 26 Stunden gefällt und eröffnet. Dieser Zeitbedarf erscheint unter dem Gesichtspunkt des Beschleunigungsgebots nicht übermässig, insbesondere weil auch noch eine Dolmetscherin aufgeboten werden musste.
3.2.3
Eine zusammenfassende Würdigung der Verfahrensführung in zeitlicher Hinsicht ergibt somit, dass zwar der Staatsanwaltschaft vorzuwerfen ist, dass sie den Antrag auf Haftanordnung dem Zwangsmassnahmengericht nicht am Abend des 3., sondern erst am frühen Morgen des 4. März 2011 zustellte und damit die Frist von
Art. 224 Abs. 2 StPO
verletzte. Die richterliche Eröffnung der Untersuchungshaft erfolgte indessen 86 Stunden nach der Festnahme und damit innerhalb der gesetzlichen Maximalfrist von 96 Stunden. Das ist insbesondere mit Blick auf die Schwierigkeiten des Verfahrens - Zuführung des Beschwerdeführers aus einem anderen Kanton und Notwendigkeit, eine Dolmetscherin für eine in der Schweiz wenig gängige Sprache aufzubieten - gerade noch akzeptabel. Die Rüge, der Beschwerdeführer hätte wegen Verletzung des Beschleunigungsgebots umgehend auf freien Fuss gesetzt werden müssen, ist unbegründet. Das Obergericht hat zudem der Verletzung der Frist von
Art. 224 Abs. 2 StPO
durch die Staatsanwaltschaft bereits Rechnung getragen, indem es die Verletzung des Beschleunigungsgebots feststellte und entgegen dem Ausgang des Beschwerdeverfahrens die gesamten Gerichtskosten auf die Staatskasse nahm, obwohl es die Beschwerde nur teilweise guthiess und damit der Beschwerdeführer an sich einen Teil der Verfahrenskosten hätte übernehmen müssen.
3.2.4
Der Beschwerdeführer rügt, das Obergericht habe auch selber das Beschleunigungsgebot verletzt, indem es die Sache zu neuem Entscheid an das Zwangsmassnahmengericht zurückgewiesen habe, anstatt selber zu entscheiden. Mit einem Entscheid in der Sache hätte das Obergericht indessen den Rechtsmittelzug des Beschwerdeführers um eine Instanz verkürzt, und es steht keineswegs fest, dass es in der Lage gewesen wäre, schneller neu zu entscheiden als es das Zwangsmassnahmengericht tat, nämlich am 25. März 2011, nur vier Tage nach dem Rückweisungsentscheid. Dieser ist daher auch unter dem Gesichtspunkt des Beschleunigungsgebots vertretbar. Die Rüge ist unbegründet. | 2,575 | 1,953 | CH_BGE_006 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_006_BGE-137-IV-92_2011-05-05 | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=18&from_date=&to_date=&from_year=2011&to_year=2011&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=171&highlight_docid=atf%3A%2F%2F137-IV-92%3Ade&number_of_ranks=265&azaclir=clir | BGE_137_IV_92 |
||||
ec77cf56-8e66-40a0-9c9d-5405322b5aa8 | 1 | 78 | 1,331,967 | 1,609,459,200,000 | 2,021 | de | Sachverhalt
ab Seite 434
BGE 147 I 433 S. 434
A.
Der Deponiestandort Tägernauer Holz in den Gemeinden Grüningen und Gossau wurde 2009 in den Richtplan des Kantons Zürich aufgenommen. Vorgesehen war eine Deponie mit einer Fläche von 6 ha und einem Volumen von 750'000 m
3
.
Der Regierungsrat des Kantons Zürich bereitete 2016 eine Teilrevision des Kapitels 4 "Verkehr" und des Kapitels 5 "Versorgung, Entsorgung" des kantonalen Richtplans vor. Er beantragte dem Kantonsrat des Kantons Zürich, die Fläche der geplanten Deponie Tägernauer Holz von 6 ha auf 10 ha zu erhöhen und das
BGE 147 I 433 S. 435
Deponievolumen von 750'000 m
3
auf 1'500'000 m
3
zu verdoppeln. (...) Die Vorlage des Regierungsrates wurde vom 16. Dezember 2016 bis zum31. März 2017 öffentlich aufgelegt und in Bezug auf den geplanten Deponiestandort Tägernauer Holz schliesslich unverändert dem Kantonsrat überwiesen.
Die vorberatende Kommission für Energie, Verkehr und Umwelt (KEVU) beantragte dem Kantonsrat in Bezug auf den geplanten Deponiestandort Tägernauer Holz die Festsetzung als Deponietyp D gemäss der Verordnung des Bundesrats vom 4. Dezember 2015 über die Vermeidung und die Entsorgung von Abfällen (Abfallverordnung, VVEA; SR 814.600) sowie die Ergänzung diverser Bedingungen (Realisierung in mindestens drei Etappen; offene Betriebsfläche maximal 4 ha; Erschliessung über die Autobahn A52, Anschluss Oetwil a.S.).
Anlässlich der Sitzung des Kantonsrates beantragte zudem Kantonsrätin Elisabeth Pflugshaupt zusammen mit neun weiteren Mitgliedern des Kantonsrats, dass von den sich in der gleichen Region befindlichen Deponiestandorten Lehrüti (Gossau/Egg) und Tägernauer Holz (Grüningen/Gossau) höchstens einer in Betrieb sein dürfe. Zudem sollte der Deponiestandort Tägernauer Holz über die von der KEVU formulierten Bedingungen hinaus, "erst nach Ausschöpfen der Kapazitäten der übrigen Deponien Typ D" realisiert werden.
Sowohl der Antrag der KEVU als auch der Antrag Pflugshaupt wurden vom Kantonsrat angenommen. Weitere zum Deponiestandort Tägernauer Holz gestellte Anträge wies der Kantonsrat ab.
Mit Beschluss vom 28. Oktober 2019 nahm der Kantonsrat den Richtplan, Kapitel 4 "Verkehr" und Kapitel 5 "Versorgung, Entsorgung", an. In Bezug auf den geplanten Deponiestandort Tägernauer Holz (Nr. 16) wurde Folgendes festgesetzt:
- Fläche (total): 10 ha
- Deponievolumen (total): 1'500'000 m3
- Voraussichtlicher Deponietyp (nach VVEA): D
- Realisierungsstand/Bedingungen: geplant; Realisierung erst nach Ausschöpfung der Kapazitäten der übrigen Deponien Typ D und dann in mindestens drei Etappen; offene Betriebsfläche maximal 4 ha; Erschliessung über A52, Anschluss Oetwil a.S.
- Betreffend die Deponien Lehrüti und Tägernauer Holz: Maximal ein Standort in Betrieb.
BGE 147 I 433 S. 436
Der Beschluss wurde am 8. November 2019 im Amtsblatt des Kantons Zürich publiziert. (...)
B.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 9. Dezember 2019 beantragt die politische Gemeinde Grüningen, der Beschluss des Kantonsrates vom 28. Oktober 2019 sei bezüglich der Festsetzung der Deponie Nr. 16, Gemeinden Grüningen/Gossau, Tägernauer Holz, aufzuheben und der geplante Deponiestandort sei ersatzlos zu streichen. Eventuell sei der Beschluss des Kantonsrates vom 28. Oktober 2019 aufzuheben, soweit dieser eine Deponievergrösserung vorsieht (Verfahren 1C_648/2019).
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 9. Dezember 2019 beantragen der Zweckverband Kehrichtverwertung Zürcher Oberland, die ZAV Recycling AG, die Interkommunale Anstalt Limeco und der Zweckverband für Abfallverwertung im Bezirk Horgen, der Beschluss des Kantonsrates vom 28. Oktober 2019 sei aufzuheben, soweit damit angeordnet wird, dass (1.) nur einer der Deponiestandorte Lehrüti (Gossau/Egg) und Tägernauer Holz (Grüningen/Gossau) in Betrieb stehen darf und (2.) eine Realisierung der Deponie Tägernauer Holz (Grüningen/Gossau) erst nach Ausschöpfung der Kapazitäten der übrigen Deponien des Typs D zulässig ist (Verfahren 1C_644/2019). (...)
In Gutheissung der Beschwerde hebt das Bundesgericht den Beschluss des Kantonsrats in Bezug auf den festgesetzten Deponiestandort auf.
(Auszug) | 1,019 | 726 | Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
3.1
Art. 31 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 7. Oktober 1983 über den Umweltschutz (Umweltschutzgesetz, USG; SR 814.01) verpflichtet die Kantone, eine Abfallplanung zu erstellen. Im Rahmen der Abfallplanung ermitteln die Kantone insbesondere ihren Bedarf an Abfallanlagen, vermeiden Überkapazitäten und legen die Standorte der Abfallanlagen fest. Die Abfallplanung umfasst insbesondere den Bedarf an Deponievolumen und die Standorte von Deponien (Deponieplanung;
Art. 4 Abs. 1 lit. d VVEA
). Die Kantone überprüfen die Abfallplanung alle fünf Jahre und passen sie wenn nötig an (
Art. 4 Abs. 3 VVEA
). Sie übermitteln die Abfallplanung und die umfassenden Überarbeitungen dem Bundesamt für
BGE 147 I 433 S. 437
Umwelt (
Art. 4 Abs. 4 VVEA
; vgl.
Art. 31 Abs. 2 USG
). Die Kantone berücksichtigen die raumwirksamen Ergebnisse der Abfallplanung in ihrer Richtplanung (
Art. 5 Abs. 1 VVEA
), weisen die in der Deponieplanung vorgesehenen Standorte von Deponien in ihren Richtplänen aus und sorgen für die Ausscheidung der erforderlichen Nutzungszonen (
Art. 5 Abs. 2 VVEA
).
3.2
Im Kanton Zürich setzt der Regierungsrat nach Anhörung der Gemeinden ein für die kantonalen und kommunalen Behörden verbindliches Gesamtkonzept für die Abfallwirtschaft fest (§ 23 Abs. 1 des Abfallgesetzes des Kantons Zürich vom 25. September 1994 [Abfallgesetz, AbfG/ZH; LS 712.1]). Das Abfallkonzept umschreibt die Ziele der Abfallwirtschaft und zeigt Mittel auf, wie diese erreicht werden können (§ 23 Abs. 2 Satz 1 AbfG/ZH). Das zürcherische Abfallkonzept umfasst zudem die von
Art. 31 Abs. 1 USG
geforderte Abfallplanung (§ 23 Abs. 2 Satz 2 AbfG/ZH). Standorte von Deponien und Abfallanlagen werden gemäss § 24 Abs. 1 AbfG/ZH, soweit erforderlich, in den Richtplänen festgelegt. Der Regierungsrat legt nach Anhörung der Gemeinden das Einzugsgebiet von Deponien und von Anlagen zur Behandlung von Siedlungsabfällen fest (§ 24 Abs. 2 Satz 1 AbfG/ZH). Bei den Anhörungen gemäss § 23 Abs. 1 und 24 Abs. 2 AbfG/ZH handelt es sich um eine gesetzliche Konkretisierung des Mitwirkungsrechts im Sinne von Art. 85 Abs. 3 der Verfassung des Kantons Zürich vom 27. Februar 2005 (KV/ZH; SR 131.211).
4.
4.1
Art. 50 Abs. 1 BV
gewährleistet die Gemeindeautonomie nach Massgabe des kantonalen Rechts. Nach der Rechtsprechung sind Gemeinden in einem Sachbereich autonom, wenn das kantonale oder das eidgenössische Recht diesen nicht abschliessend ordnet, sondern ihn ganz oder teilweise der Gemeinde zur Regelung überlässt und ihr dabei eine relativ erhebliche Entscheidungsfreiheit einräumt. Der geschützte Autonomiebereich kann sich auf die Befugnis zum Erlass oder zum Vollzug eigener kommunaler Vorschriften beziehen oder einen entsprechenden Spielraum bei der Anwendung kantonalen oder eidgenössischen Rechts betreffen. Der Schutz der Gemeindeautonomie setzt eine solche nicht in einem ganzen Aufgabengebiet, sondern lediglich im streitigen Bereich voraus. Im Einzelnen ergibt sich der Umfang der kommunalen Autonomie aus dem für den entsprechenden Bereich anwendbaren kantonalen Verfassungs- und
BGE 147 I 433 S. 438
Gesetzesrecht (
BGE 146 I 36
E. 3.1 S. 44;
BGE 136 I 265
E. 2.1 S. 269 mit Hinweisen).
4.2
Eine in ihrer Autonomie betroffene Gemeinde kann unter anderem geltend machen, die kantonale Behörde habe die Tragweite von verfassungsmässigen Rechten missachtet. Sie kann sich auf das Willkürverbot und auf Verfahrensgrundrechte berufen, soweit diese Vorbringen mit der behaupteten Rüge der Autonomieverletzung in engem Zusammenhang stehen. Die Anwendung von Bundesrecht und von kantonalem Verfassungsrecht prüft das Bundesgericht mit freier Kognition, die Handhabung von kantonalem Gesetzes- und Verordnungsrecht nur unter dem Gesichtswinkel des Willkürverbots (vgl.
BGE 141 I 36
E. 5.4 S. 43). Das Bundesgericht auferlegt sich Zurückhaltung, soweit die Beurteilung der Streitsache von einer Würdigung der örtlichen Verhältnisse abhängt, welche die kantonalen Behörden besser überblicken (
BGE 146 I 36
E. 3.2 S. 44 f.;
BGE 136 I 265
E. 2.3 S. 270 mit Hinweisen).
4.3
Im vorliegenden Fall wird die Autonomie der Beschwerdeführerinnen nicht dadurch tangiert, dass ein kommunaler Erlass im Genehmigungsverfahren oder eine Verfügung der Gemeinde in Anwendung von kommunalem, kantonalem oder eidgenössischem Recht in einem Rechtsmittelverfahren aufgehoben worden wäre. Die Beschränkung beruht vielmehr auf im Verfahren der Richtplanung ergangenen Anordnungen kantonaler Behörden. Nach der bundesgerichtlichen Praxis kann der kantonale Gesetzgeber durch Gesetzesänderung die von ihm einmal gezogenen Schranken der Autonomie nachträglich enger ziehen, solange nicht irgendwelche unmittelbar durch die Verfassung gewährleisteten Befugnisse oder Anforderungen berührt werden. Gleiches gilt für Autonomiebeschränkungen, die sich durch Erlass oder Änderung der kantonalen Richtplanung ergeben. Wird eine Gemeinde in dieser Weise durch eine kantonale Anordnung in ihrer Autonomie eingeschränkt, so kann sie insbesondere verlangen, dass die kantonale Behörde in formeller Hinsicht ihre Befugnisse nicht überschreitet und korrekt vorgeht und dass sie in materieller Hinsicht die kantonal- und bundesrechtlichen Vorschriften im autonomen Bereich nicht verletzt. Sie kann namentlich vorbringen, der Eingriff in ihre Autonomie sei materiell rechtswidrig, etwa weil die neue richtplanerische Anordnung den gesetzlichen Zweck des Planungsinstruments verfehle (
BGE 146 I 36
E. 3.3 S. 45;
BGE 136 I 265
E. 2.4 S. 270 f.;
BGE 119 Ia 285
E. 4c S. 295 f. mit Hinweisen).
BGE 147 I 433 S. 439
4.4
4.4.1
Nach
Art. 85 Abs. 1 KV/ZH
regeln die Gemeinden ihre Angelegenheiten selbstständig. Das kantonale Recht gewährt ihnen einen möglichst weiten Handlungsspielraum. Der Kanton berücksichtigt die möglichen Auswirkungen seines Handelns auf die Gemeinden, die Städte und auf die Agglomerationen (
Art. 85 Abs. 2 KV/ZH
). Er hört die Gemeinden rechtzeitig an (
Art. 85 Abs. 2 KV/ZH
). Sofern sich Gemeinden zwecks gemeinsamer Erfüllung einer oder mehrerer Aufgaben zusammenschliessen (vgl.
Art. 92 Abs. 1 KV/ZH
), kommt den Zweckverbänden in ebendiesem Ausmass Autonomie zu (VITTORIO JENNI, in: Kommentar zur Zürcher Kantonsverfassung, Häner/Rüssli/Schwarzenbach [Hrsg.], 2007, N. 7 zu
Art. 92 KV/ZH
). Die Autonomie der Beschwerdeführer reicht deshalb so weit, als dies die kantonale Verfassung und Gesetzgebung zulässt.
4.4.2
Wie das Bundesgericht wiederholt festgehalten hat, steht den Zürcher Gemeinden aufgrund von § 2 lit. c und 45 ff. des Planungs- und Baugesetzes des Kantons Zürich vom 7. September 1975 (PBG/ ZH; LS 700.1) insbesondere beim Erlass der Ortsplanung ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Sie sind insoweit grundsätzlich autonom (
BGE 136 I 265
E. 2.2 S. 269 f.;
BGE 119 Ia 285
E. 4b S. 295 mit Hinweisen).
4.4.3
Auch in Bezug auf das Abfallwesen erfüllen die Zürcher Gemeinden nach der kantonalen Gesetzgebung über das Abfallwesen eigenständig Aufgaben. Der Vollzug des kantonalen Abfallrechts obliegt im Kanton Zürich den Gemeinden (§ 35 AbfG/ZH). Sie sorgen insbesondere für die Erstellung und den Betrieb von Anlagen für die Behandlung von Siedlungsabfällen und regeln das Sammelwesen, einschliesslich der getrennten Sammlung bestimmter Abfälle, und die Behandlung der Siedlungsabfälle sowie die Gebühren in einer Abfallverordnung (§ 35 Abs. 1 AbfG/ZH). Sie erfüllen einen Informationsauftrag gegenüber der Bevölkerung sowie der Betriebe und bezeichnen eine verantwortliche Stelle für die Abfallwirtschaft (§ 35 Abs. 2 AbfG/ZH). Sie errichten die nötigen Deponien für die Rückstände aus der Behandlung von Siedlungsabfällen und von Klärschlamm, soweit nicht Private diese Aufgabe übernehmen (§ 35 Abs. 3 AbfG/ZH). Sie sorgen für den Vollzug des Ablagerungs- und Verbrennungsverbots (§ 35 Abs. 4 AbfG/ZH) und, solange aufgrund der Gesetzgebung oder von Vereinbarungen keine Rücknahmeverpflichtungen bestehen, für einen Sammeldienst für ausgediente
BGE 147 I 433 S. 440
Geräte und Möbel und deren Bestandteile sowie für Erzeugnisse aus Metall oder Kunststoff aus den Haushalten (§ 35 Abs. 5 AbfG/ZH).
Zur Lösung ihrer Aufgaben können sich die Gemeinden insbesondere zu Zweckverbänden zusammenschliessen (§ 35 Abs. 6 AbfG/ZH; vgl. auch
Art. 92 Abs. 1 KV/ZH
). Soweit ein Zweckverband im Rahmen des Abfallwesens unmittelbar eine nach dem zürcherischen Recht kommunale Aufgabe erfüllt und damit mit dem Vollzug des kantonalen Abfallrechts betraut wird, kommt ihm, genau wie den Gemeinden, gestützt auf
Art. 95 KV/ZH
Autonomie zu.
5.
5.1
Gemäss § 24 Abs. 1 AbfG/ZH werden die Standorte von Deponien und Abfallanlagen, soweit erforderlich, in den Richtplänen festgelegt. Bevor der Regierungsrat das Einzugsgebiet von Deponien und Anlagen zur Behandlung von Siedlungsabfällen festlegt, hat er die Gemeinden gemäss § 24 Abs. 2 AbfG/ZH anzuhören. Bei § 24 Abs. 2 AbfG/ZH handelt es sich um eine gesetzliche Konkretisierung von
Art. 85 Abs. 3 KV/ZH
(vgl. E. 3.2 hiervor). Diese Verfassungsbestimmung schreibt ausdrücklich vor, dass der Kanton Gemeinden namentlich in Bereichen, die zu einer Beschränkung der Gemeindeautonomie führen können, rechtzeitig anhören muss. Verlangt wird eine bevorzugte Beteiligung der betroffenen Gemeinden. Der Kanton muss sicherstellen, dass sie ihre Interessen selber formulieren, in den Planungsprozess frühzeitig eingeben und vor den zuständigen kantonalen Behörden selber vertreten können (vgl.
BGE 136 I 265
E. 3.2 S. 272; PIERRE TSCHANNEN, in: Praxiskommentar RPG: Richt- und Sachplanung, Interessenabwägung, Aemisegger/ Moor/Ruch/Tschannen [Hrsg.], 2019, N. 6 f. zu
Art. 10 RPG
).
Aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör ergibt sich zudem insbesondere das Recht der Betroffenen, sich vor Erlass eines Entscheids zur Sache zu äussern, erhebliche Beweise beizubringen, Einsicht in die Akten zu nehmen, mit erheblichen Beweisanträgen gehört zu werden und an der Erhebung wesentlicher Beweise entweder mitzuwirken oder sich zumindest zum Beweisergebnis zu äussern, wenn dies geeignet ist, den Entscheid zu beeinflussen. Der Anspruch auf rechtliches Gehör umfasst als Mitwirkungsrecht somit alle Befugnisse, die einer Partei einzuräumen sind, damit sie in einem Verfahren ihren Standpunkt wirksam zur Geltung bringen kann (
BGE 136 I 265
E. 3.2 S. 272 mit Hinweisen).
Solche Mitwirkungsrechte sind den Gemeinden in Bezug auf Richtplanfestsetzungen, die auf eine Beschränkung ihrer Autonomie in
BGE 147 I 433 S. 441
der Raumplanung ausgerichtet sind, umfassend zu gewähren. Die Stellungnahmen sind in einem Zeitpunkt einzuholen, in welchem sie noch in die Entscheidungen einfliessen können. Zwar besteht kein Anspruch der Gemeinden, dass ihre Vorschläge tatsächlich berücksichtigt werden. Die kantonale Behörde hat sich jedoch mit den Vorschlägen der Gemeinden - wie der übrigen Vernehmlassungsteilnehmer - auseinanderzusetzen und zu begründen, weshalb sie nicht berücksichtigt werden (
BGE 136 I 265
E. 3.2 S. 272; TOBIAS JAAG, in: Kommentar zur Zürcher Kantonsverfassung, Häner/Rüssli/ Schwarzenbach [Hrsg.], 2007, N. 22 f. zu
Art. 85 KV/ZH
).
Sofern sich Gemeinden zur Erfüllung einer oder mehrerer Aufgaben zu Zweckverbänden zusammenschliessen, übernehmen diese im Umfang der ihnen übertragenen Aufgaben die Rechte und Pflichten der Verbandsgemeinden. Ihnen kommt in diesem Ausmass Autonomie zu (JENNI, a.a.O., N. 7 zu
Art. 92 KV/ZH
). Im Kanton Zürich dürfen sich die Gemeinden zur Lösung der ihnen durch das AbfG/ZH übertragenen Aufgaben zu Zweckverbänden zusammenschliessen (§ 35 Abs. 6 AbfG/ZH). Zweckverbände, die nach dem AbfG/ ZH kommunale Aufgaben wahrnehmen, müssen gestützt auf
Art. 85 Abs. 3 KV/ZH
bzw. § 24 Abs. 2 AbfG/ZH, wie betroffene Gemeinden, vor der Festsetzung eines Deponiestandorts im kantonalen Richtplan ebenfalls angehört werden.
Der Anspruch auf Mitwirkung und auf rechtliches Gehör sind formeller Natur. Eine Verletzung dieser Ansprüche führt ungeachtet der materiellen Begründetheit des Rechtsmittels zur Gutheissung der Beschwerde und zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids (vgl.
BGE 135 I 187
E. 2.2 S. 190).
5.2
5.2.1
Die Gemeinde Grüningen kritisiert in formeller Hinsicht, dass kein genügendes Mitwirkungsverfahren stattgefunden habe. Obwohl die angefochtene Richtplanfestsetzung die Gemeinde in ihren planerischen Entscheidungsfreiheiten und Entwicklungsmöglichkeiten betreffe, hätten sich weder der Regierungs- noch der Kantonsrat genügend mit ihren Einwendungen in Bezug auf den geplanten Deponiestandort Tägernauer Holz auseinandergesetzt. Die Gemeinde stellt sich auf den Standpunkt, dass es seitens des Kantons gänzlich an einer Begründung fehle, weshalb der geplante Deponiestandort Tägernauer Holz für die festgesetzte Vergrösserung von Fläche und Volumen geeignet sei. Der Kanton habe keine Interessenabwägung
BGE 147 I 433 S. 442
vorgenommen. Ausserdem gehe die Begründung des Regierungsrates in Bezug auf ihren Einwand betreffend die Prüfung alternativer Deponiestandorte mit Bahnanschluss völlig an ihren Einwänden vorbei. Die Gemeinde verlange keinen Bahnanschluss für die Deponie Tägernauer Holz, sondern die Prüfung eines alternativen Deponiestandorts mit Bahnanschluss. Die Gemeinde habe mehrfach versucht, diesen Sachverhalt darzulegen, sei mit diesem Anliegen vom Kantons- und Regierungsrat jedoch nicht angemessen gehört worden. Darin liege eine Verletzung ihres Mitwirkungsanspruchs sowie des Anspruchs auf rechtliches Gehör.
5.2.2
Namens des Kantons- und des Regierungsrates hält die kantonale Baudirektion dagegen fest, dass eine Anhörung nach den einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen vom 16. Dezember 2016 bis zum 31. März 2017 stattgefunden und sich die Gemeinde vernehmen lassen habe. Ausserdem habe sich die KEVU im Rahmen der Vorberatung zur Teilrevision des Richtplans ausgiebig mit der Standortfestlegung für die Deponie Tägernauer Holz beschäftigt. Es seien verschiedene Optionen diskutiert worden, einschliesslich des Verzichts auf die beantragte Volumenerhöhung oder auch der Streichung des Richtplaneintrags. Die beiden Standortgemeinden seien von der Kommission angehört worden, weshalb die grundsätzlich ablehnende Haltung der Gemeinde Grüningen bekannt gewesen sei. Der Kantonsrat habe seinen Festsetzungsbeschluss in Kenntnis aller Argumente fassen können.
5.2.3
Vorliegend unbestritten ist, dass sich die Gemeinde Grüningen im Rahmen der vom Regierungsrat durchgeführten Anhörung äusserte. Jedoch macht die Gemeinde zu Recht geltend, sie sei mit ihren Anträgen und Argumenten nicht gehört worden. In Bezug auf die Vergrösserung des Deponiestandorts Tägernauer Holz fehlt es sowohl in der Vorlage des Regierungsrates an den Kantonsrat vom 9. Januar 2018 als auch in den Erläuterungsberichten des Regierungsrates vom 9. Januar 2018 und der KEVU vom 30. Oktober 2018 zu den Einwendungen an einer Begründung, weshalb der Deponiestandort Tägernauer Holz vergrössert werden und weshalb sich dieser Standort für eine Vergrösserung eignen soll. Der Kanton hat sich zwar mit einzelnen Einwendungen der Gemeinde Grüningen auseinandergesetzt, namentlich auch mit der Frage, ob ein alternativer Deponiestandort mit Bahnanschluss gesucht werden könnte. Auch war dem Kanton die gänzlich ablehnende Haltung der Gemeinde in Bezug auf die Errichtung einer Deponie im Tägernauer
BGE 147 I 433 S. 443
Holz bekannt. In den Erläuterungen zu den Einwendungen halten die kantonalen Behörden jedoch lediglich fest, dass die Deponie Tägernauer Holz als Ersatz für die Deponie Chrüzlen vorgesehen sei und dass es die einzige Deponie für Schlacke in der Region wäre. Der Regierungs- und Kantonsrat haben jedoch nicht dargelegt, weshalb eine Vergrösserung der Deponie notwendig erscheint und weshalb ausschliesslich der Standort im Tägernauer Holz als Deponie für Schlacke in Betracht kommt.
Der Einwand des Kantons, wonach sich die KEVU im Rahmen der Vorberatung zur Teilrevision des Richtplans ausgiebig mit der Standortfestlegung für die Deponie Tägernauer Holz beschäftigt und damit die Gemeinde genügend angehört habe, schlägt fehl. Es ist aus den Akten nicht ersichtlich, inwiefern sich die Kommission mit den Anträgen und Argumentationen der Gemeinde Grüningen beschäftigt hat. Vielmehr hat das einschlägige Kapitel zum Tägernauer Holz im Erläuterungsbericht der KEVU zu den Einwendungen vom 30. Oktober 2018 denselben Wortlaut, der bereits im Erläuterungsbericht des Regierungsrates zu den Einwendungen vom 9. Januar 2018 publiziert wurde (in beiden Berichten Nr. 30, Seite 17). Es ist nicht erkennbar, inwiefern sich die Kommission mit den Vorbringen der Gemeinde auseinandergesetzt hat. Auch wenn sich die Kommission mit den Einwendungen auseinandergesetzt hätte, verlangt
Art. 85 Abs. 3 KV/ZH
zudem eine Begründung, weshalb die Einwendungen nicht berücksichtigt werden. Indem die Kommission in ihrem Erläuterungsbericht denselben Wortlaut wiederverwendet, der bereits im Erläuterungsbericht des Regierungsrates abgedruckt wurde, wird die verfassungsrechtlich vorgeschriebene Begründungspflicht verletzt.
Der Gemeinde kann im Übrigen auch nicht entgegengehalten werden, dass sie aufgrund der kantonalen Abfallplanung mit einer Vergrösserung des Deponievolumens am Standort Tägernauer Holz rechnen musste. Die aktuelle Abfallplanung des Kantons Zürich stammt aus dem Jahre 1989. Spätestens seit dem Inkrafttreten der VVEA am 1. Januar 2016 hätte der Kanton Zürich seine Abfallplanung aufgrund der neuen bundesrechtlichen Vorgaben, namentlich
Art. 4 Abs. 1 VVEA
, anpassen und aktualisieren müssen. Dazu gehört insbesondere, den Bedarf an Deponievolumen und die Standorte von Deponien (Deponieplanung) in die kantonale Abfallplanung aufzunehmen. Die Deponieplanung soll zunächst über die Abfallplanung erstellt werden, bevor die Standorte der Deponien in den Richtplan
BGE 147 I 433 S. 444
aufgenommen werden. Der Massnahmenplan Abfall- und Ressourcenwirtschaft 2015-2018 des Kantons Zürich nahm dahingehend zwar eine Deponieplanung vor, setzte sich aber insbesondere zum Ziel, dass bis 2024 nur noch 10 Prozent der aufbereiteten Schlackenmenge in einer Deponie des Typs D verarbeitet werden soll. In den Vorjahren lag der Wert bei über 90 Prozent. Gemäss dem Massnahmenplan sollten grosse Anteile der Rückstände nur noch zwischengelagert oder auf Inertstoff-Deponien des Typs B abgelagert werden (Massnahmenplan Abfall- und Ressourcenwirtschaft 2015-2018, S. 7). Der neuste Massnahmenplan Abfall- und Ressourcenwirtschaft 2019-2022 äussert sich demgegenüber ausführlich zum Bedarf an Deponievolumen, verzichtet aber gänzlich auf die Berücksichtigung der Deponiestandorte. In dieser Hinsicht entspricht die Deponieplanung des Kantons Zürich nicht hinreichend den bundesrechtlichen Vorgaben (
Art. 31 Abs. 1 USG
i.V.m.
Art. 4 Abs. 1 lit. d VVEA
; vgl. E. 3.1 hiervor). Jedenfalls kann der Gemeinde in Anbetracht dieser Umstände nicht vorgehalten werden, dass sie von einer allfälligen Vergrösserung des Deponiestandortes Tägernauer Holz wissen musste, rechnete der Kanton zumindest nach dem Massnahmenplan 2015-2018, der zum Zeitpunkt der Teilrevision des Richtplans aktuell war, nicht mit einem grösseren Bedarf an Deponien für Schlacke, sondern mit einer deutlichen Reduktion solcher Deponien.
Der Kanton hat sich mit den Einwendungen der Gemeinde Grüningen, insbesondere mit der Kritik in Bezug auf die geplante Vergröserung von Fläche und Volumen der geplanten Deponie Tägernauer Holz, der dafür fehlenden Begründung und der fehlenden Interessenabwägung nicht auseinandergesetzt und die diesbezüglichen Einwände der Gemeinde gegen die Festsetzung betreffend den Deponiestandort Tägernauer Holz nicht entkräftet. Darin liegt eine Missachtung der Mitwirkungsrechte der Gemeinde im Richtplanungsverfahren.
5.3
5.3.1
Der Zweckverband Kehrichtverwertung Zürcher Oberland und der Zweckverband für Abfallverwertung im Bezirk Horgen kritisieren ebenfalls in formeller Hinsicht, dass kein genügendes Mitwirkungsverfahren stattgefunden habe. Dadurch, dass der Kantonsrat im Rahmen seiner Sitzung in Bezug auf die Deponieplanung die Bedingungen hinzugefügt habe, wonach die Deponie Tägernauer Holz nur realisiert werden dürfe, wenn die Kapazitäten aller
BGE 147 I 433 S. 445
übrigen Deponien des Typs D im ganzen Kanton ausgeschöpft seien und kein gleichzeitiger Betrieb mit der in der gleichen Region liegenden Deponie Lehrüti zulässig sei (Antrag Pflugshaupt), habe der Kantonsrat das etablierte, im kantonalen Richtplan bereits vorgesehene Deponiekonzept grundlegend geändert. Die von dieser Festsetzung betroffenen Gemeinwesen seien in Bezug auf diese Änderung nicht angehört worden.
5.3.2
Namens des Kantons- und Regierungsrates hält die kantonale Baudirektion dagegen fest, dass sich die KEVU im Rahmen der Vorberatungen zur Teilrevision des Richtplans ausgiebig mit der Standortfestlegung für die Deponie Tägernauer Holz beschäftigt habe. Es gehöre, so die Baudirektion weiter, zum politischen Betrieb, dass der Kantonsrat direkt eingebrachte Anträge, die im Widerspruch zur Haltung der vorberatenden Kommission und des Regierungsrates stehen, annehmen könne. Indem der Kantonsrat den Antrag Pflugshaupt angenommen habe, seien jedoch keine neuen inhaltlichen Argumente vorgebracht worden. Zwar seien die weitreichenden Änderungen an der richtplanerischen Festsetzung, die mit dem Antrag Pflugshaupt gefordert wurden, nicht Gegenstand der öffentlichen Auflage und der Anhörung der Gemeinden gewesen. Da die beantragten Änderungen aber den Interessen der direkt betroffenen Standortgemeinden entsprochen haben, habe für eine erneute öffentliche Auflage kein Anlass bestanden. Die Baudirektion hält zudem fest, dass selbst wenn die Beschwerdeführerinnen angehört worden wären, dies nicht zu einer entscheidrelevanten Veränderung der Argumente geführt hätte. Trotzdem hält die Baudirektion fest, dass der Kantonsrat durch die Annahme des Antrags Pflugshaupt einen "Paradigmenwechsel" bzw. eine "deutliche Richtungsänderung" in der etablierten Deponiepolitik des Kantons Zürich vorgenommen habe.
5.3.3
Die im Kanton Zürich etablierte Deponiepolitik sah vor, dass pro Abfallregion jeweils nur ein Standort pro Deponietyp gemäss VVEA in Betrieb stehen soll. Die neuen Bedingungen, welche der Kantonsrat durch die Annahme des Antrags Pflugshaupt bei der Festsetzung des Deponiestandorts Tägernauer Holz vorgenommen hat, bedeuten eine Richtungsänderung in der etablierten Deponiepolitik. Zu ebendieser Festsetzung konnten sich weder die Gemeinden des Kantons Zürich noch die Zweckverbände im Bereich des Abfallwesens, in denen sich die Gemeinden des Kantons Zürich zur gemeinsamen Erfüllung der ihnen zugewiesenen Aufgaben zusammengeschlossen haben, vorgängig äussern.
BGE 147 I 433 S. 446
Jedem Kantonsratsmitglied steht es zu, Anträge zu Beratungsgegenständen zu stellen (vgl. § 18 Abs. 1 des [ausser Kraft gesetzten] Geschäftsreglements des Kantonsrates des Kantons Zürich vom 15. März 1999 [aGR-KR/ZH; OS 55, 164] bzw. § 8 lit. b des Kantonsratsgesetzes des Kantons Zürich vom 25. März 2019 [KRG/ZH; LS 171.1] in Verbindung mit § 53 Abs. 1 des [neuen] Kantonsratsreglements des Kantons Zürich vom 25. März 2019 [KRR/ZH; LS 171.11]). Dabei steht es dem Kantonsrat insbesondere zu, Abänderungsanträge anzunehmen und somit den Anträgen der vorberatenden Kommission bzw. des Regierungsrates nicht zu folgen. Gleichwohl hat der Kantonsrat die verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Vorgaben zu beachten. Hierzu zählen insbesondere die Mitwirkungsrechte der Gemeinden im Richtplanverfahren (vgl.
Art. 10 Abs. 2 RPG
[SR 700]). Das Verfassungsrecht des Kantons Zürich gewährleistet das Anhörungsrecht der Gemeinde. Die kantonalen Behörden sind, namentlich auch der Kantonsrat im Verfahren der Richtplanfestsetzung bzw. der Regierungsrat im Rahmen der Abfallplanung, an die Vorgaben von
Art. 85 Abs. 3 KV/ZH
gebunden. Wenn die Autonomie von Gemeinwesen mit kantonalen Beschlüssen eingeschränkt werden soll, müssen die Träger des Autonomiebereiches vorgängig angehört werden. Aufgrund der verfassungsrechtlichen Vorgabe im Kanton Zürich kann damit nicht ausgeschlossen werden, dass in gewissen Fällen die definitive Beschlussfassung im Kantonsrat auszusetzen ist, um die betroffenen Gemeinwesen über die konkret beabsichtigte Richtplanänderung zu informieren und dazu anzuhören. Dieses Vorgehen würde sich jedenfalls dann aufdrängen, wenn es sich beim Abänderungsantrag um eine gewichtige Änderung handelt und die Gemeinden im Rahmen der bereits durchgeführten Anhörung keine Möglichkeit hatten, sich zu dieser Änderung zu äussern (vgl.
BGE 111 Ia 164
E. 2b S. 167).
Mit der angefochtenen Richtplanfestsetzung vollzog der Kantonsrat eine Abkehr von der bisher im Kanton Zürich geltenden Deponiepolitik, wonach pro Abfallregion ein Standort pro Deponietyp gemäss VVEA in Betrieb stehen soll. Bei dieser Neuausrichtung in der Zürcher Deponiepolitik handelt es sich sowohl für die Richt- als auch für die Abfallplanung um eine gewichtige Änderung. Diese Änderung hat nicht nur Auswirkungen auf den Deponiestandort Tägernauer Holz, sondern auch auf andere Standorte und beeinflusst damit die gesamtkantonale Deponieplanung erheblich. In diesem
BGE 147 I 433 S. 447
Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass sich nicht nur die Zweckverbände, sondern auch die Gemeinden nicht zur Richtungsänderung der Deponiestandortplanung im Rahmen des Richtplans äussern konnten. Den Gemeinden war es verwehrt, ihre Interessen zur Richtungsänderung im Planungsprozess einzubringen. Es ist aber unabdingbar, dass die Gemeinden bei der Erarbeitung der Richtpläne in allen wichtigen Punkten mitwirken können, welche ihre Interessen betreffen. Ihnen kommt in der Raumplanung eine wichtige, von der Gemeindeautonomie geschützte Rolle zu, insbesondere aufgrund ihrer Zuständigkeit für die Nutzungsplanung. Dabei verfolgen sie mitunter auch eigene Planungsinteressen, die mit jenen des Kantons oder des Bundes nicht übereinstimmen müssen (TSCHANNEN, a.a.O., N. 7 zu
Art. 10 RPG
). Der Kanton muss sicherstellen, dass die Gemeinden und die Zweckverbände ihre Interessen eigenständig formulieren, in den Planungsprozess rechtzeitig einbringen und vor den kantonalen Behörden selber vertreten können (
BGE 136 I 265
E. 3.2 S. 272). Dies ist gerade dann unabdingbar, wenn ein neuer Richtplaneintrag eine Neuausrichtung in der etablierten Deponiepolitik bedeutet, für deren Vollzug nach zürcherischem Recht die Gemeinden zuständig sind. Gerade vor dem Hintergrund der Zuständigkeit im Abfallwesen und der besonderen Betroffenheit der Gemeinden und Zweckverbände wäre es unumgänglich gewesen, die Gemeinden und Zweckverbände zur gewichtigen Änderung in der etablierten Deponiepolitik anzuhören. Aufgrund des fehlenden Einbezugs erweist sich der angefochtene Richtplaneintrag als ungenügend koordiniert (
Art. 2 Abs. 1 RPG
). Überdies ist die Festsetzung auch räumlich nicht genügend abgestimmt worden. Die Neuausrichtung der Deponiepolitik verhindert insbesondere die Suche nach einem geeigneteren Standort in unmittelbarer Nähe von Schlackenaufbereitungsanlagen. Ein Einbezug der Gemeinden und Zweckverbände bei derart gewichtigen Änderungen erweist sich als unerlässlich. In Bezug auf die Ergänzung gemäss Antrag Pflugshaupt erfolgte keine Anhörung der Gemeinden und Zweckverbände. Darin liegt eine Missachtung der Mitwirkungsrechte der Gemeinden im Richtplanungsverfahren.
5.4
Damit hat der Kantonsrat die Mitwirkungsrechte der Gemeinwesen im Richtplanungsverfahren missachtet. Die Beschwerde erweist sich als begründet und ist somit gutzuheissen. Der Beschluss des Kantonsrats vom 28. Oktober 2019 ist in Bezug auf den in Kapitel 5 "Versorgung, Entsorgung" festgelegten Deponiestandort
BGE 147 I 433 S. 448
Tägernauer Holz aufzuheben. Bei diesem Ausgang des Verfahrens erübrigt es sich, die weiteren Vorbringen der Beschwerdeführer zu behandeln (vgl. E. 5.1 in fine). | 6,162 | 4,597 | 2 | 0 | CH_BGE_001 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_001_BGE-147-I-433_2021 | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=16&from_date=&to_date=&from_year=2021&to_year=2021&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=160&highlight_docid=atf%3A%2F%2F147-I-433%3Ade&number_of_ranks=181&azaclir=clir | BGE_147_I_433 |
|||
ec7da498-53d3-4617-bc0e-f86f04fd57bc | 1 | 80 | 1,359,905 | null | 2,024 | de | Sachverhalt
ab Seite 387
BGE 110 Ib 387 S. 387
Die britischen Behörden führen eine Strafuntersuchung gegen C. und Mitbeteiligte wegen Abgabebetruges. Im März 1983 stellte der britische Zolluntersuchungsdienst beim Bundesamt für Polizeiwesen (BAP) ein Rechtshilfebegehren, mit dem um Ermittlungen bei der Firma J. in Zürich-Kloten und bei D. in Zürich ersucht wurde. Die Bezirksanwaltschaft Bülach nahm auf Anordnung der Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich im November 1983 bei der Firma J. und bei D. die verlangten Erhebungen vor; diesen wohnten zwei britische Beamte bei. Am 16. Dezember 1983 hiess die Staatsanwaltschaft die Rekurse der Firma J. und des D. in dem Sinne gut, als sie die Bezirksanwaltschaft Bülach anwies, die bei den Rekurrenten erhobenen Unterlagen zu versiegeln.
Der in England angeschuldigte C. zog einen in Zürich niedergelassenen Anwalt bei. Dieser ersuchte die Bezirksanwaltschaft Bülach am 20. Januar 1984 mündlich um Akteneinsicht. Das Gesuch wurde mit Verfügung vom gleichen Tag abgewiesen. C. reichte hiergegen am 26. Januar 1984 bei der Zürcher Staatsanwaltschaft Rekurs ein. Mit einer zweiten Eingabe vom gleichen Tag ersuchte
BGE 110 Ib 387 S. 388
er um Erlass vorsorglicher Massnahmen in dem Sinne, dass die englischen Behörden aufzufordern seien, alle ihnen von den schweizerischen Behörden übergebenen Dokumente zurückzuerstatten und ihre Wahrnehmungen während des Rechtshilfeverfahrens im englischen Verfahren nicht zu verwenden. Die Staatsanwaltschaft trat mit Verfügung vom 10. Mai 1984 auf den Rekurs (und sinngemäss auch auf das Massnahmebegehren) nicht ein. Aus der Begründung ergibt sich, dass sie C. als weder zur Akteneinsicht noch zur Ergreifung eines Rechtsmittels im Rechtshilfeverfahren legitimiert betrachtet.
C. hat gegen die Verfügung der Staatsanwaltschaft Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhoben. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab. | 402 | 299 | Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
a) Das Recht der am Rechtshilfeverfahren beteiligten Personen auf Akteneinsicht wird durch
Art. 79 Abs. 3 des Bundesgesetzes über internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRSG)
abschliessend geregelt. Wie hier ausdrücklich gesagt wird, gelten auch im kantonalen Verfahren die entsprechenden Bestimmungen des Bundesrechts. Der Berechtigte kann das Rechtshilfegesuch und die zugehörigen Unterlagen einsehen, soweit dies für die Wahrung seiner Interessen notwendig ist. Dem Beschuldigten, den die Rechtshilfemassnahme nicht persönlich trifft, steht dieses Recht nur zu, wenn er in der Schweiz seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, und nur im Interesse der Wahrung seiner Verteidigungsrechte im ausländischen Strafverfahren. Die Staatsanwaltschaft nimmt an, der Beschwerdeführer werde im vorliegenden Falle von der Rechtshilfemassnahme nicht persönlich betroffen, weil ihm gegenüber keine prozessualen Zwangsmittel angewendet worden seien. Demgegenüber vertritt der Beschwerdeführer die Auffassung, er sei als Beschuldigter im Sinne der zürcherischen Strafprozessordnung nach deren Bestimmungen, ferner nach
Art. 4 BV
und nach
Art. 6 EMRK
zur Akteneinsicht befugt; mit der Auslegung von
Art. 79 Abs. 3 IRSG
setzt er sich nicht im einzelnen auseinander.
b) Der Beschwerdeführer wählt einen unzutreffenden Ausgangspunkt. Er ist im Kanton Zürich keiner Straftat beschuldigt und untersteht nicht dessen Strafhoheit. Vielmehr wird in diesem Kanton gegen ihn ein Verwaltungsverfahren durchgeführt (
BGE 109 Ib 157
E. 3b mit Hinweisen), dessen Formalitäten weitgehend
BGE 110 Ib 387 S. 389
- mit Bezug auf die Akteneinsicht sogar abschliessend - durch das Bundesverwaltungsrecht geregelt werden. Damit können dem Beschwerdeführer weder nach kantonalem Strafprozessrecht noch nach
Art. 4 BV
mehr Rechte zustehen, als sie ihm das einschlägige eidgenössische Verwaltungsgesetz - das IRSG - gewährt. Ebensowenig kann er sich auf
Art. 6 EMRK
berufen, der sich auf Prozesse über zivilrechtliche Ansprüche und zur Hauptsache auf Strafverfahren bezieht. Grossbritannien ist der EMRK angeschlossen. Es darf somit davon ausgegangen werden, dass dem Beschwerdeführer im Strafverfahren die von der Konvention gewährleisteten Rechte, namentlich dasjenige auf Akteneinsicht zur Vorbereitung seiner Verteidigung, eingeräumt werden.
c) Tritt man trotz Fehlen einer substantiierten Rüge auf die Frage der Auslegung von
Art. 79 Abs. 3 IRSG
ein, so ist diejenige der Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich, der auch das BAP beipflichtet, nicht zu beanstanden. Der Wendung "dem Beschuldigten, den die Rechtshilfemassnahme nicht persönlich trifft" würde ein vernünftiger Sinn abgehen, wenn man sie dahin verstehen wollte, jede Rechtshilfemassnahme treffe automatisch den Beschuldigten. Gemeint sein kann somit nur derjenige Beschuldigte, der sich in der Schweiz selbst einer konkreten Massnahme zu unterwerfen hat, wie etwa einer Hausdurchsuchung oder einer Aktenedition. Das setzt in der Regel voraus, dass sich der Beschuldigte in der Schweiz aufhält, doch sind Ausnahmen denkbar (z. B. Durchsuchung des unbewohnten Ferienhauses des Beschuldigten in der Schweiz; Beschlagnahme von ihm gehörenden Gegenständen im ersuchten Staat). Die hier in Frage stehenden Rechtshilfemassnahmen (Hausdurchsuchung und Beschlagnahme von Dokumenten bei der Firma J. und bei D.) richten sich ausschliesslich gegen Dritte; der Beschwerdeführer wird von ihnen nicht persönlich betroffen. Bei dieser Sachlage stünde ihm nach
Art. 79 Abs. 3 IRSG
ein Anspruch auf Akteneinsicht nur dann zu, wenn er in der Schweiz seinen gewöhnlichen Aufenthalt hätte, und ausserdem nur im Interesse der Wahrung seiner Verteidigungsrechte im ausländischen Strafverfahren. Da es schon am ersten Erfordernis fehlt, kann dahingestellt bleiben, ob die zweite Bedingung erfüllt wäre, d.h. ob C. das Einsichtsrecht im Interesse der Wahrung seiner Verteidigungsrechte im englischen Strafverfahren ausüben wolle. Die Staatsanwaltschaft hat nach dem Gesagten mit Recht angenommen, dem Beschwerdeführer stehe kein Anspruch auf Akteneinsicht zu.
BGE 110 Ib 387 S. 390
3.
Es ist im weiteren zu prüfen, ob die Staatsanwaltschaft die Legitimation des Beschwerdeführers zum Rekurs gegen die Verfügung der Bezirksanwaltschaft Bülach betreffend Verweigerung der Akteneinsicht mit Recht verneint hat.
a) Massgebend ist
Art. 21 Abs. 3 IRSG
. Danach können Personen, gegen die sich das ausländische Strafverfahren richtet, Verfügungen nur anfechten, wenn eine Massnahme sie persönlich trifft oder sie in ihren Verteidigungsrechten im Strafverfahren beeinträchtigen könnte. Wie diese Bestimmung auszulegen ist, ergibt sich nicht eindeutig aus dem Wortlaut. In der Botschaft des Bundesrates zum IRSG wurde zum damaligen Art. 18 Abs. 2 des Entwurfes, der keine materielle Änderung erfahren hat und als Art. 21 Abs. 3 Gesetz geworden ist, lediglich bemerkt, er entspreche Art. 16 Abs. 2 des Bundesgesetzes zum Rechtshilfevertrag mit den USA (BBl 1976 II S. 480). Vergleicht man den Wortlaut der beiden Bestimmungen, so trifft dies zwar nicht genau zu. Die Vorschriften stimmen jedoch insofern überein, als beide die Rechtsmittelbefugnis des Beschuldigten einschränken. Der Bundesrat hielt in seinen Erläuterungen zu Art. 16 Abs. 2 des Bundesgesetzes zum Rechtshilfevertrag mit den USA fest, der Beschuldigte, gegen den sich das zur Rechtshilfe Anlass gebende Strafverfahren richte, könne Rechtsmittel nur ergreifen, wenn eine Rechtshilfehandlung die ihm nach amerikanischem Recht zustehenden Verteidigungsrechte beeinträchtigen könnte (BBl 1974 II S. 641). In der Botschaft zum IRSG führte er zum Kapitel "Innerstaatliches Verfahren; Rechtsschutz" u.a. aus, Gegenstand dieses Rechtsschutzes solle nur die Möglichkeit sein, sich gegen Eingriffe in Freiheitsrechte zu wehren, nicht aber die Prüfung der Notwendigkeit und Zweckmässigkeit der Durchführung des Rechtshilfeverfahrens (BBl 1976 II S. 457). Der Beschwerdeführer macht unter Hinweis auf das in
BGE 103 Ia 208
ff. publizierte Urteil geltend, das Bundesgericht habe in seiner Rechtsprechung zum Europäischen Rechtshilfeübereinkommen die Legitimation des Beschuldigten zur staatsrechtlichen Beschwerde bejaht. Das ist richtig. Unzutreffend ist hingegen die Ansicht des Beschwerdeführers, "die dort entwickelten Grundsätze" seien "im IRSG kodifiziert worden". Vielmehr hat das IRSG, wie das BAP in der Beschwerdeantwort mit Recht ausführt, gerade im Gebiet der Rechtsmittel eine neue Ordnung vorgesehen. Danach ist gegen kantonale Rechtshilfeverfügungen ein kantonales Rechtsmittel und hernach die Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht zulässig
BGE 110 Ib 387 S. 391
(
Art. 23 und
Art. 25 Abs. 1 IRSG
). Was die Legitimation des Beschuldigten zum letztgenannten Rechtsmittel betrifft, so gilt jedoch nicht
Art. 103 lit. a OG
. Das ergibt sich aus der bundesrätlichen Botschaft zum IRSG. Es wird dort ausgeführt, die verwaltungsgerichtliche Beschwerde erscheine allgemein als das der Materie am besten entsprechende Rechtsmittel, doch seien die
Art. 97 ff. OG
"nicht ohne weiteres anwendbar", da insbesondere die "Regelung der Legitimation und der Beschwerdegründe nicht durchwegs passen würde". Die erforderlichen Anpassungen seien aber mit wenigen und einfachen Bestimmungen zu erzielen (BBl 1976 II S. 458). Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass die gesetzgebende Behörde hinsichtlich der Legitimation des Beschuldigten zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde eine Ausnahme von
Art. 103 lit. a OG
machen und ihm die Beschwerdebefugnis nur zuerkennen wollte, wenn eine Massnahme ihn persönlich trifft oder ihn in seinen Verteidigungsrechten im ausländischen Strafverfahren beeinträchtigen könnte. Diese Einschränkung der Legitimation des Beschuldigten, wie sie in
Art. 21 Abs. 3 IRSG
vorgesehen ist, gilt, da die Vorschrift unter dem Titel "Gemeinsame Bestimmungen" im Abschnitt über den "Rechtsschutz" steht, auch für das kantonale Rechtsmittel.
b) Im Gegensatz zur Regelung betreffend die Akteneinsicht (
Art. 79 Abs. 3 IRSG
) genügt es nach
Art. 21 Abs. 3 IRSG
für die Rechtsmittelbefugnis des Beschuldigten, wenn eine der beiden erwähnten Voraussetzungen alternativ gegeben ist. Das erstgenannte Erfordernis, wonach eine Massnahme den Beschuldigten persönlich treffen muss, kann wohl nicht anders verstanden werden als bei der Auslegung von
Art. 79 Abs. 3 IRSG
. Dort kann, wie ausgeführt, mit jener Umschreibung nur derjenige Beschuldigte gemeint sein, der sich in der Schweiz einer Rechtshilfehandlung, namentlich einer Zwangsmassnahme, zu unterziehen hat. Diese Voraussetzung ist hier nicht gegeben, da sich die verlangten Massnahmen ausschliesslich gegen Dritte richten.
Es stellt sich die Frage, ob die andere Voraussetzung gegeben ist, d.h. ob die betreffenden Massnahmen den Beschwerdeführer in seinen Verteidigungsrechten im englischen Strafverfahren beeinträchtigen könnten. Die gesetzgebende Behörde nahm offenbar an, es gebe Fälle, in denen durch die Rechtshilfe als solche die Verteidigungsrechte des Beschuldigten im ausländischen Strafverfahren direkt beeinträchtigt werden könnten. Dies träfe z.B. dann zu, wenn der schweizerische Rechtshilferichter einen Zeugen abhören
BGE 110 Ib 387 S. 392
würde und der Beschuldigte nach dem ausländischen Prozessrecht keine Möglichkeit mehr hätte, an den Zeugen Ergänzungsfragen stellen zu lassen oder eine Konfrontation zu verlangen. Man könnte auch an den Fall denken, dass ein ausländischer Staat einem Beschuldigten keine Gelegenheit gäbe, in die auf dem Rechtshilfeweg erhaltenen Akten Einsicht zu nehmen. Wie dem auch sei, jedenfalls steht ausser Frage, dass der Beschuldigte darlegen muss, inwiefern durch die Rechtshilfe seine Verteidigungsrechte im ausländischen Strafverfahren beeinträchtigt werden könnten. Das hat der Beschwerdeführer nicht getan. Er bringt in seiner Beschwerde diesbezüglich vor, die "gesetzeswidrigen Übergriffe" der Rechtshilfebehörden hätten sich gehäuft und dadurch werde seine Rechtsstellung "mit Bestimmtheit beeinträchtigt". Das genügt aber unter dem Gesichtspunkt des
Art. 21 Abs. 3 IRSG
nicht, hätte doch sonst - wie das BAP in der Beschwerdeantwort zutreffend feststellt - jeder Beschuldigte die Möglichkeit, mit der blossen Behauptung, das IRSG sei verletzt und Beweise seien gesetzwidrig beschafft worden, ein Rechtsmittel gegen die Gewährung der Rechtshilfe als solche zu ergreifen, auch wenn die Vollzugsmassnahme in der Schweiz ihn weder persönlich trifft noch in seinen Verteidigungsrechten im ausländischen Strafverfahren beeinträchtigt. Eine solche Auslegung wäre mit dem Sinn und Zweck des
Art. 21 Abs. 3 IRSG
unvereinbar.
Nach dem Gesagten hat die Staatsanwaltschaft mit Recht angenommen, es sei keine der in dieser Vorschrift genannten Voraussetzungen gegeben, weshalb dem Beschwerdeführer die Befugnis fehle, gegen die Verfügung der Bezirksanwaltschaft Rekurs einzulegen und im Rahmen des Rekursverfahrens ein Begehren um Erlass vorsorglicher Massnahmen zu stellen. Die vorliegende Beschwerde erweist sich somit als unbegründet. | 2,213 | 1,798 | 2 | 0 | CH_BGE_003 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_003_BGE-110-Ib-387_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=4&from_date=&to_date=&from_year=1984&to_year=1984&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=33&highlight_docid=atf%3A%2F%2F110-IB-387%3Ade&number_of_ranks=332&azaclir=clir | BGE_110_Ib_387 |
|||
ec7ec4c1-ccee-49b8-802b-33281a242f47 | 1 | 84 | 1,361,603 | 1,513,641,600,000 | 2,017 | de | Sachverhalt
ab Seite 447
BGE 143 V 446 S. 447
A.
Der 1973 geborene A. erlitt in den Jahren 1991 und 1992 bei vier verschiedenen "Jugend+Sport (J+S)"-Anlässen je ein Distorsionstrauma am rechten Knie. Die Militärversicherung übernahm die gesetzlichen Leistungen, insbesondere kam sie für die Kosten einer am 28. Oktober 1992 durchgeführten Knieoperation auf.
Am 16. April 2013 erlitt A. mit dem Roller einen Unfall; die Unfallversicherung der Stadt Zürich anerkannte ihre Leistungspflicht für die Folgen dieses Ereignisses und erbrachte die gesetzlichen Leistungen, stellte diese jedoch per 17. Oktober 2013 ein. Daraufhin lehnte auch die Suva, Abteilung Militärversicherung, mit Verfügung vom 5. Juni 2015 und Einspracheentscheid vom 8. Dezember 2016 ihre Haftung für die persistierenden rechtsseitigen Kniebeschwerden des A. ab.
B.
Die von der Unfallversicherung der Stadt Zürich und von A. hiergegen erhobenen Beschwerden hiess das Kantonsgericht Luzern mit Entscheid vom 28. April 2017 gut, hob den angefochtenen Einspracheentscheid auf und verpflichtete die Suva, Abteilung Militärversicherung, für die rechtsseitigen Kniebeschwerden von A. die gesetzlichen Leistungen zu erbringen.
C.
Mit Beschwerde beantragt die Suva, Abteilung Militärversicherung, es sei unter Bestätigung des Einsprache- und Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheides festzustellen, dass sie nicht leistungspflichtig für die rechtsseitigen Kniebeschwerden des A. sei.
Während A. und die Unfallversicherung der Stadt Zürich auf Abweisung der Beschwerde schliessen, verzichtet das Bundesamt für Gesundheit auf eine Vernehmlassung. | 327 | 249 | Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
2.1
Wird die Gesundheitsschädigung erst nach Schluss des Dienstes durch einen Arzt, Zahnarzt oder Chiropraktor festgestellt und bei der Militärversicherung angemeldet oder werden Spätfolgen oder Rückfälle geltend gemacht, so haftet die Militärversicherung gemäss
Art. 6 des Bundesgesetzes vom 19. Juni 1992 über die Militärversicherung (MVG; SR 833.1)
nur, wenn die Gesundheitsschädigung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit während des Dienstes verursacht oder verschlimmert worden ist oder wenn es sich mit überwiegender Wahrscheinlichkeit um Spätfolgen oder Rückfälle einer versicherten Gesundheitsschädigung handelt.
BGE 143 V 446 S. 448
2.2
2.2.1
Nach Art. 1 Abs. 1 Ziff. 2 des Bundesgesetzes vom 20. September 1949 über die Militärversicherung in der ab 1. Juli 1972 geltenden Fassung (AS 1949 1671, 1956 759, 1959 303, 1964 253, 1968 563, 1972 897 Art. 15 Ziff. I) war nach diesem Gesetz versichert, wer an J+S teilnahm, wenn und soweit diese Institution durch Beschluss des Bundesrates der Militärversicherung unterstellt war. Art. 3 der Verordnung vom 20. März 1964 über die Militärversicherung in der ab 1. Januar 1984 geltenden Fassung (AS 1983 1826) bestimmte unter anderem, dass Teilnehmer an J+S dann versichert waren, wenn vorher Datum, Dauer und Ort der Kurse, Übungen und Prüfungen dem kantonalen Amt für Jugend und Sport, bzw. der Eidgenössischen Turn- und Sportschule gemeldet worden waren.
2.2.2
Das Bundesgesetz vom 20. September 1949 über die Militärversicherung wurde auf den 1. Januar 1994 durch das grundsätzlich bis heute geltende neue MVG abgelöst. In seiner ursprünglichen Version sah dieses neue Gesetz in Art. 1 Abs. 1 lit. g Ziff. 6 vor, dass versichert war, wer an Veranstaltungen der Institution J+S teilnimmt. War eine Gesundheitsschädigung nach altem Recht nicht versichert, so sind Spätfolgen und Rückfälle gemäss
Art. 110 MVG
auch nach neuem Recht nicht versichert.
2.2.3
Auf den 1. Juli 1994 wurde Art. 1 Abs. 1 lit. g Ziff. 6 MVG aufgehoben (AS 1994 1390). Gleichzeitig wurde das MVG durch einen Art. 114a ergänzt, wonach die hängigen Versicherungsfälle, welche die Teilnehmer von Anlässen der Institution J+S betrafen, (weiterhin) nach diesem Gesetz beurteilt wurden. Dieser
Art. 114a MVG
wurde in der Folge im Zuge einer formellen Bereinigung des Bundesrechts auf den 1. August 2008 hin wieder aufgehoben (AS 2008 3437).
2.3
Gemäss
Art. 1 Abs. 1 SchlT ZGB
werden die rechtlichen Wirkungen von Tatsachen, die vor dem Inkrafttreten des ZGB eingetreten sind, auch nachher gemäss den Bestimmungen des Rechtes beurteilt, die zur Zeit des Eintrittes dieser Tatsachen gegolten haben. Davon ausgenommen sind in Anwendung von
Art. 2 Abs. 1 SchlT ZGB
diejenigen Bestimmungen, die um der öffentlichen Ordnung und Sittlichkeit willen aufgestellt sind. Diese Bestimmungen finden mit deren Inkrafttreten auf alle Tatsachen Anwendung, soweit das Gesetz eine Ausnahme nicht vorgesehen hat.
3.
3.1
Es ist letztinstanzlich nicht mehr länger streitig, dass die rechtsseitigen Kniebeschwerden des Beschwerdegegners Spätfolgen vierer
BGE 143 V 446 S. 449
Traumata sind, welche er sich in den Jahren 1991 und 1992 bei J+S-Anlässen zugezogen hat. Ebenfalls ist unbestritten, dass die Teilnehmer dieser vier Anlässe nach damaligem Recht bei der Militärversicherung versichert waren. Die Beschwerdeführerin macht jedoch geltend, seit der Aufhebung der Leistungspflicht der Militärversicherung für J+S-Anlässe auf den 1. Juli 1994 bestehe - bei Fehlen einer ausdrücklichen Übergangsbestimmung - keine gesetzliche Grundlage für das Erbringen von Leistungen mehr.
3.2
Die Militärversicherung hat in Anwendung von
Art. 6 MVG
Leistungen für Spätfolgen versicherter Gesundheitsschädigungen zu erbringen. Spätfolgen knüpfen begrifflich an den Eintritt eines versicherten Risikos an; es handelt sich dabei um Folgen einer Gesundheitsschädigung, welche nicht mehr während der Hängigkeit eines Falles bei der Versicherung, sondern erst nach einem Fallabschluss auftreten. Zu prüfen ist damit, ob im Rahmen von
Art. 6 MVG
die Frage, ob eine Gesundheitsschädigung versichert ist, sich nach dem im Zeitpunkt der Schädigung geltenden Recht beurteilt, oder nach dem Recht, welches im Zeitpunkt des Auftretens der Spätfolgen gilt. Dem MVG kann keine direkte Antwort auf diese Frage entnommen werden; die Übergangsbestimmungen des MVG regeln zwar in Art. 110 einen ähnlichen Fall wie den vorliegenden, der Artikel ist jedoch nicht direkt einschlägig. Entgegen den Ausführungen der Beschwerdeführerin kann auch aus dem inzwischen aufgehobenen
Art. 114a MVG
(vgl. auch E. 2.2.3 hiervor) nichts abgeleitet werden, bezog sich doch dieser Artikel auf vor dem 1. Juli 1994 gemeldete Versicherungsfälle, in denen im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Gesetzesänderung am 1. Juli 1994 noch nicht verfügt worden war (vgl. JÜRG MAESCHI, Kommentar zum Bundesgesetz über die Militärversicherung [MVG], 2000, N. 2 zu
Art. 114a MVG
), nicht aber auf die Leistungspflicht für Spätfolgen von Ereignissen vor diesem Stichtag.
3.3
Wie die Beschwerdeführerin unter Hinweis auf die Materialien überzeugend darlegt, waren es finanzpolitische Erwägungen, welche zur Abschaffung der Leistungspflicht der Militärversicherung für J+S-Anlässe führten, und nicht etwa, dass eine Leistungspflicht nicht im Einklang mit der öffentlichen Ordnung und der Sittlichkeit stehen würde. Gemäss den allgemein gültigen intertemporalrechtlichen Grundsätzen - wie sie in
Art. 1 und 2 SchlT ZGB
kodifiziert wurden, aber auch über das Zivilrecht hinaus Gültigkeit besitzen (vgl.
BGE 130 V 445
E. 1.2.1 S. 446 f. mit weiteren Hinweisen) - sind somit zur Beurteilung der Rechtsfolgen eines Ereignisses
BGE 143 V 446 S. 450
grundsätzlich jene Rechtssätze massgebend, welche zum Zeitpunkt der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes gültig waren. Bezogen auf
Art. 6 MVG
bedeutet dies, dass die Frage, ob der ursprüngliche, später zu Spätfolgen führende, Gesundheitsschaden versichert war, gemäss dem zum Zeitpunkt des Eintritts dieses Gesundheitsschadens geltenden Recht zu beurteilen ist. War die ursprüngliche Schädigung nach damaligem Recht versichert, so ist bei nachgewiesenen Spätfolgen die Militärversicherung auch für jene Fälle leistungspflichtig, in denen ein entsprechendes Ereignis nach heutigem Recht nicht mehr versichert wäre. Hätte der Gesetzgeber eine davon abweichende Regelung gewollt, so hätte er diese in die Übergangsbestimmungen aufnehmen müssen. Dies gilt umso mehr, als er sich in dem hier zwar nicht direkt einschlägigen
Art. 110 MVG
ebenfalls dazu bekannte, dass bei Spätfolgen die Frage des Versicherungsschutzes nach dem im Zeitpunkt der ursprünglichen Gesundheitsschädigung geltenden Recht zu beantworten ist.
3.4
Entgegen den Ausführungen der Beschwerdeführerin bildet somit
Art. 6 MVG
eine hinreichende gesetzliche Grundlage für ihre Leistungspflicht für Spätfolgen, welche auf in den Jahren 1991 und 1992 erlittene und damals versicherte Gesundheitsschädigungen zurückzuführen sind, auch wenn ein entsprechendes Ereignis heute nicht mehr versichert wäre. Demnach besteht der vorinstanzliche Entscheid zu Recht; die Beschwerde ist abzuweisen. | 1,513 | 1,226 | 2 | 0 | CH_BGE_007 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_007_BGE-143-V-446_2017-12-19 | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=1&from_date=&to_date=&from_year=2017&to_year=2017&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=5&highlight_docid=atf%3A%2F%2F143-V-446%3Ade&number_of_ranks=283&azaclir=clir | BGE_143_V_446 |
|||
ec80664e-93e3-4096-b862-40b97c67a074 | 1 | 78 | 1,357,008 | null | 2,024 | de | Sachverhalt
ab Seite 354
BGE 128 I 354 S. 354
Am 4. August 2000 stellte die A. Ltd. dem Einzelrichter im summarischen Verfahren des Bezirkes Zürich die Begehren, das am 17. April 2000 vom Einzelschiedsrichter Michael Baker-Harber in London gefällte Urteil, mit welchem die B. AG zur Zahlung von US$ 95'062.50 plus £ 1'150.- verpflichtet wurde, vollstreckbar zu erklären, und ihr in der Betreibung Nr. 85779 des Betreibungsamtes Zürich 5 (Zahlungsbefehl vom 10. Mai 2000) für Fr. 167'494.15 nebst Zins und Betreibungskosten definitive Rechtsöffnung zu erteilen. Dieselben Begehren stellte sie in einer separaten Eingabe gleichen
BGE 128 I 354 S. 355
Datums mit Bezug auf die Kosten des am 5. Juni 2000 ergangenen schiedsrichterlichen Nebenfolgenentscheids in der Betreibung Nr. 86557 über Fr. 9'087.15 (entsprechend £ 3'404.02 plus £ 275.-). Der Einzelrichter wies die Begehren mit Verfügungen vom 18. Oktober 2000 ab, welche das Obergericht des Kantons Zürich auf Rekurse der A. Ltd. in gesonderten Verfahren am 23. März 2001 bestätigte.
Die A. Ltd. beantragt dem Bundesgericht mit staatsrechtlichen Beschwerden nach
Art. 84 Abs. 1 lit. c OG
die Aufhebung der Beschlüsse des Obergerichts Zürich vom 23. März 2001. Ausserdem verlangt sie die Einvernahme von C. vor Bundesgericht.
Das Bundesgericht weist die Beschwerden ab. | 558 | 246 | Erwägungen
Aus den Erwägungen:
6.
a) Dem Grundsatz nach ist die staatsrechtliche Beschwerde nur gegen letztinstanzliche kantonale Entscheide zulässig (
Art. 86 Abs. 1 OG
). Davon waren staatsrechtliche Beschwerden gegen kantonale Erlasse und Verfügungen (Entscheide) wegen Verletzung von Staatsverträgen mit dem Ausland gemäss
Art. 84 Abs. 1 lit. c OG
, mit der auch Verletzungen des New Yorker Übereinkommens über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche vom 10. Juni 1958 (NYÜ; SR 0.277.12) geltend gemacht werden können, in der bis zum 14. Februar 1992 geltenden Fassung von
Art. 86 Abs. 3 OG
(e contrario) ausgenommen. Da der kantonale Instanzenzug nicht erschöpft werden musste, hat das Bundesgericht im Beschwerdeverfahren nach
Art. 84 Abs. 1 lit. c OG
Noven zugelassen (
BGE 98 Ia 226
E. 2a, 549 E. 1c;
BGE 81 I 139
E. 1, je mit Hinweisen; AUER, Die schweizerische Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 217, Ziff. 394; BIRCHMEIER, Handbuch des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege, N. 4 lit. f zu Art. 86 mit Hinweisen; MARTI, Die staatsrechtliche Beschwerde, 4. Aufl., S. 114, Rz. 200). Ebenso überprüfte das Bundesgericht die Auslegung und Anwendung von Staatsvertragsnormen sowohl in rechtlicher als auch in tatsächlicher Hinsicht mit freier Kognition (
BGE 101 Ia 521
E. 1b;
BGE 93 I 164
E. 2 mit Hinweisen), jedoch lediglich im Rahmen der vor Bundesgericht gemäss
Art. 90 Abs. 1 lit. b OG
erhobenen Rügen (
BGE 98 Ia 537
E. 2 und 549 E. 1c). Mit der Begründung, die Erschöpfung des kantonalen Instanzenzuges sei in dieser Materie nicht erforderlich (
Art. 86 Abs. 3 OG
), liess das Bundesgericht
BGE 128 I 354 S. 356
neue Argumente und neue Beweise zu (
BGE 99 Ia 78
E. I/3b), und zwar auch in Fällen, in denen die Parteien den kantonalen Instanzenzug ausgeschöpft hatten (
BGE 98 Ia 549
E. 1c). Diese Grundsätze wurden in der Folge in unterschiedlichen Formulierungen in der bundesgerichtlichen Rechtsprechung stets wiederholt (vgl.
BGE 115 Ib 197
E. 4a S. 198;
BGE 109 Ia 335
E. I/5 S. 339;
BGE 108 Ib 85
E. 2a;
BGE 105 Ib 37
E. 2).
b) Seit dem Inkrafttreten der Gesetzesnovelle vom 4. Oktober 1991 (am 15. Februar 1992; Verordnung des Bundesrates vom 15. Januar 1992, SR 173.110.0) gilt die Ausnahme von der Erschöpfung des kantonalen Instanzenzuges nur noch für Beschwerden auf dem Gebiet der interkantonalen Doppelbesteuerung und des Arrestes auf Vermögen ausländischer Staaten (
Art. 86 Abs. 2 OG
). Staatsvertragsbeschwerden nach
Art. 84 Abs. 1 lit. c OG
können daher nicht mehr direkt beim Bundesgericht erhoben werden (PATOCCHI/JERMINI, Basler Kommentar zum IPRG, N. 141 zu
Art. 194 IPRG
).
Das Erfordernis der Erschöpfung des kantonalen Instanzenzuges wurde als Entlastungsmassnahme für das Bundesgericht eingeführt in der Meinung, von Vorinstanzen gehe generell eine gewisse Filterwirkung aus (Botschaft des Bundesrates betr. die Änderung des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege sowie die Änderung des Bundesbeschlusses über eine vorübergehende Erhöhung der Zahl der Ersatzrichter und der Urteilsredaktoren des Bundesgerichts vom 18. März 1991, BBl 1991 II 466, 478, 498 und 506; MOOR, Juridiction de droit public, in: CEDIDAC 1992 S. 70 f.). Diese Gesetzesänderung hat sich in der Rechtsprechung des Bundesgerichts bisher nicht niedergeschlagen. In
BGE 119 II 380
E. 3b fasste das Bundesgericht seine Praxis zur Kognition von Rechts- und Tatsachenprüfung im Rahmen der Berufung, der staatsrechtlichen Beschwerde wegen Verletzung der Verfassung, eines Konkordats oder eines Staatsvertrags zusammen und führte unter Hinweis auf
BGE 108 Ib 85
E. 2a und
BGE 115 Ib 197
E. 4a aus, das Bundesgericht prüfe den angefochtenen Entscheid frei, aber im Rahmen der erhobenen Rügen. Sodann bemerkte es unter Hinweis auf
BGE 115 Ib 197
E. 4a und die dort zitierten Entscheide, neue Tatsachen und Beweismittel seien zulässig. In der nicht veröffentlichten E. 1d von
BGE 120 Ib 299
wurden unter Hinweis auf
BGE 93 I 278
E. 3 die freie Tatsachen- und Rechtsprüfung wie auch das Novenrecht im Rahmen von Beschwerden nach
Art. 84 Abs. 1 lit. c OG
hervorgehoben, während sich in
BGE 126 III 438
E. 3 lediglich ein Hinweis auf die freie Rechtsprüfung der Anwendung von Staatsverträgen findet.
BGE 128 I 354 S. 357
Dabei wurde pauschal auf
BGE 119 II 380
E. 3b und die dort angeführte, nach altem Recht ergangene Rechtsprechung verwiesen.
c) Fraglos ist daran festzuhalten, dass das Bundesgericht die Anwendung von Staatsverträgen, soweit sie gehörig beanstandet ist (
Art. 90 Abs. 1 lit. b OG
), frei prüft, bildet doch gerade deren Verletzung den spezifischen Rügegrund von
Art. 84 Abs. 1 lit. c OG
. Anders verhält es sich mit Bezug auf das Recht, mit der Staatsvertragsbeschwerde neue rechtliche Argumente und entsprechende Tatsachenbehauptungen vorzubringen. Das Novenrecht wird in Lehre und Rechtsprechung aus dem Recht auf Anrufung des Bundesgerichts unter Auslassung kantonaler Instanzen begründet (E. 6a hievor). Nachdem aber die Staatsvertragsbeschwerde dem Grundsatz der relativen Subsidiarität unterstellt wurde und das Bundesgericht nicht mehr als einzige Prüfungsinstanz zur Verfügung steht, greift folgerichtig der Grundsatz des Novenverbots Platz. Ist dem Bundesgericht eine kantonale Prüfungsinstanz vorgelagert, lässt sich nicht rechtfertigen, Staatsvertragsbeschwerden hinsichtlich des Novenrechts anders als die übrigen von der Ausnahmeregelung von
Art. 86 Abs. 2 OG
ebenfalls nicht erfassten staatsrechtlichen Beschwerden zu behandeln. Soweit sich aus der publizierten Rechtsprechung etwas anderes ergibt, ist daran nicht festzuhalten. Dieser Praxisänderung haben die anderen Abteilungen des Bundesgerichts im Verfahren nach
Art. 16 OG
zugestimmt.
Damit gilt auch im Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde wegen Verletzung von Staatsverträgen mit dem Ausland das grundsätzliche Verbot, neue Tatsachenbehauptungen sowie rechtliche Argumente vorzubringen und neue Beweisanträge zu stellen. Festzuhalten ist allerdings, dass nach der Praxis des Bundesgerichts in den folgenden vier Fallgruppen Ausnahmen gelten. So sind neue Vorbringen rechtlicher und tatsächlicher Art zulässig, zu deren Geltendmachung erst die Begründung des angefochtenen Entscheides Anlass gibt. Ebenfalls zuzulassen sind neue Vorbringen zu Gesichtspunkten, die sich aufdrängen und die deshalb von der kantonalen Instanz offensichtlich hätten berücksichtigt werden müssen (
BGE 99 Ia 113
E. 4a mit Hinweisen). Eine weitere Ausnahme gilt sodann für Vorbringen, die erstmals im Rahmen von Sachverhaltsabklärungen gemäss
Art. 95 OG
Bedeutung erlangen (
BGE 107 Ia 187
E. 2b mit Hinweisen). Neue rechtliche Vorbringen werden schliesslich zugelassen, falls die letzte kantonale Instanz volle Überprüfungsbefugnis besass und das Recht von Amtes wegen anzuwenden hatte (
BGE 119 Ia 88
E. 1a;
BGE 107 Ia 187
E. 2b; zum Ganzen: KÄLIN, Das
BGE 128 I 354 S. 358
Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde, 2. Aufl., Bern 1994, S. 369 f.).
d) Aus dieser Praxisänderung ergeben sich jedoch nicht zwingend Konsequenzen für die Kognition des Bundesgerichts in Sachverhaltsfragen. Das Bundesgericht hat seine Befugnis zur freien Sachverhaltsprüfung nie mit dem Novenrecht oder der Entbehrlichkeit, den kantonalen Instanzenzug auszuschöpfen, begründet (vgl.
BGE 81 I 139
E. 1;
BGE 84 I 30
E. 1;
BGE 93 I 164
E. 2;
BGE 98 Ia 549
E. 1c;
BGE 101 Ia 521
E. 1b). In
BGE 83 I 16
hat es der Kognition und dem Novenrecht je eine selbständige Erwägung gewidmet (E. 1 und 2). Sodann hat es die Befugnis zur freien Sachverhaltsprüfung nie auf die zulässig vorgebrachten Noven beschränkt, sondern ausdrücklich auf den vorinstanzlich festgestellten Sachverhalt bezogen (
BGE 85 I 39
E. 1;
BGE 93 I 49
E. 2) und als gesetzeskonform erachtet, dass seine Kognition bei Beurteilung einer Staatsvertragsrüge weiter geht als bei einer identischen Rüge, welche sich auf das innerstaatliche, auch das eidgenössische Recht stützt (
BGE 116 II 625
E. 3b). An der freien Sachverhaltsprüfung im Rahmen von Staatsvertragsbeschwerden im Sinne der zitierten Rechtsprechung ist daher festzuhalten. | 3,482 | 1,543 | 2 | 0 | CH_BGE_001 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_001_BGE-128-I-354_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=20&from_date=&to_date=&from_year=2002&to_year=2002&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=192&highlight_docid=atf%3A%2F%2F128-I-354%3Ade&number_of_ranks=303&azaclir=clir | BGE_128_I_354 |
|||
ec858787-96dc-4c22-9d2b-fbda416884ad | 1 | 79 | 1,338,963 | null | 2,024 | de | Sachverhalt
ab Seite 180
BGE 115 Ia 180 S. 180
Am 11. Oktober 1988 verurteilte das Landgericht Uri X. wegen Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz zu einer mehrjährigen Zuchthausstrafe. Zu Beginn der Hauptverhandlung stellte der Verteidiger von X. den Antrag, der Präsident des Landgerichts habe sich in den Ausstand zu begeben, da er in der Voruntersuchung an Entscheiden betreffend die Verlängerung der Untersuchungshaft mitgewirkt und sich dabei offensichtlich schon eine Meinung über die Schuld des Angeklagten gebildet habe. Das Landgericht wies diesen Antrag ab.
Gegen diesen ablehnenden Entscheid sowie gegen das Urteil des Landgerichts vom 11. Oktober 1988 erhob X. staatsrechtliche Beschwerde, mit der er u.a. eine Verletzung von
Art. 58 BV
und von
Art. 6 EMRK
rügt. Das Bundesgericht lässt die Frage offen, ob die Personalunion von Haftrichter und Sachrichter als solche mit der Verfassung und der Konvention vereinbar ist und heisst die Beschwerde teilweise gut aus folgender | 201 | 166 | Erwägungen
Erwägung:
3.
bbb) Zu prüfen bleibt, ob die Art der Begründung, mit der der Landgerichtspräsident die Haftentlassung des Beschwerdeführers abgelehnt hat, geeignet ist, an seiner Unvoreingenommenheit zu zweifeln. Auch in diesem Punkt kommt es nicht darauf an, ob sich der Landgerichtspräsident im Haftprüfungsverfahren tatsächlich
BGE 115 Ia 180 S. 181
schon eine Meinung über die Schuld des Beschwerdeführers gebildet hat. Es genügt vielmehr, wenn Umstände vorliegen, die nach objektiver Betrachtungsweise bei einer der beteiligten Parteien den Eindruck erwecken können, der Richter sei befangen (zuletzt
BGE 114 Ia 158
E. b mit Hinweis). So hat das Bundesgericht bei einem Untersuchungsrichter, der später die Anklage vertreten sollte, Befangenheit bejaht, da er zu Beginn der Untersuchung gegenüber einem Journalisten Äusserungen gemacht hatte, die darauf schliessen liessen, er betrachte den Angeschuldigten als schuldig (unveröffentlichtes Urteil in Sachen H. vom 28. Januar 1981). Im gleichen Sinn wurde entschieden bezüglich des Mitglieds eines Jugendgerichts, das vor dem Strafverfahren einen Aufruf unterzeichnet hatte, mit dem Amnestie und Milde gegenüber den an den fraglichen Taten beteiligten Jugendlichen gefordert wurde (
BGE 108 Ia 53
f. E. 3). Ebenso entschied das Bundesgericht in einem Fall, in dem der Gerichtspräsident in seiner Funktion als Regierungsstatthalter gegenüber der Baudirektion geäussert hatte, es stehe sicher fest, dass die Bauherrschaft die Bauarbeiten widerrechtlich ausführen liess (unveröffentlichtes Urteil vom 7. April 1982 in Sachen K.) sowie in einem Fall, in dem in einem Zivilverfahren der zuständige Gerichtspräsident die Ergebnisse eines "informellen" Augenscheins in einer Weise festhielt und bewertete, die den Schluss zuliess, dass er sich bereits eine Meinung über den Ausgang des Verfahrens gebildet hatte (
BGE 114 Ia 158
ff. E. b). Vergleichbare Umstände sind auch im vorliegenden Fall gegeben. Bereits in seiner ersten Verfügung vom 5. Mai 1988, mit der der Landgerichtspräsident die Untersuchungshaft erstmals verlängert hat, finden sich folgende Aussagen: "Obschon er bestreitet, mit Drogenhandel etwas zu tun zu haben, haben die zwei Gegenüberstellungen klar ergeben, dass er der Lieferant des Heroins gewesen ist"... "Die Ermittlungen haben ergeben, dass X. mit Heroin in der Grössenordnung von 300 g Handel betrieben hat". Sinngemäss gleiche Feststellungen finden sich in den späteren Verfügungen vom 8. und 19. Juli sowie vom 17. August 1988. In der zuletzt genannten Verfügung ist zusätzlich ausgeführt, dass die (den Beschwerdeführer entlastenden) "Zeugenaussagen mit dem Bruder des Gesuchstellers und dessen Freundin eindeutig zu relativieren sind". Auch wenn in den Verfügungen an anderen Stellen nur von einem entsprechenden Verdacht gegen den Beschwerdeführer die Rede ist und somit nicht auszuschliessen ist, dass die zitierten Passagen eher auf eine wenig glückliche Formulierung als
BGE 115 Ia 180 S. 182
auf eine vorgefasste Meinung des Landgerichtspräsidenten zurückzuführen sind, kann nicht zweifelhaft sein, dass diese Passagen zumindest den Anschein der Befangenheit erwecken können. Die Art, wie der Landgerichtspräsident den Stand der Untersuchung festgehalten und darüber hinaus gewürdigt hat, kann objektiv dahin verstanden werden, dass er sich sowohl in bezug auf den Tatbestand des Betäubungsmittelhandels als auch in bezug auf die Schuldfrage bereits festgelegt hat. Ob dies tatsächlich der Fall war, ist, wie dargelegt, ohne Bedeutung. Für den Beschwerdeführer lag jedenfalls der Eindruck nahe, der Landgerichtspräsident könne sich als Vorsitzender des urteilenden Gerichts von den Feststellungen und Wertungen, die er im Haftprüfungsverfahren geäussert hat, nicht oder kaum mehr lösen und die Strafsache nicht völlig unbefangen beurteilen. Dies genügt, um im vorliegenden Fall den Anschein der Befangenheit zu erwecken. | 802 | 644 | 2 | 0 | CH_BGE_002 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_002_BGE-115-Ia-180_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=18&from_date=&to_date=&from_year=1989&to_year=1989&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=171&highlight_docid=atf%3A%2F%2F115-IA-180%3Ade&number_of_ranks=372&azaclir=clir | BGE_115_Ia_180 |
|||
ec8763e5-b656-46fc-86ae-50bdb99b3be5 | 1 | 83 | 1,335,733 | null | 2,024 | de | Sachverhalt
ab Seite 277
BGE 129 IV 276 S. 277
A.-
F. führt in S. eine Praxis in einer 31⁄2-Zimmer-Wohnung. In dieser brach am 4. Juli 2001 gegen Abend während seiner Abwesenheit ein Küchenbrand aus, der nach den polizeilichen Feststellungen auf eine eingeschaltete Kochplatte zurückzuführen war. Obwohl das Feuer von selbst erstickte, entstand beträchtlicher Sachschaden. Der Brand wurde von F. erst am folgenden Morgen nach Betreten seiner Praxis entdeckt und der Polizei gemeldet. Am Vortag hatte seine Raumpflegerin mit ihrer Nichte in der Praxis Reinigungsarbeiten ausgeführt und dabei höchstwahrscheinlich ungewollt eine Kochplatte eingeschaltet. Von einer Strafuntersuchung gegen die Raumpflegerin wurde abgesehen, da diese davon habe ausgehen können, dass der Kochherd nicht mehr in Betrieb sei.
Das Kantonsgericht von Appenzell Ausserrhoden sprach F. am 5. Juli 2002 der Widerhandlung gegen die kantonale Feuerschutzverordnung schuldig und verurteilte ihn zu einer Busse von Fr. 500.-. Die Appellation des Verurteilten an das Obergericht des Kantons Appenzell Ausserrhoden blieb ohne Erfolg.
B.-
F. erhebt beim Bundesgericht eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde. Er beantragt, es sei das Urteil des Obergerichts vom 18. März 2003 aufzuheben; ferner sei er vom Vorwurf der Widerhandlung gegen die kantonale Feuerschutzverordnung freizusprechen, die kantonalen Verfahrenskosten von Fr. 3'550.- seien dem Kanton Appenzell Ausserrhoden aufzuerlegen, und dieser sei zu verpflichten, ihm eine Parteientschädigung von Fr. 6'214.45 zu bezahlen.
Das Obergericht verzichtet auf Gegenbemerkungen zur Beschwerde. | 681 | 256 | Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Zunächst ist zu prüfen, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang das vom Beschwerdeführer erhobene Rechtsmittel zulässig ist.
1.1
Nach
Art. 269 BStP
kann mit der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde die Verletzung von Bundesrecht geltend gemacht werden (Abs. 1). Verstösse gegen verfassungsmässige Rechte sind dagegen mit staatsrechtlicher Beschwerde vorzubringen (Abs. 2).
BGE 129 IV 276 S. 278
1.1.1
Der Beschwerdeführer rügt, die Norm der kantonalen Feuerschutzverordnung, auf die sich seine Verurteilung stütze, verletze das Bestimmtheitsgebot gemäss
Art. 1 StGB
. Diese Norm gilt jedoch nur im Bereich des eidgenössischen und nicht in jenem des kantonalen Strafrechts. Immerhin bildet das in ihr verankerte Legalitätsprinzip auch ein verfassungsmässiges Recht, das seine Grundlage früher in
Art. 4 aBV
hatte und sich neuerdings aus
Art. 5 Abs. 1 sowie
Art. 164 Abs. 1 lit. c BV
(vgl. TOBIAS JAAG, Die Verfahrensgarantien der neuen Bundesverfassung, in: Die neue Bundesverfassung, hrsg. von Peter Gauch/Daniel Thürer, Zürich 2002, S. 42) und aus
Art. 7 EMRK
ergibt und das in der gesamten schweizerischen Rechtsordnung zu beachten ist. Dessen (direkte) Verletzung ist indessen gemäss
Art. 269 Abs. 2 BStP
mit staatsrechtlicher Beschwerde vorzubringen (
BGE 118 Ia 137
E. 1c S. 139;
BGE 112 Ia 107
E. 3a S. 112). Auf die Nichtigkeitsbeschwerde ist daher nicht einzutreten, soweit damit eine Verletzung von
Art. 1 StGB
gerügt wird.
1.1.2
Nach Ansicht des Beschwerdeführers verletzt der angefochtene Entscheid ebenfalls
Art. 18 StGB
. Die Vorinstanz hat die Verurteilung auf kantonales Strafrecht gestützt und
Art. 18 StGB
lediglich auf Grund der Verweisung in Art. 2 des Gesetzes über das kantonale Strafrecht beigezogen. Die Vorinstanz hat daher
Art. 18 StGB
als kantonales und nicht als eidgenössisches Recht angewendet (
BGE 103 IV 76
E. 1 S. 78). Auf die Nichtigkeitsbeschwerde, mit der nur die Verletzung von eidgenössischem Recht gerügt werden kann, ist daher auch in diesem Punkt nicht einzutreten.
1.1.3
Weiter rügt der Beschwerdeführer die Anwendung der kantonalen Regelung durch die Vorinstanz als grundsätzlich unzulässig. Da der Bundesgesetzgeber die strafwürdigen Fälle des Verursachens einer Feuersbrunst abschliessend geordnet habe, bestehe für kantonales Übertretungsstrafrecht in diesem Bereich kein Raum mehr. Die Verurteilung gestützt auf die kantonale Feuerschutzverordnung verletze daher
Art. 335 Ziff. 1 StGB
.
Nach der Rechtsprechung kann die Rüge, kantonales Recht sei anstelle von Bundesrecht angewendet worden, mit der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde vorgebracht werden. Dieses Rechtsmittel ist insbesondere auch zulässig, wenn zu beurteilen ist, ob ein Kanton ein vom Bund nicht unter Strafe gestelltes Verhalten für strafbar erklären dürfe (
BGE 116 IV 19
E. 1). Auf das Rechtsmittel des Beschwerdeführers ist somit einzutreten, soweit darin eine Bundesrechtswidrigkeit von Art. 59 der kantonalen Feuerschutzverordnung geltend gemacht wird.
BGE 129 IV 276 S. 279
1.1.4
Die im Rahmen der Nichtigkeitsbeschwerde unzulässigen Rügen hätte der Beschwerdeführer mit staatsrechtlicher Beschwerde vorbringen können, soweit auch eine Verfassungsverletzung in Frage stand. Eine Entgegennahme der fraglichen Darlegungen als staatsrechtliche Beschwerde kommt jedoch nicht in Betracht. Zwar ist eine Umwandlung des unrichtigen in das zutreffende Rechtsmittel möglich, wenn dessen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind. Vorliegend sind jedoch die erhobenen Rügen ganz auf die Nichtigkeitsbeschwerde zugeschnitten und erfüllen die Begründungsanforderungen der staatsrechtlichen Beschwerde nicht (
Art. 90 Abs. 1 lit. b OG
). Im Übrigen lehnt die Rechtsprechung eine Umwandlung ab, wenn ein durch einen Rechtsanwalt vertretener Beschwerdeführer bewusst ein Rechtsmittel einreicht, das sich als unzulässig erweist (
BGE 120 II 270
E. 2).
1.2
Die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde ist rein kassatorischer Natur (
Art. 277ter Abs. 1 BStP
). Soweit der Beschwerdeführer mehr verlangt als die Aufhebung des angefochtenen Entscheids, ist auf sein Rechtsmittel ebenfalls nicht einzutreten (
BGE 125 IV 298
E. 1 S. 301).
2.
Die umstrittene Verurteilung stützt sich auf Art. 59 in Verbindung mit Art. 1 der kantonalen Verordnung über den Feuerschutz (Feuerschutzverordnung; bGS 861.1). Der Beschwerdeführer macht geltend, diese kantonalen Bestimmungen seien bundesrechtswidrig, da das eidgenössische Strafgesetzbuch den fraglichen Bereich abschliessend regle.
2.1
Nach
Art. 335 Ziff. 1 StGB
bleibt den Kantonen die Gesetzgebung über das Übertretungsstrafrecht insoweit vorbehalten, als es nicht Gegenstand der Bundesgesetzgebung ist (Abs. 1). Sie sind ausserdem befugt, die Übertretung kantonaler Verwaltungs- und Prozessvorschriften mit Strafe zu bedrohen (Abs. 2). Schliesslich räumt
Art. 335 Ziff. 2 StGB
den Kantonen die Befugnis ein, Strafbestimmungen zum Schutz ihres Steuerrechts aufzustellen.
Im Bereich des Übertretungsstrafrechts besteht nur Raum für zusätzliche kantonale Bestimmungen, soweit das eidgenössische Strafgesetzbuch die Angriffe auf ein Rechtsgut nicht durch ein geschlossenes System von Normen abschliessend regelt. Der Umstand, dass das Bundesrecht eine Handlung nicht für strafbar erklärt, genügt nicht, um eine Zuständigkeit des kantonalen Gesetzgebers anzunehmen. Denn das Fehlen einer eidgenössischen Strafnorm kann auch bedeuten, dass das fragliche Verhalten straflos bleiben soll (sog.
BGE 129 IV 276 S. 280
qualifiziertes Schweigen des Gesetzgebers). Nur wo der Bundesgesetzgeber einen Fragenkreis überhaupt nicht oder bloss teilweise regelt, dürfen die Kantone Übertretungsstrafnormen erlassen (
BGE 117 Ia 472
E. 2b S. 474;
BGE 115 Ia 234
E. 12c/bb S. 273 f.).
Demgegenüber sind Strafbestimmungen der Kantone auf dem Gebiet des Verwaltungsrechts nach
Art. 335 Ziff. 1 Abs. 2 StGB
grundsätzlich uneingeschränkt zulässig, soweit ihnen nach
Art. 3 BV
für die fragliche Materie die Regelungskompetenz zusteht. Als Verwaltungsstrafrecht gelten jene Tatbestände, die der Durchführung verwaltungsrechtlicher Bestimmungen dienen. Das bedeutet, dass sich die Verhaltensvorschrift, deren Verletzung in Frage steht, aus einem verwaltungsrechtlichen Erlass ergeben muss (
BGE 115 Ia 234
E. 12c/cc S. 274 f.).
2.2
Nach Art. 59 der Feuerschutzverordnung wird mit Busse bis 10'000 Franken bestraft, wer dem Feuerschutzgesetz (bGS 861.0), der Feuerschutzverordnung oder darauf abgestützten Anordnungen und Weisungen der zuständigen Behörden zuwiderhandelt. Die genannten Erlasse dienen der Bekämpfung von Bränden und Explosionen (vgl. Art. 1 des Feuerschutzgesetzes; Art. 1 der Feuerschutzverordnung). Sie enthalten die dazu erforderlichen Verhaltens- und Organisationsvorschriften. Die Strafbestimmung von Art. 59 der Feuerschutzverordnung soll die Einhaltung der feuerpolizeilichen Vorschriften sicherstellen, insbesondere die Einhaltung der allgemeinen Sorgfaltspflicht (Art. 1 der Feuerschutzverordnung) gewährleisten. Es handelt sich demnach um eine Norm zur Durchsetzung der verwaltungsrechtlichen Vorschriften über die Brandbekämpfung. Da den Kantonen ausserdem die Kompetenz auf dem Gebiet der Feuerpolizei zusteht, fällt die fragliche Strafbestimmung von Art. 59 der Feuerschutzverordnung unter
Art. 335 Ziff. 1 Abs. 2 StGB
und greift demzufolge nicht in den dem Bund vorbehaltenen Bereich des Strafrechts ein.
Die Argumentation der Vorinstanz, wonach der Bundesgesetzgeber die Strafbarkeit der Verursachung von Bränden nicht habe erschöpfend regeln wollen und den Kantonen Raum für ergänzende Übertretungstatbestände belasse, wird vom Beschwerdeführer hingegen zu Recht kritisiert.
Art. 221 und 222 StGB
regeln die Strafbarkeit der Verursachung einer Feuersbrunst abschliessend. Eine solche ist nach den genannten Bestimmungen nur strafbar, wenn das Feuer bei einer anderen Person als dem Täter einen Schaden anrichtet oder eine Gemeingefahr hervorruft. Die eingeschränkte Strafbarkeit der Verursachung einer Feuersbrunst ergibt sich ebenfalls aus
BGE 129 IV 276 S. 281
der Einreihung der beiden Tatbestände bei den gemeingefährlichen Straftaten, welche die Schaffung einer besonderen Gefahr voraussetzen (vgl.
BGE 117 IV 285
E. 2a S. 286; ROELLI/FLEISCHANDERL, Basler Kommentar, N. 9 und 12 zu
Art. 211 StGB
mit Hinweisen). Der Beschwerdeführer ist freilich von den kantonalen Instanzen gar nicht wegen der Verursachung einer Feuersbrunst bestraft worden. Vielmehr erfolgte der Schuldspruch wegen der Missachtung der feuerpolizeilichen Sorgfaltspflicht (Schaffung einer gefahrenträchtigen Situation, kein Einschreiten nach Missachtung der Weisungen betr. Sicherungskasten durch die Reinigungsangestellte), also - wie erwähnt - wegen eines Verstosses gegen die verwaltungsrechtlichen Vorschriften über die Brandbekämpfung.
Aus diesen Gründen kann von einer Verletzung von
Art. 335 StGB
keine Rede sein. Die entsprechende Rüge geht fehl. | 3,809 | 1,521 | 2 | 0 | CH_BGE_006 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_006_BGE-129-IV-276_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=10&from_date=&to_date=&from_year=2003&to_year=2003&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=94&highlight_docid=atf%3A%2F%2F129-IV-276%3Ade&number_of_ranks=300&azaclir=clir | BGE_129_IV_276 |
|||
ec991d96-d5d6-44b5-b9ed-841b1461d747 | 2 | 79 | 1,336,310 | 63,072,000,000 | 1,972 | fr | Sachverhalt
ab Seite 175
BGE 98 Ia 175 S. 175
A.-
En 1960, la commune de Riddes a décidé de construire une route reliant à la plaine la région des Mayens de Riddes, en vue d'y faciliter l'exploitation des biens-fonds et, surtout, d'y développer le tourisme. La nouvelle voie devait partir du hameau de La Vigne, à proximité immédiate du chef-lieu de la commune de Riddes. Bien qu'elle ait été admise et subventionnée comme route forestière, il a été décidé de lui donner une largeur de 5 m - au lieu de 3 m 60, largeur usuelle de ce genre de voies - et d'appeler les propriétaires fonciers à participer aux frais de l'entreprise par des contributions de plus-value.
La commune a notifié un premier appel aux propriétaires intéressés, le 21 janvier 1963. Elle précisait que la contribution concernait le tronçon La Vigne-Ravoire d'en Bas, lequel représentait le quart du coût total de la route prévue et ajoutait que
BGE 98 Ia 175 S. 176
les propriétaires compris dans le périmètre des Mayens seraient appelés ultérieurement pour les futurs tronçons. Cet appel a touché 503 propriétaires, dont 184 ont recouru au Conseil d'Etat; 65 recours ont été retirés en cours de procédure. Le 31 décembre 1965, le Conseil d'Etat a rejeté les 119 recours restés pendants. Les 23 propriétaires qui ont formé contre cette décision un recours de droit public au Tribunal fédéral ont été déboutés par arrêt du 6 mai 1966.
Dans l'intervalle, la commune de Riddes avait adressé aux propriétaires, le 13 décembre 1965, sous pli chargé, une circulaire intitulée "Appel à contribution pour la route des Mayens de Riddes, tronçon Riddes-Villy". Cet acte contient notamment les passages suivants:
"Le présent appel concerne la contribution due pour la construction du tronçon Riddes-Villy, dont il fixe la répartition entre les propriétaires..."
"Le plan d'aménagement général de la zone des Mayens est en voie d'achèvement et les propriétaires d'immeubles sont informés que la construction de routes principales ou secondaires et la réfection des routes existantes, à partir de la fin du tronçon Riddes-Villy, feront l'objet d'un nouvel appel à contribution.
Par contre, aucune contribution supplémentaire ne sera exigée des propriétaires pour le tronçon Riddes-Villy.
Au vu de ce qui précède, votre contribution totale s'élève à
Francs ...
./. votre premier versement:
Solde: "
Le 28 décembre 1965, la commune avait encore adressé aux propriétaires une circulaire complétant la précédente, précisant comment était calculé le montant de la contribution et indiquant que la décision était susceptible de recours au Conseil d'Etat dans les vingt jours.
Le Conseil d'Etat du canton du Valais a été saisi de 111 recours, dont 74 ont été retirés en cours de procédure. Il a désigné une commission d'experts chargée d'examiner les cas en suspens et de lui fournir un préavis motivé. Après avoir inspecté les lieux et entendu les recourants et les représentants de la commune, la commission a déposé son rapport, le 14 décembre 1970. Statuant le 3 mars 1971, le Conseil d'Etat a rejeté les 37 recours encore pendants.
B.-
Vingt-six des recourants déboutés, agissant par l'intermédiaire du même mandataire et déposant des mémoires en
BGE 98 Ia 175 S. 177
grande partie semblables, forment un recours de droit public et requièrent notamment le Tribunal fédéral d'annuler la décision du Conseil d'Etat du 3 mars 1971 et, statuant à nouveau, de dire que la réclamation de la commune de Riddes, notifiée les 13 et 28 décembre 1965, est annulée. Ils se plaignent de violation de l'art. 4 Cst., soutenant que les circulaires des 13 et 28 décembre 1965 ne constituent pas un nouvel appel à contribution, mais un bordereau de paiement du solde du montant fixé par l'appel de 1963 et que seules les personnes qui étaient propriétaires le 21 janvier 1963 peuvent être recherchées.
C.-
Le Conseil d'Etat du canton du Valais et la commune de Riddes concluent au rejet du recours. | 886 | 781 | Erwägungen
Considérant en droit:
5.
Les recourants reconnaissent que les fonds à raison desquels ils sont appelés à contribution ont bénéficié d'une plus-value à la suite de la construction de la route. Ils ne discutent ni la base légale de l'appel à contribution, ni les principes de calcul, ni le montant de la taxation comme tel. Ils contestent en revanche la nature juridique de la décision communiquée par les deux circulaires de décembre 1965, d'une part, et le droit de la commune d'appeler les propriétaires à une nouvelle contribution, à raison des chalets construits postérieurement à 1963.
a) Le Conseil d'Etat s'exprime comme il suit, dans chacune des décisions attaquées: "L'administration communale de Riddes a fixé le périmètre et la contribution de plus-value des propriétaires le 11 octobre 1962 et en a avisé chaque intéressé par lettre recommandée, le 21 janvier 1963. Le fait que le quart seulement de la contribution définitive a été exigé à ce moment-là est sans importance ..." Il ajoute que le "point principal" est la lettre du 21 janvier 1963, que celles des 13 et 28 décembre 1965 n'auraient pas été nécessaires et que l'administration communale aurait satisfait aux exigences de forme posées par la loi en notifiant simplement aux intéressés un bordereau pour la deuxième étape. Il considère donc implicitement, mais clairement, que la décision notifiée par lettre du 21 janvier 1963 était la décision de taxation, fixant le total de la contribution, dont un quart seulement était perçu immédiatement. Or, l'obligation de contribuer est une obligation personnelle définitivement constituée par la décision de taxation passée en force. En l'absence de toute disposition légale dans ce sens, il était insoutenable de
BGE 98 Ia 175 S. 178
mettre le solde de la contribution, dont le versement a été exigé en décembre 1965, à la charge des acquéreurs des fonds. Les anciens propriétaires continuaient à répondre de ce solde et il était hors de question d'appeler à contribution, à raison des mêmes parcelles et des mêmes frais, les nouveaux propriétaires, seuls ou aux côtés des anciens. Dans le silence de la loi, il ne pourrait y avoir de succession fiscale qu'en cas de succession à titre universel. Les décisions attaquées apparaissent ainsi contraires à l'art. 4 Cst. et doivent être annulées, dans la mesure où elles imposent aux recourants une contribution de plus-value, fonction de la superficie de terrains dont ils n'étaient pas propriétaires lors de la taxation notifiée en janvier 1963.
Il est vrai que l'interprétation que le Conseil d'Etat donne de l'appel à contribution du 21 janvier 1963 ne s'imposait pas à l'évidence. On aurait pu soutenir, sur le vu du dossier, que la commune avait entendu procéder à deux appels distincts, celui de 1963, concernant le tronçon Riddes-Ravoire d'en Bas, et celui de 1965, concernant l'ensemble de la route Riddes-Villy, mais avec déduction de ce qui avait déjà été versé. Dans ce cas, les nouveaux propriétaires auraient pu être astreints à contribution pour les frais du tronçon Ravoire d'en Bas-Villy. Mais les prononcés attaqués rejettent clairement cette interprétation. Encore que le rejet ne soit pas exprès, il apparaît exclu de la substituer aux motifs arbitraires de l'autorité cantonale (cf. RO 91 I 38), même si celle-ci la reprend dans sa réponse au recours, en contradiction absolue avec sa position précédente.
b) Selon les circulaires de décembre 1965, les contributions exigées se composent de deux éléments: d'une part une taxe fonction de la superficie de la parcelle, variant de 0,06 à 0,90 fr. par m2, et d'autre part une taxe de 10% ou 15% de l'estimation fiscale du chalet construit sur cette parcelle. La contribution afférente au terrain ne peut être mise à la charge des recourants, dans la mesure où ils n'étaient pas propriétaires le 21 janvier 1963 (cf. lit. a ci-dessus). En revanche, il n'apparaît pas d'emblée exclu de frapper comme tels les chalets construits postérieurement à l'appel de 1963. Comme le relève le Conseil d'Etat, qui peut se fonder sans arbitraire sur l'art. 8 de la loi du 26 novembre 1900, additionnelle à la loi du 1er décembre 1887 sur les expropriations, les contributions peuvent être prélevéesjusqu'à l'achèvement des travaux. On peut admettre que le bâtiment augmente
BGE 98 Ia 175 S. 179
de valeur à la suite de la construction de la route, indépendamment de la plus-value du terrain comme tel. Enfin, on peut juger qu'il n'est pas entièrement satisfaisant, du point de vue de l'équité, que des propriétaires qui bénéficient tous de la route dans une mesure comparable paient la contribution sur le terrain et le bâtiment ou sur le terrain seulement, selon qu'ils ont construit avant ou après la date fixée pour la taxation. Cependant, la contribution complémentaire prélevée à raison de constructions nouvelles doit, en tant que redevance de droit public, pouvoir se fonder, au moins sans arbitraire, sur le droit cantonal. Les règles générales applicables à la charge de préférence exigent que le nouvel appel à contribution n'ait pas pour effet de porter le montant total des redevances perçues à une somme supérieure au coût total de l'oeuvre, étant entendu que les dispositions du droit cantonal fixant le total des contributions à un montant inférieur au coût des travaux doivent être respectées. Enfin, le principe d'égalité exige que soient aussi frappées les personnes qui ont construit des bâtiments après le 21 janvier 1963, mais sur des terrains qui leur appartenaient déjà à cette date. Toutes ces questions n'ont pas été abordées dans les décisions attaquées. Il n'est pas opportun que le Tribunal fédéral les examine lui-même en premier lieu. Il ne possède du reste pas tous les éléments de fait nécessaires pour les trancher. Le recours doit être admis sur ce point au sens des considérants qui précèdent. Il appartiendra à l'autorité cantonale de résoudre les différentes questions de droit qui se posent après avoir complété l'état de fait. | 1,284 | 1,150 | 2 | 0 | CH_BGE_002 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_002_BGE-98-Ia-175_1972 | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=34&from_date=&to_date=&from_year=1972&to_year=1972&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=331&highlight_docid=atf%3A%2F%2F98-IA-175%3Ade&number_of_ranks=374&azaclir=clir | BGE_98_Ia_175 |
|||
eca86acc-f955-4399-b35b-cdcdb47357e5 | 1 | 84 | 1,354,676 | 1,428,451,200,000 | 2,015 | de | Sachverhalt
ab Seite 256
BGE 141 V 255 S. 256
A.
Der 1925 geborene A. lebte in X. (Kanton St. Gallen), bevor er Anfang Juli 1997 als Pensionär in das im Kanton Thurgau gelegene Kurheim Y. in Z. eintrat. Mit Verfügung vom 27. Juni 2011 lehnte die Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen (nachfolgend: SVA St. Gallen) ein erstes Gesuch des Versicherten um Ausrichtung von Ergänzungsleistungen zur Altersrente ab, weil ein Einnahmenüberschuss vorliege. Diese Verfügung erwuchs unangefochten in Rechtskraft.
Im März 2012 ersuchte A. erneut um Zusprechung von Ergänzungsleistungen (EL). Mit Verfügung vom 5. Juni 2012 und Einspracheentscheid vom 23. Oktober 2012 lehnte die SVA St. Gallen das Gesuch wiederum ab, wobei aus der Begründung des Einspracheentscheids hervorgeht, dass sich die Sozialversicherungsanstalt für örtlich unzuständig erachtet. Weil der Versicherte am Ort des Kurheims zivilrechtlichen Wohnsitz begründet habe, sei der Kanton Thurgau für die Festsetzung und Auszahlung der Ergänzungsleistung zuständig.
B. | 243 | 173 | Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen hiess die von A. erhobene Beschwerde, soweit es darauf eintrat, dahin gehend gut, dass es den als Nichteintreten auf das EL-Gesuch qualifizierten Einspracheentscheid vom 23. Oktober 2012 aufhob und die Sache zu materieller Prüfung des geltend gemachten Anspruchs auf Ergänzungsleistungen und zu neuer Verfügung an die SVA St. Gallen zurückwies (Dispositiv-Ziffer 1 des vorinstanzlichen Entscheids vom 30. Januar 2014 mit Verweis auf die Erwägungen).
BGE 141 V 255 S. 257
C.
Die SVA St. Gallen führt Beschwerde ans Bundesgericht mit dem Antrag auf Aufhebung des angefochtenen Entscheids und Bestätigung ihres Nichteintretensentscheids vom 23. Oktober 2012; die örtliche Zuständigkeit liege bei den EL-Behörden des Kantons Thurgau.
A. beantragt Abweisung der Beschwerde und ersucht um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung. Das Versicherungsgericht schliesst ebenfalls auf Abweisung, während das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) auf eine Vernehmlassung verzichtet.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
1.1
Beim angefochtenen Entscheid handelt es sich aufgrund der dispositivmässigen Verpflichtung der SVA St. Gallen zur materiellen Prüfung des EL-Anspruchs und neuer Verfügung um einen Rückweisungsentscheid und damit um einen selbständig eröffneten Zwischenentscheid im Sinne von
Art. 93 Abs. 1 BGG
. Die für eine selbständige Anfechtung erforderliche Voraussetzung des nicht wiedergutzumachenden Nachteils im Sinne von lit. a dieser Bestimmung ist erfüllt, da die Sozialversicherungsanstalt gezwungen wird, entgegen ihrer Rechtsauffassung eine neue Verfügung zu erlassen (
BGE 140 II 315
E. 1.3.1 S. 318;
BGE 140 V 507
E. 1 S. 509;
BGE 133 V 477
E. 5.2 S. 483; Urteil 9C_727/2010 vom 27. Januar 2012 E. 1, nicht publ. in:
BGE 138 V 23
, aber in: SVR 2012 EL Nr. 13 S. 40).
1.2
Der Vorinstanz ist insoweit beizupflichten, als der Einspracheentscheid der SVA St. Gallen vom 23. Oktober 2012 nach seinem tatsächlichen rechtlichen Bedeutungsgehalt nicht eine materielle Leistungsablehnung, sondern ein Nichteintreten wegen örtlicher Unzuständigkeit im Sinne von
Art. 35 Abs. 3 ATSG
(SR 830.1) darstellt (
BGE 132 V 74
E. 2;
BGE 120 V 496
E. 1 S. 497; Urteil 9C_727/2010 vom 27. Januar 2012 E. 2.2 am Anfang, nicht publ. in:
BGE 138 V 23
, aber in: SVR 2012 EL Nr. 13 S. 40). Im Folgenden stellt sich die Frage, ob das kantonale Gericht die örtliche Zuständigkeit der sankt-gallischen EL-Organe für die Festsetzung und die Auszahlung der Ergänzungsleistung zu Recht bejaht hat.
1.3
Entgegen der Auffassung des Beschwerdegegners beantwortet sich diese Frage unabhängig von der ersten leistungsablehnenden EL-Verfügung der Beschwerdeführerin vom 27. Juni 2011. Mag es
BGE 141 V 255 S. 258
auch zutreffen, dass die SVA St. Gallen anlässlich der seinerzeitigen materiellen Prüfung des EL-Gesuchs implizit ihre diesbezügliche Zuständigkeit bejaht hat, kann daraus für den Leistungsanspruch ab neuerlicher Anmeldung vom März 2012 dennoch keine präjudizielle Wirkung abgeleitet werden. Aufgrund der formell-gesetzlichen Ausgestaltung der Ergänzungsleistung als einer auf das Kalenderjahr bezogenen Versicherung (
Art. 3 Abs. 1 lit. a ELG
[SR 831.30]) kann eine Verfügung darüber in zeitlicher Hinsicht von vornherein nur für
ein Kalenderjahr
Rechtsbeständigkeit entfalten (
BGE 128 V 39
).
2.
2.1
Im Rahmen der Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA; Botschaft vom 7. September 2005; BBl 2005 6029 ff.) wurde das bisher geltende Bundesgesetz vom 19. März 1965 über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (aELG) einer Totalrevision unterzogen. Das neue Bundesgesetz vom 6. Oktober 2006 (ELG) wurde auf den 1. Januar 2008 in Kraft gesetzt. Laut dessen Art. 21 Abs. 1 erster Satz wird - in Verbindung mit
Art. 13 Abs. 1 ATSG
- die kantonale Zuständigkeit für die Festsetzung und die Auszahlung der Ergänzungsleistung grundsätzlich nach wie vor an den zivilrechtlichen Wohnsitz der bezugsberechtigten Person geknüpft. Der zweite Satz von
Art. 21 Abs. 1 ELG
stellt nun aber im Sinne einer Ausnahme klar, dass der Aufenthalt in einem Heim, einem Spital oder einer andern Anstalt und die behördliche oder vormundschaftliche Versorgung einer mündigen oder entmündigten Person in Familienpflege keine neue Zuständigkeit begründen. Diese Bestimmung ist mangels einer anderslautenden Übergangsbestimmung sofort anwendbar (
BGE 138 V 23
E. 3.2 S. 26; SVR 2011 EL Nr. 6 S. 17, 9C_972/2009 E. 2.2 in fine).
Gemäss
Art. 21 Abs. 2 ELG
bezeichnen die Kantone die Organe, die für die Entgegennahme der Gesuche und für die Festsetzung und die Auszahlung der Ergänzungsleistungen zuständig sind; sie können die kantonalen Ausgleichskassen, nicht aber die Sozialhilfebehörden mit diesen Aufgaben betrauen. Während im Kanton St. Gallen die SVA St. Gallen über Anspruch und Höhe der Ergänzungsleistungen entscheidet (Art. 11 Abs. 1 des Ergänzungsleistungsgesetzes vom 22. September 1991 [ELG/SG; sGS 351.5]), hat der Kanton Thurgau diese Aufgabe der kantonalen Ausgleichskasse übertragen
BGE 141 V 255 S. 259
(§ 2 Abs. 1 des Gesetzes vom 25. April 2007 über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung [ELG/TG; RB 831.3]).
2.2
Die Entstehungsgeschichte der erwähnten Ausnahmebestimmung (vgl. dazu
BGE 138 V 23
E. 3.4.2 S. 28) zeigt, dass es dem Gesetzgeber darum ging, bei Heimbewohnern eine Kongruenz zwischen Ergänzungsleistung und Sozialhilfe herzustellen. Mit der dem Bundesgesetz vom 24. Juni 1977 über die Zuständigkeit für die Unterstützung Bedürftiger (Zuständigkeitsgesetz, ZUG; SR 851.1) nachempfundenen Ausnahmeregelung im zweiten Satz von
Art. 21 Abs. 1 ELG
sollten zum einen die zwischen den Kantonen immer wieder auftretenden, sich an der Wohnsitzfrage entzündenden Streitigkeiten über die ergänzungsleistungsrechtliche Zuständigkeit bei Heimbewohnern künftig möglichst vermieden werden (vgl.
BGE 138 V 23
E. 3.4.2 am Anfang S. 28). Zum andern ging die gesetzgeberische Regelungsabsicht dahin, die Benachteiligung der Standortkantone von Heimen, Anstalten und vergleichbaren Institutionen (vgl.
BGE 138 V 23
E. 3.1.2 f. S. 25 f.) fortan zu verringern. Wie weit die Kongruenz zwischen Ergänzungsleistung und Sozialhilfe reicht, beantwortet sich nach der jeweiligen Rechtsanwendungslage. So hat das Bundesgericht im Zusammenhang mit dem fraglichen Eintritt einer EL-Bezügerin in eine der angeführten Einrichtungen festgestellt, ein solcher bleibe nach dem klaren Willen des Gesetzgebers, wie er auch im Wortlaut seinen Niederschlag gefunden hat, ohne Bedeutung für die Frage der Zuständigkeit für die Festsetzung und die Auszahlung der Ergänzungsleistung, unabhängig davon, ob am Ort der Institution zivilrechtlicher Wohnsitz begründet wird. Zuständig ist bzw. bleibt der Kanton, in welchem die Ergänzungsleistung beziehende Person unmittelbar vor dem Heim- oder Anstaltseintritt Wohnsitz hatte. Insoweit stellt sich die in der Praxis häufig schwierige Abgrenzung von wohnsitzbegründendem freiwilligem Eintritt in ein Heim oder eine Anstalt und nicht wohnsitzrelevanter Unterbringung nicht mehr. Für den Fall eines Aufenthalts in einem Heim, einem Spital oder einer andern Anstalt hat der Gesetzgeber somit eine Regelung getroffen, bei welcher - ähnlich wie im Fürsorgebereich (
BGE 138 V 23
E. 3.1.2 f. S. 25 f.) - der zivilrechtliche Wohnsitz und die Zuständigkeit für die Festsetzung und die Auszahlung der (Ergänzungs-)Leistung auseinanderfallen können (SVR 2011 EL Nr. 6 S. 17, 9C_972/2009 E. 5.3.2.2; zum Ganzen:
BGE 138 V 23
E. 3.4.3 S. 29).
BGE 141 V 255 S. 260
2.3
Nach
Art. 9 Abs. 5 lit. h ELG
bestimmt der Bundesrat die Definition des Heimes. Auf dieser - weiten - Delegationsgrundlage hat er in
Art. 25a Abs. 1 ELV
(SR 831.301) geregelt, dass als Heim jede Einrichtung gilt, die von einem Kanton als Heim anerkannt wird oder über eine kantonale Betriebsbewilligung verfügt. Das Bundesgericht hat im Grundsatzentscheid
BGE 139 V 358
erkannt, dass diese Heimdefinition bundesrechtskonform ist: Wenn eine wesentliche Funktion der einheitlichen Definition darin bestehen soll (BBl 2005 6228 zu Art. 9 Abs. 5 lit. h E-ELG), dass EL-Bezügerinnen und -Bezüger beim Kantonswechsel wissen, ob sie EL-rechtlich neu in ein Heim eintreten oder in ein anderes Heim wechseln oder aber mit dem Wechsel aus einem Heim austreten (was auch kantonsintern von Relevanz ist), wird dieser gesetzlichen Vorgabe mit einer kantonalen Liste ohne weiteres Genüge getan. Flankierend hinzu kommen die Regelung in
Art. 25a Abs. 2 ELV
(bei IV-Hilflosenentschädigung) und die Koordination mit dem Bundesgesetz vom 6. Oktober 2006 über die Institutionen zur Förderung der Eingliederung von invaliden Personen (IFEG; SR 831.26;
BGE 139 V 358
E. 4.3 S. 364). Aufgrund des übergeordneten Rechts besteht kein zusätzlicher Regelungsbedarf durch Verwaltung und Gerichte. Die Rechtsprechung gemäss
BGE 118 V 142
über den EL-rechtlichen Heimbegriff ist durch die bundesrechtliche Neuregelung überholt. Ausgelegt nach Wortlaut, Sinn und Zweck und den ihr zugrunde liegenden Wertungen ist die Regelung in
Art. 25a ELV
verfassungs- und gesetzeskonform. Wenn
Art. 9 Abs. 5 lit. h ELG
regelt, der Bundesrat bestimme die Definition des Heimes, kann dieser die Kompetenz an die Kantone weiterdelegieren. Es ist im Sinne der ratio legis, dass dafür die Kantone zuständig sind, soweit nicht ohnehin bundesrechtliche Regelungen Platz greifen (
BGE 139 V 358
E. 4.5 S. 365). Das aus den Materialien ersichtliche Postulat einer einheitlichen Heimdefinition ist von
Art. 25a ELV
in dem Sinne erfüllt, als die Verordnungsnorm die Anerkennungsvoraussetzungen klar und einheitlich definiert. Dass deren Erfüllung
in concreto
von einer kantonalen Heimzulassung abhängt, macht die bundesrechtlich geforderte Einheitlichkeit keineswegs rückgängig (
BGE 139 V 358
E. 5.1 S. 365).
3.
3.1
Entgegen der Auffassung der Vorinstanz erstreckt sich die vom Bundesrat im Rahmen delegierter Rechtsetzungsbefugnis vorgenommene "Definition des Heimes" (
Art. 9 Abs. 5 lit. h ELG
) auf das
BGE 141 V 255 S. 261
gesamte ELG: Die in
Art. 25a Abs. 1 ELV
vorgenommene Beschränkung des EL-rechtlichen Heimbegriffs auf Einrichtungen, die entweder von einem Kanton als Heim anerkannt sind oder über eine kantonale Betriebsbewilligung verfügen, gilt grundsätzlich
überall
dort, wo das ELG von Heim (home; istituto) spricht. Ansonsten würde das mit der Delegationsnorm anvisierte gesetzgeberische Ziel, nämlich die Bestimmung eines einheitlichen und klaren, im gesamten EL-Bereich massgeblichen Heimbegriffs, weitgehend vereitelt. Es kann daher in Art. 21 Abs. 1 zweiter Satz ELG von vornherein kein anderer Heimbegriff gelten (vgl. auch CARIGIET/KOCH, Ergänzungsleistungen zur AHV/IV, 2. Aufl. 2009, S. 79 unten). Wenn - wie dargelegt - aus Sicht der EL-Bezüger im Falle eines Kantonswechsels Klarheit darüber herrschen soll, ob sie bei der Ermittlung ihrer Ergänzungsleistungen künftig weiterhin als "in Heimen oder Spitälern lebende" (
Art. 10 Abs. 2 ELG
) oder aber als "zu Hause lebende Personen" (
Art. 10 Abs. 1 ELG
) qualifiziert werden (vgl. E. 2.3 hievor), gilt dies für die Frage nach der interkantonalen Zuständigkeit der EL-Organe nicht minder. Würde diesbezüglich (wie das kantonale Gericht geltend macht) vom neu definierten Heimbegriff gemäss
Art. 25a Abs. 1 ELV
in Verbindung mit
Art. 9 Abs. 5 lit. h ELG
abgewichen und auf den früheren (mit
BGE 139 V 358
obsolet gewordenen) unscharfen Heimbegriff nach
BGE 118 V 142
zurückgegriffen, würden sich daran wiederum Streitigkeiten zwischen den Kantonen entzünden, was der Gesetzgeber mit der Ausnahmeregelung im zweiten Satz von
Art. 21 Abs. 1 ELG
gerade eindämmen wollte (vgl. E. 2.2 hievor). Die einheitliche Begriffsbestimmung von
Art. 25a Abs. 1 ELV
entbindet denn auch EL-Durchführungsstellen und Gerichte von schwierigen Abgrenzungsfragen, indem sich die genannten Behörden an das rein formelle Kriterium einer kantonalen Heimanerkennung oder einer kantonalen Betriebsbewilligung als Heim zu halten haben (vgl. auch SVR 2012 AHV Nr. 17 S. 65, 9C_177/2012 zu
Art. 66
bis
Abs. 3 AHVV
[SR 831.101], dessen Wortlaut mit demjenigen von
Art. 25a Abs. 1 ELV
übereinstimmt).
3.2
Unter sämtlichen Verfahrensbeteiligten ist zu Recht unbestritten, dass der Beschwerdegegner seinen Lebensmittelpunkt schon vor vielen Jahren ins Kurheim Y. verlegte, nachdem er dort im Jahre 1997 aus freien Stücken als Pensionär eingetreten war (vgl.
BGE 133 V 309
). Begründete er somit im thurgauischen Z. neuen zivilrechtlichen Wohnsitz, ist gemäss Art. 21 Abs. 1 erster Satz ELG die
BGE 141 V 255 S. 262
Ausgleichskasse des Kantons Thurgau für die Festsetzung und die Auszahlung der Ergänzungsleistung zuständig (E. 2.1 hievor in fine). Die Ausnahmebestimmung des zweiten Satzes der angeführten Norm gelangt nach dem Gesagten nicht zur Anwendung, weil das Kurheim Y. unbestrittenermassen weder über eine kantonale Heimanerkennung noch über eine kantonale Betriebsbewilligung als Heim im Sinne von
Art. 25a Abs. 1 ELV
verfügt. An diesem Ergebnis änderte sich nur etwas, wenn das Kurheim Y. als "andere Anstalt" gemäss Art. 21 Abs. 1 zweiter Satz ELG zu betrachten wäre. Dem ist im Folgenden nachzugehen. Dass das Kurheim nicht als Spital im Sinne der genannten Bestimmung zu qualifizieren ist, steht hingegen ausser Frage (vgl.
Art. 39 Abs. 1 KVG
; Rz. 3151.01 der Wegleitung des BSV über die Ergänzungsleistungen zur AHV und IV [WEL] in der ab 1. April 2011 gültigen Fassung).
4.
4.1
Der in Art. 21 Abs. 1 zweiter Satz verwendete Begriff der andern Anstalt (tout autre établissement; altro stabilimento) ist im Lichte von Art. 23 Abs. 1 zweiter Halbsatz ZGB auszulegen, wonach der Aufenthalt zum Zweck der Ausbildung oder die Unterbringung einer Person in einer Erziehungs- oder Pflegeeinrichtung, einem Spital oder einer Strafanstalt für sich allein keinen Wohnsitz begründet. Diese Bestimmung wurde im Zuge der Revision des Vormundschaftsrechts mit Wirkung ab 1. Januar 2013 eingefügt. Zuvor war der Aufenthalt zu Sonderzwecken unter dem Randtitel "Aufenthalt in Anstalten" ("séjour dans des établissements"; "dimora in uno stabilimento") in aArt. 26 ZGB geregelt. Dessen Inhalt wurde nun - systematisch richtig - unmittelbar im Anschluss an die Definition des Wohnsitzes eingereiht. Eine materielle Änderung des geltenden Rechts wurde nicht vorgenommen, lediglich eine redaktionelle Überarbeitung. Mit der Formulierung "für sich allein" wurde ferner klargestellt, dass die Begründung eines neuen Wohnsitzes am Ort der Anstalt (heute vorab Einrichtung) nicht per se ausgeschlossen ist, wenn der dortige Aufenthalt nicht nur dem Sonderzweck dient (Botschaft vom 28. Juni 2006 zur Änderung des ZGB [Erwachsenenschutz, Personenrecht und Kindesrecht], BBl 2006 7001 ff., 7096 zum Entwurf für einen zweiten Halbsatz von
Art. 23 Abs. 1 ZGB
; DANIEL STAEHELIN, in: Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch, Bd. I, 5. Aufl. 2014, N. 19a zu
Art. 23 ZGB
). Es liegt auf der Hand, dass der Aufenthalt in einer Erziehungs- oder Pflegeeinrichtung bzw. in einem Spital gemäss Art. 23 Abs. 1 zweiter Halbsatz ZGB
BGE 141 V 255 S. 263
grundsätzlich einem Heim- resp. einem Spitalaufenthalt im Sinne von Art. 21 Abs. 1 zweiter Satz ELG entspricht. Ohne dass hier der Anwendungsbereich für die Kategorie der andern Anstalt nach der letztgenannten Bestimmung abschliessend ausgelotet werden müsste, ist offenkundig, dass das Kurheim Y. nicht unter diesen Begriff, sondern an sich unter denjenigen des Heimes fällt. Nur das Fehlen von kantonaler Anerkennung und Betriebsbewilligung steht - wie dargelegt - der entsprechenden EL-rechtlichen Qualifikation entgegen.
4.2
Aus
Art. 5 ZUG
lässt sich für die hier relevante Rechtsanwendungslage (vgl. E. 2.2 hievor) nichts Wesentliches ableiten. Nach der seit 1. Januar 2013 geltenden, ebenfalls im Zuge der Revision des Vormundschaftsrechts redaktionell überarbeiteten (BBl 2006 7118 Ziff. 2.5.25) Fassung dieser Bestimmung begründen der Aufenthalt in einem Heim, einem Spital oder einer anderen Einrichtung und die behördliche Unterbringung einer volljährigen Person in Familienpflege keinen Unterstützungswohnsitz (vgl. auch
Art. 9 Abs. 3 ZUG
). In der bis Ende Dezember 2012 gültig gewesenen Fassung war statt von einer anderen Einrichtung noch von einer anderen Anstalt die Rede; auch sonst stimmte aArt. 5 ZUG (und stimmt die geltende Fassung der Norm) mit dem Wortlaut von Art. 21 Abs. 1 zweiter Satz ELG (in den drei Sprachversionen) weitgehend überein. Entscheidend ist indessen, dass die Norm über die örtliche Zuständigkeit der EL-Organe geprägt ist durch die klare und formelle bundesrätliche Begriffsbestimmung des Heims und die ebenfalls griffige Definition des Spitals durch die Verwaltungspraxis (vorstehende E. 3.1 und 3.2 in fine). Unter diesen Umständen kommt einem Auffangtatbestand nur geringe Bedeutung zu; der Anwendungsbereich der "andern Anstalt" wird im EL-Bereich naturgemäss schmal bleiben.
Im Zusammenhang mit der interkantonalen Zuständigkeit für die Sozialhilfe wird demgegenüber ein anderes Konzept verfolgt: Die Begriffe des Heims, des Spitals und der anderen Einrichtung (bzw. der anderen Anstalt) werden im ZUG bewusst nicht definiert. Daraus ergibt sich etwa für das "Heim", dass die Anwendung von
Art. 5 ZUG
stets hinsichtlich des zur Diskussion stehenden Sachverhalts zu prüfen ist, um einer zeitgemässen Interpretation des Heimbegriffes gerecht zu werden. Als Beurteilungskriterium kommen etwa die Art und das Mass der angebotenen Dienstleistungen, der Grad der feststellbaren Fremdbestimmung sowie der Abhängigkeitsgrad der
BGE 141 V 255 S. 264
betroffenen Person in Frage (ZBl 102/2001 S. 331, 2A.603/1999 E. 3a). Überhaupt sind die Begriffe des Heims, des Spitals und der anderen Anstalt sehr weit auszulegen; sie sollen sich auf alle möglichen Versorgungseinrichtungen beziehen, in welche erwachsene Personen zur persönlichen Betreuung oder Pflege, zur ärztlichen oder therapeutischen Behandlung, zur Ausbildung oder Rehabilitation untergebracht werden oder freiwillig eintreten (WERNER THOMET, Kommentar zum Bundesgesetz über die Zuständigkeit für die Unterstützung Bedürftiger [ZUG], 2. Aufl. 1994, N. 110 zu
Art. 5 ZUG
). Bezeichnenderweise werden denn auch vom Begriff der anderen Anstalt im Sinne eines eigentlichen Auffangtatbestandes all jene Versorgungseinrichtungen erfasst, die weder als Heim noch als Spital gelten (THOMET, a.a.O., N. 111 zu
Art. 5 ZUG
). | 4,392 | 3,303 | 2 | 0 | CH_BGE_007 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_007_BGE-141-V-255_2015-04-08 | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=21&from_date=&to_date=&from_year=2015&to_year=2015&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=207&highlight_docid=atf%3A%2F%2F141-V-255%3Ade&number_of_ranks=280&azaclir=clir | BGE_141_V_255 |
|||
ecb65740-d29b-450d-a947-742f0d62d184 | 1 | 80 | 1,352,440 | 94,694,400,000 | 1,973 | de | Sachverhalt
ab Seite 61
BGE 99 Ib 60 S. 61
A.-
Die Gemeinde Gossau hat beim Bundesamt für Zivilschutz das Begehren um Gewährung eines Bundesbeitrages an die Errichtung einer Sanitätshilfsstelle im Gesamtkostenbetrag von Fr. 2 097 170.-- gestellt. Das Bundesamt sicherte einen Bundesbeitrag von 60% zu, jedoch nur auf einem reduzierten Betrag der Anlagekosten von Fr. 1 805 000.--. Die entsprechende Herabsetzung des beitragsberechtigten Betrages um Fr. 292 170.-- betraf die 5 Positionen Gebäudekosten, Sanitäre Installationen, Baunebenkosten, Grundstückerwerb und Bauzinse. Die Gemeinde anerkannte den Abzug der Gebäudekosten und der Kosten für sanitäre Installationen, führte aber Beschwerde gegen den Abzug der Baunebenkosten, der Grundstückerwerbskosten und der Bauzinse.
Die Eidg. Rekurskommission für Zivilschutzangelegenheiten wies das Begehren um Ausrichtung eines Bundesbeitrages an die Landerwerbskosten ab. Dagegen sicherte sie der Gemeinde die Bundesbeiträge von 60% "an die effektiv von ihr zu bezahlenden oder zu verrechnenden allgemeinen Nebenkosten an die Kanalisations-, Anschluss-, Klär- und Feuerschutzbeiträge sowie die Bauzinse" zu.
B.- | 266 | 180 | 2 | 0 | Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragen das Eidg. Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) und die Eidg. Finanzverwaltung, die Beitragszusicherung für Baunebenkosten und Bauzinse (Ziff. 1 des vorinstanzlichen Dispositivs) sei aufzuheben.
Die Politische Gemeinde Gossau und die Eidg. Rekurskommission für Zivilschutzangelegenheiten schliessen auf Abweisung der Beschwerde.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Gegen den Entscheid der Eidg. Rekurskommission für Zivilschutzangelegenheiten ist nach. 97 und
Art. 98 lit. e OG
BGE 99 Ib 60 S. 62
die Verwaltungsgerichtsbeschwerde zulässig. Unzulässigkeitsgründe im Sinne der Art. 99 bis 102 OG liegen nicht vor; insbesondere ist Art. 99 lit. h nicht anwendbar, da das Bundesrecht im vorliegenden Fall einen Anspruch auf die Subvention einräumt (Art. 69 Bundesgesetz über den Zivilschutz vom 25. März 1962; ZSG). Zur Beschwerde ist nach
Art. 103 lit. b OG
das in der Sache zuständige Departement - hier das EJPD (
Art. 8 Abs. 1 ZSG
) - berechtigt. Das EJPD lässt sich unter Hinweis auf die vermögensrechtliche Natur der Streitigkeit und in analoger Anwendung von
Art. 119 Abs. 2 OG
durch die Eidg. Finanzverwaltung vertreten. Dies ist nicht zu beanstanden. Die Eidg. Finanzverwaltung ist jedoch nicht Partei.
2.
Nach
Art. 69 Abs. 1 ZSG
leistet der Bund Beiträge an Massnahmen, die er verbindlich vorschreibt und die für die Betroffenen finanzielle Folgen haben. Sie betragen unter Berücksichtigung der Finanzkraft der Kantone und mit Rücksicht auf die Berggebiete 55 bis 65 Prozent der Kosten. Nicht als beitragsberechtigte Kosten gelten nach Art. 106 Abs. 3 der Verordnung über den Zivilschutz vom 24. März 1964 in der Fassung gemäss BRB vom 14. Januar 1970 (ZSV) kantonale und kommunale Abgaben und Gebühren sowie Kapitalzinsen.
Unbestritten ist, dass es sich bei den in der Beitragszusicherung umstrittenen Positionen einerseits um Kapitalzinse und anderseits - mit Ausnahme der gesondert zu prüfenden Unterposition "Anteil allgemeine Nebenkosten" - um Abgaben und Gebühren im Sinne von
Art. 106 Abs. 3 ZSV
handelt. Streitig ist die Frage, ob die Verordnungsbestimmung gesetzmässig ist, d.h. ob sie sich im Rahmen der gesetzlichen Delegationsnorm hält. Die Frage kann im verwaltungsgerichtlichen Verfahren geprüft werden, denn nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts unterliegen unselbständige Verordnungen des Bundesrates grundsätzlich der richterlichen Prüfung hinsichtlich ihrer Verfassungs- und Gesetzmässigkeit (vgl. insbesondere
BGE 97 II 272
;
BGE 94 I 88
). Die Verfassungsmässigkeit des
Art. 106 Abs. 3 ZSV
steht nicht zur Diskussion. Es besteht auch kein Anlass, die Frage hier aufzuwerfen; umstritten ist einzig die Gesetzmässigkeit der Norm. Bei deren Beurteilung ist zu berücksichtigen, dass gesetzliche Delegationsnormen - je nach ihrem mehr oder weniger generellen Inhalt - die Exekutive zum Erlass von bloss präzisierenden Verordnungsbestimmungen
BGE 99 Ib 60 S. 63
intra legem, einschliesslich sinngemässe Ergänzung des Gesetzes im Rahmen seines Zweckes, ermächtigen können oder aber darüber hinaus zum Erlass ergänzender Verordnungsbestimmungen praeter legem befugen und dass die Grenzen zwischen den beiden Ermächtigungsformen fliessend sind (
BGE 98 Ia 287
mit Hinweisen).
a)
Art. 89 Abs. 1 ZSG
ermächtigt den Bundesrat, die "erforderlichen Ausführungs- und Verfahrensbestimmungen" zu erlassen. Vorinstanz und EJPD sind sich darüber nicht einig, ob es sich bei
Art. 106 Abs. 3 ZSV
um eine solche erforderliche Ausführungsbestimmung zu
Art. 69 Abs. 1 ZSG
handelt.
Art. 89 Abs. 1 ZSG
verleiht dem Bundesrat nicht die weitgehende Kompetenz zum Erlass gesetzesändernder Verordnungsbestimmungen. Die Norm steht im Abschnitt der Übergangs- und Schlussbestimmungen; sie ist sehr allgemein formuliert. Ausserdem bestehen im ZSG spezielle Delegationsnormen, welche den Bundesrat ermächtigen, in Einzelfragen ergänzende Bestimmungen zu erlassen (vgl. insbesondere Art. 21, 34 Abs. 3, 45, 46, 50, 59, 62, 68). Solche Ermächtigungen in bestimmten Bereichen wären überflüssig, wenn
Art. 89 Abs. 1 ZSG
die generelle Kompetenz zum Erlass von gesetzesergänzenden Verordnungsbestimmungen einräumte. Die systematische Stellung und die generelle Formulierung der Norm sowie das Bestehen gesonderter Einzelermächtigungen lassen vielmehr den Schluss zu, dass
Art. 89 Abs. 1 ZSG
lediglich zum Erlass von Vollzugsvorschriften präzisierenden Charakters ermächtigt.
Nachdem
Art. 69 Abs. 1 ZSG
selbst keine spezielle Ermächtigung zum Erlass ergänzender Verordnungsbestimmungen enthält, bleibt zu prüfen, ob sich
Art. 106 Abs. 3 ZSV
im Rahmen der materiellen Grundnorm (
Art. 69 Abs. 1 ZSG
) und damit im Rahmen einer bloss präzisierenden Ausführungsbestimmung im Sinne von
Art. 89 Abs. 3 ZSG
hält.
b)
Art. 69 Abs. 1 ZSG
bedarf der Präzisierung. Es muss namentlich klargestellt werden, was unter den bundesrechtlich vorgeschriebenen "Massnahmen" einerseits und den "Kosten" anderseits im einzelnen zu verstehen ist.
Hinsichtlich der von den Gemeinden auf dem Bausektor zu treffenden "Massnahmen" kann auf den Grundsatz des
Art. 68 Abs. 1 ZSG
und auf
Art. 105 ZSV
, der sich auf eine spezielle Delegationsnorm stützt (
Art. 68 Abs. 2 ZSG
), zurückgegriffen werden. Bezüglich des Kostenbegriffs enthält das ZSG dagegen
BGE 99 Ib 60 S. 64
weder nähere materielle Gesetzesbestimmungen noch eine besondere Ermächtigungsnorm zum Erlass ergänzender Ausführungsbestimmungen. Mangels spezieller gesetzlicher Einschränkungen ist somit davon auszugehen, dass grundsätzlich alle Kosten der vorgeschriebenen Massnahmen beitragsberechtigt sind. Dieser Grundsatz kann in Anwendung von
Art. 89 Abs. 1 ZSG
durch Verordnungsvorschrift nicht beschränkt werden. Damit ist aber nicht ausgeschlossen, dass mögliche Abgrenzungsprobleme auf dem Verordnungsweg geregelt werden. So ist abzugrenzen, inwieweit indirekte Kosten (wie beispielsweise Finanzierungskosten) den subventionsberechtigten Zivilschutzmassnahmen zuzurechnen sind oder zu entscheiden, ob allfällige kommunale und kantonale Abgaben und Gebühren, Zeitverwendung von Behörden u.a.m. überhaupt zu den subventionsberechtigten Kosten gehören. Solche Fragen in einer für die Subventionsentrichtung praktikablen Weise und im Rahmen des
Art. 69 ZSG
zu regeln, ermächtigt
Art. 89 Abs. 3 ZSG
. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Zweck der Subventionierungsbestimmungen des ZSG darin liegt, Bundesbeiträge nur an die eigentlichen (mehr oder weniger unmittelbaren) Kosten der zu Zivilschutzmassnahmen Verpflichteten zu entrichten. In dieser Sicht sind einerseits finanzielle Aufwendungen, welche direkt oder indirekt in Form von Abgaben und Gebühren an den Kostenträger zurückfallen, nicht als Kosten im Sinne von
Art. 69 Abs. 1 ZSG
zu betrachten. Anderseits erscheinen auch Kapitalzinsen nur als indirekte Kosten im Sinne von Finanzierungskosten. Sie stehen zwar mit den subventionsberechtigten Massnahmen im Zusammenhang und belasten buchhalterisch den Kostenträger im vollen Umfang, doch ist nicht zu übersehen, dass sie nur dann anfallen, wenn die Finanzierung im Wege der sog. Fremdfinanzierung erfolgt. Grundsätzlich sind indes sowohl Eigen- als auch Fremdfinanzierung möglich. Die Wahl des Finanzierungsmodus hängt von Gesichtspunkten ab, die keinen unmittelbaren Bezug zum erstellenden Werk haben.
Es führte nun - ohne einheitliche Regelung dieser Abgrenzungsfragen - zu einem aufwendigen und komplizierten Verfahren, müsste in jedem Einzelfall genau herausgeschält und ausgeschieden werden, welcher Anteil an Abgaben und Gebühren den massnahmeverpflichteten Subventionsempfänger effektiv belastet, ob überhaupt bzw. in welchem Ausmass
BGE 99 Ib 60 S. 65
Fremdfinanzierung notwendig war bzw. ob allenfalls durch Eigenfinanzierung finanzielle Folgen in der Form von Kapitalzinsen hätten vermieden werden können. Ohne einheitliche Regelung dieser Abgrenzungsfragen dürfte ein Entscheid von Fall zu Fall Gefahr laufen, in Willkür und rechtsungleiche Behandlung zu verfallen.
Art. 106 Abs. 3 ZSV
regelt nun diese Fragen dergestalt, dass er durch Präzisierung des Kostenbegriffs des
Art. 69 ZSG
eine einheitliche Beitragsentrichtung in praktikabler, langwierige und aufwendige Verfahren vermeidender Weise ermöglicht. So verstanden, erscheint sein Gehalt mit der materiellen Grundnorm vereinbar. Er entspricht überdies materiell weitgehend dem, was auch in andern Bereichen des eidgenössischen Subventionswesens gilt.
c) Darf demnach festgestellt werden, dass die Regelung nach
Art. 106 Abs. 3 ZSV
im Rahmen der gesetzlichen Delegation als vertretbar erscheint, hat der Bundesrat beim Erlass dieser Vorschrift im Rahmen seiner Kompetenzen gehandelt. Die Verordnungsbestimmung muss daher angewandt werden.
Das führt dazu, dass die Beitragszusicherung bezüglich der umstrittenen Positionen - unter Vorbehalt der sog. Baunebenkosten - in Anwendung von
Art. 106 Abs. 3 ZSV
abzulehnen, der angefochtene Entscheid aufzuheben und die Verwaltungs gerichtsbeschwerde in diesem Punkte zu schützen ist. Dabei ist zu bemerken, dass die Politische Gemeinde Gossau daraus, dass das Bundesgericht von der Praxis der Eidg. Rekurskommission abweicht, nicht ableiten kann, sie werde gegenüber andern Subventionsempfängern rechtsungleich behandelt. Das Bundesgericht wird durch die Praxis der Vorinstanz nicht gebunden (vgl. auch
BGE 96 I 120
und 201).
3.
Die Subventionsberechtigung der umstrittenen Unterposition "Anteil allgemeine Nebenkosten" hat die Vorinstanz mit der Begründung anerkannt, der Ausschluss der Kosten sei ungerechtfertigt, weil als finanzielle Folgen im Sinne von
Art. 69 Abs. 1 ZSG
auch die allgemeinen Baunebenkosten zu betrachten seien. Insbesondere sehe selbst
Art. 106 Abs. 3 ZSV
deren Ausschluss nicht vor. Das EJPD hält dem entgegen, diese Unterposition sei nie spezifiziert worden; dem Umstand, dass sie gemeinsam mit Gebühren und Abgaben genannt werde, zwinge zur Annahme, dass es sich um gleichartige, also nicht beitragsberechtigte Kosten handle. Die Politische Gemeinde
BGE 99 Ib 60 S. 66
Gossau hat diese Argumentation in ihrer Vernehmlassung beanstandet. Sie macht geltend, dass erst heute über die Unterposition Auskunft verlangt werde. Es handle sich um Erschliessungskostenanteile, welche gemäss Tarif der Dorfkorporation Gossau erhoben würden.
Damit ist die Frage gestellt, ob es sich bei den genannten Nebenkostenanteilen um kommunale Gebühren handelt, die gemäss
Art. 106 Abs. 3 ZSV
nicht subventionsberechtigt sind, oder um Kosten, an die ein Bundesbeitrag zu entrichten ist. Diese Frage hat die Vorinstanz im Lichte der vorangehenden Erwägungen neu zu beurteilen und zu entscheiden.
Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird gutgeheissen, der angefochtene Entscheid aufgehoben und die Sache zur Neuentscheidung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen. | 2,305 | 1,827 | CH_BGE_003 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_003_BGE-99-Ib-60_1973 | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=34&from_date=&to_date=&from_year=1973&to_year=1973&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=331&highlight_docid=atf%3A%2F%2F99-IB-60%3Ade&number_of_ranks=359&azaclir=clir | BGE_99_Ib_60 |
|||
ecc9dd2e-4286-4175-8f3b-0366ff63a688 | 1 | 82 | 1,345,328 | 1,260,230,400,000 | 2,009 | de | Sachverhalt
ab Seite 107
BGE 136 III 107 S. 107
Die Statuten der am 18. März 1940 ins Handelsregister eingetragenen Y. AG enthielten spätestens seit 1960 eine Schiedsklausel für Streitigkeiten zwischen der Gesellschaft und ihren Organen bzw. Aktionären. Gemäss Artikel 28 der zuletzt geltenden Statuten der Y. AG lautete die Schiedsklausel wie folgt:
"Rechtsstreitigkeiten in Gesellschaftsangelegenheiten zwischen der Gesellschaft und ihren Organen oder Aktionären sowie deren Rechtsnachfolgern entscheidet endgültig (einschliesslich aller Vor- und Zwischenfragen) unter Ausschluss des ordentlichen Rechtsweges ein dreiköpfiges Schiedsgericht mit Sitz in Biel. (...)
Gerichtsstand ist Biel. Das Schiedsgericht entscheidet nach schweizerischem Recht. Es ordnet sein Verfahren selbst und regelt auch die
BGE 136 III 107 S. 108
Kostenfrage. Das Verfahren soll möglichst einfach sein. Die Parteien haben Anspruch auf ein schriftlich begründetes Urteil. Subsidiär gilt die bernische Zivilprozessordnung."
Am 5. Januar 2004 wurde der Konkurs über die Y. AG eröffnet. A. (Beschwerdegegnerin), Gläubigerin und Aktionärin der konkursiten Gesellschaft, erhob im März 2007 beim Handelsgericht des Kantons Bern Klage und verlangte von Verwaltungsratsmitgliedern Fr. 1'000'000.- aus aktienrechtlicher Verantwortlichkeit, nachdem sie sich diese Ansprüche gemäss
Art. 260 SchKG
hatte abtreten lassen. Da die Schiedseinrede erhoben wurde, beschränkte das Handelsgericht die Hauptverhandlung auf die Frage der Zuständigkeit, die es im Urteil vom 7. Juli 2009 bejahte.
Die Beschwerdeführerin beantragt dem Bundesgericht, das Urteil des Handelsgerichts aufzuheben und dessen Zuständigkeit zu verneinen.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
(Zusammenfassung) | 361 | 278 | Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.5
Nach einhelliger Lehre ist grundsätzlich auch die Konkursmasse einschliesslich allfälliger Abtretungsgläubiger nach
Art. 260 SchKG
an die vom Gemeinschuldner abgeschlossene Schiedsvereinbarung gebunden (BERGER/KELLERHALS, Internationale und interne Schiedsgerichtsbarkeit in der Schweiz, 2006, Rz. 511 S. 178; RÜEDE/HADENFELDT, Schweizerisches Schiedsgerichtsrecht, 2. Aufl. 1993, S. 81; LALIVE/POUDRET/REYMOND, Le droit de l'arbitrage interne et international en Suisse, 1989, N. 1.2 zu
Art. 4 KSG
; PIERRE JOLIDON, Commentaire du Concordat suisse sur l'arbitrage, 1984, S. 141; VOGEL/SPÜHLER, Grundriss des Zivilprozessrechts und des internationalen Zivilprozessrechts der Schweiz, 8. Aufl. 2006, Rz. 43 zu Kapitel 14; vgl. auch Beschluss des Handelsgerichts des Kantons Zürich vom 8. Juli 1991 E. 2.2, in: ZR 90/1991 S. 216 f.; Entscheid des Walliser Kantonsgerichts vom 9. Juli 1986, in: Zeitschrift für Walliser Rechtsprechung [ZWR] 1986 S. 406). Das Bundesgericht hat die Gültigkeit der Schiedsklausel für die Konkursmasse im Zusammenhang mit einer Kollokationsklage in einem älteren Entscheid zwar verneint (
BGE 33 II 648
E. 4 S. 654). Auf die Tragweite dieses Entscheids braucht jedoch nicht näher eingegangen zu werden, da für
BGE 136 III 107 S. 109
Ansprüche aus aktienrechtlicher Verantwortlichkeit besondere Regeln gelten.
2.5.1
Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin macht die Beschwerdegegnerin im Rahmen der Verantwortlichkeitsansprüche nach
Art. 757 OR
genau besehen nicht die Ansprüche der Gesellschaft gegenüber den Organen geltend, sondern diejenigen der Gläubigergesamtheit. Aus diesem Grund kann der Belangte der Abtretungsgläubigerin nicht sämtliche Einreden gegen sie persönlich und gegen die Gesellschaft entgegengehalten, sondern nur diejenigen, die ihm auch gegenüber der Gläubigergesamtheit zustehen (
BGE 117 II 432
E. 1b/gg S. 440 mit Hinweisen). Die Ablösung des eigenen Anspruchs der Gesellschaft durch denjenigen der Gläubigergesamtheit im Konkurs hat nicht zum Zweck, den Gläubigern mehr Rechte zu verschaffen, als die Gesellschaft jemals hatte. Sie dient allein dem Ausschluss derjenigen Einreden, die den Abtretungsgläubigern gegenüber nicht gerechtfertigt sind. Einreden, die unabhängig von der Willensbildung der Gesellschaft vor der Konkurseröffnung bestanden haben, können zulässig bleiben, beispielsweise die Einrede der Verrechnung mit Forderungen, die schon vor der Konkurseröffnung bestanden (
BGE 132 III 342
E. 4.4 S. 351 mit Hinweisen; vgl. auch BERNARD CORBOZ, La responsabilité des organes en droit des sociétés, 2005, N. 22 zu
Art. 757 OR
).
2.5.2
Bei der gestützt auf eine in den Statuten enthaltene Schiedsklausel erhobenen Schiedseinrede handelt es sich nicht um eine Einrede, die unabhängig von der Willensbildung der Gesellschaft besteht. Es rechtfertigt sich nicht, die Einrede gegenüber der Gläubigergesamtheit, die keinen Einfluss auf die Statuten hatte, zuzulassen, sonst bestünde die Gefahr, dass die Organe durch entsprechende statutarische Bestimmungen die Durchsetzung der Verantwortlichkeitsansprüche der Gläubiger im Konkurs erschweren. Massgebend ist, ob die Gläubigergesamtheit an die Schiedsklausel gebunden ist. Eine solche Bindung kann nicht aus den Statuten der Gesellschaft abgeleitet werden (vgl. PETER BÖCKLI, Schweizer Aktienrecht, 4. Aufl. 2009, § 18 Rz. 358 mit weiteren Hinweisen; FORSTMOSER/MEIER-HAYOZ/NOBEL, Schweizerisches Aktienrecht, 1996, § 36 Rz. 118; WALTER J. HABSCHEID, Statutarische Schiedsgerichte und Schiedskonkordat, Schweizerische Aktiengesellschaft [SAG] 57/1985 S. 166). | 900 | 619 | 2 | 0 | CH_BGE_005 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_005_BGE-136-III-107_2009-12-08 | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=2&from_date=&to_date=&from_year=2009&to_year=2009&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=13&highlight_docid=atf%3A%2F%2F136-III-107%3Ade&number_of_ranks=241&azaclir=clir | BGE_136_III_107 |
|||
ecd4a6f2-5b6a-49c7-8eb1-64226d6974b0 | 1 | 78 | 1,353,590 | 1,606,176,000,000 | 2,020 | de | Sachverhalt
ab Seite 269
BGE 147 I 268 S. 269
A.
Die türkische Staatsangehörige A. (geb. 1953) lebt seit dem Jahr 1975 von ihrem religiös angetrauten Ehemann getrennt. Letzterer lebt seit Jahrzehnten in der Schweiz. Nachdem auch ihre vier gemeinsamen - mittlerweile erwachsenen - Kinder im Rahmen des Familiennachzugs in die Schweiz eingewandert waren, reiste auch A. am 17. November 1998 mit einem Besuchervisum in die Schweiz ein. Mit Gesuch vom 28. September 2003 beantragte A. abermals die Gewährung des Familienasyls sowie der vorläufigen Aufnahme. Das Bundesamt für Flüchtlinge (heute: Staatssekretariat für Migration) wies ihre Begehren mit Verfügung vom 8. Oktober 2003 ab. Dagegen erhob A. Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht. Dieses wies mit Urteil D-6353/2006 vom 7. Oktober 2009 die Beschwerde hinsichtlich der Gewährung des Familienasyls ab, wies das Bundesamt für Flüchtlinge indes an, ihren Aufenthalt in der Schweiz nach den gesetzlichen Bestimmungen über die vorläufige Aufnahme zu regeln.
B.
Am 6. Dezember 2017 stellte die nunmehr im Kanton Freiburg wohnhafte A. beim Amt für Bevölkerung und Migration des Kantons Freiburg ein Gesuch um Umwandlung ihrer vorläufigen Aufnahme in eine Aufenthaltsbewilligung. Das kantonale Amt lud A. daraufhin am 18. Dezember 2018 zu einer mehrstündigen Befragung ein. Mit Verfügung vom 31. Januar 2019 lehnte das kantonale Amt das Gesuch um Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung mit der Begründung ab, dass sich A. nicht erfolgreich integriert habe und daher keinen schwerwiegenden persönlichen Härtefall darstelle. Der Status der vorläufigen Aufnahme bleibe erhalten, da eine Wegweisung aus der Schweiz weiterhin weder möglich noch zumutbar sei. Die gegen die Verfügung vom 31. Januar 2019 beim Kantonsgericht erhobene Beschwerde blieb ohne Erfolg (Urteil vom 14. Januar 2020).
C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und subsidiärer Verfassungsbeschwerde vom 18. Februar 2020 gelangt A. an das Bundesgericht. Sie beantragt die Aufhebung des Urteils vom 14. Januar 2020. Das kantonale Amt für Bevölkerung und Migration sei anzuweisen, beim Staatssekretariat für Migration die Zustimmung zur Umwandlung der vorläufigen Aufnahme in eine Aufenthaltsbewilligung zu beantragen.
(Zusammenfassung) | 450 | 362 | Erwägungen
BGE 147 I 268 S. 270
Aus den Erwägungen:
1.
Das Bundesgericht prüft seine Zuständigkeit und die weiteren Eintretensvoraussetzungen von Amtes wegen (
Art. 29 Abs. 1 BGG
) und mit freier Kognition (vgl.
BGE 146 II 276
E. 1 S. 279;
BGE 141 II 113
E. 1 S. 116).
1.1
Die frist- (
Art. 100 Abs. 1 BGG
) und formgerecht (
Art. 42 BGG
) eingereichte Eingabe betrifft eine Angelegenheit des öffentlichen Rechts (
Art. 82 lit. a BGG
) und richtet sich gegen das kantonal letztinstanzliche (
Art. 86 Abs. 1 lit. d BGG
), verfahrensabschliessende (
Art. 90 BGG
) Urteil eines oberen Gerichts (
Art. 86 Abs. 2 BGG
).
1.2
Auf dem Gebiet des Ausländerrechts ist die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten gegen Entscheide ausgeschlossen, welche Bewilligungen betreffen, auf die weder das Bundesrecht noch das Völkerrecht einen Anspruch einräumen (
Art. 83 lit. c Ziff. 2 BGG
).
1.2.1
Die
Beschwerdeführerin
legt dar, aufgrund ihrer langen Anwesenheitsdauer sei von einer hinreichenden Integration auszugehen, weshalb sie Anspruch auf eine Aufenthaltsbewilligung direkt gestützt auf
Art. 8 Ziff. 1 EMRK
habe. Zwar drohe ihr keine aufenthaltsbeendende Massnahme. Ihr Privat- und Familienleben sei aber auch tangiert, wenn die Verweigerung der beantragten Aufenthaltsbewilligung keine aufenthaltsbeendende Massnahme darstelle. Sie bringt im Wesentlichen vor, aufgrund der Nachteile des Status der vorläufigen Aufnahme im Vergleich zur Aufenthaltsbewilligung, sei ihr Privat- und Familienleben beeinträchtigt, da sie unter anderem weder alleine noch mit ihren erwachsenen Kindern und deren Enkelkindern ohne Bewilligung des Staatssekretariats für Migration ins Ausland reisen könne. Ausserdem sei aufgrund ihrer persönlichen Situation nicht absehbar, dass sie die Schweiz in Zukunft verlassen müsse.
1.2.2
Der
Gegenstand des vorliegenden Verfahrens
betrifft nach dem Gesagten die Frage, ob der Beschwerdeführerin nach einem langjährigen Aufenthalt ein Anspruch auf Umwandlung der vorläufigen Aufnahme in eine Aufenthaltsbewilligung zukommt. Eine aufenthaltsbeendende Massnahme steht nicht zur Diskussion (vgl. Art. 84 des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration [Ausländer- undIntegrationsgesetz, AIG; SR 142.20; bis 31. Dezember 2018:
BGE 147 I 268 S. 271
Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer, AUG]). Die Beschwerdeführerin beruft sich auf einen aus
Art. 8 Ziff. 1 EMRK
abgeleiteten Anspruch auf Umwandlung der vorläufigen Aufnahme in eine Aufenthaltsbewilligung.
1.2.3
Insoweit die Beschwerdeführerin hierfür eine Beeinträchtigung ihres Anspruchs auf
Achtung des Familienlebens
dartut, vermag sie keinen konventionsrechtlichen Anspruch geltend zu machen. Der Schutz des Familienlebens im Sinne von
Art. 8 EMRK
bezieht sich in erster Linie auf die Kernfamilie. Ist die Beziehung zwischen den Eltern und ihren volljährigen Kindern betroffen, muss ein Abhängigkeitsverhältnis dargetan werden, das über die normalen familiären Bindungen hinausgeht. Nur dann kommt
Art. 8 EMRK
zum Tragen (vgl.
BGE 145 I 227
E. 3.1 S. 230 f.;
BGE 144 II 1
E. 6.1 S. 12 f.;
BGE 129 II 11
E. 2 S. 13 f.;
BGE 120 Ib 257
E. 1e f. S. 261 ff.; Urteil des EGMR
Slivenko gegen Lettland
vom 9. Oktober 2003 [Nr. 48321/99],
Recueil CourEDH 2003-X S. 289
§ 94-97). Ein solches Abhängigkeitsverhältnis wird von der Beschwerdeführerin nicht dargetan, zumal sie sich auf eine gelungene und eigenständige Integration beruft.
1.2.4
Im Rahmen des Anspruchs auf
Achtung des Privatlebens
hat das Bundesgericht in
BGE 144 I 266
mit Blick auf Personen, die sich mit einer Bewilligung rechtmässig in der Schweiz aufhalten, angenommen, nach einem Aufenthalt von zehn Jahren könne regelmässig davon ausgegangen werden, dass die sozialen Beziehungen in diesem Land derart eng geworden seien, dass es für eine Aufenthaltsbeendigung besonderer Gründe bedürfe (vgl.
BGE 144 I 266
E. 3.9 S. 277 ff.). Indessen ist in der vorliegenden Angelegenheit keine aufenthaltsbeendende Massnahme zu beurteilen und die Beschwerdeführerin hat sich zu keinem Zeitpunkt mit einer Bewilligung rechtmässig in der Schweiz aufgehalten. Die vorliegende Angelegenheit betrifft vielmehr eine Konstellation der Prekarität im Rahmen eines lang andauernden Aufenthalts im Lichte des Anspruchs auf Achtung des Privatlebens. Diesbezüglich hat sich das Bundesgericht bisher nicht abschliessend zu einem allfälligen konventionsrechtlichen Anspruch auf Umwandlung des Status der vorläufigen Aufnahme in eine Aufenthaltsbewilligung geäussert (vgl. auch Urteil 2C_689/2017 vom 1. Februar 2018 E. 1.2.2).
1.2.5
Gemäss der
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
(EGMR) verleiht
Art. 8 EMRK
ein Recht auf Regularisierung einer prekären, aber geduldeten langjährigen
BGE 147 I 268 S. 272
Anwesenheit, wenn damit rechtliche oder faktische Nachteile verbunden sind, die eine Beeinträchtigung des Privatlebens darstellen (vgl. E. 4.1 hiernach; Urteil des EGMR
Aristimuno Mendizabal gegen Frankreich
vom 17. Januar 2006 [Nr. 51431/99] § 66 und 70 ["la situation de précarité et d'incertitude"]; vgl. auch Urteile des EGMR
Kaftaïlova gegen Lettland
vom 7. Dezember 2007 [Nr. 59643/00] § 51;
Syssoyeva u.a. gegen Lettland
vom 15. Januar 2007 [Nr. 60654/00],
Recueil CourEDH 2007-I S. 77
§ 91). Die gleiche Stossrichtung verfolgt das Bundesgericht, indem es die rechtlichen und faktischen Auswirkungen der Aufenthaltsregelung im Lichte des verfassungs- und völkerrechtlichen Anspruchs auf Privatleben berücksichtigt (vgl.
BGE 138 I 246
E. 2 f. S. 247 ff.).
1.2.6
Die vorliegende Angelegenheit zeichnet sich insbesondere durch den Umstand aus, dass - im Gegensatz zu den Regelfällen der vorläufigen Aufnahme, in denen mit dem Vollzug der Wegweisung in Zukunft zu rechnen ist - eine abweichende Beurteilung der
Unzumutbarkeit der Wegweisung
der Beschwerdeführerin in absehbarer Zeit als höchst unwahrscheinlich erscheint: Bereits mit Urteil vom 16. März 2001 hat die damalige Schweizerische Asylrekurskommission erwogen, dass eine Wiedereingliederung der Beschwerdeführerin in ihre Heimat schwierig sein dürfte, zumal sie über keine Ausbildung verfüge, nie einer Erwerbstätigkeit nachgegangen sei und ihre vier Kinder sowie ihr ehemaliger Ehemann in der Schweiz wohnten (vgl. Urteil des BVGer D-6353/2006 vom 7. Oktober 2009 E. 9.1). Rund acht Jahre später ist das Bundesverwaltungsgericht davon ausgegangen, dass der Vollzug der Wegweisung unzumutbar sei, da er sich existenzbedrohend auswirken könne (vgl. zit. Urteil des BVGer D-6353/2006 E. 9.2). Auch die Vorinstanz geht in ihrem Urteil vom 14. Januar 2020 davon aus, dass sich die Wegweisung weiterhin als unzumutbar erweist.
1.2.7
Für die Eintretensfrage ist nach dem Dargelegten davon auszugehen, dass sich an der Unzumutbarkeit der Wegweisung bis auf Weiteres nichts ändern wird und die Beschwerdeführerin auf unbestimmte Zeit in einem nicht auf Dauer angelegten Aufenthaltsstatus in der Schweiz bleiben wird. Aufgrund ihrer persönlichen Situation macht die vorläufig aufgenommene Beschwerdeführerin folglich
in vertretbarer Weise
geltend, sie habe gestützt auf konventionsrechtliche Vorgaben einen Bewilligungsanspruch, da ihr
Art. 8 Ziff. 1 EMRK
(Anspruch auf Achtung des Privatlebens) ein Recht auf die Regularisierung ihrer Anwesenheit in der Schweiz einräume.
BGE 147 I 268 S. 273
Ob die Voraussetzungen für die Erteilung der Aufenthaltsbewilligung vorliegen, ist indes nicht Gegenstand der Eintretensfrage, sondern der materiellen Beurteilung (vgl.
BGE 139 I 330
E. 1.1 S. 332;
BGE 136 II 177
E. 1.1 S. 179).
1.3
Die Beschwerdeführerin ist bereits im kantonalen Verfahren als Partei beteiligt gewesen und dort mit ihren Anträgen nicht durchgedrungen. Ausserdem ist sie durch das angefochtene Urteil in ihren schutzwürdigen Interessen besonders berührt, zumal sie glaubhaft geltend macht, ohne Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung massgeblich in ihrem Anspruch auf Achtung des Privatlebens eingeschränkt zu sein. Sie ist somit zur Erhebung des Rechtsmittels legitimiert (
Art. 89 Abs. 1 BGG
).
1.4
Auf die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ist einzutreten. Im Weiteren betrifft die vorliegend zu beurteilende Angelegenheit weder die vorläufige Aufnahme (
Art. 83 lit. c Ziff. 3 BGG
) noch die Wegweisung (
Art. 83 lit. c Ziff. 4 BGG
) der Beschwerdeführerin. Auf die subsidiäre Verfassungsbeschwerde ist demzufolge nicht einzutreten (
Art. 113 BGG
).
(...)
4.
Zunächst sind die von der Beschwerdeführerin geltend gemachten Nachteile des Status der vorläufigen Aufnahme im Vergleich zur Aufenthaltsbewilligung im Lichte ihres Anspruchs auf Achtung des Privatlebens zu würdigen.
4.1
Nach der Rechtsprechung des EGMR gewährt
Art. 8 EMRK
kein Recht auf einen bestimmten Aufenthaltstitel, solange die bestehende Aufenthaltsregelung eine weitestgehend ungehinderte Ausübung des Privatlebens ermöglicht. In diesem Sinne erwägt der EGMR, dass
Art. 8 EMRK
"ne va pas jusqu'à garantir à l'intéressé le droit à un type particulier de titre de séjour (permanent, temporaire ou autre), à condition que la solution proposée par les autorités lui permette d'exercer sans entrave ses droits au respect de la vie privée et familiale" (Urteil
Aristimuno Mendizabal
§ 66). In einem weiteren Urteil hält der EGMR fest, "lorsque la législation interne en prévoit plusieurs, la Cour doit analyser les conséquences de droit et de fait découlant d'un titre de séjour donné. S'il permet à l'intéressé de résider sur le territoire de l'Etat d'accueil et d'y exercer librement ses droits au respect de la vie privée et familiale, l'octroi d'un tel titre de séjour constitue en principe une mesure suffisante
BGE 147 I 268 S. 274
pour que les exigences de cette disposition soient remplies (Urteil
Syssoyeva u.a.
§ 91; vgl. Urteil
Kaftaïlova
§ 51).
4.2
Um allfällige Ansprüche aus
Art. 8 EMRK
zu prüfen, sind im Folgenden die Eigenschaften der vorläufigen Aufnahme im Detail zu betrachten.
4.2.1
Ist der Vollzug der Weg- oder Ausweisung nicht möglich, nicht zulässig oder nicht zumutbar, verfügt das Staatssekretariat für Migration die vorläufige Aufnahme (vgl.
Art. 83 Abs. 1 AIG
). Die vorläufige Aufnahme "kann" von den kantonalen Behörden beantragt werden, nicht aber von der betroffenen Person selber (vgl.
Art. 83 Abs. 6 AIG
). Diese bildet eine grundsätzlich zeitlich beschränkte Ersatzmassnahme, wenn der Vollzug der Wegweisung undurchführbar ist. Sie tritt neben die rechtskräftige Wegweisung und berührt deren Bestand nicht, sondern setzt ihn voraus. Sie ist keine Aufenthaltsbewilligung, sondern ein vorübergehender Status, der die Anwesenheit regelt, solange der Wegweisungsvollzug - d.h. die exekutorische Massnahme der Wegweisung zur Beseitigung des rechtswidrigen Zustands - nicht zulässig, nicht zumutbar oder nicht möglich erscheint (vgl.
BGE 141 I 49
E. 3.5 S. 53;
BGE 138 I 246
E. 2.3 S. 249;
BGE 137 II 305
E. 3.1 S. 308 f.).
4.2.2
Ausländische Personen, denen die vorläufige Aufnahme gewährt worden ist, müssen ihre Reisedokumente sowie die allenfalls in ihrem Besitz befindlichen ausländischen Ausweispapiere beim Staatssekretariat für Migration hinterlegen (vgl. Art. 20 Abs. 1 der Verordnung vom 11. August 1999 über den Vollzug der Weg- und Ausweisung sowie der Landesverweisung von ausländischen Personen [VVWAL; SR 142.281]). Gemäss Art. 7 der Verordnung vom 14. November 2012 über die Ausstellung von Reisedokumenten für ausländische Personen (RDV; SR 143.5) muss den vorläufig aufgenommenen Personen für Auslandsreisen ein Rückreisevisum ausgestellt werden. Das Rückreisevisum wird nur unter bestimmten Voraussetzungen - namentlich in Not- und Sonderfällen oder aus humanitären Gründen - ausgestellt (vgl.
Art. 9 Abs. 1 und Abs. 4 RDV
). Ansonsten ist einer vorläufig aufgenommenen Person (mit dem Ausländerausweis F) der Grenzübertritt nicht möglich (vgl. Art. 20 Abs. 2 Satz 3 VVWAL).
4.2.3
Die mit dem Status der vorläufigen Aufnahme verbundenen Nachteile beziehen sich nach dem Dargelegten im Wesentlichen auf
BGE 147 I 268 S. 275
die internationale Mobilität der vorläufig aufgenommenen Person. Dagegen muss sich auch eine ausländische Person mit Aufenthaltsbewilligung einen Kantonswechsel im Voraus bewilligen lassen (vgl.
Art. 37 Abs. 1 AIG
). Dabei besteht unter der Erfüllung der Voraussetzungen von
Art. 37 Abs. 2 AIG
ein Anspruch auf die Bewilligung des Kantonswechsels. Der Beschwerdeführerin ist der Wechsel vom Kanton Wallis in den Kanton Freiburg, wo ihre erwachsenen Kinder leben, ohne Weiteres genehmigt worden. Dies relativiert den Umstand, dass sich eine vorläufig aufgenommene Person grundsätzlich nicht auf einen solchen Anspruch berufen kann (vgl. Art. 21 VVWAL i.V.m. Art. 22 Abs. 2 der Asylverordnung 1 vom 11. August 1999 über Verfahrensfragen [Asylverordnung 1, AsylV 1; SR 142.311]). Soweit aufgrund ihres Geburtsjahres 1953 von Bedeutung, stünde ihr auch eine Erwerbstätigkeit offen (vgl.
Art. 85a AIG
; vgl. auch
BGE 138 I 246
E. 3.3.2 S. 253). Schliesslich werden sowohl die Aufenthaltsbewilligung als auch die vorläufige Aufnahme lediglich befristet erteilt (vgl.
Art. 33 Abs. 3 und
Art. 85 Abs. 1 AIG
).
4.3
Nach dem Dargelegten ist die Beschwerdeführerin zwar in ihrem internationalen Reiseverhalten eingeschränkt. Im Inland kommt ihr rechtlich und faktisch aber bereits eine mit der Aufenthaltsbewilligung vergleichbare Stellung zu. Sie kann sich im Inland frei bewegen sowie nach Bedarf einer Erwerbstätigkeit nachgehen und lebt aufgrund ihrer persönlichen Situation nicht in der Unsicherheit, in absehbarer Zeit die Schweiz verlassen zu müssen (vgl. E. 1.2.6 hiervor). Da sie nicht jederzeit damit zu rechnen hat, dass ihre Wegweisung vollzogen wird, erscheint ihre Anwesenheit in der Schweiz zumindest in vergleichbarer Weise gesichert, wie bei einer ausländischen Person mit einer Aufenthaltsbewilligung. Insoweit aufgrund der Verweigerung der Aufenthaltsbewilligung überhaupt in den Anspruch auf Achtung des Privatlebens der Beschwerdeführerin eingegriffen wird, wiegt dieser Eingriff jedenfalls nicht schwer.
4.4
Es muss in der vorliegenden Angelegenheit jedoch nicht abschliessend beurteilt werden, ob die von der Beschwerdeführerin geltend gemachten Nachteile im Lichte ihrer bereits länger andauernden, prekären Anwesenheit in der Schweiz derart gravierend wären, sodass damit ein Eingriff in den Schutzbereich von
Art. 8 Ziff. 1 EMRK
einherginge. Im Lichte ihrer - im Folgenden darzulegenden - unzureichenden Integration liesse sich die Verweigerung der
BGE 147 I 268 S. 276
Aufenthaltsbewilligung jedenfalls rechtfertigen (vgl.
Art. 8 Ziff. 2 EMRK
).
5.
Ein Eingriff in den Anspruch auf Achtung des Privatlebens ist rechtfertigungsbedürftig (vgl.
Art. 8 Ziff. 2 EMRK
;
Art. 13 Abs. 1 BV
i.V.m.
Art. 36 BV
).
5.1
Eine allfällige Einschränkung von Grundrechten erfordert eine gesetzliche Grundlage und ein öffentliches Interesse (vgl.
Art. 36 Abs. 1 und Abs. 2 BV
). Sodann hat sie verhältnismässig zu sein (vgl.
Art. 36 Abs. 3 BV
). Nach den gleichen Kriterien geht der EGMR bei der Anwendung von
Art. 8 Ziff. 2 EMRK
vor, demgemäss zu prüfen ist, ob ein Eingriff "était prévue par la loi, visait un but légitime et était nécessaire dans une société démocratique" (Urteil
Aristimuno Mendizabal
§ 73). Während die ersten beiden Voraussetzungen unter den Verfahrensbeteiligten nicht umstritten sind, beanstandet die Beschwerdeführerin mit Blick auf die Verhältnismässigkeit die Würdigung ihrer Integration. Die Einhaltung des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes bedarf daher einer genaueren Betrachtung.
5.2
Grundsätzlich ist im Rahmen der Verhältnismässigkeit unter dem Gesichtspunkt des Anspruchs auf Achtung des Privatlebens zu prüfen, in welchem Alter die ausländische Person eingereist ist, wie lange sie in der Schweiz gelebt hat und welche (sozialen und wirtschaftlichen) Beziehungen sie unterhält. Bei Letzterem spielen auch die persönliche Situation (z.B. Alter, Gesundheit oder Herkunft) sowie die familiären Verhältnisse eine Rolle. Die aus diesen Faktoren resultierende Integration der betroffenen Person ist bei der Beurteilung der Verhältnismässigkeit von besonderer Relevanz (sogenannte "liens personnels, sociaux ou économiques"; Urteil
Slivenko
§ 114 und § 123-125; vgl.
BGE 138 I 246
E. 3.3.2 S. 253; vgl. auch Urteile des EGMR
Ukaj gegen Schweiz
vom 24. Juni 2014 [Nr. 32493/08] § 42;
Hasanbasic gegen Schweiz
vom 11. Juni 2013 [Nr. 52166/09] § 62;
Kissiwa Koffi gegen Schweiz
vom 15. November 2012 [Nr. 38005/07] § 66;
Gezginci gegen Schweiz
vom 9. Dezember 2010 [Nr. 16327/05] § 73-77;
Üner gegen Niederlande
vom 18. Oktober 2006 [Nr. 46410/99],
Recueil CourEDH 2006-XII S. 159
§ 57 f.).
5.2.1
Demnach kommt im Rahmen der Verhältnismässigkeitsprüfung - neben der bisherigen Aufenthaltsdauer - der Integration eine erhebliche Bedeutung zu. Auch der Bundesgesetzgeber anerkennt
BGE 147 I 268 S. 277
die mit der langjährigen Anwesenheit einhergehende Verfestigung der Beziehung vorläufig aufgenommener Personen zur Schweiz. Deshalb verlangt er, dass Gesuche um Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung von vorläufig aufgenommenen Ausländerinnen und Ausländern, die sich seit mehr als fünf Jahren in der Schweiz aufhalten, unter Berücksichtigung der Integration, der familiären Verhältnisse und der Zumutbarkeit einer Rückkehr in den Herkunftsstaat vertieft geprüft werden (vgl.
Art. 84 Abs. 5 AIG
).
5.2.2
Bei der Beschwerdeführerin handelt es sich unbestrittenermassen um eine Person, die des Lesens und Schreibens nicht mächtig ist. Sie ist seit ihrer Einreise 1998 in die Schweiz nie polizeilich in Erscheinung getreten oder straffällig geworden. Gegen sie sind weder Betreibungen noch Verlustscheine ausstehend. Sie hat nie Sozialhilfe bezogen. Aufgrund ihres Analphabetismus kann für die Beurteilung ihrer Integration nicht unbesehen der Massstab übernommen werden, mit welchem jene einer ausländischen Person mit Schulbildung zu beurteilen ist. Vielmehr ist für die vorliegende Angelegenheit massgebend, ob die Beschwerdeführerin mangels entsprechender Bemühungen in vorwerfbarer Weise nicht integriert ist. Dabei ist im Lichte des Anspruchs auf Achtung ihres Privatlebens in erster Linie auf ihre persönliche, soziale und berufliche Integration abzustellen (sogenannte "liens personnels, sociaux ou économiques"; vgl. E. 5.2 hiervor). Die Vorinstanz verweigert die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung denn auch infolge einer mangelhaften sprachlichen, beruflichen und sozialen Integration.
5.3
Damit einer ausländischen Person ein Anspruch auf Umwandlung der vorläufigen Aufnahme in eine Aufenthaltsbewilligung zukommen kann, ist eine gewisse Integrationsleistung zu verlangen. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin erweist sich ihre Integration in einer Gesamtbetrachtung nicht als hinreichend fortgeschritten und die diesbezügliche Beurteilung der Vorinstanz als zutreffend sowie bundesrechtskonform.
5.3.1
Die Beschwerdeführerin hat nie eine Schule besucht und kann deshalb weder lesen noch schreiben. Ihr ist es aber aus gesundheitlicher und altersbedingter Sicht zumutbar gewesen, sich seit ihrer Einreise in die Schweiz aktiv entweder um ihre Alphabetisierung zu bemühen oder aber mündlich eine Landessprache in den Grundzügen zu erlernen. Ihr sprachliches Integrationsdefizit kann deshalb nicht allein auf die fehlende Alphabetisierung zurückgeführt werden.
BGE 147 I 268 S. 278
Wenn die Beschwerdeführerin vorbringt, sie sei bei ihrer Einreise in einem fortgeschrittenen Alter gewesen, ist dies nicht geeignet, ihre fehlende sprachliche Integration zu rechtfertigen. Sie ist damals erst 45-jährig gewesen. Ausserdem ist eine limitierende, physisch und psychisch angeschlagene Verfassung der Beschwerdeführerin erst seit dem Jahr 2017 erstellt und diesem Erschwernis erst ab diesem Zeitpunkt (angemessen) Rechnung zu tragen (vgl.
Art. 58a Abs. 2 AIG
). Ihr Hinweis darauf, dass sie selbst die türkische Sprache nur rudimentär verstehe und lediglich in einem kurdischen Dialekt fliessend kommunizieren könne, vermag die Würdigung ihrer sprachlichen Integration nicht zu beeinflussen. Ihre Bemühungen, die sich auf einen viermonatigen Sprachkurs beschränken, sind im Lichte ihres langjährigen Aufenthalts in der Schweiz klar ungenügend.
5.3.2
Mit Blick auf die berufliche Integration ist zu berücksichtigen, dass es der Beschwerdeführerin nicht möglich gewesen ist, in der Türkei eine Berufsausbildung zu machen und erwerbstätig zu sein. Der Beschwerdeführerin ist insofern zuzustimmen, dass ihr die berufliche Integration hierdurch erschwert gewesen ist. Es ist notorisch, dass ihr als 56-jährige Analphabetin im Zeitpunkt der vorläufigen Aufnahme im Jahr 2009 kaum die Gelegenheit offengestanden ist, erfolgreich auf dem Arbeitsmarkt Fuss zu fassen. Sie hat sich umgekehrt seit ihrer vorläufigen Aufnahme aber weder bemüht, auf dem (sekundären) Arbeitsmarkt Anschluss zu finden, noch hat sie je Aus- und Weiterbildungen besucht. In diesem Lichte ist ihr zwar zugute zu halten, dass sie keine Sozialhilfe bezogen hat. Dass die Beschwerdeführerin, wie sie dartut, seit ihrer Einreise in die Schweiz stets Haushalts- und Betreuungsaufgaben für ihre erwachsenen Kinder und deren Enkel wahrgenommen habe, lässt aber nicht auf eine gelungene berufliche Integration schliessen. Soweit die berufliche Integration der Beschwerdeführerin aufgrund ihres Alters aktuell noch zur Diskussion stehen kann, vermag die Beschwerdeführerin aus dieser nichts zu ihren Gunsten abzuleiten.
5.3.3
Aus den Vorbringen der Beschwerdeführerin ergibt sich sodann, dass sie sich sozial nicht in die schweizerische Gesellschaft integriert hat. Ihre sozialen Beziehungen beschränken sich im Wesentlichen auf ihre Familie und nicht auf das sonstige gesellschaftliche Leben. Ausserhalb ihrer Familie pflegt sie lediglich mit zwei Nachbarinnen Kontakte. Es besteht damit weder ein von der Familie unabhängiger, eigenständiger Freundeskreis noch liegt eine über die Familie hinausgehende Teilnahme am gesellschaftlichen Leben vor.
BGE 147 I 268 S. 279
Daran vermag das Vorbringen der Beschwerdeführerin nichts zu ändern, wonach die Bedeutung verwandtschaftlicher Bindungen als Sicherheitsnetz keineswegs nur eine Besonderheit ausländischer Personen, sondern auch bei schweizerischen Staatsbürgerinnen und -bürgern üblich sei. Gestützt auf zwei nachbarschaftliche Kontakte kann sich die Beschwerdeführerin nicht erfolgreich auf eine vertiefte soziale Integration berufen, wie dies unter dem Gesichtspunkt des Anspruchs auf Achtung des Privatlebens erforderlich wäre.
5.4
Trotz des langjährigen Aufenthalts der Beschwerdeführerin in der Schweiz ist insgesamt von einer zu wenig fortgeschrittenen Integration auszugehen. Demzufolge ist es mit
Art. 8 EMRK
vereinbar, wenn die Vorinstanz der Beschwerdeführerin keine Aufenthaltsbewilligung erteilt. Ein allfälliger Eingriff in den Schutzbereich von
Art. 8 Ziff. 1 EMRK
aufgrund der Verweigerung einer Aufenthaltsbewilligung liesse sich infolge einer ungenügenden Integration im Sinne von
Art. 8 Ziff. 2 EMRK
rechtfertigen. Eine Verletzung von
Art. 8 EMRK
liegt nicht vor. | 5,293 | 4,012 | 2 | 0 | CH_BGE_001 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_001_BGE-147-I-268_2020-11-24 | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=2&from_date=&to_date=&from_year=2020&to_year=2020&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=18&highlight_docid=atf%3A%2F%2F147-I-268%3Ade&number_of_ranks=200&azaclir=clir | BGE_147_I_268 |
|||
ecd8bd96-8462-4a51-a328-7a4ce61a2ae5 | 2 | 84 | 1,335,098 | 1,229,644,800,000 | 2,008 | fr | 2 | 0 | Erwägungen
ab Seite 34
BGE 135 V 33 S. 34
Extrait des considérants:
4.
4.1
La question de savoir si les prestations d'invalidité de la prévoyance professionnelle obligatoire (LPP; RS 831.40) versées à compter de la survenance de l'âge de la retraite peuvent être diminuées ou non pour éviter une surindemnisation a fait récemment l'objet de deux arrêts dont les conclusions ont été considérées par certains auteurs comme difficilement conciliables ou propres à semer la confusion (MARC HÜRZELER, Neuere Entwicklungen im Leistungs- und Koordinationsrecht der beruflichen Vorsorge, REAS 2008 p. 237 s.; MOSER/STAUFFER, Die Überentschädigungkürzung berufsvorsorgerechtlicher Leistungen im Lichte der Rechtsprechung, RSAS 2008 p. 91 ss; ISABELLE VETTER-SCHREIBER, Diminution des prestations d'invalidité après la retraite: un nouvel arrêt du Tribunal fédéral soulève des questions, Prévoyance Professionnelle Suisse 11/2007 p. 81 s.). Dans l'arrêt B 120/05 du 20 avril 2007 consid. 11.2 et les références citées, in SVR 2007 BVG n° 33 p. 117, la possibilité d'une diminution a d'abord été niée dans le cas du bénéficiaire d'une rente LAA (RS 832.20) qui avait atteint l'âge de la retraite en tant qu'invalide et dont la rente d'invalidité LPP avait été diminuée au préalable pour cause de surassurance. Le Tribunal fédéral a retenu qu'après la survenance de l'âge de la retraite, la rente d'invalidité LPP assumait matériellement la fonction d'une prestation de vieillesse. Il en a conclu qu'il n'était plus admissible de la diminuer, ce qui découlait d'ailleurs implicitement de l'
art. 113 al. 2 let. a Cst.
Dans l'arrêt B 91/06 du 29 juin 2007 consid. 3, in SVR 2008 BVG n° 6 p. 19 (voir également arrêt du Tribunal fédéral des assurances B 14/01 du 4 septembre 2001 consid. 7), le Tribunal fédéral a au contraire laissé entendre qu'une diminution des prestations d'invalidité LPP n'était pas exclue, lorsqu'une surindemnisation résultait du versement d'une rente de vieillesse AVS succédant à une rente d'invalidité AI.
4.2
En tant que l'arrêt B 120/05 du 20 avril 2007 fonde l'interdiction de procéder à une diminution des prestations d'invalidité LPP servies après la survenance de l'âge de la retraite sur l'
art. 113 al. 2 let. a Cst.
, cette jurisprudence ne peut être maintenue. A teneur de
BGE 135 V 33 S. 35
cette disposition, la prévoyance professionnelle, ajoutée à l'assurance vieillesse, survivants et invalidité, doit permettre de maintenir le niveau de vie antérieur dans une mesure appropriée. Le niveau de vie antérieur est maintenu, si une personne seule touche, d'une manière générale, un revenu de substitution (rente du premier et du deuxième pilier) égal à 60 % au moins de son dernier revenu de travail brut (Message du 20 novembre 1996 relatif à une nouvelle constitution fédérale, FF 1997 I 331 ch. 212 [ad art. 104 du projet 96]). Cette disposition constitutionnelle - dont on soulignera qu'elle n'a pas valeur absolue et qu'elle ne constitue qu'un simple mandat général à l'intention du législateur (
ATF 130 V 369
consid. 6.1 p. 373) - définit l'objectif minimal assigné aux prestations du deuxième pilier, qu'elles soient de vieillesse, de survivants ou d'invalidité. Les règles en matière de surindemnisation poursuivent en revanche un tout autre objectif, dans la mesure où elles tendent à éviter que la personne assurée puisse jouir, en raison d'un cumul de prestations d'assurances, d'un niveau de vie plus élevé que celui dont elle bénéficiait avant la survenance de l'événement assuré.
4.3
A l'inverse de la solution choisie par le législateur dans le premier pilier (
art. 30 LAI
) ou dans l'assurance militaire (art. 47 de la loi fédérale du 19 juin 1992 sur l'assurance militaire [LAM; RS 833.1]), la survenance de l'âge de la retraite ne crée pas un nouveau cas d'assurance pour le bénéficiaire d'une rente d'invalidité de la prévoyance professionnelle obligatoire. Peu importe que la rente d'invalidité puisse à ce moment-là assumer matériellement la fonction d'une prestation de vieillesse. En l'état, il n'y a pas lieu de déroger du texte clair de l'
art. 26 al. 3, 1
re
phrase, LPP, d'après lequel cette prestation demeure formellement une prestation d'invalidité au sens de la LPP versée à la suite d'une atteinte à la santé physique, mentale ou psychique. Dans le système des assurances sociales, d'autres intervenants, tels que les assureurs-accidents, couvrent le risque invalidité en versant des prestations de longue durée à caractère viager que n'efface pas la survenance du risque vieillesse. Il s'ensuit qu'un besoin de coordination perdure au-delà de l'âge de la retraite pour les prestations viagères versées au titre du risque invalidité. Cela a pour corollaire que les prestations d'invalidité de la prévoyance obligatoire, contrairement aux prestations de vieillesse, sont susceptibles de réduction en cas de cumul avec d'autres prestations, lorsqu'elles sont servies après que la personne assurée a atteint l'âge de la
BGE 135 V 33 S. 36
retraite (contra: JEAN-LOUIS DUC, Prévoyance professionnelle - Examen de deux situations particulières, RSAS 2003 p. 343 ss; FRANZ SCHLAURI, Die Überentschädigungsabschöpfung in der weitergehenden beruflichen Vorsorge, in Berufliche Vorsorge, 2002, p. 130 s.; MARKUS MOSER, Die Zweite Säule und ihre Tragfähigkeit, 1993, p. 231 ss; voir également MARC HÜRZELER, Invaliditätsproblematiken in der beruflichen Vorsorge, 2006, p. 421 s.). Demeurent réservés les cas des assurés qui sont astreints à l'assurance obligatoire selon l'
art. 2 al. 3 LPP
et de ceux qui poursuivent volontairement leur prévoyance selon l'
art. 47 al. 2 LPP
(art. 26 al. 3, 2
e
phrase, LPP).
5.
Cela étant posé, il convient encore d'examiner quelles sont les prestations des autres assurances sociales susceptibles d'entrer en ligne de compte dans le calcul de surindemnisation.
5.1
Ne peuvent être prises en compte dans le calcul de surindemnisation que les prestations de nature et de but identiques qui sont accordées à l'assuré en raison de l'événement dommageable. Aussi bien l'art. 24 al. 2 de l'ordonnance du 18 avril 1984 sur la prévoyance professionnelle vieillesse, survivants et invalidité (OPP 2; RS 831.441.1; "
prestations d'un type et d'un but analogues
"), pour la prévoyance professionnelle obligatoire, que l'
art. 69 al. 1 LPGA
(RS 830.1; "
prestations de nature et de but identiques
"), pour les branches d'assurance autres que la prévoyance professionnelle, posent le principe général dit de la concordance des droits ("
Kongruenzprinzip
";
ATF 126 V 468
consid. 6a p. 473;
ATF 124 V 279
consid. 2a p. 281 et les références citées), auquel il y a lieu de reconnaître une portée générale en matière d'assurance sociale (
ATF 129 V 150
consid. 2.2 p. 154).
5.2
Lorsque l'invalidité résulte d'un accident assuré, la rente viagère allouée par l'assurance-accidents doit être prise en compte dans le calcul de surindemnisation, puisque les prestations en cause entrent en concours pour le même cas d'assurance et qu'il s'agit de prestations de même nature (
art. 25 al. 1 OPP 2
; JÜRG BRÜHWILER, Obligatorische berufliche Vorsorge, in Soziale Sicherheit, SBVR vol. XIV, 2e éd. 2007, p. 2056 n. 147; voir également SYLVIA LÄUBLI Ziegler, Überentschädigung und Koordination, in Personen-Schaden-Forum 2004, p. 188 s.).
5.3
Une telle prise en compte n'est en revanche pas possible avec la rente de vieillesse allouée par l'assurance-militaire. Selon l'
art. 47 LAM
, la rente d'invalidité versée par cette assurance est
BGE 135 V 33 S. 37
transformée en rente de vieillesse dès que l'assuré atteint l'âge de bénéficier des prestations de l'AVS. Faute de couvrir le même risque assuré, la rente d'invalidité viagère LPP et la rente de vieillesse de l'assurance-militaire ne sauraient par conséquent être coordonnées (UELI KIESER, Die Koordination von BVG-Leistungen mit den übrigen Sozialversicherungsleistungen, in Neue Entwicklungen in der beruflichen Vorsorge, 2000, p. 119; voir également JÜRG MAESCHI, Kommentar zum Bundesgesetz über die Militärversicherung [MVG] vom 19. Juni 1992, 2000, n° 2 s. ad
art. 47 LAM
; FRANZ SCHLAURI, Die Militärversicherung, in Soziale Sicherheit, SBVR vol. XIV, 2
e
éd. 2007, p. 1119 n. 150).
5.4
5.4.1
Comme déjà évoqué, la jurisprudence considère que la rente viagère d'invalidité LPP peut être réduite si une surindemnisation intervient en raison du versement de la rente de vieillesse AVS succédant à une rente d'invalidité AI (arrêts B 14/01 du 4 septembre 2001 consid. 7 et B 91/06 du 29 juin 2007 consid. 3, in SVR 2008 BVG n° 6 p. 19). Le Tribunal fédéral a fondé son raisonnement sur une interprétation essentiellement littérale de l'
art. 24 OPP 2
(dans sa teneur en vigueur jusqu'au 31 décembre 2002); l'alinéa 2 de cette disposition n'excluait en effet du calcul de réduction que les allocations pour impotents, les indemnités pour atteinte à l'intégrité et toutes autres prestations semblables, mais pas la rente de vieillesse AVS; quant à l'alinéa 3, qui faisait expressément mention de la rente pour couple de l'AVS/AI, il n'aurait pas été nécessaire s'il n'y avait pas lieu de tenir compte de la rente de vieillesse AVS. Cette jurisprudence a suscité les critiques de la doctrine. UELI KIESER (Die Ausrichtung von Invalidenrenten der beruflichen Vorsorge im Alter als Problem der innersystemischen und der intersystemischen Leistungskoordination, in Berufliche Vorsorge, 2002, p. 160 s.) ainsi que MARKUS MOSER et HANS-ULRICH STAUFFER (op. cit., RSAS 2008 p. 111 ss) lui ont notamment reproché de violer le principe dit de la concordance des droits inscrit à l'
art. 24 al. 2 OPP 2
et de faire abstraction de l'évolution législative qu'a connu l'
art. 24 al. 3 OPP 2
depuis son entrée en vigueur.
5.4.2
Ainsi que cela ressort de l'arrêt rendu ce jour par la Cour de céans dans la cause 9C_517/2008 (
ATF 135 V 29
consid. 4), un examen plus approfondi du texte et de la genèse de l'
art. 24 OPP 2
fait apparaître que l'auteur de l'ordonnance n'a pas souhaité autoriser la prise en compte de la rente de vieillesse AVS dans le calcul de surindemnisation.
BGE 135 V 33 S. 38
5.4.2.1
En premier lieu, la jurisprudence ignore le principe dit de la concordance des droits inscrit à l'
art. 24 al. 2 OPP 2
. Or, cette disposition exige non seulement qu'il ne soit pas tenu compte dans le calcul de réduction des allocations pour impotents, des indemnités pour atteinte à l'intégrité et de toutes autres prestations semblables, mais également que les prestations qui entrent en ligne de compte remplissent la même fonction. La concordance des droits constitue ainsi une condition supplémentaire et distincte qui limite les revenus à prendre en considération dans le calcul de surindemnisation de l'
art. 24 OPP 2
. Faute de couvrir le même risque assuré, la rente d'invalidité viagère LPP et la rente de vieillesse AVS ne sauraient par conséquent être coordonnées (
ATF 135 V 29
consid. 4.1).
5.4.2.2
En second lieu, il appert que dans sa teneur en vigueur jusqu'au 31 décembre 1992, l'
art. 24 al. 3 OPP 2
se référait à "la rente pour couple, la rente pour enfant et la rente d'orphelin de l'AVS/AI". La référence à l'AVS s'expliquait logiquement par le fait que c'est cette branche d'assurance qui fournit les prestations de survivant du premier pilier. Lorsque la modification de l'OPP 2 entrée en vigueur le 1
er
janvier 1993 a supprimé à l'
art. 24 al. 3 OPP 2
les termes "rente pour enfant" et "rente d'orphelin", il a échappé au législateur que la référence à l'AVS ne portait que sur la rente d'orphelin et que, partant, il avait involontairement créé une connexité entre les termes "rente pour couple" et "AVS/AI" qui n'existait pas dans la version antérieure de cette disposition. Que ce soit dans les travaux préparatoires de la LPP ou de l'OPP 2, ou bien encore dans les explications de l'Office fédéral des assurances sociales produites à l'appui de la modification de l'OPP 2 entrée en vigueur le 1
er
janvier 1993 (RCC 1992 p. 459), le législateur n'a jamais manifesté une volonté expresse d'inclure les rentes de vieillesse AVS parmi les revenus à prendre en compte pour le calcul de surindemnisation de l'
art. 24 OPP 2
(
ATF 135 V 29
consid. 4.2). | 3,193 | 2,536 | 2 | 0 | CH_BGE_007 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_007_BGE-135-V-33_2008-12-19 | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=1&from_date=&to_date=&from_year=2008&to_year=2008&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=3&highlight_docid=atf%3A%2F%2F135-V-33%3Ade&number_of_ranks=277&azaclir=clir | BGE_135_V_33 |
||||
ecda617c-ca72-4962-98b4-94a8129c8304 | 1 | 84 | 1,345,906 | 1,461,283,200,000 | 2,016 | de | Sachverhalt
ab Seite 234
BGE 142 V 233 S. 234
A.
C. war ab 1. September 2013 bei der Pensionskasse B. (nachfolgend: Pensionskasse) für die berufliche Vorsorge versichert. Als er im April 2014 verstarb, hinterliess er seine Lebenspartnerin A. sowie seine Eltern. Testamentarisch hatte er A. als Alleinerbin und Willensvollstreckerin eingesetzt. Sie erkundigte sich am 30. Mai 2014 bei der Pensionskasse nach Hinterlassenenleistungen, wobei sie geltend machte, der Verstorbene und sie hätten seit Juni 2007 eine Lebensgemeinschaft geführt. In der Folge verneinte die Vorsorgeeinrichtung einen Leistungsanspruch von A. Eine reglementarische Lebenspartnerrente entfalle, weil der Verstorbene zu Lebzeiten das bestehende Konkubinatsverhältnis der Pensionskasse nicht gemeldet habe. Das Todesfallkapital gelange mangels einer eindeutigen schriftlichen Begünstigungserklärung seitens des Versicherten ebenfalls nicht zur Ausrichtung.
B.
A. erhob am 3. Dezember 2014 beim Verwaltungsgericht des Kantons Bern Klage mit dem Rechtsbegehren, die Pensionskasse sei zu verpflichten, ihr das Todesfallkapital von Fr. 61'318.- auszuzahlen,
BGE 142 V 233 S. 235
zuzüglich Zins zu 5 % seit April 2014. Das Gericht wies die Klage mit Entscheid vom 16. März 2015 ab.
C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten erneuert A. ihr vorinstanzliches Rechtsbegehren.
Während die Pensionskasse (sinngemäss) auf Abweisung der Beschwerde schliesst, hat sich das Bundesamt für Sozialversicherungen dazu nicht vernehmen lassen.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab. | 350 | 245 | Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
1.1
Nach
Art. 20a Abs. 1 BVG
kann die Vorsorgeeinrichtung in ihrem Reglement neben den Anspruchsberechtigten nach den Art. 19 (überlebender Ehegatte), 19a (eingetragene Partnerinnen oder Partner) und 20 (Waisen) begünstigte Personen für die Hinterlassenenleistungen vorsehen, u.a. natürliche Personen, die vom Versicherten in erheblichem Masse unterstützt worden sind, oder die Person, die mit diesem in den letzten fünf Jahren bis zu seinem Tod ununterbrochen eine Lebensgemeinschaft geführt hat oder die für den Unterhalt eines oder mehrerer gemeinsamer Kinder aufkommen muss (lit. a). Eine Vorsorgeeinrichtung muss nicht alle der in
Art. 20a Abs. 1 lit. a BVG
aufgezählten Personen begünstigen und kann den Kreis der Anspruchsberechtigten enger fassen als im Gesetz umschrieben, insbesondere ist sie befugt, von einem restriktiveren Begriff der Lebensgemeinschaft auszugehen. Denn die Begünstigung der in
Art. 20a Abs. 1 BVG
genannten Personen gehört zur weitergehenden bzw. überobligatorischen beruflichen Vorsorge (
Art. 49 Abs. 2 Ziff. 3 BVG
und
Art. 89a Abs. 6 Ziff. 3 ZGB
). Die Vorsorgeeinrichtungen sind somit frei zu bestimmen, ob sie überhaupt und für welche dieser Personen sie Hinterlassenenleistungen vorsehen wollen. Zwingend zu beachten sind lediglich die in lit. a-c von
Art. 20a Abs. 1 BVG
aufgeführten Personenkategorien sowie die Kaskadenfolge. Umso mehr muss es den Vorsorgeeinrichtungen daher grundsätzlich erlaubt sein, etwa aus Gründen der Rechtssicherheit (Beweis anspruchsbegründender Umstände) oder auch im Hinblick auf die Finanzierbarkeit der Leistungen, den Kreis der zu begünstigenden Personen enger zu fassen als im Gesetz umschrieben (
BGE 137 V 383
E. 3.2 S. 388;
BGE 136 V 49
E. 3.2 S. 51,
BGE 136 V 127
E. 4.4 S. 130;
BGE 134 V 369
E. 6.3.1.2 S. 378; je mit Hinweisen auf die Lehre).
BGE 142 V 233 S. 236
1.2
Unter dem Titel "Todesfallkapital" finden sich im seit 1. Januar 2014 geltenden Vorsorgereglement der Pensionskasse folgende Bestimmungen:
"Art. 42 Grundsatz
Stirbt eine aktive versicherte Person, ohne dass Anspruch auf eine Ehegattenrente (Art. 36) oder auf eine Lebenspartnerrente (Art. 37) entsteht, so wird ein Todesfallkapital fällig.
Art. 43 Anspruchsberechtigte
1
Anspruch auf das Todesfallkapital haben die Hinterlassenen des Verstorbenen - unabhängig vom Erbrecht -, sofern sie vom Verstorbenen schriftlich bezeichnet worden sind:
a. der überlebende Ehegatte;
b. bei dessen Fehlen: die waisenrentenberechtigten Kinder des Verstorbenen;
c. bei deren Fehlen: der überlebende Lebenspartner, sofern er, unabhängig des Geschlechts, beim Tod der versicherten Person, mit ihr eine auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaft führte und bereits während mindestens zwei Jahren im gemeinsamen Haushalt gelebt hat;
d. bei dessen Fehlen: die vom Verstorbenen in erheblichem Masse unterstützten Personen;
e. bei deren Fehlen: die nicht waisenrentenberechtigten Kinder des Verstorbenen.
2
Die Anspruchsberechtigten müssen ihren Anspruch spätestens sechs Monate nach dem Tod der versicherten Person gegenüber der Kasse geltend machen, indem sie der Kasse ihre schriftliche Bezeichnung durch den Verstorbenen einreichen.
3
Fehlen Anspruchsberechtigte im Sinne von Abs. 1, so verfällt das Todesfallkapital der Kasse.
Art. 44 Betrag des Todesfallkapitals
Der Betrag des Todesfallkapitals entspricht einer einmaligen Abfindung in der Höhe eines beitragspflichtigen Jahreslohns."
2.
Streitig und zu prüfen ist der Anspruch der Beschwerdeführerin auf das reglementarische Todesfallkapital. Während Pensionskasse und Vorinstanz eine Berechtigung auf diese weitergehende Hinterlassenenleistung mangels einer schriftlichen Begünstigungserklärung verneinen, erblickt die Beschwerdeführerin im Testament ihres Lebenspartners eine hinreichende derartige Erklärung.
2.1
Die - im vorliegenden Fall klageweise nicht geltend gemachte - Lebenspartnerrente gemäss Art. 37 Vorsorgereglement setzt u.a. eine von der versicherten Person
zu Lebzeiten
der Pensionskasse
BGE 142 V 233 S. 237
eingereichte Begünstigungserklärung voraus, d.h. die schriftliche Meldung über eine bestehende Lebenspartnerschaft und die Bezeichnung der andern daran beteiligten Person als Anspruchsberechtigte/r (Abs. 1 und 3 der genannten Reglementsbestimmung). Beim hier interessierenden Todesfallkapital kann demgegenüber die Begünstigungserklärung des Verstorbenen zugunsten der überlebenden Lebenspartnerin (das Reglement spricht ebenfalls von deren "schriftliche[r] Bezeichnung" [als Anspruchsberechtigte]) der Pensionskasse auch noch innert sechs Monaten nach dem Tod der versicherten Person eingereicht werden (Art. 43 Abs. 1 Ingress und lit. c, Abs. 2 Vorsorgereglement). Das Bundesgericht hat beide Varianten reglementarisch verlangter Begünstigungserklärungen für zulässig erklärt; sie bilden nicht blosse Beweisvorschriften mit Ordnungscharakter, sondern mit
Art. 20a BVG
vereinbare formelle Anspruchserfordernisse mit konstitutiver Wirkung (
BGE 140 V 50
E. 3.3.2 S. 54;
BGE 137 V 105
E. 8 S. 111;
BGE 136 V 127
; SVR 2015 BVG Nr. 16 S. 63, 9C_345/ 2014 E. 3.3.2; 2014 BVG Nr. 33 S. 123, 9C_339/2013 E. 2.2; 2009 BVG Nr. 18 S. 65, 9C_710/2007 E. 5.3; 2006 BVG Nr. 13 S. 47, B 92/04 E. 5.2; Urteil 9C_161/2014 vom 14. Juli 2014 E. 3.3).
2.2
Das Vorliegen einer Lebensgemeinschaft bedeutet nicht zwangsläufig, dass die versicherte Person den Lebenspartner auch tatsächlich begünstigen will. Im Gegensatz zu den obligatorischen Hinterlassenenansprüchen des überlebenden Ehegatten bzw. des überlebenden eingetragenen Partners hat die versicherte Person bei einer Lebensgemeinschaft eine Wahlmöglichkeit (
BGE 137 V 105
E. 8.2 in fine S. 111). Diese Autonomie dürfte u.a. ein wichtiger Grund dafür sein, dass manche Paare die (nichteheliche) Lebensgemeinschaft der Ehe vorziehen. Die Meldung ist demnach unmissverständlicher Ausdruck dafür, dass eine Begünstigung gewollt ist. Dabei kann es keinen Unterschied machen, in welcher Form die Willenserklärung abzugeben ist, ob in Gestalt einer expliziten Begünstigungserklärung oder eines schriftlichen Unterstützungsvertrages oder aber in der einfachen Meldung der Lebenspartnerschaft bzw. des Lebenspartners. Auf die Abgabe einer verbalisierten Willenserklärung kommt es an. Darüber hinaus bleibt auch ihr Sinn und Zweck - unabhängig von der Form - der gleiche: Die Lebenspartnerrente stellt (wie das hier im Streite liegende Todesfallkapital) eine neue Leistung dar. Sie wird ohne Beitragserhöhung finanziert. Die Vorsorgeeinrichtung hat daher ein schützenswertes Interesse zu wissen, wie viele Versicherte im Todesfall solche Leistungen auslösen können. Überdies möchte sie in
BGE 142 V 233 S. 238
beweisrechtlicher Hinsicht grösstmögliche Klarheit in Bezug auf die Person des Begünstigten (
BGE 137 V 105
E. 9.4 S. 113;
BGE 136 V 127
E. 4.5 S. 130;
BGE 133 V 314
E. 4.2.3 S. 318; SVR 2015 BVG Nr. 17 S. 66, 9C_161/2014 E. 3.3; vgl. auch ESTHER AMSTUTZ, Die Begünstigtenordnung der beruflichen Vorsorge, 2014, S. 236 Rz. 635).
2.3
Die Beschwerdeführerin beruft sich - soweit relevant - einzig auf die eigenhändige letztwillige Verfügung des Versicherten vom 31. Dezember 2013 (ohne Ortsangabe), mit welcher der Verstorbene seine Lebenspartnerin als Erbin des (gesamten) Nachlasses eingesetzt und zur Willensvollstreckerin ernannt hat. Ferner wurden seine Eltern "angehalten", auf ihre Pflichtteile zu verzichten.
Die gesetzlichen (
Art. 18-20 BVG
) und reglementarischen (vgl.
Art. 20a BVG
) Ansprüche der Hinterbliebenen aus beruflicher Vorsorge stehen nach der Rechtsprechung vollständig ausserhalb des Erbrechts: Weder fallen sie in den Nachlass noch unterliegen sie der erbrechtlichen Herabsetzung noch werden sie durch eine Ausschlagung der Erbschaft tangiert (
BGE 140 V 50
E. 3.1 S. 52;
BGE 130 I 205
E. 8 S. 220;
BGE 129 III 305
E. 2 S. 307; GUSTAVO SCARTAZZINI, in: BVG und FZG, 2010, N. 7 zu
Art. 20a BVG
; HERMANN WALSER, Weitergehende berufliche Vorsorge, in: Soziale Sicherheit, SBVR Bd. XIV, 3. Aufl. 2016, S. 2198 Rz. 103). Trotz gänzlichem Fehlen eines erbrechtlichen Bezugs der berufsvorsorgerechtlichen Hinterlassenenleistungen kann eine entsprechende Begünstigungserklärung auch im Rahmen einer letztwilligen Verfügung erfolgen (vgl. Urteil 9C_3/ 2010 vom 31. März 2010 E. 3.2, nicht publ. in:
BGE 136 V 127
, aber in: SVR 2010 BVG Nr. 44 S. 167; vgl. SVR 2006 BVG Nr. 13 S. 47, B 92/04 E. 5.2). Die in einem Testament verbalisierte Willenserklärung, den Lebenspartner hinsichtlich der reglementarischen Hinterlassenenleistungen zu begünstigen, bedarf indessen eines ausdrücklichen Hinweises auf die einschlägigen Reglementsbestimmungen oder wenigstens auf die berufliche Vorsorge (SVR 2006 BVG Nr. 13 S. 47, B 92/04 E. 5.2 und 5.3). Letztwillige Verfügungen, mit denen - wie hier - die Lebenspartnerin des Versicherten (bloss) als Erbin eingesetzt wird, lassen nicht auf einen berufsvorsorgerechtlichen Begünstigungswillen schliessen, selbst dann nicht, wenn die Partnerin zur Alleinerbin bestimmt wird (Konkretisierung der Rechtsprechung gemäss Urteil 9C_3/2010 vom 31. März 2010 E. 3.2, nicht publ. in:
BGE 136 V 127
, aber in: SVR 2010 BVG Nr. 44 S. 167). (...) | 2,244 | 1,637 | 2 | 0 | CH_BGE_007 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_007_BGE-142-V-233_2016-04-22 | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=20&from_date=&to_date=&from_year=2016&to_year=2016&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=198&highlight_docid=atf%3A%2F%2F142-V-233%3Ade&number_of_ranks=293&azaclir=clir | BGE_142_V_233 |
|||
ecdcd62a-8957-419a-87f2-fddb978cc575 | 1 | 83 | 1,352,259 | null | 2,024 | de | Sachverhalt
ab Seite 167
BGE 131 IV 167 S. 167
Y. war bis 1993 mit X. verheiratet. Nach der Scheidung lebte er weiterhin mit seiner ehemaligen Ehefrau zusammen. Im März 2001 bezog er eine eigene Wohnung. Bis am 2. September 2001 führten die ehemaligen Ehegatten ihre auch sexuelle Beziehung fort. Danach trennten sie sich endgültig. Im Zeitraum vom 21. September bis zum 12. Oktober 2001 sandte Y. X. und sich selber eine Vielzahl von SMS-Botschaften, welche sie beide unter massiven Drohungen zur Vornahme bestimmter sexueller Handlungen im Schlafzimmer bei aufgezogenen Vorhängen oder im Wald aufforderten. X. erkannte nicht, dass die anonymen SMS-Mitteilungen von ihrem ehemaligen Mann ausgingen. Nach gemeinsamen Gesprächen, anlässlich welcher ihr früherer Ehegatte die Ernsthaftigkeit der eingegangenen Forderungen und die Bedrohlichkeit der Situation unterstrich, willigte sie schliesslich in die verlangten sexuellen Handlungen - unter anderem auch in den Vollzug des Geschlechtsverkehrs und das Drehen eines Sexfilmes - ein.
BGE 131 IV 167 S. 168
Das Bezirksgericht Winterthur erklärte Y. der mehrfachen Vergewaltigung, der mehrfachen sexuellen Nötigung, der mehrfachen Drohung und des mehrfachen Missbrauchs einer Fernmeldeanlage schuldig und bestrafte ihn mit 16 Monaten Zuchthaus unter Gewährung des bedingten Strafvollzugs. Gegen dieses Urteil ergriff Y. die Berufung.
Das Obergericht des Kantons Zürich sprach ihn am 22. April 2004 von den Vorwürfen der mehrfachen Vergewaltigung und der mehrfachen sexuellen Nötigung frei, verurteilte ihn aber wegen mehrfacher Drohung zu vier Monaten Gefängnis unter Gewährung des bedingten Strafvollzugs. Auf die Anklage wegen mehrfachen Missbrauchs des Telefons trat das Obergericht infolge Eintritts der Verjährung nicht ein.
X. erhebt gegen das Urteil des Obergerichts eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde beim Bundesgericht. Sie beantragt, es sei das angefochtene Urteil abgesehen vom Schuldspruch wegen mehrfacher Drohung aufzuheben. Ausserdem sei die Vorinstanz anzuweisen, Y. der mehrfachen Vergewaltigung und der mehrfachen sexuellen Nötigung schuldig zu sprechen und ihm gegenüber eine dem Verschulden angemessene Strafe auszufällen, auf ihr Schadenersatzbegehren einzutreten und ihr eine angemessene Genugtuung inkl. 5 % Zins seit dem 1. Dezember 2001 zuzusprechen.
Sowohl das Obergericht als auch die Oberstaatsanwaltschaft verzichten auf eine Stellungnahme zur Beschwerde. Der Beschwerdegegner hingegen beantragt die vollumfängliche Abweisung der Beschwerde. | 510 | 379 | Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Zu beurteilen ist vorliegend einzig, ob das dem Beschwerdegegner vorgeworfene Verhalten die Tatbestände der sexuellen Nötigung (
Art. 189 StGB
) und der Vergewaltigung (
Art. 190 StGB
) erfüllt.
Die Vorinstanz gelangt in dieser Hinsicht zum Schluss, dass die SMS-Botschaften den Tatbestand der Drohung gemäss
Art. 180 StGB
erfüllen. Sie anerkennt auch, dass der Beschwerdegegner anlässlich der Besprechungen mit der Beschwerdeführerin, wie auf die Drohungen zu reagieren sei, auf diese einen gewissen Druck ausgeübt hat. Hingegen spricht sie den Drohungen und weiteren Beeinflussungen unter den gegebenen Umständen den nötigenden
BGE 131 IV 167 S. 169
Charakter im Sinne von
Art. 189 und
Art. 190 StGB
ab. Nach ihrer Auffassung war es der Beschwerdeführerin zumutbar, sich gegen die verlangten sexuellen Handlungen zur Wehr zu setzen. Weiter deutet sie an, dass auch die Kausalität zwischen den Drohungen und den sexuellen Handlungen fraglich erscheine. Schliesslich habe sie den Eindruck, dass die Beschwerdeführerin teilweise in die vorgenommenen sexuellen Handlungen eingewilligt habe und schon deshalb kein tatbestandsmässiges Verhalten vorliege.
Diese Beurteilung rügt die Beschwerdeführerin als bundesrechtswidrig. Nach ihrem Dafürhalten sind die Drohungen und Beeinflussungen des Beschwerdegegners ganzheitlicher zu beurteilen, als dies durch die Vorinstanz geschieht. So habe Letzterer durch sein Vorgehen eine eigentliche "Gross-Bedrohungslage" geschaffen, welche die Situation als ausweglos erscheinen liess und in der sie keine Chance zur Gegenwehr gehabt habe. Es sei deshalb verfehlt, einzelne Äusserungen der Beschwerdeführerin so zu werten, dass sie die erfolgten sexuellen Handlungen gar nicht als sehr schlimm empfunden habe, und anzudeuten, sie könnte damit sogar einverstanden gewesen sein. Der Beschwerdegegner habe vielmehr einen solchen psychischen Druck bei ihr erzeugt, dass sie den sexuellen Forderungen nachgegeben habe, um noch Schlimmeres zu verhüten.
3.
Eine sexuelle Nötigung begeht gemäss
Art. 189 StGB
, wer eine Person zur Duldung einer beischlafsähnlichen oder einer anderen sexuellen Handlung nötigt, namentlich indem er sie bedroht, Gewalt anwendet, sie unter psychischen Druck setzt oder zum Widerstand unfähig macht. Wer unter den genannten Umständen eine Person weiblichen Geschlechts zur Duldung des Beischlafs nötigt, macht sich nach
Art. 190 StGB
der Vergewaltigung schuldig.
Die beiden Strafnormen bezwecken den Schutz der sexuellen Selbstbestimmung. Das Individuum soll sich im Bereich des Geschlechtslebens unabhängig von äusseren Zwängen oder Abhängigkeiten frei entfalten und entschliessen können. So setzen die sexuellen Nötigungstatbestände übereinstimmend voraus, dass der Täter durch eine Nötigungshandlung das Opfer dazu bringt, eine sexuelle Handlung zu erdulden oder vorzunehmen (
BGE 127 IV 198
E. 3). Die Tatbestände erfassen alle erheblichen Nötigungsmittel, auch solche ohne unmittelbaren Bezug zu physischer Gewalt. Es soll ebenfalls das Opfer geschützt werden, das in eine
BGE 131 IV 167 S. 170
ausweglose Situation gerät, in der es ihm nicht zuzumuten ist, sich dem Vorhaben des Täters zu widersetzen, auch wenn dieser keine Gewalt anwendet (
BGE 128 IV 97
E. 2b/aa und 106 E. 3a/bb). Dementsprechend umschreibt das Gesetz die Nötigungsmittel nicht abschliessend (
BGE 122 IV 97
E. 2b S. 100 f.). Es erwähnt namentlich die Ausübung von Gewalt und von psychischem Druck sowie das Bedrohen und das Herbeiführen der Widerstandsunfähigkeit, wobei der zuletzt genannten Variante kaum eigenständige Bedeutung zukommt (vgl. GUIDO JENNY, Kommentar zum schweizerischen Strafrecht, Bd. 4,
Art. 189 StGB
N. 29; PHILIPP MAIER, Basler Kommentar, Strafgesetzbuch II,
Art. 189 StGB
N. 4).
Vorliegend ist unbestritten, dass es nach den vom Beschwerdegegner versandten SMS-Botschaften jeweils zu sexuellen Handlungen kam. Ebenso wenig ist streitig, dass der Beschwerdegegner keine physische Gewalt eingesetzt hat. Es stellt sich vorliegend jedoch die Frage, ob er die Beschwerdeführerin durch Drohungen und psychischen Druck zur Vornahme bzw. Duldung der inkriminierten sexuellen Handlungen genötigt hat.
3.1
Die sexuellen Nötigungstatbestände gelten als Gewaltdelikte und sind damit prinzipiell als Akte physischer Aggression zu verstehen. Vor diesem Hintergrund versteht es sich von selbst, dass nicht jeder beliebige Zwang, nicht schon jedes den Handlungserfolg bewirkende kausale Verhalten, auf Grund dessen es zu einem ungewollten Geschlechtsverkehr, zu einer beischlafsähnlichen oder einer andern sexuellen Handlung kommt, eine sexuelle Nötigung darstellt (vgl. dazu ESTHER OMLIN, Intersubjektiver Zwang & Willensfreiheit, Diss. Basel 2002, S. 96). Kein ausreichender Druck oder Zwang im Sinne von
Art. 189 und
Art. 190 StGB
liegt beispielsweise vor, wenn ein Mann seiner Frau androht, nicht mehr mit ihr zu sprechen, alleine in die Ferien zu fahren oder fremdzugehen, falls sie die verlangten sexuellen Handlungen verweigert (vgl. dazu auch GÜNTHER STRATENWERTH/GUIDO JENNY, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil I: Straftaten gegen Individualinteressen, 6. Aufl., Bern 2003, § 8 N. 9). Obschon auch diese in Aussicht gestellten Übel das Opfer einer seelischen Belastung aussetzen, erreichen sie die für die Sexualgewaltdelikte erforderliche Intensität nicht.
Der psychische Druck, welchen der Täter durch die Schaffung einer Zwangslage erzeugen muss, hat im Blick auf die
BGE 131 IV 167 S. 171
gewaltdeliktische Natur von
Art. 189 und
Art. 190 StGB
vielmehr von besonderer Intensität zu sein. Zwar wird nicht verlangt, dass er zur Widerstandsunfähigkeit des Opfers führt. Die Einwirkung auf dasselbe muss aber immerhin erheblich sein (
BGE 128 IV 97
E. 2b/aa,
BGE 128 IV 106
E. 3a/aa;
BGE 131 IV 107
E. 2.4) und eine der Gewaltanwendung oder Bedrohung vergleichbare Intensität erreichen (
BGE 128 IV 97
E. 3a). Dies ist der Fall, wenn vom Opfer unter den gegebenen Umständen und in Anbetracht seiner persönlichen Verhältnisse verständlicherweise kein Widerstand erwartet werden kann bzw. ihm ein solcher nicht zuzumuten ist, der Täter mithin gegen den Willen des Opfers an sein Ziel gelangt, ohne dafür Gewalt oder Drohungen anwenden zu müssen (
BGE 126 IV 124
E. 3b und c). Erwachsenen mit entsprechenden individuellen Fähigkeiten wird dabei eine stärkere Gegenwehr zugemutet als Kindern (
BGE 128 IV 97
E. 2b/cc,
BGE 128 IV 106
E. 3a/bb;
BGE 124 IV 154
E. 3b).
Für die erforderliche Intensität des psychischen Drucks ergibt dies, dass jedenfalls solche Verhaltensweisen von der Tatbestandsvariante des Unter-psychischen-Druck-Setzens erfasst sind, die Gewaltakte gegen das Opfer oder Drittpersonen befürchten lassen (vgl. OMLIN, a.a.O., S. 96 und 99; JENNY, a.a.O.,
Art. 189 StGB
N. 23; STEFAN TRECHSEL, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Kurzkommentar, 2. Aufl.,
Art. 189 StGB
N. 6; JÖRG REHBERG/NIKLAUS SCHMID/ ANDREAS DONATSCH, Strafrecht III, Delikte gegen den Einzelnen, 8. Aufl., Zürich 2003, § 57, S. 423). Zu denken ist dabei namentlich an die Drohung mit Gewalt gegen Sympathiepersonen oder, in Beziehungen, auch an Situationen fortbestehender Einschüchterung aufgrund früherer Gewalterfahrungen, andauernder Tyrannisierung bzw. nachhaltigen Psychoterrors, in denen es im Einzelfall keiner erneuten Gewalt oder Bedrohung bedarf, um die Gefügigkeit des Opfers zu erzwingen (JENNY, a.a.O.,
Art. 189 StGB
N. 25; vgl. auch
BGE 126 IV 124
E. 3b).
3.2
Eine Verurteilung wegen sexueller Nötigung oder Vergewaltigung setzt ausserdem voraus, dass der fragliche sexuelle Übergriff gerade wegen der eingesetzten Drohungen oder des erzeugten psychischen Drucks erfolgen konnte. Nützt der Täter bloss eine vorbestehende Abhängigkeit oder Notlage aus, scheiden die Tatbestände von
Art. 189 und
Art. 190 StGB
aus (MAIER, a.a.O.,
Art. 189 StGB
N. 20;
ders
., Das Tatbestandsmerkmal des Unter-psychischen-Druck-Setzens im Schweizerischen Strafgesetzbuch, ZStrR 117/1999 S. 409 f. und 418). Denkbar ist jedoch, dass in
BGE 131 IV 167 S. 172
solchen Fällen der Tatbestand der Ausnützung einer Notlage nach
Art. 193 StGB
erfüllt ist. Im Übrigen verlangt die Rechtsprechung keinen engen zeitlichen Zusammenhang zwischen der nötigenden Handlung und dem sexuellen Übergriff (vgl. dazu
BGE 126 IV 124
E. 3b).
3.3
Die SMS-Botschaften, die der Beschwerdegegner an die Adresse der Beschwerdeführerin versandte, enthielten unter anderem überaus schwere Drohungen gegen ihr nahestehende Personen. So wurde ihr für den Fall, dass sie die verlangten sexuellen Handlungen nicht vornehme, das Verschwinden ihrer 11-jährigen Tochter angedroht ("sonst passiert D. etwas, sie kommt weg"), das Betäubungsmittel-abhängig-Machen des offensichtlich suizidgefährdeten bzw. labilen Sohnes in Aussicht gestellt ("sonst kommt R. an die Nadel") sowie der Tod des ehemaligen Ehemannes angekündigt ("sonst fliegt er in die Luft"). Insofern geht es hier um Drohungen, die Gewalttätigkeiten gegen Sympathiepersonen der Beschwerdeführerin befürchten liessen. Angesichts ihrer gewaltdeliktischen Natur waren sie deshalb unzweifelhaft geeignet, bei der Beschwerdeführerin einen ausserordentlichen psychischen Druck zu erzeugen. Diesen Druck hat der Beschwerdegegner als Urheber der SMS-Mitteilungen nicht nur geschaffen, sondern geschickt aufrechterhalten, indem er als Vertrauensperson und angebliches Mit-Opfer anlässlich der im Anschluss an diese Botschaften erfolgten gemeinsamen Unterredungen die Aussichtslosigkeit und Bedrohlichkeit der Situation der Beschwerdeführerin gegenüber betonte und sie darin bestärkte, es müsse den Forderungen nachgegeben werden. Dass der Beschwerdegegner bei der Tatausführung auch eine List benutzte, so dass ihn die Beschwerdeführerin nicht als Verfasser der fraglichen SMS identifizieren konnte, ändert nichts daran, dass er zur Erreichung seines Ziels im Wesentlichen Nötigungsmittel einsetzte. So hat er ganz massive Drohungen ausgesprochen, um das Opfer gefügig zu machen. Dies ist ihm denn auch gelungen. Die Beschwerdeführerin liess sich, ohne das hinterhältige Doppelspiel durchschauen zu können, durch die in Aussicht gestellten Nachteile mit Gewalt für Leib und Leben ihrer nächsten Angehörigen derart einschüchtern und in die Enge treiben, dass sie keinen andern Ausweg sah, als sich dem Ansinnen des Beschwerdegegners zu beugen. Daraus erhellt, dass vorliegend nicht nur ein Irrtum ausgenützt, sondern vielmehr gezielt Zwang unter Androhung physischer Aggression ausgeübt wurde, um den erwarteten Widerstand des Opfers zu brechen.
BGE 131 IV 167 S. 173
Hat die Beschwerdeführerin aber aus Angst, die Drohungen würden wahrgemacht, unter dem Eindruck der Ausweglosigkeit der Situation kapituliert, kann ihr unter dem Titel zumutbarer Selbstschutzmassnahmen nicht vorgeworfen werden, sie hätte die Polizei aufsuchen, die verlangten sexuellen Handlungen - wie beim ersten Vorfall - nur vortäuschen, ihre Kinder an einen sicheren Ort bringen sowie den Telefonanschluss kündigen oder überwachen lassen können bzw. müssen. Diese Argumentation verkennt, dass eine Gegenwehr des Opfers nicht mehr zumutbar sein kann, wenn erhebliche Angriffe auf seine körperliche Integrität oder diejenige ihm nahestehender Drittpersonen drohen. Im Blick auf die Tragweite der konkret angedrohten Übel erscheint das Nachgeben der Beschwerdeführerin unter den gegebenen Umständen ohne weiteres als nachvollziehbar, zumal es für sie den einzig gangbaren Weg bildete, die befürchteten Gewaltakte von ihren Angehörigen abzuwenden. Hinzu kommt, dass der Beschwerdegegner die Beschwerdeführerin anlässlich der gemeinsamen Gespräche auf eine mögliche Eskalation der Situation hinwies, falls sie sich an die Polizei wendete, und er damit jeglichen Willen zur Gegenwehr von vornherein im Keim erstickte. Dass die nötigenden Handlungen und die sexuellen Übergriffe zeitlich nicht unmittelbar aufeinander folgten, vermag an dieser Beurteilung auch nichts zu ändern. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang vielmehr, dass die vom Beschwerdegegner insgesamt geschaffene und aufrechterhaltene Zwangslage derart nachhaltig wirkte, dass sie unvermindert über den Vollzug der verlangten sexuellen Handlungen hinaus andauerte. Dafür, dass sich die Beschwerdeführerin unmittelbar vor der Vornahme der sexuellen Handlungen doch noch aus freien Stücken damit einverstanden erklärt hätte, gibt es jedenfalls keinerlei Anhaltspunkte. Daraus ergibt sich, dass das inkriminierte Verhalten des Beschwerdegegners tatbestandsmässig im Sinne von
Art. 189 und
Art. 190 StGB
ist. Der angefochtene Entscheid verletzt insofern Bundesrecht. | 2,769 | 2,140 | 2 | 0 | CH_BGE_006 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_006_BGE-131-IV-167_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=17&from_date=&to_date=&from_year=2005&to_year=2005&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=169&highlight_docid=atf%3A%2F%2F131-IV-167%3Ade&number_of_ranks=281&azaclir=clir | BGE_131_IV_167 |
|||
ecddbf0f-7fe9-42de-86af-428094c04eb2 | 1 | 78 | 1,361,956 | null | 2,024 | de | Sachverhalt
ab Seite 51
BGE 126 I 50 S. 51
Die Bezirksanwaltschaft Dielsdorf führt eine Strafuntersuchung betreffend einen Erpressungsversuch. Anlass dazu gab ein manipuliertes E-Mail, das folgende Message-ID enthielt: 199811291950.UAA08709Oswissonline.ch. Es besteht der Verdacht, dass auf der beim Empfänger eingetroffenen erpresserischen E-Mail-Nachricht Absender und Versanddatum manipuliert worden sind.
Zur Abklärung der Hintergründe forderte die Bezirksanwaltschaft Dielsdorf die Swiss Online AG als Provider des E-Mail-Verkehrs gestützt auf
§ 103 StPO
/ZH auf, Auskunft über den tatsächlichen Absender des genannten E-Mails und dessen genauen Versandzeitpunkt zu geben.
Die Swiss Online AG rekurrierte gegen diese Aufforderung bei der Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich. Diese wies den Rekurs ab, erachtete
§ 103 StPO
/ZH als hinreichende gesetzliche Grundlage
BGE 126 I 50 S. 52
für die Auskunftserteilung und verneinte die Notwendigkeit einer richterlichen Genehmigung.
Gegen den Entscheid der Staatsanwaltschaft hat die Swiss Online AG beim Bundesgericht Verwaltungsgerichtsbeschwerde und subsidiär staatsrechtliche Beschwerde erhoben. In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde macht sie geltend, anstelle des kantonalen Rechts sei das eidgenössische Fernmelderecht anwendbar. In der staatsrechtlichen Beschwerde rügt sie eine willkürliche Anwendung von
§ 103 StPO
/ZH und eine Verletzung des verfassungsmässigen Fernmeldegeheimnisses.
Das Bundesgericht weist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ab und heisst die staatsrechtliche Beschwerde gut, soweit es darauf eintrat. | 348 | 230 | Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Die Beschwerdeführerin erhebt in einer einzigen Eingabe Verwaltungsgerichtsbeschwerde und subsidiär staatsrechtliche Beschwerde. Dies ist nach der Rechtsprechung zulässig (
BGE 123 II 289
E. 1a S. 290;
BGE 119 Ib 380
E. 1a S. 382 mit Hinweisen). Die staatsrechtliche Beschwerde ist gegenüber der Verwaltungsgerichtsbeschwerde subsidiär (
Art. 84 Abs. 2 OG
). Es ist daher vorerst zu prüfen, ob die Verwaltungsgerichtsbeschwerde zulässig ist. Diese Prüfung nimmt das Bundesgericht von Amtes wegen und mit freier Kognition vor (
BGE 124 II 409
E. 1 S. 411;
BGE 123 II 289
E. 1a S. 290;
BGE 119 Ib 380
E. 1a S. 382 mit Hinweisen).
Nach
Art. 97 ff. OG
in Verbindung mit
Art. 5 VwVG
ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde zulässig gegen Verfügungen, die sich auf öffentliches Recht des Bundes stützen oder hätten stützen müssen (
BGE 123 II 56
E. 4a S. 61, 145 E. 1b und 2 S. 147 ff.;
BGE 122 II 241
E. 2 S. 243;
BGE 121 II 39
E. 2a S. 41, 72 E. 1b S. 75, 161 E. 2a S. 162 mit Hinweisen). Es kann geltend gemacht werden, es sei zu Unrecht kantonales Recht anstelle des anwendbaren Bundesrechts angewendet worden. Im vorliegenden Fall stützt sich der angefochtene Entscheid, mit dem die Beschwerdeführerin zur Bekanntgabe des Absenders eines E-Mails verpflichtet wird, auf § 103 der Strafprozessordnung des Kantons Zürich (StPO/ZH). Die Beschwerdeführerin macht indessen geltend, es hätte das (eidgenössische) Fernmeldegesetz vom 30. April 1997 (FMG, SR 784.10) zur Anwendung gebracht werden müssen. Wie es sich mit der materiellen Grundlage im Bundesverwaltungsrecht verhält, ist nachfolgend zu prüfen.
BGE 126 I 50 S. 53
2.
a) Das Fernmeldegesetz regelt die fernmeldetechnische Übertragung von Informationen, die nicht als Radio- oder Fernsehprogramme gelten (
Art. 2 FMG
). Als fernmeldetechnische Übertragung gilt jegliches elektrische, magnetische, optische oder anderes elektromagnetische Senden oder Empfangen von Informationen über Leitungen oder Funk (
Art. 3 lit. c FMG
). In Art. 43 umschreibt das Fernmeldegesetz das Fernmeldegeheimnis: Die Anbieterinnen von Fernmeldediensten sind zur Geheimhaltung von Angaben über den Fernmeldeverkehr von Teilnehmerinnen und Teilnehmern verpflichtet. Die Überwachung des Fernmeldeverkehrs ist in
Art. 44 FMG
geordnet: Bei der Verfolgung von Verbrechen und Vergehen hat jede Anbieterin den zuständigen Justiz- und Polizeibehörden des Bundes und der Kantone auf Verlangen Auskunft über den Fernmeldeverkehr von Teilnehmerinnen und Teilnehmern zu geben. Nach
Art. 46 FMG
regelt der Bundesrat zur Wahrung des Persönlichkeitsschutzes insbesondere die Identifikation des anrufenden Anschlusses und die Verwendung von Daten über den Fernmeldeverkehr. In der Verordnung vom 6. Oktober 1997 über Fernmeldedienste (FDV, SR 784.101.1) werden die Anbieterinnen von Fernmeldediensten verpflichtet, die persönlichen Daten der Teilnehmerinnen und Teilnehmer während sechs Monaten für die zuständigen Behörden im Rahmen der Fernmeldeüberwachung nach
Art. 44 FMG
(
Art. 50 Abs. 1 Satz 2 FDV
) bzw. für die Anfechtung von Rechnungen zur Verfügung zu halten.
Im Hinblick auf die Liberalisierung des Fernmeldemarktes anstelle der ursprünglich im Bereiche der Telefonübermittlung allein auftretenden PTT-Betriebe hat der Bundesrat einen Dienst für die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs geschaffen (Art. 1 der Verordnung über den Dienst für die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs, Überwachungsverordnung, SR 780.11; vgl. Botschaft zum revidierten Fernmeldegesetz, BBl 1996 III 1405, insbes. 1441 f.; Botschaft zu einem Bundesgesetz betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs und über die verdeckte Ermittlung [Botschaft BÜPF], BBl 1998, 4241, insbes. 4259 f.). Der Dienst koordiniert die Überwachungen und die Auskunftserteilung zwischen den gesuchstellenden Strafverfolgungsbehörden und den Anbieterinnen. Die Begehren sind daher beim Dienst einzureichen (Art. 11 Überwachungsverordnung). Dieser hat nach Art. 6 Überwachungsverordnung im Einzelnen u.a. folgende Aufgaben: Er prüft, ob die Überwachung dem anwendbaren Recht entspricht und von einer zuständigen Behörde angeordnet wurde (lit. a);
BGE 126 I 50 S. 54
er weist die Anbieterinnen von Fernmeldediensten an, die für die Überwachung notwendigen Massnahmen zu treffen (lit. b) und nimmt den von den Anbieterinnen umgeleiteten Fernmeldeverkehr der überwachten Person entgegen, zeichnet diesen auf und liefert die Aufzeichnungen der anordnenden Behörde aus (lit. c). Die Aufgaben des Dienstes, wie sie in der Überwachungsverordnung umschrieben sind, entsprechen weitgehend denjenigen, die der Bundesrat in seiner Botschaft BÜPF vorgeschlagen hat (Botschaft BÜPF, a.a.O., S. 4306).
b) Im Folgenden ist zu prüfen, ob und inwiefern das dargestellte Bundesrecht Grundlage für die strafprozessuale Zwangsmassnahme von Überwachungen darstellt. Diese Prüfung ist vorerst unabhängig von der Differenzierung zwischen eigentlicher Telefonabhörung, der (nachträglichen) Teilnehmeridentifikation und den spezifischen Verhältnissen des E-Mail-Verkehrs vorzunehmen. Dabei ist auf die Bestimmungen des Strafgesetzbuches sowie auf das Fernmeldegesetz mit den dazugehörigen Materialien (inklusive die genannte Botschaft BÜPF) abzustellen.
Das Fernmeldegesetz verpflichtet die mit fernmeldedienstlichen Aufgaben betrauten Personen zur Geheimhaltung und verbietet ihnen im Einzelnen, Dritten Angaben über den Fernmeldeverkehr von Teilnehmerinnen und Teilnehmern zu machen (
Art. 43 FMG
). Das Strafgesetzbuch stellt die Verletzung des Post- und Fernmeldegeheimnisses unter Strafe und verbietet Personen, die mit dem Erbringen von Post- oder Fernmeldediensten zu tun haben, die Weitergabe von Angaben über den Post-, Zahlungs- und Fernmeldeverkehr (
Art. 321ter StGB
).
Diese Geheimhaltungspflicht wird durch die Überwachung des Fernmeldeverkehrs zur Verfolgung von Verbrechen und Vergehen durchbrochen: Jeder Anbieter von Fernmeldediensten wird diesfalls durch
Art. 44 FMG
verpflichtet, den zuständigen Justiz- und Polizeibehörden auf Verlangen Auskunft über den Fernmeldeverkehr von Teilnehmerinnen und Teilnehmern zu erteilen.
Art. 179octies StGB
erklärt die amtliche Überwachung des Fernmeldeverkehrs für straflos, wenn unverzüglich die Genehmigung des zuständigen Richters eingeholt wird und die Überwachung der Verfolgung von Verbrechen und Vergehen dient, deren Schwere und Eigenart den Eingriff rechtfertigen.
Aus dieser Regelung geht gesamthaft hervor, dass
Art. 44 FMG
keine Grundlage für die Anordnung einer konkreten Überwachung darstellt. Zweck der Ordnung von Art. 43 f. FMG ist es auf der einen
BGE 126 I 50 S. 55
Seite, die (privaten) Anbieterinnen von Fernmeldediensten überhaupt erst zur Geheimhaltung zu verpflichten - eine Geheimhaltung, zu der die früheren PTT-Angestellten schon auf Grund des allgemeinen Amtsgeheimnisses verpflichtet waren. Auf der andern Seite werden die Anbieterinnen von ihrer Geheimhaltungspflicht befreit und damit grundsätzlich zur Auskunft gegenüber den Strafverfolgungsbehörden verpflichtet (Botschaft FMG, a.a.O., S. 1441). Die Auskunftserteilung erfolgt auf Verlangen der Strafverfolgungsbehörden von Bund und Kantonen entsprechend ihren einschlägigen Strafprozessbestimmungen. Das Fernmeldegesetz umschreibt die Voraussetzungen für die Überwachung nicht selber, weder in formeller noch in materieller Hinsicht. Insbesondere wird die Auskunftserteilung nach Fernmeldegesetz weder an die Voraussetzung geknüpft, dass es sich um ein Verbrechen oder Vergehen handeln muss, dessen Schwere oder Eigenart den Eingriff rechtfertigt, noch wird eine richterliche Genehmigung verlangt (vgl.
Art. 179octies StGB
). Diesen Voraussetzungen aber kommt bei der verfassungsmässigen Beurteilung und Abwägung des Eingriffs in das Telefongeheimnis entscheidende Bedeutung zu (vgl.
BGE 109 Ia 273
E. 6 und 10, S. 285 und 295). Die Regelung des Eingriffs in das Fernmeldegeheimnis im Fernmeldegesetz wird daher als rudimentär bezeichnet (Botschaft BÜPF, a.a.O., S. 4246). Dieser Ordnung im Fernmeldegesetz entspricht auch die Umschreibung der Aufgaben des Überwachungsdienstes: Der Dienst beschränkt sich im Wesentlichen auf die Entgegennahme von Gesuchen und deren Weiterleitung an die Anbieter; er prüft lediglich formell, ob gewisse Voraussetzungen für die Zwangsmassnahme erfüllt sind. Im Wesentlichen nimmt er lediglich eine Koordinations- und Vermittlungsrolle ein (vgl. Art. 6, 8 und 11 der Überwachungsverordnung; Botschaft FMG, a.a.O., S. 1441 f.; Botschaft BÜPF, a.a.O., S. 4277). Dieses Auslegungsergebnis wird bestärkt durch die Botschaft des Bundesrates für ein neues Bundesgesetz über die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs, mit der die formellen und materiellen Voraussetzungen der Telefonüberwachung neu durch die Bundesgesetzgebung umschrieben werden sollen (Botschaft BÜPF, a.a.O., S. 4246 f., 4260 ff. und 4306 ff.).
Bei dieser Sachlage zeigt sich, dass das Fernmeldegesetz keine Grundlage für eine konkrete Telefonüberwachung darstellt. Es kommt zwar insofern zur Anwendung, als die Anbieterinnen von Fernmeldediensten zur Auskunftserteilung verpflichtet werden und der Überwachungsdienst seine Koordinationsfunktion ausübt. Die
BGE 126 I 50 S. 56
eigentliche materielle Grundlage für Telefonüberwachungen stellen indessen nach wie vor die Bestimmungen der anwendbaren Strafprozessordnungen der Kantone und des Bundes dar, welche den Eingriff in das Telefongeheimnis in Übereinstimmung mit
Art. 179octies und
Art. 400bis StGB
umschreiben (vgl.
§ 104 ff. StPO
; JÜRG NEUMANN, Überwachungsmassnahmen im Sinne von
Art. 179octies StGB
, ZStrR 114/1996 S. 397 f.). Dieses Ergebnis gilt nicht nur für die eigentliche Telefonüberwachung im Sinne der Gesprächsabhörung. Auch für andere Arten der Überwachung des Fernmeldeverkehrs vermag das Fernmeldegesetz keine gesetzliche Grundlage abzugeben. Daher können sich die (nachträgliche) Teilnehmeridentifikation oder die Überwachung des E-Mail-Verkehrs zum Vornherein nicht auf das Fernmeldegesetz abstützen; auch insoweit stellt ausschliesslich das anwendbare Strafprozessrecht die materielle Rechtsgrundlage dar.
Soweit die Beschwerdeführerin geltend macht, die angefochtene Verfügung stütze sich zu Unrecht auf das kantonale Recht und hätte richtigerweise auf das Fernmeldegesetz des Bundes abgestützt werden müssen, erweist sich ihre Beschwerde als unbegründet. Demnach ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde abzuweisen.
3.
Die Beschwerdeführerin erhebt gegen die Aufforderung, den Strafverfolgungsbehörden den Absender des fraglichen E-Mails bekannt zu geben, subsidiär auch staatsrechtliche Beschwerde. (...)
b) aa) Die Beschwerdeführerin kann auf Grund von Art. 4 der bis Ende 1999 geltenden Bundesverfassung (aBV) bzw. vom Art. 9 der Bundesverfassung vom 18. April 1999 (BV) eine willkürliche Anwendung von
§ 103 StPO
/ZH rügen und geltend machen, die umstrittene Anordnung könne sich nicht auf die genannte Bestimmung der Strafprozessordnung abstützen. Da von ihr ein konkretes Handeln verlangt wird, ist sie im Sinne von
Art. 88 OG
zur Beschwerde legitimiert. Desgleichen ist sie zur Rüge befugt, es hätten die formellen Voraussetzungen von
§ 104 ff. StPO
/ZH (betreffend Telefonüberwachung) eingehalten werden müssen.
bb) Die Beschwerdeführerin macht weiter eine Verletzung des Post- und Telegrafengeheimnisses im Sinne von
Art. 36 Abs. 4 aBV
geltend. Ob diese Verfassungsbestimmung bzw.
Art. 13 Abs. 1 BV
für den Bereich des E-Mail-Verkehrs Anwendung findet, ist eine unten zu behandelnde materielle Frage. Zu prüfen an dieser Stelle ist indessen, ob sich die Beschwerdeführerin mit ihrer staatsrechtlichen Beschwerde überhaupt auf den verfassungsmässigen Geheimbereich berufen kann.
BGE 126 I 50 S. 57
Das Telegrafen-, Telefon- und Fernmeldegeheimnis schützt die Privatsphäre desjenigen, der einen (heute von privater Seite angebotenen) Fernmeldedienst wie etwa das Telefon oder die Telegrafie in Anspruch nimmt. Der Schutz betrifft den Benützer dieser Dienstleistungen, nicht hingegen den Anbieter. Daraus folgt, dass sich die Beschwerdeführerin mit ihrer Beschwerde im vorliegenden Fall nicht in direkter Weise auf diese Verfassungsgarantien zu berufen vermag; sie erhebt die Rüge gewissermassen treuhänderisch anstelle der durch das Fernmeldegeheimnis direkt geschützten Person (vgl. zu dieser Problematik HANS MARTI, Die staatsrechtliche Beschwerde, 4. Auflage 1979, Rz. 93 S. 65). - Unter den gegebenen Umständen ist die Frage nach dem Geheimnisschutz mit in die Beurteilung einzubeziehen. Die Beschwerdeführerin ist nach dem Fernmeldegesetz grundsätzlich zum Geheimnis verpflichtet (
Art. 43 FMG
); das Strafgesetzbuch stellt die Verletzung des Fernmeldegeheimnisses unter Strafe (
Art. 321ter StGB
unter Vorbehalt von
Art. 179octies StGB
). Die Beschwerdeführerin ist daran interessiert, sich vor einem Gesetzesverstoss zu schützen und die Auskunft nur unter Einhaltung der gesetzlichen Voraussetzungen zu erteilen. Sie befindet sich in gleicher Lage wie Ärzte, Rechtsanwälte oder andere Angehörige von Berufsgruppen, die unter dem Berufsgeheimnis stehen und dieses gegenüber Auskunftsbegehren von Strafverfolgungsbehörden grundsätzlich anrufen können (vgl.
Art. 321 StGB
). Sinngemäss macht die Beschwerdeführerin geltend, der angefochtene Entscheid vereitle Bundesrecht und verletze daher den Verfassungsgrundsatz der derogatorischen Wirkung des Bundesrechts (vgl. Urteil des Bundesgerichts in Pra 1996 Nr. 198 E. 1b). Schliesslich mag der Beschwerdeführerin die Berufung auf den verfassungsmässigen Geheimnisschutz anstelle der direkt Betroffenen in Analogie zu
Art. 35 Abs. 3 BV
zugestanden werden. Demnach wird im Folgenden die Frage der Verletzung des grundrechtlich garantierten Geheimnisschutzes zu prüfen sein. (...)
4.
An erster Stelle gilt es zu prüfen, ob sich die angefochtene Verfügung ohne Willkür auf
§ 103 StPO
/ZH stützen lässt. a)
§ 103 StPO
/ZH hat folgenden Wortlaut:
1 Besteht Grund zur Annahme, dass sich Papiere oder andere der Beschlagnahme nach § 96 unterliegende Gegenstände und Vermögenswerte im Gewahrsam einer Person befinden, die an der abzuklärenden Straftat nicht beteiligt ist, wird sie von der Untersuchungsbehörde oder in dringenden Fällen von der Polizei zur Herausgabe aufgefordert. (...)
2 Kommt der Inhaber seiner Pflicht zur Herausgabe von Gegenständen und Vermögenswerten trotz Aufforderung nicht nach, kann eine
BGE 126 I 50 S. 58
Hausdurchsuchung durchgeführt werden. Dabei vorgefundene Gegenstände und Vermögenswerte werden unter den Voraussetzungen von § 96 Abs. 1 beschlagnahmt, soweit eine Herausgabepflicht besteht.
b) Die ursprüngliche Verfügung der Bezirksanwaltschaft stützte sich ohne nähere Begründung auf
§ 103 StPO
/ZH. Im angefochtenen Entscheid legt die Staatsanwaltschaft dar, aus welchen Gründen
§ 103 StPO
/ZH auf das streitige Auskunftsbegehren Anwendung finde. Im Einzelnen führt sie aus,
§ 96 StPO
/ZH umfasse nach seinem klaren Wortlaut neben der Einziehungsbeschlagnahme (vgl. Art. 58 f. StGB) auch die Beweismittelbeschlagnahme; demnach könne
§ 103 StPO
/ZH auch im Hinblick auf die Beschaffung der notwendigen Beweismittel angewendet werden. Sodann beziehe sich
§ 103 StPO
/ZH nicht nur auf existierende, körperliche Gegenstände. Nach dieser Bestimmung könnten im Sinne einer Mitwirkungspflicht vielmehr auch gewisse Leistungen wie etwa die schriftliche Auskunftserteilung verlangt werden, womit ausgiebige Hausdurchsuchungen mit nachfolgenden Beschlagnahmungen oder mehrfache Befragungen erspart werden könnten. Sobald in diesem Sinne eine formulierte Auskunft vorliege, unterliege sie naturgemäss der Herausgabepflicht nach
§ 96 ff. StPO
/ZH.
Demgegenüber macht die Beschwerdeführerin in ihrer Beschwerde geltend, sie bzw. allenfalls ihre Organe könnten zwar grundsätzlich der Auskunfts- und Zeugenpflicht oder der Editionspflicht unterstehen. Hingegen sei sie auf Grund von
§ 103 StPO
/ZH nicht zu einem weitern aktiven Handeln oder einer positiven Leistung, d.h. im vorliegenden Fall zum Aufsuchen von gewissen Gegebenheiten verpflichtet.
c) Die Herausgabepflicht nach
§ 103 StPO
/ZH bezieht sich nach seinem Wortlaut auf Papiere und (in Verbindung mit
§ 96 StPO
/ZH) auf Gegenstände und Vermögenswerte, die als Beweismittel, zur Einziehung oder zum Verfall in Frage kommen. Es wird von keiner Seite in Frage gestellt, dass die Bestimmung auf die Erhebung von Beweismitteln (mit allfällig nachfolgender Beweismittelbeschlagnahme) anwendbar ist. In erster Linie werden mit
§ 103 StPO
/ZH in einem weiten Sinne Gegenstände erfasst, die in der einen oder andern Form vorhanden sind und vom Pflichtigen zum Zwecke der Wahrheitsfindung herausgegeben werden müssen. Die Bestimmung spricht ausdrücklich von der "Herausgabe" und vom "Inhaber" solcher Gegenstände (
§ 103 Abs. 1 Satz 2 StPO
/ZH). Die Beschwerdeführerin verwendet denn auch zutreffend das Bild von
BGE 126 I 50 S. 59
Gegenständen, die gewissermassen aus der Schublade herausgenommen werden könnten. Auch in der Literatur ist in diesem Zusammenhang von Sachen die Rede, für die eine Herausgabepflicht besteht (vgl. NIKLAUS SCHMID, Strafprozessrecht, 3. Auflage 1997, Rz. 742; HAUSER/SCHWERI, Schweizerisches Strafprozessrecht, 4. Auflage 1999, Rz. 4 f. zu § 70). Diesem Verständnis entspricht
§ 103 Abs. 2 StPO
/ZH, wonach eine Hausdurchsuchung mit entsprechender Beschlagnahmung durchgeführt werden kann, wenn der Inhaber der Pflicht zur Herausgabe nicht nachkommt.
In Anbetracht dieser Gesetzesauslegung erscheint das Abstützen der umstrittenen Auskunftserteilung auf
§ 103 StPO
/ZH im vorliegenden Fall als fragwürdig. Die Staatsanwaltschaft geht selber nicht davon aus, dass die einverlangten Informationen in Form eines Papiers oder andern Gegenstandes tatsächlich bei der Beschwerdeführerin vorhanden seien. Es liegt somit nichts vor, das im eigentlichen Sinne herausgegeben werden könnte. Die Strafverfolgungsbehörden haben denn auch auf eine Hausdurchsuchung im Sinne von
§ 103 Abs. 2 StPO
/ZH zum Zwecke einer Beschlagnahmung verzichtet.
Wohl aus diesen Gründen hat die Staatsanwaltschaft die umstrittene Pflicht zur Auskunftserteilung zusätzlich mit einer allgemeinen Mitwirkungspflicht begründet. Auch in dieser Hinsicht erscheint der angefochtene Entscheid indessen als fragwürdig. Zum einen stützt sich die Staatsanwaltschaft weder auf die Pflicht zum Zeugnis (
§ 128 ff. StPO
/ZH) noch auf die Einvernahme von Auskunftspersonen (
§ 149b StPO
/ZH). Zum andern führt sie aus, die Mitwirkungspflicht führe zu gewissen Vorleistungen des Auskunftspflichtigen wie der schriftlichen Auskunftserteilung über gewisse Begebenheiten, womit den Betroffenen im Sinne der Verhältnismässigkeit Umtriebe wie die Erduldung ausgiebiger Hausdurchsuchungen mit Beschlagnahmungen oder mehrfache Einvernahmen erspart werden könnten. Dabei übersieht sie allerdings, dass auch diesbezüglich lediglich Auskünfte über ein vorhandenes Wissen eingeholt werden könnten. Zeugen haben lediglich den ihnen in Erinnerung stehenden Vorgang oder den vorhandenen Eindruck als Zeugnis wiederzugeben und ihr deliktsrelevantes Wissen mitzuteilen, ohne dass von ihnen ein spezifisches Nachforschen verlangt werden könnte (vgl. SCHMID, a.a.O., Rz. 630; HAUSER/SCHWERI, a.a.O., Rz. 3 zu § 62).
Im vorliegenden Fall wird von der Beschwerdeführerin indessen nicht eine blosse Auskunftserteilung (in schriftlicher Form) über ein vorhandenes Wissen verlangt. Sie wurde in ihrer Eigenschaft als
BGE 126 I 50 S. 60
Provider vielmehr aufgefordert, nach dem Absender und der Absendezeit des fraglichen E-Mails überhaupt erst zu forschen und darüber Bericht zu geben. Die streitige Verfügung übersteigt damit die Herausgabe von vorhandenen Dokumenten oder die Bekanntgabe von vorhandenem Wissen und reicht damit klar über
§ 103 StPO
/ZH hinaus. Auch in dieser Hinsicht ist daher die rechtliche Grundlage für die umstrittene Verfügung zweifelhaft.
d) Damit erweist sich die Rüge der willkürlichen Anwendung von
§ 103 StPO
/ZH als begründet.
Da ein kantonaler Entscheid im staatsrechtlichen Beschwerdeverfahren nur aufzuheben ist, wenn er sich auch im Ergebnis als willkürlich erweist (
BGE 122 I 257
S. 262), ist im Nachfolgenden zu prüfen, wie es sich mit den von der Beschwerdeführerin angerufenen Bestimmungen über die Telefonüberwachung verhält.
5.
Die Beschwerdeführerin macht über die Rüge der willkürlichen Anwendung von
§ 103 StPO
/ZH hinaus geltend, für die Suche und Herausgabe des Absenders des streitigen E-Mails hätte im Sinne der Bestimmungen von
§ 104 ff. StPO
/ZH betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs vorgegangen werden müssen. Die (nachträgliche) Erforschung des E-Mail-Absenders stelle eine Überwachung dar und bedürfe daher nach
§ 104b StPO
/ZH einer richterlichen Genehmigung durch den Präsidenten der Anklagekammer. Demgegenüber vertritt die Staatsanwaltschaft im angefochtenen Entscheid die Auffassung, es könne keine Parallele zur Telefonüberwachung konstruiert werden und die (nachträgliche) Erforschung des Absenders stelle keine Überwachungsmassnahme dar, weshalb die Pflicht zu einer richterlichen Genehmigung entfalle.
Im Folgenden ist vorerst zu prüfen, ob die Erhebung von so genannten Randdaten im Sinne der Teilnehmeridentifikation für den Bereich des traditionellen Telefonverkehrs unter das Fernmeldegeheimnis fällt und daher eine Überwachung im Sinne von
§ 104 ff. StPO
/ZH und
Art. 179octies StGB
darstellt. Erst hernach wird untersucht, wie es sich mit dem spezifischen Bereich des E-Mail-Verkehrs verhält (E. 6).
a)
Art. 36 Abs. 4 aBV
garantiert das Post- und Telegrafengeheimnis. Zum Telegrafengeheimnis in diesem Sinne gehört nach der Rechtsprechung auch das Telefongeheimnis (
BGE 109 Ia 273
E. 4a S. 279 mit zahlreichen Hinweisen auf Rechtsprechung und Doktrin).
Art. 13 Abs. 1 BV
räumt einen Anspruch auf Achtung des Brief-, Post- und Fernmeldeverkehrs ein. Darin ist das Telefongeheimnis mit eingeschlossen (vgl. BBl 1997 I 153). Diese spezifischen
BGE 126 I 50 S. 61
Grundrechtsgarantien gehen der allgemeineren auf Schutz der persönlichen Freiheit im Sinne der ungeschriebenen Verfassungsgarantie bzw.
Art. 10 BV
vor (
BGE 109 Ia 273
E. 4a S. 280). Gleichartige Garantien enthalten
Art. 8 Ziff. 1 EMRK
und Art. 17 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (UNO-Pakt II, vgl.
BGE 122 I 182
E. 3a S. 187).
Das Telefongeheimnis ist - trotz des Wortlautes von
Art. 36 Abs. 4 aBV
, der keinen Vorbehalt aufweist - nicht absolut garantiert. Nach der Rechtsprechung kann in den Geheimnisbereich eingegriffen werden, soweit hierfür eine gesetzliche Grundlage besteht und der Eingriff einem überwiegenden öffentlichen Interesse entspricht, verhältnismässig ist und den Kerngehalt der Verfassungsgarantie wahrt (
BGE 109 Ia 273
E. 4a S. 280 und E. 7 S. 289;
122 I 182
E. 3a S. 187 mit weiteren Hinweisen). Die neue Bundesverfassung sieht die Einschränkung der Grundrechte nach Art. 36 in allgemeiner Weise vor. Schliesslich erlauben auch
Art. 8 Ziff. 2 EMRK
und
Art. 17 UNO-Pakt II
entsprechende Grundrechtseinschränkungen (vgl.
BGE 122 I 182
E. 3a S. 188).
Das Strafgesetzbuch stellt in Art. 321ter die Verletzung des Post- und Fernmeldegeheimnisses unter Strafe; vorbehalten bleibt nach
Art. 179octies StGB
die amtliche Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs zur Verfolgung von Verbrechen und Vergehen, deren Schwere oder Eigenart den Eingriff rechtfertigen. Erforderlich ist, dass die Überwachung sich auf eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage stützt und dafür unverzüglich die Genehmigung des zuständigen Richters eingeholt wird. Die Strafprozessordnungen der Kantone und des Bundes bilden in diesem Sinne die Grundlagen für Eingriffe in das Telefongeheimnis (vgl. oben E. 2b).
b) Einen Eingriff in das Telefongeheimnis in diesem Sinne stellen klarerweise Massnahmen dar, mit denen Amtsanschlüsse überwacht und die darauf geführten Gespräche abgehört werden (vgl.
BGE 109 Ia 273
). Darüber hinaus ist zu prüfen, wie es sich mit der (nachträglichen) Teilnehmeridentifikation verhält. Die Staatsanwaltschaft hält dafür, dass eine solche Massnahme keinen Eingriff in den Geheimbereich darstelle.
Die Teilnehmeridentifikation bedeutet, dass (im Nachhinein oder für die Zukunft) festgestellt und bekannt gegeben wird, welche Gespräche zu welchem Zeitpunkt und für wie lange zwischen Amtsanschlüssen geführt wurden. Dies wird auch als Erhebung von so genannten Randdaten bezeichnet (vgl. zur Bedeutung der Teilnehmeridentifikation NEUMANN, a.a.O., S. 413). Die Anbieterinnen von
BGE 126 I 50 S. 62
Fernmeldediensten sind von Bundesrechts wegen verpflichtet, solche Randdaten im Hinblick auf umstrittene Rechnungen bzw. für die Bedürfnisse der Strafverfolgung während einer bestimmten Zeit aufzubewahren (vgl.
Art. 50 FDV
).
Die Staatsanwaltschaft ist der Auffassung, dass die Regeln der Telefonüberwachung für die Erhebung und Bekanntgabe von Randdaten deshalb nicht zur Anwendung kämen, weil die Massnahme rückwärts gerichtet sei und einzig ein einziges E-Mail betreffe, dessen Wortlaut zudem bereits bekannt ist. Diese Auffassung vermag vor dem Verfassungsrecht nicht standzuhalten. Das Bundesgericht hat sich verschiedentlich mit so genannten Zufallsfunden aus Telefonabhörungen befasst. Diese zeichnen sich gerade dadurch aus, dass die Abhörung bereits erfolgt, das Gespräch als solches bekannt ist und sich im Hinblick auf einen zufällig entdeckten Sachverhalt die Frage nach dessen nachträglicher Verwertbarkeit stellt. Das Bundesgericht hat dazu festgehalten, dass die Bekanntgabe von solchen Zufallsfunden einen Eingriff in das Telefongeheimnis bedeute und diese nur bei Vorliegen der strafprozessualen Voraussetzungen verwertet werden dürften. Insbesondere sei erforderlich, dass eine richterliche Genehmigung für die Verwendung und Verwertung von solchen Zufallsfunden ergeht. Eine solche kann durch den eigentlichen Strafrichter (
BGE 122 I 182
E. 3b S. 189;
BGE 120 Ia 314
) oder in einem separaten Verfahren bereits im Untersuchungsstadium erfolgen (
BGE 122 I 182
E. 4 S. 189). Der Umstand der erst nachträglichen Erhebung von gewissen Daten befreit daher nicht von der Beachtung der Bestimmungen über die Telefonüberwachung (vgl.
BGE 122 I 182
E. 4 S. 192 sowie im Allgemeinen
BGE 125 I 46
E. 5 S. 49).
Die Teilnehmeridentifikation stellt in ähnlicher Weise wie die Telefonabhörung selbst einen Eingriff in das Telefongeheimnis dar. Denn es gehört zu dem durch das Fernmeldegeheimnis garantierten Geheimbereich, mit welchen Personen bzw. welchen Telefonanschlüssen zu welchem Zeitpunkt und wie lange telefoniert wird. Mit solchen Informationen über die gepflegten privaten Kontakte einer Privatperson wird in die berechtigte Erwartung der Benützer auf Respekt ihrer Geheimsphäre eingegriffen (vgl. JÖRG PAUL MÜLLER, Grundrechte in der Schweiz, 3. Auflage 1999, S. 134). Daran vermag der Umstand nichts zu ändern, dass gegenüber einer Telefonabhörung der Eingriff mangels eigentlicher Aufzeichnung weniger gravierend erscheinen mag. Auch mit der blossen Feststellung der Randdaten greift die Teilnehmeridentifikation in das Telefongeheimnis
BGE 126 I 50 S. 63
ein und lässt sich daher nur bei Vorliegen der verfassungs- und gesetzmässigen Voraussetzungen rechtfertigen.
Soweit ersichtlich, folgt die Praxis zur Anwendung der entsprechenden Strafprozessbestimmungen dieser Auffassung und behandelt die Teilnehmeridentifikation als Form der Telefonüberwachung. Die Anklagekammer des Bundesgerichts zählt bei der Anwendung von Art. 66 ff. des Bundesgesetzes über die Bundesstrafrechtspflege (BStP) die Teilnehmeridentifikation zu den Massnahmen der Fernmeldeüberwachung und verlangt demnach eine richterliche Genehmigung sowie nach Abschluss des Verfahrens die entsprechende Mitteilung an den Betroffenen; soweit sich eine solche Massnahme als unrechtmässig herausstellt, sind die entsprechenden Erkenntnisse aus dem Dossier zu entfernen. In diesem Sinne hat die Anklagekammer eine Überwachungsmassnahme mit einer Teilnehmeridentifikation und einer Telefonabhörung beurteilt (
BGE 123 IV 236
S. 238 f., 243 und 251); in einem nicht publizierten Entscheid vom gleichen Tag zu denselben Vorfällen stand ausschliesslich eine Teilnehmeridentifikation zur Diskussion (Urteil vom 4. November 1997 i.S. G., insbes. Sachverhalt und E. 3). - Die Beschwerdeführerin weist auf einen (Mehrheits-)Beschluss der I. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Zürich hin (ZR 98/1999 S. 1). Danach befand die Mehrheit des Gerichts, dass nicht nur die in die Zukunft wirkende Telefonüberwachung, sondern auch die nachträgliche Teilnehmeridentifikation zu den Massnahmen der Überwachung des Fernmeldeverkehrs gehört und daher einer Genehmigung durch den Präsidenten der Anklagekammer bedarf. - Die Anklagekammer des Obergerichts des Kantons Bern fordert - nicht zuletzt aus Gründen der Abgrenzungsschwierigkeiten - auch für die Teilnehmeridentifikation die Einhaltung der allgemeinen Bestimmungen über die Fernmeldeüberwachung (ZBJV 132/1996 S. 624 f.). - Schliesslich darf berücksichtigt werden, dass der Bundesrat in seiner Botschaft zu den Bundesgesetzen betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs und über die verdeckte Ermittlung die Teilnehmeridentifikation der Überwachung des Fernmeldeverkehrs zuordnet und dafür eine richterliche Genehmigung verlangt (Botschaft BÜPF, a.a.O., S. 4259). Entgegen der Auffassung der Minderheit des erwähnten Entscheides des Zürcher Obergerichts kann aus den allgemeinen Ausführungen des Bundesrates nicht geschlossen werden, dass die Teilnehmeridentifikation nach heutiger Rechtslage nicht bereits zu den Überwachungsmassnahmen gezählt werden könnte.
BGE 126 I 50 S. 64
In der Literatur wird die Frage der Zugehörigkeit der Teilnehmeridentifikation zu den einer richterlichen Genehmigung bedürftigen Überwachungsmassnahmen überwiegend bejaht (vgl. NEUMANN, a.a.O., S. 413; JÜRG AESCHLIMANN, Einführung in das Strafprozessrecht, Bern/Stuttgart/Wien 1997, Rz. 1009; THOMAS MAURER, Das bernische Strafverfahren, Bern 1999, S. 251 f.). Einzelne Autoren zählen die Teilnehmeridentifikation zu den Abhörmassnahmen, ohne sich zum Erfordernis der richterlichen Genehmigung ausdrücklich zu äussern (HAUSER/SCHWERI, a.a.O., Rz. 24 zu § 71). Die Bekanntgabe von so genannten Randdaten unterliegt der Strafnorm von
Art. 321ter StGB
und fällt durch den darin enthaltenen Verweis ebenfalls unter die Anforderungen von
Art. 179octies StGB
(JÖRG REHBERG, Änderungen im Strafgesetzbuch durch das neue Fernmeldegesetz, AJP 1998 S. 564). Schliesslich wird darauf hingewiesen, dass das Bundesrecht nicht nur den eigentlichen Fernmeldeverkehr und die damit übermittelte Information, sondern auch die so genannten Randdaten schütze; beim Empfänger befindliche Telegramme oder Briefe hingegen würden nicht durch
§ 104 ff. StPO
/ZH erfasst (SCHMID, a.a.O., Rz. 761, mit Hinweisen); die beim Adressaten ausgelieferte Brief- und Paketpost unterliege der üblichen Beschlagnahme (NEUMANN, a.a.O., S. 414).
c) Zusammenfassend ergibt sich aus diesen Erwägungen, dass eine Teilnehmeridentifikation unabhängig davon, ob sie rückwirkend oder für die Zukunft angeordnet wird, für den Bereich des Telefonverkehrs einen Eingriff in das verfassungsmässige Telefongeheimnis darstellt. Sie vermag vor der Verfassung daher nur standzuhalten, wenn sie auf einer gesetzlichen Grundlage beruht, einem überwiegenden öffentlichen Interesse entspricht, verhältnismässig ist und den Kerngehalt der Verfassungsgarantie wahrt (vgl. zu den Grundrechtseinschränkungen etwa
BGE 122 I 182
E. 3a S. 187 mit Hinweisen). In diesem Sinne ermöglicht
Art. 179octies StGB
gestützt auf eine spezielle Rechtsgrundlage mit richterlicher Genehmigung amtliche Telefonüberwachungen zur Verfolgung oder Verhinderung eines Verbrechens oder Vergehens, dessen Schwere oder Eigenart den Eingriff rechtfertigt. Gleichermassen wie die Telefonüberwachungen sind die Teilnehmeridentifikationen auf die entsprechenden Bestimmungen in den kantonalen Strafprozessordnungen bzw. im Bundesstrafprozess abzustützen (vgl. oben E. 2b).
6.
Nunmehr ist zu prüfen, ob auch der E-Mail-Verkehr über das Internet zum verfassungsmässigen Bereich des Fernmeldegeheimnisses gehört und wie es sich mit der Nachforschung nach Randdaten
BGE 126 I 50 S. 65
wie dem Absender und dem Zeitpunkt des umstrittenen E-Mails verhält.
a) Nach dem Verfassungsrecht werden das Post-, Telegrafen- und Telefongeheimnis (
Art. 36 Abs. 4 aBV
) bzw. das Fernmeldegeheimnis (
Art. 13 Abs. 1 BV
) geschützt. Im Hinblick auf die Bestimmung des Schutzbereiches dieser Grundrechte ist Grundgedanke der Verfassungsauslegung, dass die Kommunikation mit fremden Mitteln wie Post, Telefon und Telegrafie gegenüber Drittpersonen geheim soll erfolgen können; immer dann, wenn die Kommunikation durch eine Organisation erfolgt, soll sie im Vertrauen auf die Respektierung der Geheimsphäre vertraulich geführt werden können, ohne dass das Gemeinwesen Kenntnis und Einblick erhält und daraus gewonnene Erkenntnisse gegen den Betroffenen verwendet. Dieser Geheimbereich ist unabhängig davon zu gewähren, ob die Kommunikation durch eine staatliche Organisation wie die früheren PTT-Betriebe oder wie heute durch private Anbieterinnen von Fernmeldedienstleistungen vermittelt wird (vgl. BBl 1997 I 153 zu
Art. 13 BV
).
Dieselben Überlegungen gelten für den E-Mail-Verkehr über Internet (vgl. JÖRG PAUL MÜLLER, a.a.O., S. 134). Auszugehen ist von der Achtung des umfassend zu verstehenden Fernmeldeverkehrs. Nach
Art. 13 Abs. 1 BV
wird das Fernmeldegeheimnis in allgemeinerer Weise garantiert als durch die bisherige Verfassung in
Art. 36 Abs. 4 aBV
. Auch in der Bundesgesetzgebung wird der allgemeinere Ausdruck des Fernmeldeverkehrs verwendet. Das Strafgesetzbuch enthält in den
Art. 179octies und 321ter StGB
die entsprechenden Wendungen. Das Fernmeldegesetz regelt die fernmeldetechnische Übertragung von Informationen, die nicht als Radio- oder Fernsehprogramme gelten (
Art. 2 FMG
). Als fernmeldetechnische Übertragung gilt elektrisches, magnetisches, optisches oder anderes elektromagnetisches Senden oder Empfangen von Informationen über Leitungen oder Funk (
Art. 3 lit. c FMG
). Aus diesen Gründen werden auch die Dienste von Internet-Providern den Fernmeldediensten zugeordnet; sie fallen mit der Verpflichtung zur Geheimniswahrung (
Art. 43 FMG
) unter das Fernmeldegesetz (Botschaft BÜPF, a.a.O., S. 4255 f.).
Das Kommunikationssystem des Internet-Verkehrs soll dem Vernehmen nach keine gleichartige Vertraulichkeit gewährleisten können wie etwa die Telefon- oder Telegrafiedienste. Der Benützer müsse sich vielmehr bewusst sein, dass seine Mitteilungen von Drittbenützern abgefangen bzw. zur Kenntnis genommen werden könnten.
BGE 126 I 50 S. 66
Wie es sich mit dieser technischen Frage verhält, braucht nicht näher geprüft zu werden. Dieser Umstand würde nichts daran ändern, dass im Rahmen des technisch Möglichen die Geheimsphäre der E-Mail-Benützer dennoch verfassungsmässig zu wahren ist und die Strafverfolgungsbehörden über die normale Verwendung des Internet hinaus keinen besondern Zugriff zum E-Mail-Verkehr haben sollen und keine entsprechende Informationen gegen Private sollen verwenden dürfen.
In diesem Sinne gilt das verfassungsmässige Fernmeldegeheimnis auch für den E-Mail-Verkehr über Internet.
Daraus folgt, dass Eingriffe in die Vertraulichkeit des E-Mail-Verkehrs nur bei Vorliegen der verfassungsmässigen Anforderungen der gesetzlichen Grundlage, des überwiegenden öffentlichen Interesses, der Verhältnismässigkeit sowie der Wahrung des Kerngehalts zulässig sind (
Art. 36 BV
). Konkret gesprochen, müssen daher die Voraussetzungen von
Art. 179octies StGB
und der einschlägigen Bestimmungen der Strafprozessordnungen erfüllt sein. Daraus ergibt sich insbesondere, dass der Eingriff in den E-Mail-Verkehr der Verfolgung eines Verbrechens oder Vergehens dienen muss, dessen Schwere oder Eigenart den Eingriff rechtfertigt, und dafür eine richterliche Genehmigung einzuholen ist.
b) Im Hinblick auf den vorliegenden Fall stellt sich abschliessend die Frage, ob auch die blosse Feststellung von Randdaten einen Eingriff in das verfassungsrechtlich geschützte Fernmeldegeheimnis darstellt. Denkbar ist beispielsweise, dass danach geforscht wird, an welche Adressaten und zu welchem Zeitpunkt ein E-Mail-Benutzer in einer bestimmten Periode Mitteilungen versendet bzw. zu welchem Zeitpunkt von welchen Absendern Mitteilungen empfangen werden. Auf Grund der vorstehenden Erwägungen zur Teilnehmeridentifikation beim Telefonverkehr ist auch insofern ein Grundrechtseingriff zu bejahen, da damit der geschützte E-Mail-Verkehr überprüft wird und Informationen über die gepflegten Kontakte von Privatpersonen erhältlich gemacht werden. Die Herausgabe solcher Erkenntnisse an die Strafverfolgungsbehörden stellt daher grundsätzlich einen Eingriff in die Vertraulichkeit des Fernmeldeverkehrs und in das grundrechtlich geschützte Fernmeldegeheimnis dar.
c) Nicht anders verhält es sich im vorliegenden Fall: Es geht darum, den tatsächlichen Absender des erpresserischen E-Mails und den wahren Zeitpunkt der in Frage stehenden Mitteilung ausfindig zu machen. Die Erhebung dieser Daten greift in das Fernmeldegeheimnis
BGE 126 I 50 S. 67
ein. Daran vermag insbesondere auch der Umstand nichts zu ändern, dass es dem Absender im vorliegenden Fall offenbar gelungen ist, die üblichen formellen Daten seines E-Mails zu manipulieren und damit den normalen E-Mail-Verkehr über das Internet gewissermassen zu missbrauchen.
Daraus folgt für den vorliegenden Fall, dass die Erhebung von Randdaten des E-Mail-Verkehrs den allgemeinen Voraussetzungen von Grundrechtseingriffen genügen muss: Sie muss sich auf eine gesetzliche Grundlage stützen und darf im Sinne von
§ 179octies StGB
nur mit richterlicher Genehmigung für die Verfolgung von Verbrechen oder Vergehen erfolgen, deren Schwere oder Eigenart die Massnahme rechtfertigt. Für die umstrittene Aufforderung an die Beschwerdeführerin um Auskunftserteilung bezüglich des erpresserischen E-Mails fehlte es indessen an einer richterlichen Genehmigung. Die staatsrechtliche Beschwerde erweist sich daher auch in dieser Hinsicht als begründet.
7.
a) Auf Grund der vorstehenden Erwägungen ist die staatsrechtliche Beschwerde gutzuheissen und der angefochtene Entscheid aufzuheben. Es hat sich einerseits ergeben, dass es fragwürdig ist und vor dem Willkürverbot nicht standhält, die angefochtene Aufforderung zur Herausgabe der formellen Daten des in Frage stehenden E-Mails auf
§ 103 StPO
/ZH abzustützen. Andererseits zeigt sich, dass die Erhebung von Randdaten des E-Mail-Verkehrs einen Eingriff in das Fernmeldegeheimnis darstellt, welcher im Sinne von
Art. 179octies StGB
einer gesetzlichen Grundlage in einer (kantonalen) Strafprozessordnung und einer richterlichen Genehmigung bedarf. In Anbetracht der Aufhebung des angefochtenen Entscheides hat die Staatsanwaltschaft daher zu prüfen, ob die Zürcher Strafprozessordnung (insbesondere § 104 ff.) eine hinreichende gesetzliche Grundlage für die angefochtene Anordnung darstellt, ob die Massnahme dem Gebot der Verhältnismässigkeit genügt und ob hierfür die fehlende richterliche Genehmigung eingeholt werden soll.
b) Sind diese Voraussetzungen erfüllt, stellt sich weiter die Frage, wie in der vorliegenden Angelegenheit konkret weiter vorzugehen ist: Über die vorstehende grundrechtliche Erwägung hinaus wird auch das Bundesrecht zur Überwachung des Fernmeldeverkehrs zu beachten sein. Insbesondere ist der erwähnten Verordnung über den Dienst für die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs Rechnung zu tragen, welche das Vorgehen bei Überwachungsmassnahmen im Einzelnen umschreibt. | 8,496 | 6,473 | 2 | 0 | CH_BGE_001 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_001_BGE-126-I-50_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=24&from_date=&to_date=&from_year=2000&to_year=2000&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=231&highlight_docid=atf%3A%2F%2F126-I-50%3Ade&number_of_ranks=311&azaclir=clir | BGE_126_I_50 |
|||
ece404dd-e392-4457-8e80-d3798ee99b28 | 1 | 81 | 1,343,183 | 1,286,150,400,000 | 2,010 | de | Eine private Zeugenbefragung ist nur dann mit der anwaltlichen Pflicht zur sorgfältigen und gewissenhaften Berufsausübung vereinbar, wenn eine sachliche Notwendigkeit für die Befragung besteht, diese zudem im Interesse des Mandanten liegt und wenn die Befragung so ausgestaltet wird, dass jede Beeinflussung vermieden und die störungsfreie Sachverhaltsermittlung durch das Gericht bzw. die Untersuchungsbehörde gewährleistet wird (E. 3).
Sachverhalt
ab Seite 551
BGE 136 II 551 S. 551
A.
Im Strafverfahren gegen den Untersuchungsgefangenen A. wurde Rechtsanwalt X. als amtlicher Verteidiger eingesetzt. A. wurde u.a. vorgeworfen, am 2. Mai 2006 die damals minderjährige B.
BGE 136 II 551 S. 552
vergewaltigt zu haben. Im Spätsommer bzw. Herbst 2006 habe A. zudem versucht, B. umzubringen, indem er sie mit seinem Auto überfahren wollte; das Mädchen habe sich nur mittels eines Sprungs zur Seite retten können.
Im Zusammenhang mit dem A. zur Last gelegten Tötungsversuch beantragte Rechtsanwalt X. mit Eingaben vom 21. Juni und vom 29. Juni 2007 die untersuchungsrichterliche Einvernahme von C.: Letzterer sei gemäss den Angaben von A. öfters mit dessen Fahrzeug unterwegs gewesen. Zudem habe C. gegenüber A. im Spätsommer bzw. Herbst 2006 erklärt, bei einer dieser Fahrten B. begegnet zu sein. Mit Schreiben vom 11. Juli 2007 teilte das zuständige Untersuchungsamt Rechtsanwalt X. mit, dass auf die beantragte Zeugeneinvernahme einstweilen verzichtet werde.
Daraufhin meldete sich Rechtsanwalt X. am 28. August 2007 ein erstes Mal direkt bei C. und ersuchte diesen um eine Unterredung in Sachen A. Am 4. September 2007 kontaktierte er C. erneut, worauf es am folgenden Tag, dem 5. September 2007, in seiner Kanzlei zu einem Treffen kam. Über den genauen Inhalt des bei dieser Gelegenheit geführten Gesprächs gehen die Darstellungen von Rechtsanwalt X. und C. auseinander. Unbestritten ist jedoch, dass Rechtsanwalt X. sich bei C. erkundigt hat, ob dieser zur fraglichen Zeit den Wagen von A. benutzt habe und dabei B. begegnet sei.
B.
Mit Verfügung vom 12. Juni 2008 wurde Rechtsanwalt X. von der Anwaltskammer des Kantons St. Gallen wegen Verletzung der Berufspflichten mit einer Busse von Fr. 6'000.- diszipliniert. Die Anwaltskammer warf X. vor, er habe C. in unzulässiger Weise privat befragt und auf diese Weise eine Beeinflussung des Zeugen zumindest in Kauf genommen.
Gegen diesen Entscheid beschwerte sich X. beim Kantonsgericht St. Gallen. Dieses wies die Beschwerde mit Entscheid vom 16. November 2009 ab.
C.
Mit Eingabe vom 4. Januar 2010 führt X. "Bundesgerichtsbeschwerde" (recte: Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten): Er beantragt die Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids sowie die Rückweisung der Angelegenheit an das Kantonsgericht St. Gallen. (...)
Das Bundesgericht weist die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ab, soweit es darauf eintritt.
(Auszug)
BGE 136 II 551 S. 553 | 643 | 494 | Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
3.1
In der Hauptsache bestreitet der Beschwerdeführer, durch die private Kontaktaufnahme mit C. gegen die Berufsregeln verstossen zu haben:
Vielmehr gehöre es gerade zu den Berufspflichten eines Anwalts, dass er nach der Ablehnung von Beweisanträgen durch den Untersuchungsrichter alle geeigneten Rechtsmittel einsetze. Dies bedinge jedoch die Vornahme von minimalen Abklärungen, um sicherzustellen, dass das in Frage kommende Rechtsmittel überhaupt Sinn mache. Dies und nichts anderes sei Zweck der Kontaktaufnahme mit C. gewesen: Da er, der Beschwerdeführer, eine Beschwerde gegen die Ablehnung der untersuchungsrichterlichen Einvernahme von C. geprüft habe, sei es durchaus gerechtfertigt gewesen, abzuklären, ob C. tatsächlich etwas Sinnvolles zur Sache aussagen könne. Namentlich nicht beabsichtigt worden sei dagegen, C. ein Delikt zu unterstellen.
Entgegen den Ausführungen der Vorinstanz sei es auch nicht in Frage gekommen, den von der Untersuchungsrichterin abgelehnten Beweisantrag einfach in einem allfälligen gerichtlichen Verfahren zu erneuern: Bekanntlich könne auch der Zeitpunkt der Befragung einer Auskunftsperson oder eines Zeugen wesentlich sein, und der inhaftierte Angeschuldigte A. habe ein erhebliches Interesse daran gehabt, die Befragung der relevanten Personen innert nützlicher Frist zu erwirken. Gegen das Zuwarten mit der Erneuerung des abgelehnten Beweisantrages bis zu einem späteren gerichtlichen Verfahren habe zudem gesprochen, dass Gerichtsverhandlungen in aller Regel öffentlich seien und deswegen die Möglichkeit bestanden hätte, dass die zur Einvernahme beantragten Zeugen und Auskunftspersonen auf diese Weise "vorgewarnt" worden wären.
Überhaupt liege aber keine eigentliche, detaillierte private Zeugeneinvernahme vor. Vielmehr habe er, der Beschwerdeführer, sich auf eine "Minimalbefragung" von C. beschränkt und sich bei diesem ausschliesslich erkundigt, ob er zum fraglichen Zeitpunkt den Wagen von A. gefahren und dabei B. begegnet sei. Für diese simple Frage seien auch keine besonderen Vorsichtsmassnahmen angezeigt gewesen. Namentlich habe auf den Beizug von Zeugen, die Protokollierung des Gesprächs und die Unterzeichnung des Protokolls
BGE 136 II 551 S. 554
verzichtet werden können und müssen; solche Vorkehrungen hätten C. nur misstrauisch gemacht und deshalb den Untersuchungszweck gefährdet.
3.2
3.2.1
Anwälte sind gemäss Art. 12 lit. a des Anwaltsgesetzes vom 23. Juni 2000 (BGFA; SR 935.61) verpflichtet, ihren Beruf sorgfältig und gewissenhaft auszuüben. Hierzu gehört auch, dass der Anwalt grundsätzlich jegliches Verhalten unterlässt, das die Gefahr einer Beeinflussung von Zeugen zur Folge haben könnte (vgl. Art. 7 der Standesregeln des Schweizerischen Anwaltsverbands vom 1. Juli 2005). Die selbständige Kontaktaufnahme mit einer Person, die als Zeuge in Betracht kommt, erscheint unter diesem Gesichtspunkt als problematisch, da mit einem solchen Vorgehen stets eine zumindest abstrakte Gefahr einer Beeinflussung verbunden ist (vgl. Handbuch über die Berufspflichten des Rechtsanwaltes im Kanton Zürich, herausgegeben vom Verein Zürcherischer Rechtsanwälte [im Folgenden: Handbuch Berufspflichten], 1988, S. 62; GEORG PFISTER, Aus der Praxis der Aufsichtskommission über die Anwältinnen und Anwälte des Kantons Zürich zu
Art. 12 BGFA
, SJZ 105/2009 S. 288, mit Hinweisen).
3.2.2
Die Lehre spricht sich mehrheitlich dafür aus, dass eine Kontaktaufnahme mit einem potentiellen Zeugen nur ausnahmsweise mit der anwaltlichen Pflicht zur sorgfältigen und gewissenhaften Berufsausübung vereinbar sei bzw. nur mit Zurückhaltung und Vorsicht vorgenommen werden solle (WALTER FELLMANN, in: Kommentar zum Anwaltsgesetz, Fellmann/Zindel [Hrsg.], 2005, N. 22 zu Art. 12BGFA; MICHEL VALTICOS, in: Commentaire romand, Loi sur les avocats, 2010, N. 67 zu
Art. 12 BGFA
; BOHNET/MARTENET, Droit de la profession d'avocat, 2009, Rz. 1180 ff.): Generell wird die Wahrheitsfindung bzw. die Zeugenbefragung als Aufgabe des Gerichts und nicht der Parteien oder ihrer Anwälte erachtet (WALTER FELLMANN, Anwaltsrecht, 2010, Rz. 193;PFISTER, a.a.O., S. 288; FELLMANN, in: Kommentar zum Anwaltsgesetz, a.a.O., N. 22 zu
Art. 12 BGFA
; BOHNET/MARTENET, a.a.O., Rz. 1180; a.M. NIKLAUS RUCKSTUHL, Strafverteidigung, in: Handbücher für die Anwaltspraxis, Bd. VII: Strafverteidigung, Niggli/Weissenberger [Hrsg.], 2002, Rz. 3.168 ff.).Die Kontaktierung eines möglichen Zeugen wird nur (aber immerhin) dann für zulässig erachtet, wenn hierfür ein sachlicher Grund besteht. Als solcher wird von der Lehre namentlich auch das Einschätzen der Erfolgsaussichten von Prozesshandlungen wie etwa die
BGE 136 II 551 S. 555
Prozesseinleitung, das Einlegen bzw. der Rückzug eines Rechtsmittels oder das Stellen eines Beweisantrages angesehen; entscheidend seien aber die Umstände des konkreten Einzelfalls (FELLMANN, Anwaltsrecht, a.a.O., Rz. 194;
derselbe
, in: Kommentar zum Anwaltsgesetz, a.a.O., N. 22 zu
Art. 12 BGFA
; HANS NATER, Anwaltsrecht, in: Aktuelle Anwaltspraxis 2009, Fellmann/Poledna [Hrsg.], S. 1399; VALTICOS, a.a.O., N. 67 zu
Art. 12 BGFA
; vgl. Handbuch Berufspflichten, a.a.O., S. 62 ff.; vgl. FELLMANN/SIDLER, Standesregeln des Luzerner Anwaltsverbandes [...], 1996, S. 28). Um der Gefahr einerBeeinflussung des potentiellen Zeugen bzw. dem blossen Anschein einer unzulässigen Einflussnahme in solchen Fällen entgegenzuwirken, fordert die Lehre vom Anwalt die Beachtung entsprechender Vorsichtsmassnahmen: So soll der Anwalt den Zeugen schriftlich um ein Gespräch ersuchen und ihn darauf hinweisen, dass er weder verpflichtet ist zu erscheinen noch auszusagen. Ebenfalls habe der Anwalt dem Zeugen mitzuteilen, im Interesse welches Mandanten das Gespräch stattfinden soll. Das Gespräch solle ohne den Mandanten und wenn immer möglich in den Räumlichkeiten des Anwalts stattfinden, wobei gegebenenfalls eine Drittperson als Gesprächszeugin hinzugezogen werden soll. Der Anwalt dürfe keinen Druck auf den Zeugen ausüben und ihn insbesondere nicht zu einer bestimmten Aussage oder überhaupt zu irgendeiner Aussage drängen und ihm für den Fall des Schweigens nicht mit Nachteilen drohen. Als verpönt erachtet wird auch das Stellen von Suggestivfragen (RUCKSTUHL, a.a.O., Rz. 3.172; vgl. Handbuch Berufspflichten, a.a.O., S. 64 f.).
3.2.3
Wie die Vorinstanz im angefochtenen Entscheid aufgezeigt hat, decken sich die obenstehenden Lehrmeinungen weitgehend mit der Praxis der Anwaltskammer des Kantons St. Gallen sowie jener des Kantonsgerichts St. Gallen (vgl. insbesondere Urteil des Kantonsgerichts BR 2006.2 vom 14. Dezember 2006 E. III/2 mit weiteren Hinweisen). Auch die Aufsichtsbehörden anderer Kantone haben eine vergleichbare Rechtsprechung entwickelt: In ihrem Urteil vom 13. Oktober 2004 (in: BJM 2006 S. 47 ff.; vgl. FELLMANN, Anwaltsrecht, a.a.O., Rz. 195 und 197) geht die Aufsichtskommission des Kantons Basel-Stadt über die Anwältinnen und Anwälte ebenfalls davon aus, dass die Kontaktierung eines möglichen Zeugen durch einen am Verfahren beteiligten Anwalt nicht grundsätzlich unzulässig, sondern unter Umständen gar geboten sei; die Aufsichtskommission setzt jedoch voraus, dass eine sachliche
BGE 136 II 551 S. 556
Notwendigkeit hierfür bestehe, und sie auferlegt dem betreffenden Anwalt die Verpflichtung, sicherzustellen, "dass sein Vorgehen nicht eine Verfälschung des Beweisergebnisses bewirkt". Auch die Aufsichtskommission des Kantons Zürich über die Anwältinnen und Anwälte hat sich in analoger Weise zur vorliegenden Thematik geäussert: Sie statuiert drei Voraussetzungen, welche kumulativ erfüllt sein müssen, damit die Kontaktierung resp. die Befragung eines potentiellen Zeugen durch einen Rechtsanwalt von ihr als zulässig erachtet wird: Erstens wird verlangt, dass die Kontaktaufnahme den Interessen der eigenen Klientschaft dient. Zweitens müsse die störungsfreie Sachverhaltsermittlung durch das Gericht oder die Untersuchungsbehörde gewährleistet bleiben, weswegen die Befragung so auszugestalten sei, dass jede Beeinflussung vermieden werden könne. Drittens wird gefordert, dass eine sachliche Notwendigkeit für die Kontaktaufnahme besteht (Beschluss der Aufsichtskommission des Kantons Zürich über die Anwältinnen und Anwälte vom 1. März 2007, in: ZR 106/2007 Nr. 81 E. 2 S. 306 ff.; vgl. NATER, a.a.O., S. 1397 ff.; vgl. PFISTER, a.a.O., S. 287 f.).
3.2.4
Die von der Lehre und den kantonalen Anwaltsaufsichtsbehörden entwickelten Kriterien für die Zulässigkeit einer privaten Zeugenbefragung überzeugen und scheinen geeignet, die Generalklausel von
Art. 12 lit. a BGFA
zu konkretisieren. Nachfolgend zu prüfen ist daher, ob die vom Beschwerdeführer durchgeführte Befragung von C. diesen Anforderungen genügte, d.h. ob eine sachliche Notwendigkeit für die Befragung bestand, ob die Befragung so ausgestaltet wurde, dass jede Beeinflussung vermieden und die störungsfreie Sachverhaltsermittlung durch das Gericht bzw. die Untersuchungsbehörde gewährleistet wurde, und ob die Befragung im Interesse des Mandanten lag.
3.3
3.3.1
Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers bestand für eine selbständige Befragung von C. keine ersichtliche sachliche Notwendigkeit. Insbesondere vermag die Argumentation des Beschwerdeführers nicht zu überzeugen, er habe ein Rechtsmittel gegen die Ablehnung der untersuchungsrichterlichen Einvernahme von C. in Betracht gezogen und deshalb die Erfolgsaussichten dieses Rechtsmittels prüfen müssen: Wie die Vorinstanzen unter Hinweis auf die kantonale Gerichts- und Verwaltungspraxis ausführten, steht die Rechtsverweigerungsbeschwerde im sankt-gallischen Prozessrecht gegen die Ablehnung von Beweisanträgen durch die
BGE 136 II 551 S. 557
Strafuntersuchungsbehörde gar nicht zur Verfügung. Das vom Beschwerdeführer ins Auge gefasste Rechtsmittel wäre somit von vornherein untauglich gewesen. Ein sachlicher Grund für eine private Einvernahme von C. hätte aber auch dann nicht bestanden, wenn der Beschwerdeführer statt einer Rechtsverweigerungsbeschwerde eine allgemeine Aufsichtsbeschwerde gegen die zuständige Untersuchungsrichterin in Erwägung gezogen hätte: Es erscheint fraglich, ob mit diesem disziplinarrechtlichen Instrument die Durchführung einer untersuchungsrichterlichen Einvernahme von C. hätte erzwungen werden können. Die Frage kann jedoch offenbleiben, zumal es dem Beschwerdeführer jedenfalls möglich gewesen wäre, den abgelehnten Beweisantrag in einem allfälligen gerichtlichen Verfahren zu wiederholen, wie das Kantonsgericht zutreffend erkannt hat. Bis zu diesem Zeitpunkt zuzuwarten, wäre auch nicht mit unzumutbaren Nachteilen verbunden gewesen, wie dies der Beschwerdeführer zu Unrecht behauptet: Nebst dem versuchten Tötungsdelikt zum Nachteil von B. wurden A. im Untersuchungsverfahren eine Reihe von weiteren Straftaten zur Last gelegt; dass die gegen ihn angeordnete Untersuchungshaft im Falle einer frühzeitigen, vorteilhaften Aussage von C. aufgehoben worden wäre, ist demzufolge nicht anzunehmen und es wurde dies vom Beschwerdeführer auch nicht substantiiert dargelegt. Stattdessen behauptet der Beschwerdeführer in unzutreffender Weise, dass eine Wiederholung des Beweisantrages in einem gerichtlichen Verfahren zwangsläufig die Gefahr einer Kollusion mit sich gebracht hätte: Wie sich aus Art. 193 Abs. 1 des Strafprozessgesetzes des Kantons St. Gallen vom 1. Juli 1999 (StP/SG) ergibt, können Beweisanträge bereits während des schriftlichen Vorverfahrens beim Gerichtspräsidenten gestellt werden. Das diskrete Einbringen bzw. Wiederholen des betreffenden Beweisantrages wäre demzufolge im gerichtlichen Verfahren sehr wohl möglich gewesen. Demgegenüber war es gerade das Vorgehen des Beschwerdeführers, welches C. darauf aufmerksam machte, dass seine Aussagen im Strafverfahren gegen A. von Interesse sind.
3.3.2
Wie die Vorinstanz zutreffend festgestellt hat, handelte es sich bei C. nicht bloss um einen möglichen Entlastungszeugen für A. Letzterer behauptete vielmehr, dass nicht er, sondern C. am inkriminierten Vorfall mit B. beteiligt gewesen sei. Da der Beschwerdeführer diese Sachverhaltsdarstellung seines Mandanten offenbar für möglich gehalten hat, hätte ihm aber von vornherein klar sein
BGE 136 II 551 S. 558
müssen, dass es sich bei C. seinerseits um einen Verdächtigen bezüglich des versuchten Tötungsdeliktes zum Nachteil von B. handelt: Hätte C. - wie vom Beschwerdeführer erhofft - mit seinen Angaben A. entlastet, so hätte er, C., sich zwangsläufig selbst in den Mittelpunkt der entsprechenden Strafuntersuchung manövriert. Anders als die Kontaktierung bzw. die Befragung eines Entlastungszeugen lässt sich eine eigenmächtige Einvernahme eines möglichen alternativen Tatverdächtigen durch den Rechtsanwalt des Beschuldigten grundsätzlich nicht mit der Auflage vereinbaren, die störungsfreie Sachverhaltsermittlung durch die zuständige Behörde zu gewährleisten; zu ausgeprägt ist in diesen Fällen das Spannungsverhältnis zwischen der Notwendigkeit einer sachlichen und fairen Befragung einerseits und der Verpflichtung zu einer möglichst wirksamen Vertretung des eigenen Mandanten andererseits. Dies bestätigt sich im vorliegenden Fall durch die Art und Weise, wie der Beschwerdeführer die Befragung von C. durchgeführt hat: Entgegen den Empfehlungen der Lehre hat er auf wesentliche Vorkehrungen verzichtet, welche einer unzulässigen Beeinflussung bzw. bereits dem blossen Anschein einer unzulässigen Einflussnahme entgegenwirken sollen. Namentlich hat er keine neutrale Drittperson als Gesprächszeugin hinzugezogen und es wurde auch nirgends schriftlich festgehalten, dass er C. darauf hingewiesen hätte, dass weder eine Verpflichtung zur Teilnahme an der Befragung noch eine Aussagepflicht bestehe. Als unbehelflich erscheint der in diesem Zusammenhang vorgebrachte Einwand des Beschwerdeführers, er habe überhaupt keine Zeugenbefragung im eigentlichen Sinn durchgeführt, sondern sich im Gespräch mit C. auf die "simple Frage" beschränkt, ob dieser zum fraglichen Zeitpunkt den Wagen von A. gefahren und dabei B. begegnet sei: Die Bejahung dieser Fragen wäre bereits geeignet gewesen, den Tatverdacht auf C. zu lenken. Es handelte sich beim fraglichen Gespräch daher mitnichten um eine prozessökonomisch motivierte, untergeordnete Vorabklärung, sondern vielmehr um eine Besprechung, bei der sich der Beschwerdeführer von seinem Gegenüber offensichtlich entscheidende Informationen erhoffte.
3.3.3
Zweifelhaft ist auch, ob die vom Beschwerdeführer durchgeführte Befragung von C. den Interessen seines Mandanten tatsächlich diente: C. erhielt hierdurch frühzeitig Kenntnis davon, dass A. sich zur Verteidigung auf ihn berief und er, C., daher damit rechnen musste, selbst ins Blickfeld der Ermittler zu geraten. War
BGE 136 II 551 S. 559
tatsächlich C. und nicht A. am inkriminierten Tötungsversuch zum Nachteil von B. beteiligt, hat das Vorgehen des Beschwerdeführers C. die Zeit verschafft, sich seinerseits eine Verteidigungsstrategie zu überlegen, was den Interessen von A. schadete.
3.4
Nach dem Ausgeführten steht fest, dass die vom Beschwerdeführer durchgeführte Befragung von C. die Kriterien für die Zulässigkeit einer privaten Zeugenbefragung nicht erfüllte. Es ist daher nicht zu beanstanden, wenn das Kantonsgericht das Vorgehen des Beschwerdeführers als Verstoss gegen die anwaltliche Pflicht zur sorgfältigen und gewissenhaften Berufsausübung i.S. von
Art. 12 lit. a BGFA
wertete. | 3,339 | 2,472 | 2 | 0 | CH_BGE_004 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_004_BGE-136-II-551_2010-10-04 | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=8&from_date=&to_date=&from_year=2010&to_year=2010&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=74&highlight_docid=atf%3A%2F%2F136-II-551%3Ade&number_of_ranks=254&azaclir=clir | BGE_136_II_551 |
|||
ece73317-2c4d-4f34-bbe9-3415da8d545f | 1 | 82 | 1,338,725 | null | 2,024 | de | Sachverhalt
ab Seite 480
BGE 131 III 480 S. 480
A.
Die Zürcher Tageszeitung "Tages-Anzeiger" führt eine Rubrik "Tribüne", in der sie Exponenten des politischen Lebens zu Wort kommen lässt. Am 25. Juni 2002 erschien unter dieser Rubrik ein knapp eine halbe Seite einnehmender Artikel von Christoph Mörgeli. Dieser wird mit Foto als "SVP-Nationalrat und Leiter des Medizinhistorischen Instituts und Museums der Universität Zürich" vorgestellt. Der Artikel trägt den mittels grosser Buchstaben hervorgehobenen Titel "Ausländerkriminalität nicht schönreden" und den in kleineren Buchstaben gedruckten Untertitel "Bessere Grenzkontrollen bringen punkto Sicherheit mehr als teure Massnahmen zur Ausländerintegration, glaubt SVP-Nationalrat Christoph Mörgeli".
BGE 131 III 480 S. 481
Im ersten Teil des Artikels behauptet der Verfasser, bestimmte Sozialdemokraten würden die Zunahme der Kriminalität in der Schweiz verharmlosen. Der Zürcher Kriminalstatistik sei jedoch zu entnehmen, dass der Anteil ausländischer Tatverdächtiger im Jahre 2001 erneut zugenommen habe. Bei den Tatverdächtigen handle es sich in weit überdurchschnittlichem Ausmass um Ausländer. Bei schweren Delikten gegen Leib und Leben sei ihr Anteil zwischen dem Jahr 2000 und 2001 von 58 auf 65.5 Prozent angestiegen. Bei Raub betrage der Ausländeranteil 64.3 Prozent, bei Erpressung 60.9 und bei Fälschungsdelikten 62.9 Prozent. Der Anteil an der Jugendkriminalität sei bei den Schweizern in den letzten zehn Jahren stabil geblieben, bei den Ausländern aber dramatisch angestiegen. Im folgenden zweiten Teil des Artikels bringt der Verfasser namentlich vor, die SP glaube, "dem Problem der Kriminalität von vornehmlich jungen, männlichen Ausländern mit teuren Integrationsmassnahmen beizukommen". Eine Integration könne aber schwerlich gelingen, "wenn dem Auszug der einheimischen Bevölkerung aus Quartieren, Ortschaften und Schulhäusern nicht Einhalt geboten" werde. "Unsere Integrationsüberforderung" halte an, wenn der illegalen Einwanderung kein Riegel geschoben werde. Abschliessend fordert der Verfasser die Sozialdemokraten auf, "die von der SVP seit langem vorgeschlagenen Massnahmen zu unterstützen: Bessere Grenzkontrollen, eine Annahme der Asylinitiative zur Senkung der Attraktivität der Schweiz als Einwanderungsland sowie die rigorose Bestrafung und Ausweisung bei Straftaten."
Am 2. Juli 2002 erschien unter der Rubrik "Tribüne" im "Tages-Anzeiger" ein Artikel von Georg Kreis mit ungefähr gleichem Umfang wie jener von Christoph Mörgeli. Georg Kreis wird - ebenfalls mit Foto - als "Historiker an der Universität Basel und Präsident der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus" vorgestellt. Der Artikel trägt den Haupttitel "Wie die 'Ausländer' in der Schweiz vorsätzlich schlecht gemacht werden" und den Untertitel "Mit statistischen Angaben kann das gesellschaftliche Klima vergiftet werden. Eine Antwort auf Christoph Mörgeli."
Im ersten Teil des Artikels weist der Verfasser darauf hin, dass in der deutschen Sprache die Kombination von Substantiven (zum Beispiel "Ausländerkriminalität") dazu dienen könne, eine Aussage zu verallgemeinern, besonders wenn die Wortkombination genügend häufig verwendet werde. Sie präge dann unsere
BGE 131 III 480 S. 482
Vorstellungswelt und führe dazu, dass der eine Begriff mit dem anderen assoziiert werde. Der Verfasser weist sodann darauf hin, dass bereits der Begriff "Ausländer" vieldeutig sei und ganz verschiedene Personenkategorien umfasse. Ebenso gebe es bei der "Kriminalität" ein breites Spektrum. Anschliessend hält der Autor fest, wer mit "Ausländerkriminalität" Stimmung mache, könne gleichzeitig auch einen anderen Feind diffamieren: die "Schönredner", die "Gutmenschen", die "Netten". Einspruch gegen Schön-Reden anderer gehe offenbar nicht ohne eigenes Wüst-Reden. Im zweiten Teil des Artikels geht der Verfasser konkreter auf jenen von Christoph Mörgeli ein, indem er die von diesem genannten Prozentzahlen erwähnt und darauf hinweist, dass hinter den 65.5 Prozent 249 Personen aus einem Bevölkerungsteil von rund 271'700 steckten, was einem Anteil von 0.0916 Prozent entspreche. Es gebe den spontanen Strassenrassismus. Es gebe aber auch den vorsätzlichen Studierstubenrassismus. Abschliessend fordert der Verfasser mit Hinweis auf die in der Vergangenheit "ab und zu" tödlichen Folgen "dieser Praktiken" dazu auf, "von Anfang an dagegen zu halten". Im vorliegenden Fall stehe "den exakt erscheinenden Kategorien (mit Kommawerten!) typischerweise ein diffuses Konglomerat von Begriffen gegenüber: Asylmissbrauch, Misstrauen, illegaler Grenzübertritt, Integrationsüberforderung, Gewaltanwendung, Ohnmachtgefühle - und eben Ausländerkriminalität".
B.
Die ungefähr dreissigmal im Jahr erscheinende Zeitung "Schweizerzeit" wird von der Schweizerzeit Verlags AG mit Sitz in Flaach im Kanton Zürich herausgegeben. In der Ausgabe vom 26. Juli 2002 wurden auf Seite 3 die beiden erwähnten Artikel wörtlich abgedruckt, jener von Georg Kreis ohne dessen Erlaubnis.
Die Seite 3 dieser Ausgabe der "Schweizerzeit" ist wie folgt gestaltet. Zuoberst befindet sich der Titel "Ist, wer von 'Ausländerkriminalität' spricht, ein 'Studierstubenrassist'?". Dann folgt der weitere, durch rote Farbe und grössere Buchstaben hervorgehobene Titel "Christoph Mörgeli vs. Georg Kreis" und schliesslich darunter, in kleinerer Schrift der Titel "Eine Auseinandersetzung, die alarmieren muss". Der Artikel von Christoph Mörgeli ist auf dem linken Teil der Seite abgedruckt, jener von Georg Kreis auf dem rechten Teil. Dazwischen platzierte die Redaktion der Zeitung einen "Kasten" mit folgendem Wortlaut:
BGE 131 III 480 S. 483
"Am 25. Juni 2002 erschien in der Rubrik "Tribüne" im Zürcher "Tagesanzeiger" ein Artikel von Nationalrat Christoph Mörgeli unter dem Titel "Ausländerkriminalität nicht schönreden". Der Basler Historiker Georg Kreis, Präsident der Eidg. Kommission gegen Rassismus, reagierte auf diesen Artikel am 2. Juli 2002 in der gleichen Rubrik der gleichen Zeitung unter dem Titel "Wie die 'Ausländer' in der Schweiz vorsätzlich schlecht gemacht werden" - wobei Kreis' Artikel im Vorwurf des "vorsätzlichen Studierstubenrassismus" an die Adresse von Christoph Mörgeli gipfelte. Wir halten diese Auseinandersetzung, in der nichts weniger als die elementare demokratische Meinungs- und Redefreiheit im Mittelpunkt steht, für so bedeutungsvoll, dass wir beide "Tribünen"-Beiträge genau so, wie sie im "Tages-Anzeiger" publiziert worden sind, hier abdrucken - auf dass alle Leser die Gedankengänge der beiden Autoren je im Original nachvollziehen können. Zusätzlich haben wir den in St. Gallen lebenden Publizisten Eduard Stäuble um einen abschliessenden Kommentar gebeten."
Der Artikel von Eduard Stäuble, der auf dem untersten Teil der Seite in deren Mitte abgedruckt und etwas kürzer als die Texte von Christoph Mörgeli und Georg Kreis ist, trägt in fetten Buchstaben den Titel "So nicht, Herr Professor!" und darunter in kleineren Buchstaben den Untertitel "Der abschliessende Kommentar von Eduard Stäuble". Dieser Kommentar beginnt mit dem durch fette Buchstaben hervorgehobenen Satz: "Es ist schlicht unglaublich, wie ein wörtchenklaubender Professor einen einfachen und klaren Sachverhalt zu einem absurden Streitfall aufmotzen kann." Danach nimmt der Autor Bezug auf den Artikel von Christoph Mörgeli, in dem mit Hinweis auf die Kriminalstatistik festgestellt werde, dass die Zahl ausländischer Straftäter zunehme. Anschliessend fährt Eduard Stäuble fort: "Und dann kommt ein rabulistischer Professor daher und vernebelt einen klaren Sachverhalt mit einem konfusen Wortschwall. Jedem einigermassen vernünftigen Menschen ist klar, wer und was gemeint ist, wenn von 'Ausländerkriminalität' die Rede ist." Diese Aussage wird vom Autor weiter vertieft, wobei er andeutet, dass Personen, welche den Begriff anders verstehen, "bösartig oder ein bisschen verschroben" seien. Sodann weist er darauf hin, dass die Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren zusammen mit dem Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement eine "Arbeitsgruppe Ausländerkriminalität" eingesetzt hätten. Er schliesst diesen Absatz seines Kommentars mit dem Satz ab: "Wenn es auf Herrn Kreis ankäme, wären diese Leute offenbar alles sprachliche Ignoranten, die aus Dummheit oder Ahnungslosigkeit 'das gesellschaftliche Klima' in unserem Lande 'vergiften' Er wirft sodann die Frage auf,
BGE 131 III 480 S. 484
welcher andere Begriff denn statt "Ausländerkriminalität" verwendet werden könnte, und weist auf eine Aussage des Sekretärs der erwähnten Konferenz hin, wonach die Ausländerkriminalität einen grossen Einfluss auf das subjektive Sicherheitsempfinden der Bevölkerung habe. Schliesslich empfiehlt er, dass "sich Herr Kreis besser darauf besinnen" sollte, "wie sehr er selber mit einem fragwürdigen und gefährlichen 'Rassismus'-Begriff, den er und seine Rassismus-Kommission tagtäglich im Munde führten, das 'gesellschaftliche Klima' in diesem Land 'vergiften'", und beendet seinen Kommentar wie folgt: "Merken denn diese 'Anti-Rassisten' nicht, dass sie sich dadurch selber zu 'Rassisten' machen? Darüber sollte sich Herr Kreis vielleicht einmal ein paar Gedanken machen. Aber das Problem der 'Ausländerkriminalität' sollte er nicht weiterhin durch ein gespreiztes professorales Gehabe und mit unhaltbarer Wort- und Zahlenakrobatik verniedlichen, vertuschen und schönreden."
C.
Am 13. März 2003 erhoben Georg Kreis und die Tamedia AG, die Herausgeberin des "Tages-Anzeiger", beim Obergericht des Kantons Zürich Klage gegen die Schweizerzeit Verlags AG mit folgenden Anträgen:
"1. Es sei festzustellen, dass die Beklagte mit der Publikation "Wie die 'Ausländer' in der Schweiz schlecht gemacht werden" in der "Schweizerzeit" vom 26.7.2002, S. 3, die Urheber- und Persönlichkeitsrechte des Klägers 1 verletzt und gegenüber der Klägerin 2 unlauteren Wettbewerb begangen hat. | 2,142 | 1,643 | 2 | 0 | 2. Die Beklagte sei zu verpflichten, das Dispositiv des Urteils in ihrer Publikation in angemessener Grösse zu publizieren.
3. Die Beklagte sei zu verpflichten, gestützt auf
Art. 62 Abs. 2 URG
,
Art. 28a Abs. 3 ZGB
und
Art. 9 Abs. 3 UWG
unter den Titeln Schadenersatz und Genugtuung den Betrag von Fr. 1'000.- zu bezahlen, zu leisten an die Schweizerische Flüchtlingshilfe, PC 30-1085-7."
Mit Beschluss vom 9. September 2004 trat das Obergericht auf die Klage der Tamedia AG nicht ein. Mit Urteil vom gleichen Tag wies es die Klage von Georg Kreis ab. Den Nichteintretensbeschluss begründete das Obergericht mit mangelnder sachlicher Zuständigkeit nach Massgabe des kantonalen Gerichtsorganisationsgesetzes. Die Klage von Georg Kreis wies es mit der Begründung ab, die Wiedergabe seines Artikels durch die Beklagte sei durch das Zitatrecht gemäss
Art. 25 URG
gerechtfertigt. Zudem seien die Persönlichkeitsrechte des Klägers im Sinne von
Art. 28
BGE 131 III 480 S. 485
ZGB
nicht verletzt worden, weil entgegen dessen Behauptung bei den Lesern der "Schweizerzeit" nicht der Eindruck erweckt worden sei, der Kläger habe seinen Artikel dieser Zeitung gegen Bezahlung zur Publikation überlassen.
D.
Georg Kreis (Kläger) hat das Urteil des Obergerichts mit Berufung beim Bundesgericht angefochten. Er stellt folgende Anträge:
"1. Es seien die Ziff. 1 bis 4 des Urteils des Obergerichts des Kantons Zürich vom 9. September 2004 aufzuheben.
1. Es sei festzustellen, dass die Beklagte und Berufungsbeklagte mit der Publikation "Wie die 'Ausländer' in der Schweiz vorsätzlich schlecht gemacht werden" in der "Schweizerzeit" vom 27.7.2002, S. 3, die Urheberrechte des Klägers und Berufungsklägers verletzt hat.
2. Die Beklagte und Berufungsbeklagte sei zu verpflichten, das Dispositiv des Urteils im Presseorgan "Schweizerzeit" in angemessener Grösse zu publizieren.
3. Die Beklagte und Berufungsbeklagte sei zu verpflichten, gestützt auf
Art. 62 Abs. 2 URG
unter den Titeln Schadenersatz und Genugtuung den Betrag von CHF 1'000.- zu bezahlen, zu leisten an die Schweizerische Flüchtlingshilfe, PC 30-1085-7.
4. Alles unter Kosten und Entschädigungsfolgen zu Lasten der Beklagten und Berufungsbeklagten für das Verfahren vor Obergericht sowie das vorliegende Verfahren."
Die Beklagte schliesst in ihrer Berufungsantwort auf Abweisung der Berufung.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
1.1
Zu Recht wird die urheberrechtliche Werkqualität des vom Kläger für den "Tages-Anzeiger" verfassten Artikels von keiner Seite in Frage gestellt. Es handelt sich dabei um ein literarisches Sprachwerk im Sinne von
Art. 2 Abs. 2 lit. a URG
(Bundesgesetz vom 9. Oktober 1992 über das Urheberrecht und verwandte Schutzrechte; SR 231.1). Der Umstand, dass der Artikel einen politischen Inhalt aufweist sowie im Rahmen einer politischen Auseinandersetzung verfasst und in einer Tageszeitung publiziert wurde, steht der Qualifikation als urheberrechtlich geschütztes Werk nicht entgegen. Erforderlich ist allerdings eine individuelle Gestaltung im Sinne von
Art. 2 Abs. 1 URG
, welche der vom Kläger verfasste Artikel aber eindeutig aufweist (vgl. zum Ganzen
BGE 131 III 480 S. 486
BARRELET/EGLOFF, Das neue Urheberrecht, 2. Aufl., Bern 2000, N. 7 und 13 zu
Art. 2 URG
; REHBINDER, Schweizerisches Urheberrecht, 3. Aufl., Bern 2000, S. 93 f.).
1.2
Nach den unbestrittenen Angaben des Klägers hat er dem "Tages-Anzeiger" bzw. der Tamedia AG zwar den Abdruck seines Artikels erlaubt, ihr dagegen nicht allgemein seine darauf bezüglichen Urheberrechte abgetreten. Im kantonalen Verfahren hat die Tamedia AG den von ihr geltend gemachten Anspruch ausschliesslich auf das UWG abgestützt (Bundesgesetz vom 19. Dezember 1986 gegen den unlauteren Wettbewerb; SR 241). Den Entscheid, mit dem die Vorinstanz auf ihre Klage mangels sachlicher Zuständigkeit nicht eingetreten ist, hat sie nicht angefochten. In seiner Berufungsschrift erklärt der Kläger ausdrücklich, dass der Vorwurf des unlauteren Wettbewerbs für das bundesgerichtliche Verfahren fallen gelassen worden sei, weil die Tamedia AG nicht an diesem Verfahren teilnehme. Unter diesen Umständen besteht für das Bundesgericht kein Anlass, die Streitsache auch unter dem Gesichtspunkt des UWG zu beurteilen.
1.3
Im kantonalen Verfahren hat sich die Beklagte insbesondere auf
Art. 28 URG
berufen. Nach dieser Bestimmung mit dem Marginale "Berichterstattung über aktuelle Ereignisse" dürfen bei dieser Tätigkeit wahrgenommene Werke aufgezeichnet, vervielfältigt, vorgeführt, gesendet, verbreitet oder sonst wie wahrnehmbar gemacht werden, soweit dies für die Berichterstattung erforderlich ist (Abs. 1). Nach Abs. 2 dürfen zum Zwecke der Information über aktuelle Fragen kurze Ausschnitte aus Presseartikeln vervielfältigt, verbreitet und gesendet oder weitergesendet werden, wobei der Ausschnitt sowie die Quelle und allenfalls auch die Urheberschaft anzugeben sind. Die Vorinstanz hielt diese Bestimmung für nicht anwendbar, weil einerseits den Artikeln von Mörgeli und Kreis kein "aktuelles Ereignis" zu Grunde liege und andererseits
Art. 28 Abs. 2 URG
lediglich die Verwendung kurzer Ausschnitte aus einem Werk erlaube. Die Frage der Anwendbarkeit von
Art. 28 URG
wird von der Beklagten in der Berufungsantwort nicht mehr aufgegriffen. Das Bundesgericht braucht sich deshalb nicht ausführlich damit zu beschäftigen, sondern es reicht aus, insoweit auf die zutreffenden Erwägungen der Vorinstanz zu verweisen.
1.4
Mit der Berufung wird der Vorinstanz vorgeworfen,
Art. 25 URG
(Zitate) und
Art. 11 URG
(Werkintegrität) verletzt zu haben.
BGE 131 III 480 S. 487
Im Gegensatz zum kantonalen Verfahren beruft sich der Kläger hinsichtlich der behaupteten Verletzung seiner Persönlichkeit nicht mehr auf den Schutz von
Art. 28 ZGB
, sondern auf jenen als Urheber im Sinne von
Art. 11 URG
. Er hat denn auch sein Feststellungsbegehren insoweit eingeschränkt, als er vor Bundesgericht bloss noch die Feststellung einer Verletzung in seinen Urheberrechten verlangt.
Die Beklagte macht in der Berufungsantwort geltend, die Berufung richte sich zum Teil in unzulässiger Weise gegen tatsächliche Feststellungen der Vorinstanz. Was sie aber zum Beleg ihrer Behauptung anführt, betrifft keine tatsächlichen Feststellungen im Sinne von
Art. 63 Abs. 2 OG
, sondern Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Anwendung von
Art. 25 und 11 URG
. Diese Fragen sind im Folgenden frei zu prüfen (
Art. 63 Abs. 3 OG
).
2.
2.1
Nach
Art. 25 Abs. 1 URG
dürfen veröffentlichte Werke zitiert werden, wenn das Zitat zur Erläuterung, als Hinweis oder zur Veranschaulichung dient und der Umfang des Zitats durch diesen Zweck gerechtfertigt ist (frz. Fassung: "Les citations tirées d'oeuvres divulguées sont licites dans la mesure où elles servent de commentaire, de référence ou de démonstration et pour autant que leur emploi en justifie l'étendue."; ital. Fassung: "Sono lecite le citazioni tratte da opere pubblicate, nella misura in cui servono da commento, riferimento o dimostrazione e se la portata della citazione è giustificata dall'impiego fatto.").
Das Zitatrecht setzt bei Sprachwerken einen inhaltlichen Bezug des zitierenden Textes auf das zitierte Werk voraus. Das geht bereits aus dem Wortlaut von
Art. 25 Abs. 1 URG
hervor, nach welchem das Zitat dem zitierenden Text zur Erläuterung, als Hinweis oder zur Veranschaulichung dienen muss. Dieser inhaltliche Bezug bestimmt auch über den zulässigen Umfang des Zitats. Soweit er fehlt, lässt sich die Übernahme des zitierten Werkes in den zitierenden Text nicht durch das Zitatrecht rechtfertigen. Zweck und Umfang des Zitats sind derart aufeinander bezogen, dass das Zitat im Vergleich zum zitierenden Text keine selbständige Bedeutung oder sogar die Hauptbedeutung beanspruchen darf (WITTWEILER, Zu den Schrankenbestimmungen im neuen Urheberrechtsgesetz, in: AJP 1993 S. 588 ff., S. 590; SANDRO MACCIACCHINI, Urheberrecht und Meinungsfreiheit, Diss. Zürich 2000, S. 189 f.; BARRELET/
BGE 131 III 480 S. 488
EGLOFF, a.a.O., N. 3 und 4 zu
Art. 25 URG
; CHERPILLOD, Schranken des Urheberrechts, in: Schweizerisches Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht [SIWR] Bd. II/1 S. 268; RIKLIN, Schweizerisches Presserecht, Bern 1996, S. 290; SCHÜRMANN/NOBEL, Medienrecht, 2. Aufl., Bern 1993, S. 301; in der deutschen Lehre und Rechtsprechung wird der Begriff der Belegfunktion verwendet: SCHRICKER/ SCHRICKER, 2. Aufl., § 51 Rdnr. 16 f.; FROMM/NORDEMANN, Urheberrecht, 9. Aufl., § 51 Rdnr. 4).
Dieser Grundsatz galt bereits nach altem Urheberrecht und wurde auf
Art. 26 aURG
gestützt, wonach die Wiedergabe des Zitats nicht offensichtlich missbräuchlich sein durfte (CHERPILLOD, a.a.O., S. 268). Die damalige Literatur betrachtete ein Zitat namentlich dann als missbräuchlich, wenn es verglichen mit dem zitierenden Text geistig das Hauptinteresse beansprucht und dieser als Vorwand zur Benutzung des zitierten Werkes dient (ALOIS TROLLER, Immaterialgüterrecht, Bd. II, 3. Aufl., S. 704; ELENA SCIARONI, Das Zitatrecht, Diss. Freiburg 1970, S. 28 ff.).
2.2
Die Voraussetzung des inhaltlichen Bezugs im erörterten Sinne ist hinsichtlich des von der Redaktion der "Schweizerzeit" verfassten Textes im "Kasten" eindeutig nicht gegeben. Dort findet sich als einziger, unkommentierter Bezug auf den Inhalt des Artikels des Klägers bloss die Formulierung "vorsätzlicher Studierstubenrassismus". Im Übrigen begnügt sich der Text damit, die Titel der Artikel von Christoph Mörgeli und des Klägers zu nennen und über ihre Veröffentlichung im "Tages-Anzeiger" zu informieren. Schliesslich wird als Grund für die wörtliche und ungekürzte Wiedergabe der beiden Artikel in der "Schweizerzeit" genannt, dass die Leser die Möglichkeit haben müssten, die Gedankengänge der beiden Autoren im Original nachzuvollziehen. All das vermag die Berufung auf das Zitatrecht im Sinne von
Art. 25 URG
offensichtlich nicht zu rechtfertigen, weshalb der Beklagten insoweit eine Verletzung des Vervielfältigungsrechts des Klägers im Sinne von
Art. 10 Abs. 2 lit. a und b URG
vorzuwerfen ist.
2.3
Die Vorinstanz hat sich indessen mit der Frage, ob sich die Beklagte auf ein eigenes Zitatrecht berufen könne, gar nicht befasst. Sie ist vielmehr, ohne dafür eine Begründung zu geben, davon ausgegangen, die Beklagte dürfe ein allfälliges Zitatrecht von Eduard Stäuble für sich selbst beanspruchen. Diese Annahme ist aber problematisch, namentlich weil Feststellungen der Vorinstanz
BGE 131 III 480 S. 489
zu den vertraglichen Abmachungen zwischen der Beklagten und Eduard Stäuble fehlen. Jedenfalls kann nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass die Einwilligung zur Publikation eines Textes in einer Zeitung von selbst auch die Befugnis der Zeitungs-Redaktion einschliesst, ein allfälliges Zitatrecht des Artikelverfassers für sich zu beanspruchen.
Diese Frage braucht jedoch nicht weiter untersucht zu werden. Selbst wenn die Beklagte ein allfälliges Zitatrecht von Eduard Stäuble für sich beanspruchen dürfte, würde ihr das nicht weiter helfen. Denn auch das Zitatrecht von Eduard Stäuble vermöchte den wörtlichen und ungekürzten Abdruck des Artikels des Klägers nicht zu rechtfertigen. Im Unterschied zum Text der Redaktion im "Kasten" findet im Text von Eduard Stäuble zwar eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Inhalt des Artikels des Klägers statt. Die Bezugnahme beschränkt sich aber auf einzelne Teile des Artikels. Die Behauptungen von Eduard Stäuble, der Kläger sei ein "wörtchenklaubender, rabulistischer Professor", er zeige ein "gespreiztes professorales Gehabe" und betreibe "unhaltbare Wort- und Zahlenakrobatik", berechtigten den Verfasser nicht, unter Berufung auf das urheberrechtliche Zitatrecht den Artikel des Klägers wörtlich und in vollem Umfang ohne dessen Erlaubnis in der "Schweizerzeit" abdrucken zu lassen. Auch insofern hat die Beklagte die Urheberrechte des Klägers verletzt.
3.
Die Vorinstanz hat sich zu den soeben behandelten Voraussetzungen des urheberrechtlichen Zitatrechts nicht ausdrücklich geäussert. Sie hat vielmehr die Berechtigung der Beklagten zum vollständigen Abdruck des Artikels des Klägers direkt aus der Medienfreiheit und der Meinungs- und Informationsfreiheit im Sinne der
Art. 16 und 17 BV
abgeleitet. Nach ihrer Auffassung durfte die Beklagte in der Form, wie sie dies getan hat, an der Diskussion zwischen Christoph Mörgeli und dem Kläger teilnehmen. Dass dem Kläger die Publikation nicht gefalle und er der Auffassung sei, dass die Sache mit der Veröffentlichung der Artikel im "Tages-Anzeiger" ausdiskutiert sei, könne die Berechtigung der Beklagten nicht in Frage stellen. Es sei ja gerade der Zweck von
Art. 16 und 17 BV
, dass unbequeme Meinungen ungehindert und auch in der Öffentlichkeit vertreten werden dürften, und es stehe nicht einer Privatperson zu, die Diskussion über eine bestimmte Sache für beendet und weitere Meinungsäusserungen demnach für unzulässig zu erklären. Die Beklagte habe ein Forum für die
BGE 131 III 480 S. 490
Diskussion zwischen Mörgeli, dem Kläger und Stäuble zur Verfügung gestellt, wie sie in den Medien häufig begegneten, und zu denen auch die "Tribüne" des "Tages-Anzeigers" gehöre. Solche Foren leisteten einen wichtigen Beitrag zur öffentlichen Diskussion und Meinungsbildung nicht nur über politische, sondern auch über andere Fragen. Schliesslich hält die Vorinstanz fest, der Vorwurf des Klägers, die Beklagte habe nur beabsichtigt, ihn und seine Auffassungen zu verunglimpfen, gehe an der Sache vorbei. Es sei der Sinn der öffentlichen politischen Auseinandersetzung, andere Standpunkte zu kritisieren, allenfalls auch mit harten Worten, und die Meinungs- und Informationsfreiheit verbiete es dem Gericht, diese Standpunkte zu beurteilen.
3.1
Art. 25 URG
gehört zu den Schrankenbestimmungen des Urheberrechts (
Art. 19-28 URG
), welche die urheberrechtlichen Ausschlussrechte im Interesse der Allgemeinheit oder bestimmter Nutzerkreise einschränken. Mit diesen Bestimmungen hat der Gesetzgeber Sachverhalte der Kollision verfassungsrechtlicher Grundrechte geregelt, indem er den Ausgleich der vorhandenen gegensätzlichen Interessen anstrebte. Im Fall von
Art. 25 URG
handelt es sich um die Eigentumsgarantie einerseits (
Art. 26 Abs. 1 BV
; VALLENDER, St. Galler Kommentar, Rz. 18 zu
Art. 26 BV
) und die Meinungs- und Informationsfreiheit (
Art. 16 BV
) sowie die Medienfreiheit andererseits (
Art. 17 BV
; MACCIACCHINI, a.a.O., S. 184). Das Spannungsverhältnis dieser Grundrechte, dem der Gesetzgeber bei der Formulierung von
Art. 25 URG
Rechnung getragen hat, kann bei der Auslegung und Anwendung dieser Bestimmung berücksichtigt werden (entsprechend dem Grundsatz verfassungskonformer Auslegung:
BGE 129 II 249
E. 5.4;
BGE 128 V 20
E. 3a mit Hinweisen).
3.2
Das Vorgehen des Obergerichts widerspricht indessen diesen Grundsätzen. Es hat der Meinungs- und Medienfreiheit von vornherein prioritäre Bedeutung zugemessen, ohne zu prüfen, ob durch die Anwendung von
Art. 25 URG
dem vom Gesetzgeber gewollten Interessenausgleich zum Durchbruch verholfen werden kann. Dazu kommt, dass es auch in diesem Zusammenhang nicht zwischen der Beklagten und Eduard Stäuble differenziert, obschon deren Äusserungen unter dem Gesichtspunkt des Grundrechts der Meinungsfreiheit erheblich voneinander abweichen. Der Text der Redaktion im "Kasten" begnügt sich im Prinzip mit dem Hinweis auf die Meinungsäusserungen Dritter (Christoph Mörgelis, des
BGE 131 III 480 S. 491
Klägers und Eduard Stäubles), ohne inhaltlich dazu Stellung zu nehmen. Für die Redaktion stand nicht die eigene Meinungsäusserung im Vordergrund. Sie wollte vielmehr Eduard Stäuble die Gelegenheit geben, sich zu den Artikeln von Christoph Mörgeli und des Klägers zu äussern. In diesem Zusammenhang ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Informationsfreiheit auch das Verbreiten der Meinungen Dritter schützt (
Art. 16 Abs. 3 BV
), was für Medienschaffende in Verbindung mit der Medienfreiheit (
Art. 17 BV
) von Bedeutung ist (KLEY/TOPHINKE, St. Galler Kommentar, N. 34 zu
Art. 16 BV
). In diesem Sinn kann sich die Beklagte auch auf die Meinungsfreiheit berufen, um die Meinungen von Eduard Stäuble zu verbreiten. Das hilft ihr jedoch nicht weiter. Wie bereits aufgezeigt wurde, war es für die Meinungsäusserung von Eduard Stäuble nicht erforderlich, dass der Artikel des Klägers wörtlich und in vollem Umfang abgedruckt wurde. Ein auszugsweises Zitieren hätte genügt.
Anzufügen bleibt, dass die Beklagte theoretisch gesehen auch insoweit die Informations- und Medienfreiheit beanspruchen könnte, als sie die Meinung des Klägers, wie er sie im Artikel für den "Tages-Anzeiger" geäussert hatte, durch die Publikation in der "Schweizerzeit" hätte weiter verbreiten wollen. In diese Richtung geht denn auch die Auffassung des Obergerichts, die Beklagte habe Christoph Mörgeli, dem Kläger und Eduard Stäuble ein Forum zur Verfügung stellen wollen, vergleichbar der "Tribüne" des "Tages-Anzeiger". Dieser Vergleich geht indessen fehl. Zunächst ist offensichtlich, dass die Beklagte zwar Eduard Stäuble und Christoph Mörgeli ein Forum zur Verbreitung ihrer Meinungen anbieten wollte, nicht aber dem Kläger, den sie ja gar nicht um seine Erlaubnis angefragt hatte. Sodann ist wiederum darauf hinzuweisen, dass auch unter dem Aspekt der Meinungs- und Medienfreiheit keine Notwendigkeit bestand, den Artikel des Klägers wörtlich und in vollem Umfang abzudrucken. Schliesslich ist die Auffassung des Obergerichts auch grundsätzlich abzulehnen, denn damit wird im Ergebnis eine Einschränkung der urheberrechtlichen Nutzungsbefugnisse vorgenommen, wie sie im URG nicht vorgesehen ist. Sie würde bedeuten, dass die am öffentlichen politischen Meinungskampf Beteiligten die Nutzung ihrer in diesem Rahmen verwendeten, urheberrechtlich geschützten Sprachwerke durch Dritte ohne weiteres dulden müssten. Eine solche Regelung, wie sie im deutschen und österreichischen Urheberrecht unter
BGE 131 III 480 S. 492
einschränkenden Voraussetzungen in Form einer gesetzlichen Lizenz vorgesehen ist, fehlt im schweizerischen Recht und kann nicht einfach durch ein Gericht unter Berufung auf die verfassungsmässigen Grundrechte der Meinungs- und Medienfreiheit eingeführt werden (vgl. zum deutschen Recht: SCHRICKER/MELICHAR, 2. Aufl., § 49 UrhG Rdnr. 1 ff.; zum österreichischen Recht: DITTRICH, Urheberrecht, 4. Aufl., Wien 2004, E. 1 ff. zu § 44 UrhG).
4.
Der Kläger betrachtet als Verletzung seiner Urheberpersönlichkeitsrechte im Sinne von
Art. 11 URG
, dass sein Artikel in der "Schweizerzeit" abgedruckt wurde, einer Zeitung, die eine andere politische Auffassung als er selbst vertrete. Zudem sei mit dem Abdruck der Zweck verfolgt worden, ihn zu diskreditieren. Die Redaktion habe gewusst, dass der Kläger mit seinem Werkschaffen nicht in das Umfeld der "Schweizerzeit" habe gestellt werden wollen. Sodann habe die Redaktion den Eindruck erwecken wollen, dass er an einer politischen Auseinandersetzung in der "Schweizerzeit" teilnehme, was dem Inhalt und der Aussagekraft des Beitrags offensichtlich abträglich gewesen sei. Die Publikation seines Artikels in der "Schweizerzeit" sei aus diesen Gründen als Eingriff in seinen Anspruch auf Werkintegrität zu werten.
4.1
In den vorangehenden Erwägungen ist das Bundesgericht zum Ergebnis gekommen, dass die Beklagte durch den unerlaubten Abdruck des Artikels des Klägers in der "Schweizerzeit" dessen Werknutzungsrechte im Sinne von
Art. 10 Abs. 2 lit. a und b URG
verletzt hat. Dieser Umstand schliesst nicht aus, dass die gleiche Handlung der Beklagten auch als Verstoss gegen die Urheberpersönlichkeitsrechte des Klägers qualifiziert werden kann. Typische Fälle eines indirekten Eingriffs in die Werkintegrität, wie er hier in Frage kommen könnte, betreffen zwar Sachverhalte der Beeinträchtigung des Werkes durch Personen, denen urheberrechtliche Nutzungs- oder Änderungsrechte auf vertraglicher oder gesetzlicher Grundlage zustehen (vgl. BARRELET/EGLOFF, a.a.O., N. 13-15 zu
Art. 11 URG
; JACQUES DE WERRA, Le droit à l'intégrité de l'oeuvre, Diss. Lausanne 1996, S. 72 ff.). Nicht grundsätzlich anders verhält es sich jedoch auch dann, wenn der Verletzer gestützt auf ein vermeintliches Nutzungsrecht handelt oder sich um die Urheberrechte gar nicht kümmert. In solchen Fällen kann in der Handlung, mit der er gegen die urheberrechtlichen Ausschlussrechte verstösst, zugleich eine Verletzung der Urheberpersönlichkeitsrechte liegen. Schliesslich ist darauf hinzuweisen, dass
BGE 131 III 480 S. 493
der Kläger im vorliegenden Fall ein ausreichendes Interesse an der Prüfung der Frage der Verletzung in den Urheberpersönlichkeitsrechten geltend machen kann, da er mit seinem Rechtsbegehren Ziffer 4 gestützt auf
Art. 62 Abs. 2 URG
nicht nur Schadenersatz, sondern auch Genugtuung verlangt (vgl. dazu BARRELET/EGLOFF, a.a.O., N. 14 zu
Art. 62 URG
; SCHRICKER/DIETZ, 2. Aufl., § 14 UrhG Rdnr. 10).
4.2
Der Kläger beruft sich auf Lehrmeinungen, wonach
Art. 11 URG
den Urheber davor schützt, dass sein Werk in einem Kontext oder in einer Art und Weise präsentiert wird, die im Publikum einen falschen Eindruck des Werkes erweckt, oder dass sein Werk in einem entstellenden Zusammenhang wiedergegeben wird (DE Werra, a.a.O., S. 72 f.; BARRELET/EGLOFF, a.a.O., N. 13 f. zu
Art. 11 URG
und N. 5 zu
Art. 25 URG
). Er will damit seine Auffassung untermauern, dass die Urheberpersönlichkeitsrechte verletzt wurden, weil die Beklagte seinen Artikel in ein Umfeld gestellt hat, das seinen politischen Meinungen feindlich gegenüber steht. Damit lässt der Kläger indessen unberücksichtigt, dass bei der Beurteilung eines solchen indirekten Eingriffs in die Werkintegrität der Charakter des Werkes eine massgebende Rolle spielt (vgl. die Beispiele für indirekte Eingriffe bei SCHRICKER/DIETZ, 2. Aufl., § 14 UrhG Rdnr. 23). Zudem darf auf eine allfällige Überempfindlichkeit des konkreten Urhebers nicht abgestellt werden, sondern es muss - immer unter Berücksichtigung der Eigenart des Einzelfalles - ein möglichst objektiver Massstab angelegt werden (DE WERRA, a.a.O., S. 35 f.).
Unter diesem Gesichtspunkt ist von ausschlaggebender Bedeutung, dass sich der Kläger mit dem Verfassen und der Publikation seines Artikels in der "Tribüne" des "Tages-Anzeigers" in ein Umfeld begeben hat, in welchem auf öffentlicher Plattform in teilweise aggressiver und polemischer Form über politische Meinungen gestritten wird. Der Kläger ist nicht gegen seinen Willen in dieses Umfeld hineingezogen worden, sondern hat sich freiwillig an der Diskussion beteiligt, indem er im "Tages-Anzeiger" zum Artikel von Christoph Mörgeli Stellung nahm und dessen Meinungen wie auch Person in zum Teil ausgesprochen angriffiger und polemischer Art kritisierte. Von da her gesehen ist der "abschliessende Kommentar" von Eduard Stäuble, in welchem die Meinungsäusserungen und die Person des Klägers seinerseits massiv angegriffen wurde, durchaus mit jenem des Klägers vergleichbar.
BGE 131 III 480 S. 494
In Bezug auf den verwendeten Sprachstil mögen zwar Unterschiede bestehen, in der Art, wie argumentiert und polemisiert wird, fallen dagegen keine grossen Differenzen auf. Schliesslich kann auch nicht gesagt werden, dass der Artikel im "Tages-Anzeiger" dazu bestimmt war, ein grundlegend anderes Leserpublikum zu interessieren. Zum einen handelt es sich beim "Tages-Anzeiger" um eine jedenfalls im Kanton Zürich weit verbreitete, auflagenstarke Zeitung ohne besondere Parteibindung, deren Leserpublikum sich mit jenem der "Schweizerzeit" überschneiden kann. Zum andern waren die vom Kläger behandelten Themen, nämlich die Kritik von Christoph Mörgeli an der Ausländerpolitik der sozialdemokratischen Partei und dessen Propaganda für die Ausländerpolitik der SVP, geeignet, auch die Leser und Leserinnen der "Schweizerzeit" zu interessieren.
Schliesslich hat die Beklagte entgegen der Behauptung des Klägers nicht den Eindruck erweckt, dass er an einer politischen Auseinandersetzung in der "Schweizerzeit" teilnehme. Aus dem Text der Redaktion im "Kasten" geht mit genügender Klarheit hervor, dass die Auseinandersetzung zwischen Christoph Mörgeli und dem Kläger bereits im Rahmen der "Tribüne" des "Tages-Anzeigers" stattgefunden hatte und diese der Leserschaft der "Schweizerzeit" lediglich zur Kenntnis gebracht werden sollte. Zudem wird auch nicht der Eindruck erweckt, dass dem Kläger die Möglichkeit geboten werden sollte, sich mit Eduard Stäuble auseinander zu setzen. Für die Redaktion der "Schweizerzeit" stand vielmehr die dem Publikum erkennbare Absicht im Vordergrund, Eduard Stäuble die Gelegenheit zu geben, den Artikel des Klägers und dessen Person im "abschliessenden Kommentar" in scharfer Form zu kritisieren und den Artikel von Christoph Mörgeli zu unterstützen.
Ein indirekter Eingriff in die Werkintegrität liegt demnach nicht vor, weshalb der Beklagten keine Verletzung der Urheberpersönlichkeitsrechte des Klägers im Sinne von
Art. 11 URG
vorgeworfen werden kann.
5.
Das nach
Art. 61 URG
erforderliche Rechtsschutzinteresse an der gerichtlichen Feststellung der Verletzung der Urheberrechte des Klägers durch die Beklagte ist gegeben (vgl. BARRELET/EGLOFF, a.a.O., N. 2 zu
Art. 61 URG
). Im Sinne der vorangehenden Erwägungen ist das angefochtene Urteil in teilweiser Gutheissung der
BGE 131 III 480 S. 495
Berufung aufzuheben und dem Rechtsbegehren 2 des Klägers entsprechend festzustellen, dass die Beklagte mit der Publikation "Wie die 'Ausländer' in der Schweiz vorsätzlich schlecht gemacht werden" in der "Schweizerzeit" vom 26. Juli 2002, S. 3, die Urheberrechte des Klägers verletzt hat.
Das Obergericht wird auf der neuen rechtlichen Grundlage, wie sie in diesem Urteil festgehalten ist, nun noch über die Rechtsbegehren 3 und 4 des Klägers zu urteilen haben (Publikation des Urteilsdispositivs in der "Schweizerzeit"; Anspruch auf Schadenersatz und Genugtuung). Ebenso hat es neu über die Verteilung der kantonalen Gerichts- und Parteikosten zu entscheiden. Die Streitsache ist zur Beurteilung dieser Punkte an die Vorinstanz zurückzuweisen. | 5,981 | 4,580 | CH_BGE_005 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_005_BGE-131-III-480_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=15&from_date=&to_date=&from_year=2005&to_year=2005&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=142&highlight_docid=atf%3A%2F%2F131-III-480%3Ade&number_of_ranks=281&azaclir=clir | BGE_131_III_480 |
|||
ecee248e-e8e7-49f8-ac76-36c1aa9b7a25 | 1 | 82 | 1,354,337 | 1,337,126,400,000 | 2,012 | de | Sachverhalt
ab Seite 498
BGE 138 III 497 S. 498
YA. (Beschwerdegegner 1) ist der Vater von YB. und YC. (Beschwerdegegner 2 und 3).
Die X. AG (Beschwerdeführerin) gewährte dem Beschwerdegegner 1 im Jahr 1991 ein verzinsliches Darlehen über Fr. 1'300'000.-. Dieser leistete 1992 bis 1994 Abzahlungen.
Am 7. Februar 2001 betrieb die Beschwerdeführerin den Beschwerdegegner 1. Auf dessen Rechtsvorschlag hin machte sie eine Teilforderung gerichtlich geltend, der ihr mit Urteil des Kantonsgerichts Basel-Landschaft vom 6. Dezember 2005 zugesprochen wurde. Die gegen den Beschwerdegegner 1 eingeleitete Betreibung führte am 13. Februar 2007 zu einem definitiven Verlustschein.
Am 18. Dezember 2002 schloss der Beschwerdegegner 1 mit seiner Mutter Z. einen Erbverzichtsvertrag, in welchem er zugunsten seiner beiden Söhne auf sein Erbe verzichtete. Am 2. Dezember 2007 verstarb Z. Sie hinterliess drei Kinder.
Am 6. August 2008 klagte die X. AG beim Bezirksgericht gegen die Beschwerdegegner 1-3 mit dem Hauptbegehren, es seien die Zustimmung des Beschwerdegegners 1 zum Erbverzichtsvertrag sowie dieser Vertrag gemäss
Art. 578 ZGB
aufzuheben, eventualiter sei deren Anfechtbarkeit im Sinn von
Art. 578 ZGB
festzustellen, und es sei die amtliche Liquidation des Nachlasses anzuordnen; eventualiter verlangte sie, es seien die Beschwerdegegner unter solidarischer Haftbarkeit zu verpflichten, ihr Fr. 508'246.55 zu bezahlen, subeventualiter seien die Erbteile bzw. Zuwendungen an die Beschwerdegegner 2 und 3 im Sinn von
Art. 522 ff. ZGB
proportional auf jenen Bruchteil ihres Wertes herabzusetzen, der dem Beschwerdegegner 1
BGE 138 III 497 S. 499
einen Wertanteil von Fr. 508'246.55, maximal jedoch seinen vollen Pflichtteil von einem Viertel des Gesamtnachlasses verschaffe.
Mit Urteilen vom 12. Januar 2010 bzw. 5. Dezember 2011 wiesen sowohl das Bezirksgericht als auch das Obergericht des Kantons Zürich die Klage ab.
Gegen das obergerichtliche Urteil hat die X. AG am 23. Januar 2012 eine Beschwerde in Zivilsachen eingereicht, im Wesentlichen mit den Anträgen auf dessen Aufhebung und Zuspruch der vorgenannten Klagebegehren, eventualiter um Rückweisung der Sache an das Obergericht zur Neubeurteilung.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
(Zusammenfassung) | 942 | 407 | Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Wie bereits im kantonalen Verfahren macht die Beschwerdeführerin auch vor Bundesgericht eine falsche Anwendung von
Art. 578 ZGB
(dazu E. 3) oder jedenfalls ein rechtsmissbräuchliches Verhalten des Beschwerdegegners 1 geltend, indem dieser mit dem Erbverzichtsvertrag die Anfechtungsmöglichkeit des Gläubigers mit Bezug auf die Ausschlagung des Erbes habe umgehen wollen (dazu E. 4). Im Eventualstandpunkt beruft sich die Beschwerdeführerin auf die Bestimmungen über die Herabsetzungsklage gemäss
Art. 522 ff. ZGB
(dazu E. 5). Überdies macht sie weiterhin einen Anfechtungsanspruch im Sinn von Art. 286 oder 288 SchKG geltend (dazu E. 6 und 7).
Hinsichtlich der obergerichtlichen Erwägung, wonach
Art. 578 ZGB
einen Ausgleich für die getäuschte Hoffnung der Gläubiger zum Zweck habe, nennt die Beschwerdeführerin verschiedene Beweismittel (u.a. Zeugeneinvernahmen) mit Bezug auf ihre angebliche Erwartung als Gläubigerin, dass der Beschwerdegegner 1 dereinst ein ansehnliches Vermögen erbe, und sie beruft sich dabei auf
Art. 99 Abs. 1 BGG
. Indes wird nicht dargetan, inwiefern die Voraussetzungen für ein nachträgliches Einreichen von Beweismitteln gegeben sein sollen; Gründe sind denn auch nicht ersichtlich, da die Beschwerdeführerin offensichtlich eine umfassende Auslegung mit Blick auf Sinn und Zweck des von ihr als verletzt angerufenen
Art. 578 ZGB
durch das Obergericht zu gewärtigen hatte.
BGE 138 III 497 S. 500
Unzulässig ist ferner das Nachschieben von Sachverhaltselementen, die im angefochtenen Urteil nicht festgestellt sind, wie dies insbesondere in Rz. 92 ff. der Beschwerde geschieht.
3.
Umstritten ist zunächst die Auslegung von
Art. 578 ZGB
, den die Beschwerdeführerin auch auf den Erbverzichtsvertrag angewandt wissen möchte.
3.1
Im Zusammenhang mit dieser Norm verneinte das Obergericht die Passivlegitimation der Beschwerdegegner 2 und 3. Die Beschwerdeführerin kritisiert dies.
Die in der Literatur kontrovers diskutierte Frage (Passivlegitimation des ausschlagenden Erben: TUOR/PICENONI, Berner Kommentar, 2. Aufl. 1964, N. 12 zu
Art. 578 ZGB
; SCHWANDER, in: Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch, Bd. II, 4. Aufl. 2011, N. 7 zu
Art. 578 ZGB
; HÄUPTLI, in: Erbrecht, Praxiskommentar, 2. Aufl. 2011, N. 13 zu
Art. 578 ZGB
; Passivlegitimation der Begünstigten: ESCHER, Zürcher Kommentar, 3. Aufl. 1960, N. 10 zu
Art. 578 ZGB
; PIOTET, Erbrecht, SPR Bd. IV/2, 1981, S. 645; GÜBELI, Gläubigerschutz im Erbrecht, 1999, S. 107) wurde bereits in
BGE 55 II 18
E. 3 S. 19 dahingehend entschieden, dass die Klage ausschliesslich gegen den ausschlagenden Erben zu richten ist. Es besteht kein Anlass, auf diese Rechtsprechung zurückzukommen, und zwar auch nicht unter dem Gesichtspunkt, dass das Bundesgericht seinen Entscheid damit begründet hat, dass es sich bei der Ausschlagung um ein einseitig vorgenommenes Rechtsgeschäft handle: Vorliegend zielt die Beschwerdeführerin zwar auf den Erbverzichtsvertrag, der im Unterschied zur Ausschlagung kein einseitiges Rechtsgeschäft ist; indes waren die Beklagten 2 und 3 an diesem ebenso wenig beteiligt. Sodann ist die Rechtsfolge nicht, dass die Begünstigten die Vollstreckung ins betreffende Substrat zu dulden haben (
Art. 285 Abs. 1 und
Art. 291 Abs. 1 SchKG
;
BGE 135 III 265
E. 3 S. 268), sondern die amtliche Liquidation des Nachlasses (
Art. 578 Abs. 2 ZGB
).
3.2
In materieller Hinsicht befand das Obergericht, die Erbanwartschaft habe in keiner Weise als Sicherheit für das gewährte Darlehen gedient und die Beschwerdeführerin mache auch nicht geltend, sie habe darauf vertrauen dürfen, dass die Rückforderung des Darlehens dereinst aus dem fraglichen Erbe gedeckt werde. Genau darauf ziele aber
Art. 578 ZGB
, indem er die Ausschlagung in fraudem creditorum als anfechtbar erkläre. Es handle sich dabei um den Schutz der Gläubiger mit Bezug auf Vermögenswerte, die mit dem Erbgang
BGE 138 III 497 S. 501
bereits an den ausschlagenden Erben übergegangen seien. Ein Schutz im Hinblick auf blosse Erbanwartschaften sei dagegen vom Gesetz nicht vorgesehen. Ebenso wenig bestehe Schutz gegen eine aus der Annahme einer Erbschaft erwachsende Benachteiligung der Erbengläubiger; der Gesetzgeber habe das in den Entwürfen zum ZGB diesbezüglich vorgesehene Mittel der amtlichen Liquidation abgelehnt mit der Begründung, dass es dem Schuldner freistehe, durch Eingehung neuer Verbindlichkeiten die Lage der Gläubiger zu verschlechtern. Diesem Tatbestand könne der (erbvertragliche) Verzicht auf Vermögenswerte oder das Nichteintreiben von Ansprüchen gleichgesetzt werden. Sodann sehe das Gesetz andere Schutzmöglichkeiten des Gläubigers vor (Art. 609 Abs. 1 sowie
Art. 524 Abs. 1 und 2 ZGB
). Umgekehrt werde bei
Art. 480 ZGB
die Familie des Erblassers gegen eine Benachteiligung auf Kosten der Erbengläubiger geschützt. Im Ergebnis sei davon auszugehen, dass die Gläubiger eines Erben vor dem Erbanfall keinen geschützten Anspruch auf das Vermögen des Erblassers hätten; einerseits stehe es diesem frei, sein Vermögen zu verbrauchen, und andererseits stehe es dem Schuldner frei, auf die Erbanwartschaft zu verzichten, weshalb ein Gläubiger grundsätzlich immer mit einer möglichen Verschlechterung des Haftungssubstrates rechnen müsse.
3.3
Die Beschwerdeführerin ist zusammengefasst der Meinung, dass es keinen Unterschied mache, ob der Erbe auf sein Erbe vertraglich verzichte oder ob er dieses ausschlage, weshalb die Anfechtungsmöglichkeit im Sinn von
Art. 578 ZGB
über den Gesetzeswortlaut hinaus in beiden Konstellationen greifen müsse, zumal die Willensäusserung des Beschwerdegegners 1 beim Erbverzichtsvertrag letztlich als antizipierte Ausschlagung interpretiert werden müsse. Es sei nicht plausibel, weshalb die in
Art. 578 ZGB
verpönte Gläubigerschädigung plötzlich zulässig sein soll, wenn sie in Form eines Erbverzichtsvertrages herbeigeführt werde, gehe es doch in beiden Konstellationen darum, dass die Vergrösserung des Vermögens verhindert werde.
3.4
Grundsätzlich haftet der Schuldner für eingegangene Verpflichtungen mit seinem gesamten persönlichen Vermögen. Bei ausbleibender Tilgung fälliger Schulden kann er vom Gläubiger betrieben und kann in sein Vermögen vollstreckt werden, wobei alle ihm gehörenden verkehrsfähigen Vermögenswerte pfändbar sind. Unpfändbar sind Anwartschaften oder Rechte mit ungewisser Entstehung und von ungewissem Umfang (
BGE 97 III 23
E. 2 S. 27;
BGE 99 III 52
BGE 138 III 497 S. 502
E. 3 S. 55), wozu insbesondere auch die Erbanwartschaft gehört (
BGE 73 III 149
). Pfändbar ist hingegen der Liquidationsanteil an einer angefallenen, aber noch nicht verteilten Erbschaft (vgl.
BGE 130 III 652
;
BGE 135 III 179
), weil dieser einen zurechenbaren Vermögenswert des Erben darstellt; die Abwicklung erfolgt hier nach der Verordnung vom 17. Januar 1923 über die Pfändung und Verwertung von Anteilen an Gemeinschaftsvermögen (VVAG; SR 281.41).
Aus dem Gesagten ergibt sich, dass eine Erbanwartschaft des Schuldners für den Gläubiger keine gesicherte Kreditierungsbasis, sondern eine blosse Hoffnung auf zukünftigen Anfall von Vollstreckungssubstrat darstellt. Der Erblasser kann bis zum Todeszeitpunkt frei über sein Vermögen verfügen, so dass sich die Hoffnung des Gläubigers selbst bei einem Pflichtteilserben zerschlagen kann. Ebenso wenig hat er Möglichkeiten zur Beeinflussung der persönlichen Vermögenslage des Schuldners; so kann dieser über vorhandene Vermögenswerte verfügen oder seine Bonitätslage auch durch Eingehen weiterer Verpflichtungen verschlechtern. Will der Gläubiger in seinem Glauben auf vertragskonforme Erfüllung auf keinen Fall enttäuscht werden, muss er sich deshalb ausreichende persönliche oder dingliche Sicherheiten stellen lassen.
Dies heisst aber nicht, dass der ungesicherte Gläubiger über keinerlei Mittel gegen den unredlich handelnden Schuldner verfügen würde; vielmehr hat der Gesetzgeber im Erb- wie auch im Zwangsvollstreckungsrecht verschiedene Behelfe zur Verfügung gestellt. Vorliegend interessiert
Art. 578 Abs. 1 ZGB
, welcher dem Gläubiger, der nicht anderweitig sichergestellt wird, eine Anfechtungsmöglichkeit gibt, wenn ein überschuldeter Erbe die Erbschaft mit dem Zweck ausgeschlagen hat, sie dem Gläubiger zu entziehen. Entgegen der Meinung der Beschwerdeführerin lässt sich daraus aber keine Anfechtungsmöglichkeit mit Bezug auf einen Erbvertrag ableiten.
Ein solches Ansinnen scheitert vorliegend bereits an der grammatikalischen Auslegung von
Art. 578 ZGB
, weil das Bundesgericht an einen klaren und unzweideutigen Gesetzeswortlaut gebunden ist, sofern dieser den wirklichen Sinn der Norm wiedergibt. Zwar sind Abweichungen von einem klaren Wortlaut zulässig oder sogar geboten, wenn triftige Gründe zur Annahme bestehen, dass dieser nicht dem wahren Sinn der Bestimmung entspricht; solche Gründe können sich aus der Entstehungsgeschichte der Bestimmung, aus ihrem Sinn und Zweck oder aus dem Zusammenhang mit anderen Vorschriften
BGE 138 III 497 S. 503
ergeben (systematische, teleologische, historische und rechtsvergleichende Auslegung, vgl.
BGE 127 III 318
E. 2b S. 322 f.;
BGE 130 III 76
E. 4 S. 82;
BGE 133 III 257
E. 2.4 S. 265). Vorliegend ist indes aufgrund des vom Gesetzgeber bloss punktuell gewährten Gläubigerschutzes, angesichts der systematischen Einordnung der Regelung in den Bestimmungen über die Ausschlagung (
Art. 566-579 ZGB
) sowie vor dem Hintergrund der Materialien (vgl. namentlich die von EUGEN HUBER verfassten Erläuterungen zum Vorentwurf eines schweizerische Zivilgesetzbuches, Bd. I, 2. Aufl. 1914, S. 401, wo davon die Rede ist, dass nicht der Lehrmeinung zu folgen sei, wonach der im negativen Erbvertrag erklärte Erbverzicht als eine Verpflichtung zur Ausschlagung der Erbschaft oder als Verzicht auf die Geltendmachung der Herabsetzungs- und Erbschaftsklage aufzufassen sei, sondern dass das ZGB der Anschauung folge, wonach der Erbverzicht eine Aufhebung der Erbenqualität bedeute) nicht ersichtlich, inwiefern der klare Wortlaut der Norm nicht dem wirklichen Willen des Gesetzgebers entsprechen und
Art. 578 ZGB
auf etwas anderes als die Ausschlagung anwendbar sein soll. Insbesondere lässt sich solches auch nicht aus
BGE 128 III 314
oder
BGE 131 III 49
ableiten; diese Entscheide betreffen ganz andere Konstellationen und tragen nichts zur Auslegung von
Art. 578 ZGB
bei.
Nach dem Gesagten kann der Beschwerdeführerin nicht durch Gesetzesauslegung im Sinn von
Art. 1 Abs. 1 ZGB
, sondern könnte ihr höchstens durch richterliche Lückenfüllung modo legislatoris im Sinn von
Art. 1 Abs. 2 ZGB
geholfen werden. Indes enthält die Beschwerde keine entsprechenden Ausführungen und das Bundesgericht prüft die Rechtsanwendung aufgrund von
Art. 42 Abs. 2 BGG
nur im Rahmen begründeter Vorbringen, was umso mehr für eine Lückenfüllung zu gelten hat, welche vor dem Hintergrund der Begründungspflicht nicht von Amtes wegen vorzunehmen wäre. Ohnehin dürfte aber keine Gesetzeslücke vorliegen, weil grundsätzlich der Kreditor das Kreditrisiko zu tragen hat und der Gesetzgeber dem Gläubiger nur punktuell Behelfe zur Verfügung stellen wollte (z.B. Art. 497, 524, 578, 579, 594, 609 ZGB sowie
Art. 285 ff. SchKG
).
Eine andere Frage ist, ob der Beschwerdegegner allenfalls das Institut des Erb(verzichts)vertrages missbraucht hat. Sie steht aber, obwohl in der Beschwerde damit vermengt (indem der Verzicht unzutreffend als "antizipierte Ausschlagung" charakterisiert wird), in keinem Zusammenhang mit der Auslegung bzw. Anwendung von
Art. 578 ZGB
und ist deshalb im Folgenden eigenständig zu prüfen.
BGE 138 III 497 S. 504
4.
Die Beschwerdeführerin begründet den Rechtsmissbrauch mit der tautologischen Begründung, der Erbverzichtsvertrag diene nicht dazu, die Erbschaft den Gläubigern des Erben zu entziehen, denn es gäbe
Art. 578 ZGB
nicht, wenn es ein vom Gesetzgeber toleriertes Ziel wäre, die Gläubiger des Erben auf diese Art um ihre Ansprüche zu bringen. Sie führt weiter an, dass der vom Beschwerdegegner 1 erklärte Erbverzicht zugunsten der eigenen Kinder gegen den Redlichkeitsstandard von Treu und Glauben verstosse und ihr Vertrauen verletzt habe; die bewusste Benachteiligung der Gläubiger müsse aber generell als rechtsmissbräuchlich qualifiziert werden.
4.1
Zunächst ist festzuhalten, dass das Eingehen eines Erbverzichtsvertrages im Grundsatz keinen Verstoss gegen Treu und Glauben im Zusammenhang mit der viele Jahre früher eingegangenen Darlehensverpflichtung bedeutet: Nach dem Gesagten trägt prinzipiell der Kreditor das Kreditrisiko und steht es dem Schuldner frei, seine Bonität durch das Eingehen weiterer Schulden, durch Erlass ihm zustehender Forderungen oder durch Verzicht auf prozessuale Durchsetzung derselben zu verschlechtern. Der Hinweis der Beschwerdeführerin auf den in
BGE 125 III 257
E. 2a S. 259 angesprochenen "Redlichkeitsstandard" ist deshalb für die vorliegend zu beurteilende Fallkonstellation nicht topisch, zumal im Zusammenhang mit dem seinerzeitigen Eingehen des Darlehensvertrages und dem Jahre danach abgeschlossenen Erbverzichtsvertrag auch kein venire contra factum proprium ersichtlich ist. Davon könnte höchstens die Rede sein, wenn der Erbverzicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Abschluss des Darlehensvertrages stünde oder darin vom Erbanfall als zukünftige Haftungsbasis die Rede wäre.
Vorliegend steht vielmehr, wie die Beschwerdeführerin ebenfalls vorträgt, der im Sinn von
Art. 2 Abs. 2 ZGB
verpönte Rechtsmissbrauch im Vordergrund, und zwar in der Ausprägungsform des sog. Institutsmissbrauchs (dazu statt vieler: HONSELL, in: Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch, Bd. I, 3. Aufl. 2006, N. 51 zu
Art. 2 ZGB
). Nachfolgend zu prüfen ist mithin, ob der Beschwerdegegner 1 das Institut des Erbverzichtsvertrages in einer derart anderen als der ihm vom Gesetzgeber angedachten Form verwendet hat, dass von Rechtsmissbrauch im Sinn eines Institutsmissbrauchs ausgegangen werden muss.
4.2
Der Erbvertrag ist kein in sich geschlossenes Institut. Er kann höchst unterschiedliche Motive haben (namentlich auch steuerliche) und vielfältige Ausprägung erfahren, sowohl in der Form des
BGE 138 III 497 S. 505
Erbeinsetzungs- (
Art. 494 ZGB
) als auch des Erbverzichtsvertrages (
Art. 495 ZGB
). Betroffen ist in der Regel nicht nur das Verhältnis zwischen Erblasser und erklärendem Vertragspartner, sondern auch dasjenige der Erben untereinander sowie dasjenige zwischen erklärendem Erben und dessen Umfeld. Dass diese einzelnen Rechtsbeziehungen in einem Spannungsfeld stehen und teilweise unbillige Folgen eintreten können, war dem Gesetzgeber durchaus bewusst, weshalb er im Zusammenhang mit den Erbverträgen ebenfalls punktuelle Korrekturmöglichkeiten vorgesehen hat (z.B. Art. 494 Abs. 3, Art. 514, 527, 535 f. und 626 Abs. 2 ZGB).
Vorliegend wurde ein Erbverzichtsvertrag abgeschlossen. Dieser kann entgeltlich (sog. Erbauskauf) oder unentgeltlich erfolgen (statt vieler: BREITSCHMID, in: Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch, Bd. II, 4. Aufl. 2011, N. 3 zu
Art. 495 ZGB
). Sodann stellt
Art. 495 Abs. 3 ZGB
klar, dass der Erbverzichtsvertrag grundsätzlich auch gegenüber den Nachkommen des Verzichtenden wirkt, indes eine andere Parteivereinbarung möglich ist. Ermöglicht aber das Gesetz den unentgeltlichen Verzicht zugunsten der Nachkommen, so ist die vorliegende, von der Beschwerdeführerin als "Missbrauch" angesehene Situation geradezu im Gesetz bzw. im gesetzlich zugelassenen Handlungsspielraum angelegt. Insofern ist nicht zu sehen, inwiefern diesbezüglich von einer Zweckentfremdung des Institutes des Erbverzichtsvertrages gesprochen werden könnte, zumal der Verzicht auf eine Anwartschaft entgegen der Behauptung der Beschwerdeführerin nicht mit der Ausschlagung angefallener Vermögenswerte gleichgesetzt werden kann. So ist denn auch die Lehre, soweit sie sich zum Problem äussert, der Ansicht, dass im Zusammenhang mit Erbverzichtsverträgen kein Schutz der Gläubiger des verzichtenden Erben besteht, selbst wenn der Verzicht ohne Gegenleistung erfolgte (STEINAUER, Le droit des successions, 2006, Rz. 652; BREITSCHMID, op. cit., N. 1 zu
Art. 497 ZGB
).
5.
Im Eventualstandpunkt macht die Beschwerdeführerin einen Herabsetzungsanspruch gemäss
Art. 522 ff. ZGB
geltend. Indes gehen die auf
Art. 524 ZGB
gestützten Rechte des über Verlustscheine verfügenden Erbengläubigers nicht weiter als der Herabsetzungsanspruch, wie er im Rahmen von Art. 522 f. ZGB dem Erben selbst zugestanden hätte. Derjenige, der im Rahmen eines Erbvertrages auf sein Erbe verzichtet hat, wird aber gar nie Erbe, insbesondere auch nicht "Erbe" im Sinn von
Art. 522 Abs. 1 ZGB
, da mit dem Verzicht auf die Erbanwartschaft auch der Pflichtteilsschutz verloren
BGE 138 III 497 S. 506
gegangen ist (BÜTTIKOFER, Der Erbverzicht nach schweizerischem ZGB [...], 1942, S. 88). Entsprechend kann auch sein Gläubiger nicht "Gläubiger des Erben" im Sinn von
Art. 524 ZGB
sein und kraft Legalzession in den Genuss der Herabsetzungsansprüche kommen. Einzig dem nicht verzichtenden Pflichtteilserben - und folglich dessen Gläubiger - könnte mit Bezug auf die vom Verzichtenden empfangene Gegenleistung ein Herabsetzungsanspruch zustehen (vgl.
Art. 527 Ziff. 2 ZGB
).
6.
Die Beschwerdeführerin macht eine Schenkungspauliana geltend, in welcher Hinsicht die doppelte Frist von Art. 286 Abs. 1 i.V.m.
Art. 288a Ziff. 4 SchKG
einerseits und von
Art. 292 Ziff. 1 SchKG
andererseits unbestrittenermassen eingehalten ist. Sodann können die paulianischen Anfechtungsklagen zusätzlich zu den erbrechtlichen Anfechtungsansprüchen geltend gemacht werden, wie bereits aus der Botschaft zum SchKG hervorgeht (dazu E. 6.3; vgl. sodann die Zusammenstellung der die Frage kontrovers behandelnden Literatur bei GÜBELI, a.a.O., S. 103 Fn. 3).
6.1
Die Anfechtungsklage richtet sich gegen die Personen, die mit dem Schuldner die anfechtbaren Rechtsgeschäfte abgeschlossen haben oder von ihm in anfechtbarer Weise begünstigt wurden. Pasivlegitimiert sind deshalb stets die tatsächlich begünstigten Personen, also diejenigen, denen die fraglichen Vermögenswerte aufgrund der anfechtbaren Rechtshandlung zugeflossen sind (
BGE 135 III 265
E. 3 S. 268). Demzufolge ist der Beschwerdegegner 1 vorliegend nicht passivlegitimiert.
6.2
In der Sache selbst hat das Obergericht erwogen, dass der Erbverzicht zugunsten der beiden Söhne keine Schenkung darstelle, weil diese nach der Legaldefinition von
Art. 239 Abs. 1 OR
"aus seinem Vermögen" erfolgen müsste, was beim Erbverzicht nicht der Fall sei. Sodann mache gemäss
Art. 239 Abs. 2 OR
keine Schenkung, wer auf ein Recht verzichte, bevor er es erworben habe, oder eine Erbschaft ausschlage; bewirke aber nicht einmal die Ausschlagung eine Schenkung, so könne dies umso weniger beim Erbverzicht der Fall sein.
Was die Beschwerdeführerin dagegen vorbringt - die Erblasserin hätte die Beschwerdegegner 2 und 3 ebenso gut per Testament einsetzen können, statt dass der Beschwerdegegner 1 zu deren Gunsten verzichtet habe; aus diesem Grund habe dieser faktisch verfügt und stellte der Erbverzichtsvertrag eine Schenkung zugunsten seiner
BGE 138 III 497 S. 507
beiden Söhne dar -, überzeugt nicht. Der Erbverzicht verhindert die zukünftige Entstehung des Erbrechts der verzichtenden Partei; er betrifft mithin nicht ein gegenwärtiges, sondern ein zukünftiges Recht (HRUBESCH-MILLAUER, Der Erbvertrag: Bindung und Sicherung des [letzten] Willens des Erblassers, 2008, Rz. 619). Er bewirkt daher als solcher keine Vermögensverschiebung, weshalb die Kriterien der Legaldefinition der Schenkung nicht erfüllt sind.
6.3
Zu prüfen ist weiter die Frage, ob der Erbverzicht zugunsten der beiden Söhne als "unentgeltliche Verfügung" im Sinn von
Art. 286 SchKG
anzusehen ist.
Das Obergericht hat befunden, dass es bei
Art. 285 ff. SchKG
um die Entäusserung bereits zustehenden Haftungssubstrates gehe. Es sei dem Schuldner grundsätzlich möglich, den Erwerb neuen Vermögens zu unterlassen oder auf die Anfechtung einer Enterbung zu verzichten. Die geltende Rechtsordnung sehe in diesem Zusammenhang keinen Schutz der Gläubiger des präsumtiven Erben vor, soweit nicht der Anspruch des Erben auf eine angefallene Erbschaft erworben oder gepfändet worden sei (
Art. 609 ZGB
) oder die Erbschaft durch einen überschuldeten Erben mit dem Zweck ausgeschlagen werde, dass sie seinen Gläubigern entzogen bleibe (
Art. 578 ZGB
).
Die Beschwerdeführerin ist der Ansicht, dass der Begriff der unentgeltlichen Verfügung wesentlich über denjenigen der Schenkung hinausgehe und nach dem Willen des Gesetzgebers insbesondere auch der Erbverzicht anfechtbar sei. Sie verweist dazu auf die Botschaft zum Entwurf für ein SchKG, wonach auch der Verzicht auf zustehende Ansprüche sowie "Erbschaftsentsagungen" unentgeltliche Verfügungen seien.
Der Entwurf des SchKG sah in Art. 41 ff. verschiedene Bestimmungen über die Anfechtungsklage vor, wobei gemäss Art. 45 Abs. 1 "Schenkungen und anderweitige unentgeltliche Verfügungen" anfechtbar sein sollten (BBl 1886 II 92). Die Botschaft des Bundesrates hatte in diesem Zusammenhang nebst dem Verzicht auf zustehende Rechte auch "Erbschaftsentsagungen" als Beispiel für eine unentgeltliche Verfügung angeführt (BBl 1886 II 58). Damit war aber nicht der Erbverzicht, sondern die Ausschlagung der Erbschaft gemeint. Dies wird vollends klar aus der französischen Fassung der Botschaft, wo von "répudiations d'héritage" die Rede ist (FF 1886 II 55). Im Sinn des später erlassenen ZGB kann deshalb nur die "répudiation" gemäss Art. 566 ff. und nicht die "renonciation à
BGE 138 III 497 S. 508
succession" im Sinn von Art. 495 Abs. 1 gemeint sein. In der Tat ist denn die Ausschlagung einer werthaltigen Erbschaft, nicht aber der Verzicht auf die Erbenstellung als unentgeltliche Verfügung im Sinn von
Art. 286 SchKG
anzusehen, wie die folgenden Ausführungen zeigen.
Die Lehre ist sich nicht ganz einig darüber, ob die "unentgeltliche Verfügung" begrifflich wesentlich über die "Schenkung" hinausgehe oder ob einfach auch entsprechende einseitige Rechtsgeschäfte erfasst sein sollen. Für den vorliegend zu beurteilenden Fall ist aber nicht zu sehen, inwiefern dies eine Rolle spielen könnte; aus der Gesetzessystematik ergibt sich vielmehr, dass es bei beiden Spielarten um gläubigerschädigende Liberalität des Schuldners geht. Die bundesgerichtliche Rechtsprechung fusst deshalb auf der Prämisse, dass eine unentgeltliche Verfügung im Sinn von
Art. 286 ZGB
vorliegt, wenn der Schuldner eine Leistung erbringt oder eine Verpflichtung eingeht, mithin eine Beschwerung seines Vermögens vollzieht, ohne dass er hierzu rechtlich verpflichtet wäre und ohne dass er hierfür eine Gegenleistung erhielte (ausführlich
BGE 31 II 350
E. 3 S. 351 f.; sodann
BGE 95 III 47
E. 2 S. 51 f.). Angesprochen ist damit die sog. Zuwendung, also die Rechtshandlung, durch welche jemand einem anderen einen Vorteil verschafft, der in einer Vergrösserung des Vermögens oder in der Abwendung einer drohenden Vermögensverminderung besteht (vgl. dazu VON TUHR/PETER, Allgemeiner Teil des Schweizerischen Obligationenrechts, Bd. I, 1979, S. 198 ff.). Es geht bei
Art. 286 SchKG
mithin um Leistungen oder Verpflichtungen, die zu einer Verminderung der Aktiven oder der Vermehrung der Passiven führen (STAEHELIN, Die Anfechtungsklagen, BlSchK 1997 S. 83). Solche Vermögensdispositionen sind nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung beispielsweise gegeben beim Eingehen einer Bürgschaft, weil die Regressforderung jedenfalls wirtschaftlich keine adäquate Gegenleistung darstellt (
BGE 31 II 350
E. 4 S. 352 f.), bei der Pfandbestellung für eine fremde Schuld (
BGE 49 III 27
), bei der Zahlung oder Sicherstellung einer fremden Schuld (
BGE 95 III 47
) sowie gegebenenfalls bei der unwiderruflichen Begünstigung eines Dritten aus einer Personenversicherung (
BGE 34 II 394
E. 5 S. 400;
64 III 85
E. 1 S. 88; vgl. auch
Art. 82 VVG
).
Der Verzicht auf die Erbenstellung ist keine solche Leistung oder Verpflichtung. Zwar lässt sich eine Literaturstelle ausfindig machen, wonach der Erbverzicht zugunsten Dritter eine unentgeltliche Verfügung im Sinn von
Art. 286 SchKG
darstelle (BÜTTIKOFER, a.a.O.,
BGE 138 III 497 S. 509
S. 141). Diese nicht weiter begründete Auffassung übergeht aber das Kernelement, dass der präsumtive Erbe beim Erbverzicht weder in rechtlicher noch in wirtschaftlicher Hinsicht über einen Vermögenswert disponiert, dies im Unterschied zur Ausschlagung, die in der Literatur zu Recht als Beispiel einer unentgeltlichen Verfügung aufgeführt wird (z.B. BLUMENSTEIN, Handbuch des Schweizerischen Schuldbetreibungsrechtes, 1911, S. 877; SCHÜPBACH, Droit et action révocatoires, 1997, N. 38 zu
Art. 286 SchKG
). Die Ausschlagung einer (werthaltigen) Erbschaft bedeutet nämlich insofern eine unentgeltliche Verfügung zugunsten Dritter, als eine kraft Universalsukzession eo ipso angefallene Vermögensposition (vgl.
Art. 560 Abs. 1 ZGB
) aufgegeben wird und bei den anderen Erben zu einem entsprechenden Vermögenszuwachs führt. Hier lässt sich ohne weiteres von einer Zuwendung sprechen, die jedenfalls wirtschaftlich aus dem Vermögen des Ausschlagenden erfolgt, und sie führt gleichzeitig gegenüber dem Gläubiger des ausschlagenden Erben zu einem im Sinn von
Art. 285 Abs. 1 SchKG
verpönten "Entzug von Vermögenswerten". Der Verzicht auf die Erbenstellung, selbst wenn er in Abweichung zur Vermutung von
Art. 495 Abs. 3 ZGB
zugunsten der Nachkommen erfolgt, bedeutet aber nicht nur juristisch keine Disposition über das eigene Vermögen (vgl. E. 3.3), sondern führt auch wirtschaftlich zu keiner Vermögensverschiebung vom Präsumtiverben zu seinen Nachkommen, da weder auf ein Aktivum verzichtet noch ein solches verschafft wird; die Grosskinder erhalten einzig ein Erbrecht und damit die Anwartschaft, dereinst direkt in das erblasserische Vermögen zu sukzedieren.
7.
Die Beschwerdeführerin macht weiter eine Absichtspauliana geltend. Auch in dieser Hinsicht ist die doppelte Frist eingehalten, kann indes der Beschwerdegegner 1 nicht als passivlegitimiert angesehen werden.
7.1
Im angefochtenen Entscheid wurde festgehalten, dass die Absichtspauliana erst vor Obergericht geltend gemacht worden sei und es an einem rechtzeitig vorgebrachten Sachverhalt fehle, der auf eine Anwendung von
Art. 288 SchKG
schliessen lasse bzw. für eine entsprechende Prüfung überhaupt Anlass geben könnte, müsste doch die Schädigungs- bzw. Benachteiligungsabsicht des Schuldners für die Begünstigten erkennbar gewesen sein, und zwar zur Zeit der Vornahme der anfechtbaren Handlung. Solche Vorbringen seien vor erster Instanz nicht gemacht worden, und den entsprechenden obergerichtlichen Behauptungen stünden diejenigen der
BGE 138 III 497 S. 510
Beschwerdegegner 2 und 3 gegenüber, dass sie am Erbverzicht nicht beteiligt gewesen seien und davon keine Kenntnis gehabt hätten.
7.2
Diesen Ausführungen versucht die Beschwerdeführerin zu begegnen mit dem Vorbringen, im Vater-Sohn-Verhältnis müsse eine natürliche Vermutung gelten, dass der Begünstigte die effektiv vorhandene schlechte Vermögenslage des Schuldners gekannt habe, zumal diese Vermutung im deutschen Recht für die Begünstigung naher Angehöriger im Gesetz sogar ausdrücklich geregelt sei.
7.3
Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu
Art. 288 SchKG
ist in Würdigung sämtlicher Gegebenheiten des konkreten Einzelfalls zu beurteilen, ob der Begünstigte die Schädigungsabsicht des Schuldners im Zeitpunkt der Vornahme der anfechtbaren Handlung wirklich erkannt hat oder bei pflichtgemässer Sorgfalt hätte erkennen können und müssen, dass als natürliche Folge der angefochtenen Handlung möglicherweise eine Gläubigerschädigung eintritt. Hiermit wird aber keine unbeschränkte Erkundigungspflicht aufgestellt; nur wenn deutliche Anzeichen für eine Gläubigerbegünstigung bzw. -benachteiligung bestehen, darf vom Begünstigten eine sorgfältige Prüfung verlangt werden (
BGE 134 III 4
E. 4.2 S. 456;
BGE 135 III 265
E. 2 S. 267). Indes gilt unter nahen Verwandten und Ehegatten eine natürliche Vermutung, dass der Begünstigte die wirklich vorhandene schlechte Vermögenslage des Schuldners kannte (vgl.
BGE 40 III 293
E. 2 S. 298; Urteil 5A_747/2010 vom 23. Februar 2011 E. 4.3). Als Folge der Vermutung muss der Anfechtungsgläubiger lediglich den Abschluss eines Vertrages mit dem nahen Angehörigen beweisen (STAEHELIN, in: Basler Kommentar, Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs, Bd. I, 2. Aufl. 2010, N. 20 zu
Art. 288 SchKG
).
Die in der vorstehend aufgeführten bundesgerichtlichen Rechtsprechung aufgestellte Vermutung bezog sich stets auf Rechtsgeschäfte, an denen der Begünstigte direkt beteiligt war und ihn deshalb der Vorwurf traf, dass er im Zusammenhang mit dem Abschluss des Rechtsgeschäftes jedenfalls nähere Erkundigungen hätte tätigen müssen. So ging es bei
BGE 40 III 293
um eine Forderungszession, bei welcher der insolvente Schuldner seinem Bruder, mit dem er in engstem Verhältnis stand und detaillierte Korrespondenz führte, einen Titel abgetreten hatte, und beim Urteil 5A_747/2010 ging es um einen Schenkungsvertrag, mit welchem der bedrängte Schuldner zwei in seinem Alleineigentum stehende Liegenschaften
BGE 138 III 497 S. 511
(Wohnhäuser mit Garagengebäuden) durch unentgeltliche Übertragung auf seine Ehefrau dem Zugriff der Gläubiger zu entziehen suchte. Demgegenüber waren die Söhne vorliegend am angefochtenen Rechtsgeschäft, durch welches sie potenziell begünstigt wurden, gerade nicht beteiligt. Während sich bei Ehegatten aufgrund der tatsächlichen Lebensgemeinschaft und der ökonomischen Verbundenheit allenfalls der Standpunkt vertreten liesse, der Abschluss eines Erbverzichtsvertrages habe dem anderen Ehegatten trotz der Tatsache, dass er am betreffenden Geschäft nicht beteiligt war, ebenso wenig verborgen bleiben können wie die desolate Finanzlage, weil hierüber zwischen Ehegatten naturgemäss Gespräche geführt würden, lässt sich solches mit Bezug auf erwachsene Söhne nicht behaupten. Damit die vorerwähnte Vermutung im Vater-Sohn-Verhältnis auch mit Bezug auf Rechtsgeschäfte, an welchen diese nicht beteiligt waren, greifen könnte, müsste die Beschwerdeführerin zumindest konkrete Anhaltspunkte liefern, die Anlass zur Annahme geben könnten, dass die Begünstigten um die betreffenden Sachumstände wussten oder bei pflichtgemässer Sorgfalt hätten wissen müssen, denn grundsätzlich ist der Anfechtungsgläubiger für alle drei Tatbestandsmerkmale der Absichtspauliana beweispflichtig (
BGE 134 III 452
E. 2 S. 454;
BGE 136 III 247
E. 3 S. 250;
BGE 137 III 268
E. 3 und 4 S. 282). Solche Anhaltspunkte - wie sie im Übrigen auch bei
BGE 40 III 293
und beim Urteil 5A_747/2010 vom Anfechtungsgläubiger geliefert worden waren - hat die Beschwerdeführerin im kantonalen Verfahren nach den Feststellungen des Obergerichts nicht bzw. nicht rechtzeitig vorgebracht; zum Verhältnis zwischen Vater und Söhnen ist aus dem angefochtenen Urteil nicht das Geringste bekannt.
Eine Verletzung von
Art. 8 ZGB
, wie die Beschwerdeführerin sie moniert, ist deshalb in der vorliegend zu beurteilenden Konstellation nicht ersichtlich. Vor dem Hintergrund der unbewiesenen Erkennbarkeit kann im Übrigen offenbleiben, ob die übrigen Tatbestandsmerkmale von
Art. 288 SchKG
erfüllt wären. | 13,326 | 5,385 | 2 | 0 | CH_BGE_005 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_005_BGE-138-III-497_2012-05-16 | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=19&from_date=&to_date=&from_year=2012&to_year=2012&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=188&highlight_docid=atf%3A%2F%2F138-III-497%3Ade&number_of_ranks=309&azaclir=clir | BGE_138_III_497 |
|||
ecf4ab2f-82ff-4ec4-9100-2e57e71143d7 | 1 | 84 | 1,353,822 | null | 2,024 | de | Sachverhalt
ab Seite 163
BGE 108 V 163 S. 163
A.-
Der 1936 geborene, ledige Franz Zähner war von 1963 bis Mitte August 1980 als spezialisierter Lehrer am Institut für sehbehinderte und blinde Kinder "Sonnenberg" in Freiburg tätig, ohne indessen im Besitz eines Lehrerdiploms zu sein. Als das Institut nach Baar verlegt wurde, lehnte er die Weiterbeschäftigung am neuen Ort ab mit der Begründung, er wolle Freiburg, wo er ein Haus erworben und sich eingelebt habe, nicht verlassen. Aus diesem Grund wurde das Arbeitsverhältnis auf den 15. August 1980 beendet. Angesichts der Schwierigkeiten, als spezialisierter Pädagoge ohne Primarlehrerpatent eine Stelle zu finden, begann Franz Zähner im Sommer 1980 einen AKAD-Fernkurs kaufmännischer Richtung. Am 21. Juni 1980 ersuchte er die Arbeitslosenversicherung um Ausrichtung von Taggeldern während des Kurses, welcher im Februar 1981 durch den Erwerb eines Fachzertifikates abgeschlossen werden sollte. Mit Verfügung vom 25. September 1980 (Zweifelsfall-Entscheid) verneinte jedoch die Kantonale
BGE 108 V 163 S. 164
Abteilung für Arbeitslosenversicherung die Anspruchsberechtigung, da einerseits der Versicherte nicht vermittlungsfähig sei und anderseits der fragliche Lehrgang nicht als Umschulungs- oder Weiterbildungskurs im Sinne von
Art. 26 AlVV
anerkannt werden könne.
B.-
Die vom Versicherten hiegegen erhobene Beschwerde wies die Rekurskommission in Arbeitslosenversicherungssachen des Kantons Freiburg mit Entscheid vom 23. März 1981 ab.
C.-
Franz Zähner führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, es seien ihm, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides und der angefochtenen Verwaltungsverfügung, für die Dauer seiner Weiterbildung die gesetzlichen Leistungen zu gewähren.
Während die Kantonale Abteilung für Arbeitslosenversicherung sinngemäss auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit auf eine Vernehmlassung. | 801 | 312 | Erwägungen
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Der Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung setzt einen anrechenbaren Verdienstausfall voraus (Art. 24 Abs. 2 lit. c in Verbindung mit Art. 26 bis 28 AlVG). Zu den Voraussetzungen der Anrechenbarkeit gehört u.a. die Vermittlungsfähigkeit während der Dauer des Arbeitsausfalls (
Art. 26 Abs. 1 AlVG
). Dieses Erfordernis entfällt für die Zeit, während welcher der Versicherte einen Umschulungs- oder Weiterbildungskurs im Sinne der
Art. 26 Abs. 3 lit. b AlVG
in Verbindung mit
Art. 26 AlVV
besucht. Nach
Art. 26 Abs. 2 AlVV
kann die zuständige kantonale Amtsstelle, falls ein Versicherter von sich aus einen Umschulungs- oder Weiterbildungskurs besucht, den Verdienstausfall als anrechenbar erklären, wenn der Besuch des Kurses die Vermittlungsfähigkeit fördert und wenn anzunehmen ist, dass der Versicherte während des Kurses arbeitslos wäre oder ohne Umschulung oder Weiterbildung von Arbeitslosigkeit bedroht würde. Diese Voraussetzungen müssen kumulativ erfüllt sein (ARV 1979 Nr. 21 S. 112 mit Hinweis).
2.
a) In der angefochtenen Verfügung wird dem Beschwerdeführer angelastet, er hätte an den neuen Standort seines bisherigen Arbeitgebers übersiedeln und dadurch seine Stelle beibehalten können, womit sich eine Umschulung erübrigt hätte.
BGE 108 V 163 S. 165
Richtig ist, dass gemäss dem im Sozialversicherungsrecht geltenden Grundsatz der Schadenminderungspflicht ein Versicherter gehalten ist, alles ihm Zumutbare vorzukehren, um den Eintritt des Versicherungsfalles zu verhüten (vgl. z.B. ARV 1981 Nr. 29 S. 126). Deshalb ist vom Arbeitnehmer eine gewisse (geographische) Mobilität zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit zu verlangen. Es überschreitet aber den Rahmen des Zumutbaren, wenn vom Beschwerdeführer gefordert wird, dass er - obwohl seit 17 Jahren in Freiburg verwurzelt und dort Eigentümer eines Hauses - in eine andere Region umziehen soll, und zwar für eine ganz spezielle Beschäftigung, welche von einem einzigen Arbeitgeber angeboten wird und daher - längerfristig gesehen - eine recht unsichere Existenzbasis darstellt.
b) Die Vorinstanz wirft dem Beschwerdeführer vor, er habe sich nur ungenügend, nämlich zweimal, um Stellen beworben, und zwar ausserhalb des Schulbereiches; es könne deshalb nicht gesagt werden, im bisherigen Beruf seien keine Arbeitsmöglichkeiten vorhanden. Dem ist die Bestätigung der Erziehungsdirektion vom 9. September 1981 entgegenzuhalten, wonach in den Jahren 1980 und 1981 für die Primarschulvakanzen nur Bewerber mit freiburgischem Primarlehrerdiplom berücksichtigt worden seien. Im übrigen ist es unwahrscheinlich, dass der Beschwerdeführer, welcher sich nach der Maturität in langjähriger Praxis als Lehrer an einer Blindenschule spezialisierte, anderweitig eine Lehrerstelle oder sonstwie eine angemessene, dauerhafte Beschäftigung hätte finden können. Unter diesen Umständen und im Hinblick auf die verbleibende beträchtliche Aktivitätsperiode von etwa 20 Jahren war es offensichtlich die vernünftigste Lösung, dass sich der Beschwerdeführer sofort zu einer Umschulung entschloss.
c) Verwaltung und Vorinstanz vertreten schliesslich die Ansicht, bei dem vom Beschwerdeführer gewählten kaufmännischen Lehrgang in den Fächern Buchhaltung, Rechts- und Steuerkunde handle es sich um eine "völlig neue Grundausbildung".
Nach der Rechtsprechung sind die Grundausbildung und die allgemeine Förderung der beruflichen Weiterbildung nicht Sache der Arbeitslosenversicherung. Deren Aufgabe ist es lediglich, in gewissen Fällen durch konkrete Eingliederungs- oder Weiterbildungsmassnahmen eine bestehende Arbeitslosigkeit zu bekämpfen oder eine drohende Arbeitslosigkeit zu verhindern. Dabei muss es sich um Vorkehren handeln, welche dem Versicherten erlauben, sich dem industriellen und technischen Fortschritt anzupassen
BGE 108 V 163 S. 166
(
BGE 108 V 100
,
BGE 104 V 118
Erw. 1 mit Hinweis, vgl. auch
BGE 99 V 51
; ARV 1981 Nr. 9 S. 45 Erw. 1 mit weiterem Hinweis, 1979 Nr. 21 S. 111 Erw. 3a). Nicht als Eingliederungsmassnahme im Sinne der Arbeitslosenversicherung, sondern als Grundausbildung qualifizierte das Eidg. Versicherungsgericht beispielsweise das Medizin-, das Architektur- und das Ökonomiestudium (
BGE 104 V 119
Erw. 2, 103 V 106 Erw. 2; ARV 1980 Nr. 26 S. 53). Ebensowenig ist die Vervollständigung der Arztausbildung durch die Absolvierung unbezahlter medizinischer Praktika als Weiterbildungskurs im Sinne von
Art. 26 AlVV
anerkannt worden (nicht veröffentlichtes Urteil Blanc vom 8. Januar 1980). Offengelassen hat das Gericht die Frage bezüglich eines dreimonatigen Deutschsprachkurses (nicht veröffentlichtes Urteil Rebolledo vom 4. Juli 1980). Es ist einzuräumen, dass die Grenze zwischen Grund- und allgemeiner beruflicher Weiterausbildung einerseits, Umschulung und Weiterbildung im arbeitslosenversicherungsrechtlichen Sinne anderseits fliessend ist, weil ein und dieselbe Vorkehr beiderlei Merkmale aufweisen kann. Entscheidend ist, welche Aspekte im konkreten Fall unter Würdigung aller Umstände überwiegen. Vorliegend ist von Bedeutung, dass der Beschwerdeführer durch den gezielten, ergänzenden Erwerb bestimmter kaufmännischer Kenntnisse in die Lage versetzt wird, seine bereits vorhandenen beruflichen Fähigkeiten ausserhalb der angestammten engen Tätigkeit als spezialisierter Lehrer auf dem Arbeitsmarkt zu verwerten. Die strittige Vorkehr ist auch geeignet, dem Beschwerdeführer eine im Vergleich zu seiner früheren Position bildungsmässig, sozial und wirtschaftlich annähernd gleichwertige berufliche Stellung zu sichern. Schliesslich handelt es sich beim AKAD-Kurs, welcher wohl die Aneignung gewisser Kenntnisse auf einem neuen Berufsgebiet umfasst, nicht um eine eigentliche, längerfristige neue Berufsausbildung, sondern nur um einen zeitlich befristeten Kurs (August 1980 bis Februar 1981), was ebenfalls für den Charakter einer arbeitslosenversicherungsrechtlichen Umschulung spricht (vgl.
BGE 103 V 106
Erw. 1 in fine).
3.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass der begonnene Lehrgang im Hinblick auf das erwähnte Umschulungsziel des Beschwerdeführers den Anforderungen von
Art. 26 Abs. 2 AlVV
entspricht. Die Öffentliche Arbeitslosenkasse der Stadt Freiburg, an welche die Sache zurückgewiesen wird, hat noch zu prüfen, ob der fragliche Fernkurs als solcher die Voraussetzungen einer systematischen, genügend überprüfbaren Umschulung in den Fächern
BGE 108 V 163 S. 167
Buchhaltung, kaufmännische Rechts- und Steuerkunde bietet und ob sich der Beschwerdeführer dem Lehrgang ordnungsgemäss unterzogen hat (vgl. ARV 1981 Nr. 9 S. 46, 1978 Nr. 28 S. 114). Daraufhin sind gegebenenfalls die auf die fragliche Zeit entfallenden Taggelder festzusetzen. | 2,894 | 1,104 | Dispositiv
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid der Rekurskommission in Arbeitslosenversicherungssachen des Kantons Freiburg vom 23. März 1981 und die Verfügung der Kantonalen Abteilung für Arbeitslosenversicherung vom 25. September 1980 aufgehoben werden und die Sache an die Öffentliche Arbeitslosenversicherung der Stadt Freiburg zurückgewiesen wird, damit diese, nach Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den Taggeldanspruch neu verfüge. | 225 | 77 | CH_BGE_007 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_007_BGE-108-V-163_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=13&from_date=&to_date=&from_year=1982&to_year=1982&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=129&highlight_docid=atf%3A%2F%2F108-V-163%3Ade&number_of_ranks=398&azaclir=clir | BGE_108_V_163 |
||
ecfa9829-a002-4240-8801-8689a4265e85 | 1 | 82 | 1,354,546 | 1,442,880,000,000 | 2,015 | de | 2 | 0 | Erwägungen
ab Seite 427
BGE 141 III 426 S. 427
Aus den Erwägungen:
2.
Die Vorinstanz legte dem Beschwerdeführer 1 gestützt auf
Art. 107 Abs. 1 lit. f ZPO
persönlich sämtliche zweitinstanzlichen Verfahrenskosten auf. Sie führte dazu aus, der Beschwerdeführer 1 habe mit seinem Verhalten den ganzen Prozess zu verantworten. Im Zeitpunkt des Generalversammlungsbeschlusses vom 15. August 2011 sei er gemäss Handelsregisterauszug nicht einmal im Verwaltungsrat der Gesellschaft gewesen, sondern habe als Aussenstehender eine Generalversammlung abgehalten. Es sei offensichtlich, dass er sich nicht für die Interessen der Gesellschaft, sondern ausschliesslich für seine eigenen eingesetzt habe. Der Beschwerdegegner seinerseits habe nicht gegen den Beschwerdeführer 1 klagen können, sondern habe gegen die Beschwerdeführerin 2 vorgehen müssen, da diese zwingend passivlegitimiert gewesen sei. Bei dieser Sachlage wäre es äusserst unbillig gewesen, die Kosten für das Verfahren betreffend Anfechtung der Generalversammlungsbeschlüsse der Gesellschaft (Beschwerdeführerin 2) aufzuerlegen.
(...)
2.3
Der Beschwerdeführer 1 rügt sodann, die Vorinstanz habe
Art. 107 Abs. 1 lit. f ZPO
verletzt, indem sie die Kostenauflage an ihn auf diese Bestimmung gestützt habe, obwohl er im erstinstanzlichen Verfahren nicht Partei gewesen sei und die genannte Bestimmung eine Kostenauflage an Dritte nicht zulasse. Diese Rüge lässt sich auch auf die vorinstanzliche Kostenverlegung beziehen, nachdem sich ergeben hat, dass der Beschwerdeführer 1 (auch) im vorinstanzlichen Verfahren nicht Partei war. Sie erweist sich überdies als begründet.
Art. 106 ZPO
sieht als Regel die Kostenverteilung unter den Prozessparteien nach ihrem Obsiegen und Unterliegen im Prozess vor (vgl.
BGE 140 III 30
E. 3.5 S. 34,
BGE 140 III 501
E. 4.1.1;
BGE 139 III 475
E. 3.3 S. 475). Im Anschluss daran erlaubt die Bestimmung von
Art. 107 ZPO
, aus besonderen Gründen vom Unterliegerprinzip abzuweichen, wobei
Art. 107 Abs. 1 lit. f ZPO
eine solche abweichende Kostenverteilung ermöglicht, wenn "andere besondere Umstände" (als die in lit. a-e aufgezählten) vorliegen, die eine Verteilung nach dem Ausgang des Verfahrens als unbillig erscheinen lassen. Auch kommt aus Billigkeitsgründen die Kostenauflage an den Kanton in Betracht (
Art. 107 Abs. 2 ZPO
), wenn die zur Kassation und Rückweisung führenden Mängel, wie etwa eine Rechtsverzögerung, weder einer Partei noch Dritten angelastet werden können (
BGE 139 III 358
E. 3 S. 360; Urteil 4A_364/2013 vom 5. März 2014 E. 15.4).
BGE 141 III 426 S. 428
Weder der Wortlaut von
Art. 107 ZPO
noch seine systematische Stellung im Gesetz als Ausnahmebestimmung im Anschluss an den in
Art. 106 ZPO
statuierten Grundsatz, dass die Kosten unter den Verfahrensparteien nach dem Erfolgsprinzip verteilt werden, erlauben den Schluss, dass diese Ausnahmebestimmung auch als Grundlage für eine Kostenauflage an einen Dritten herangezogen werden kann. Anhaltspunkte dafür lassen sich ebenso wenig den Gesetzesmaterialien entnehmen (Botschaft vom 28. Juni 2006 zur Schweizerischen Zivilprozessordnung, BBl 2006 7221, 7298 zu Art. 105 E-ZPO; DENIS TAPPY, in: CPC, Code de procédure civile commenté, Bohnet und andere [Hrsg.], 2011, N. 2 zu
Art. 107 ZPO
) und eineentsprechende Auffassung wird, soweit ersichtlich, in der Literatur nirgends vertreten. Die Kommentatoren der ZPO nehmen vielmehr einhellig an, dass
Art. 107 ZPO
nur die Kostenverteilung unter den Prozessparteien regelt (so insb. DAVID JENNY, in: Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO],Sutter-Somm und andere [Hrsg.], 2. Aufl.2013, N. 24 zu
Art. 107 ZPO
; ALEXANDER FISCHER, in: Schweizerische Zivilprozessordnung, Baker & McKenzie [Hrsg.], 2010, N. 1 zuArt. 107 ZPO). Davon gehen auch verschiedene Autoren aus, die kritisieren, dass im Zuge der Inkraftsetzung der ZPO der aArt. 756 Abs. 2 OR aufgehoben wurde (AS 2010 1739, 1842), der bei einer Verantwortlichkeitsklage eines Aktionärs auf Leistung an die Gesellschaft eine ermessensweise Auferlegung von Kosten, die nicht vom Beklagten zu tragen waren, an die Gesellschaft ermöglichte; denn
Art. 107 ZPO
erlaube es nicht, Kosten der Gesellschaft aufzuerlegen, weil diese in entsprechenden Verfahren gar nicht Partei sei (PETER BÖCKLI, Schweizer Aktienrecht, 4. Aufl. 2009, § 18 Rz. 232a; JENNY, a.a.O., N. 24 zu
Art. 107 ZPO
; GERICKE/WALLER, in: Basler Kommentar, Obligationenrecht, Bd. II, 4. Aufl. 2012, N. 15a zu
Art. 756 OR
). Der Gesetzgeber nahm sich dieses Problems an und sieht die Einführung einer neuen Spezialbestimmung (
Art. 107 Abs. 1
bis
ZPO
) vor, welche die Kostenauflage an einen Dritten erlaubt, indem sie dem Richter wieder die Möglichkeit einräumt, die Prozesskosten bei Abweisung gesellschaftsrechtlicher Klagen, die auf Leistung an die Gesellschaft lauten, nach Ermessen auf die Gesellschaft und die klagende Partei zu verteilen (vgl. dazu JENNY, a.a.O., N. 24 zu
Art. 107 ZPO
; GERICKE/WALLER, a.a.O., N. 15a zu
Art. 756 OR
).
Es ist damit festzuhalten, dass
Art. 107 Abs. 1 ZPO
einzig die vom Grundsatz gemäss
Art. 106 ZPO
abweichende Verteilung der Kosten unter den Prozessparteien regelt. Die Vorinstanz hätte dem
BGE 141 III 426 S. 429
Beschwerdeführer 1 als Drittem die Verfahrenskosten nicht gestützt auf diese Bestimmung auferlegen dürfen.
2.4
Dies führt allerdings noch nicht zur Gutheissung der Beschwerde in diesem Punkt. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (
Art. 106 Abs. 1 BGG
). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann eine Beschwerde mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (vgl.
BGE 140 V 136
E. 1.1;
BGE 135 III 397
E. 1.4;
BGE 130 III 136
E. 1.4 S. 140).
Nachfolgend ist zu prüfen, ob sich die von der Vorinstanz vorgenommene Kostenverlegung auf der Grundlage der von ihr festgestellten Tatsachen - entsprechend der im erstinstanzlichen Entscheid vom 10. Dezember 2013 vertretenen Auffassung - auf die Bestimmung von
Art. 108 ZPO
stützen lässt und diesfalls im Ergebnis kein Bundesrecht verletzt.
2.4.1
Nach
Art. 108 ZPO
hat unnötige Prozesskosten zu bezahlen, wer sie verursacht hat. Das Gesetz statuiert damit für unnötige Kosten das Verursacherprinzip (Botschaft zur ZPO, a.a.O., S. 7298 zu Art. 106). Eine praktisch gleichlautende Bestimmung enthält bzw. enthielt
Art. 66 Abs. 3 BGG
und
Art. 156 Abs. 6 OG
(BS 3 531). Die dazu ergangene Rechtsprechung kann bei der Auslegung von
Art. 108 ZPO
berücksichtigt werden (so TAPPY, a.a.O., N. 3 zu
Art. 108 ZPO
).
2.4.2
Der Beschwerdeführer 1 stellt zu Recht nicht in Frage, dass gestützt auf diese Bestimmung mit ihrer offenen Umschreibung des Normadressaten ("wer"; im französischen Gesetzestext: "à la charge de la personne"; im italienischen Text: "a carico di chi") auch Dritte, die nicht Parteien des Prozesses waren, zur Bezahlung von Prozesskosten verpflichtet werden können (vgl. dazu für viele: FISCHER, a.a.O., N. 3 zu
Art. 108 ZPO
; MARTIN H. STERCHI, in: Berner Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, Bd. I, 2012, N. 1 zu
Art. 108 ZPO
; VIKTOR RÜEGG, in: Basler Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, 2. Aufl. 2013, N. 2 zu
Art. 108 ZPO
; TAPPY, a.a.O., N. 13 zu
Art. 108 ZPO
; BERNARD CORBOZ, in: Commentaire de la LTF, Corboz und andere [Hrsg.], 2. Aufl. 2014, N. 17 ff. zu
Art. 66 BGG
). Er hält indessen dafür, es sei dazu ein grobes Verschulden des Dritten erforderlich. Überdies könne
Art. 108 ZPO
nur für Kosten zur Anwendung kommen, die bei Wahrung der
BGE 141 III 426 S. 430
gehörigen Sorgfalt vermeidbar gewesen wären, ohne dass sich am Ausgang des Verfahrens etwas geändert hätte, und die durch ein vorwerfbares Verhalten eines Dritten zusätzlich zu den üblichen Prozesskosten entstanden seien. Um einen solchen Fall drehe es sich hier nicht, leite die Vorinstanz die Kostenpflicht des Beschwerdeführers 1 doch aus der Abhaltung einer Generalversammlung als Aussenstehender, mithin aus einem völlig ausserhalb des Verfahrens stehenden Verhalten ab. Das Verfahren sei nicht vom Beschwerdeführer 1, sondern vom Beschwerdegegner eingeleitet worden. Somit könne er von vornherein nicht durch prozessuales Verhalten die gesamten Prozesskosten verursacht haben. Wenn überhaupt, könnte nur die gegen obligationenrechtliche Bestimmungen verstossende Generalversammlung Haftungsfolgen auslösen, die indessen auf
Art. 41 OR
zu stützen wären und nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens seien.
2.4.3
Der Begriff der unnötigen Kosten wird im Gesetz nicht näher umschrieben. Die Botschaft zur ZPO (a.a.O., S. 7298) nennt als Beispiele Kosten, die aufgrund von trölerischen Begehren oder weitschweifigen Eingaben entstehen. Anders als noch im Vorentwurf zur ZPO vorgesehen war, müssen die Prozesskosten, wie die Botschaft weiter präzisiert, nicht offensichtlich unnötig sein.
Es trifft zwar zu, dass unnötige Kosten in erster Linie solche sind, die durch das Verhalten einer Partei oder Dritter innerhalb des Prozesses zu den üblicherweise bzw. ohnehin entstehenden Prozesskosten zusätzlich hinzukommen (RÜEGG, a.a.O., N. 1 zu
Art. 108 ZPO
; TAPPY, a.a.O., N. 11 zu
Art. 108 ZPO
; STERCHI, a.a.O., N. 4 ff. zu
Art. 108 ZPO
). Weder der Wortlaut mit der offenen Formulierung "unnötige Prozesskosten" noch die Materialien zu
Art. 108 ZPO
(vgl. Botschaft zur ZPO, a.a.O., S. 7298; TAPPY, a.a.O., N. 2 zu
Art. 108 ZPO
) bieten indessen eine Handhabe, den Begriff der unnötigen Kosten in einem derart einschränkenden Sinn auszulegen, dass darunter nur solche Kosten zu verstehen wären. Lehre und Rechtsprechung, die sich mit
Art. 108 ZPO
und mit diesem ähnlichen Regelungen befassen, sind sich denn auch weitestgehend darüber einig, dass als unnötige Kosten auch solche in Frage kommen, die von den Parteien oder von Dritten ausserhalb des Prozesses verursacht wurden, und dass sie auch die gesamten Prozesskosten umfassen können, insbesondere wenn das ganze Verfahren durch ein bestimmtes Verhalten ausserhalb des Prozesses veranlasst wurde (vgl. Urteile des Bundesgerichts 4A_150/2013 vom 11. Februar 2014 Sachverhalt
BGE 141 III 426 S. 431
lit. B.e und E. 4 [zu
Art. 108 ZPO
, Frage unumstritten]; 4F_15/2008 vom 20. November 2013 E. 2.3.2 und 2.3.3 [zu
Art. 66 Abs. 3 BGG
]; 2C_744/2009 vom 4. März 2010 E. 4 und 5, in: StR 65/2010 S. 679, 682 [zu
Art. 66 Abs. 3 BGG
];
BGE 129 IV 206
E. 2 [zu
Art. 156 Abs. 6 OG
]; 5P.167/2004 vom 3. Juni 2004 E. 3, in: SZZP 2005 S. 185 [zu
§ 120 Abs. 1 ZPO
/LU]; JENNY, a.a.O., N. 6 f. zu
Art. 108 ZPO
; FISCHER, a.a.O., N. 8 zu
Art. 108 ZPO
; RÜEGG, a.a.O., N. 1 f. zu
Art. 108 ZPO
; CORBOZ, a.a.O., N. 18 zu
Art. 66 BGG
; THOMAS GEISER, in: Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2011, N. 17 zu
Art. 68 BGG
; so scheinbar auch TAPPY, a.a.O., N. 9, 11 und 15 zu
Art. 108 ZPO
; FRANK/STRÄULI/MESSMER, Kommentar zur zürcherischen Zivilprozessordnung, 3. Aufl. 1997, N. 4 zu
§ 66 ZPO
/ZH; LEUENBERGER/UFFER-TOBLER, Kommentar zur Zivilprozessordnung des Kantons St. Gallen, 1999, N. 2b zu
Art. 265 ZPO
/SG; auf die Möglichkeit der Auferlegung der gesamten Kosten deutet auch die Botschaft zur ZPO [a.a.O.] hin, wenn sie von trölerischen Begehren als Ursache spricht; a.M. HANS SCHMID, in: ZPO, Oberhammer und andere [Hrsg.], 2. Aufl. 2014, N. 3 zu
Art. 108 ZPO
).
Als für die Beurteilung des vorliegenden Falles illustrative Beispiele unnötiger Kosten aus Rechtsprechung und Lehre sind insbesondere solche zu nennen, die in einem Prozess (bzw. einem Verfahren) entstehen,
- der für eine Gesellschaft von einem Anwalt geführt wird, der durch einen nicht mehr vertretungsbefugten Verwaltungsrat mandatiert wurde (Urteil 4A_150/2013 vom 11. Februar 2014; Auferlegung der gesamten Kosten an diesen Verwaltungsrat, im bundesgerichtlichen Verfahren allerdings nur im internen Verhältnis);
- der von einem Anwalt aufgrund einer gefälschten Vollmacht geführt wurde, die von einem Dritten ohne Wissen der vertretenen Partei ausgestellt worden war (Urteil 4F_15/2008 vom 20. November 2013 E. 2.3.2 und 2.3.3; vollumfängliche Kostenauflage zu Lasten des Dritten);
- der durch einen falsus procurator für eine Partei geführt wird, die ihn nicht mandatiert hat (
BGE 84 II 403
E. 2; s. auch TAPPY, a.a.O., N. 15 zu
Art. 108 ZPO
; CORBOZ, a.a.O., N. 18 zu
Art. 66 BGG
; STERCHI, a.a.O., N. 2 zu
Art. 108 ZPO
; RÜEGG, a.a.O., N. 2 zu
Art. 108 ZPO
; Kostenauflage an den falsus procurator).
Der vorliegende Fall liegt wertungsmässig gleich. Der Beschwerdeführer 1 provozierte den erstinstanzlichen Prozess zwischen dem
BGE 141 III 426 S. 432
Beschwerdegegner und der Beschwerdeführerin 2, für die er als Aussenstehender ohne Vertretungsbefugnis eine Anwaltsvollmacht ausstellte, indem er sich eine Alleinaktionärsstellung der Beschwerdeführerin 2 anmasste - für deren Bestehen er nota bene keine ernsthaften Gründe vorbringen konnte (nicht publ. E. 1.2.4) - und indem er sich in der (rechtlich gar nicht stattgefundenen) Universalversammlung vom 15. August 2011 selber, unter Abwahl der bisherigen Verwaltungsräte, zum alleinigen Verwaltungsrat der Gesellschaft wählte. In dieser Situation ist es grundsätzlich nicht zu beanstanden, wenn die Vorinstanz sämtliche Prozesskosten als unnötige Kosten betrachtete und sie dem Beschwerdeführer 1 statt der unterliegenden Beschwerdeführerin 2 auferlegte. Dass es nicht der Beschwerdeführer 1 bzw. der von ihm namens der Gesellschaft mandatierte Rechtsvertreter war, der den Prozess auf der Klageseite einleitete, ist nicht entscheidend.
Die Kosten von der unterliegenden Beschwerdeführerin 2 tragen zu lassen, würde wirtschaftlich gesehen bedeuten, sie dem obsiegenden Beschwerdegegner als ihrem Aktionär nach Massgabe seiner Beteiligung an der Gesellschaft aufzuerlegen. Dies erschiene, wie die Vorinstanz zutreffend erwog, offensichtlich unbillig. Da
Art. 108 ZPO
für die Kostenauflage an den Beschwerdeführer 1 als spezielle gesetzliche Grundlage herangezogen werden kann, besteht bei der gegebenen Konstellation kein Grund, die Prozesskosten der Gesellschaft aufzuerlegen und sie auf den Weg eines Schadenersatzprozesses zu verweisen, um sie vom Beschwerdeführer 1 gestützt auf
Art. 41 OR
zurückzufordern. Dieser Weg ist von ihr lediglich zu beschreiten, soweit sie den Ersatz eines durch den Prozess entstandenen Schadens fordert, der über die Prozesskosten hinausgeht (RÜEGG, a.a.O., N. 2 zu
Art. 108 ZPO
).
2.4.4
Laut der Botschaft zur ZPO (a.a.O., S. 7298) ist für die Auferlegung unnötiger Kosten an den Verursacher kein vorwerfbares Verhalten erforderlich. In der Lehre ist umstritten, ob dies auch für die Kostenauflage zulasten eines Dritten gilt, der nicht Verfahrenspartei ist (bejahend: RÜEGG, a.a.O., N. 1 zu
Art. 108 ZPO
; STERCHI, a.a.O., N. 4 zu
Art. 108 ZPO
; verneinend: JENNY, a.a.O., N. 4 zu
Art. 108 ZPO
; TAPPY, a.a.O., N. 19 zu
Art. 108 ZPO
).
Wie es sich damit verhält, kann vorliegend offenbleiben, da sich der Beschwerdeführer 1 unter den gegebenen Umständen jedenfalls ein vorwerfbares Verhalten zurechnen lassen muss. Wer sich, wie er, offensichtlich zu Unrecht eine Alleinaktionärsstellung in einer
BGE 141 III 426 S. 433
Gesellschaft anmasst und unter krasser Verletzung aktienrechtlicher Grundbestimmungen eine Universalversammlung derselben durchführt, um sich selber zum alleinigen Exekutivorgan zu wählen, verursacht die Kosten eines dadurch zwischen den abgewählten Verwaltungsräten und der Gesellschaft veranlassten Prozesses offensichtlich in vorwerfbarer Weise.
2.4.5
Die von der Vorinstanz vorgenommene Kostenverlegung lässt sich damit auf die Bestimmung von
Art. 108 ZPO
stützen. | 4,063 | 3,119 | 2 | 0 | CH_BGE_005 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_005_BGE-141-III-426_2015-09-22 | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=9&from_date=&to_date=&from_year=2015&to_year=2015&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=85&highlight_docid=atf%3A%2F%2F141-III-426%3Ade&number_of_ranks=280&azaclir=clir | BGE_141_III_426 |
||||
ecfe5163-dc27-4a04-9904-a0387cd8533b | 1 | 80 | 1,358,348 | null | 2,024 | de | Sachverhalt
ab Seite 157
BGE 98 Ib 156 S. 157
A.-
a)
Art. 15 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 2. Oktober 1924 betreffend den Postverkehr (PVG)
lautet in seiner Fassung vom 21. Dezember 1966 (AS 1967 S. 1385):
"Die Taxe für Warenmuster beträgt
bis 250 g: 15 Rp.
über 250 g bis 500 g: 30 Rp."
Durch die Revision des PVG von 1966 sind die beiden Taxansätze um 5 bzw. 10 Rp. erhöht worden; der Wortlaut von Abs. 1 blieb im übrigen unverändert. Die Abs. 2 und 3 von
Art. 15 PVG
sind im vorliegenden Fall ohne Bedeutung.
b) Die nähere Umschreibung des Begriffes Warenmuster findet sich in der Vollziehungsverordnung I zum PVG (VV I).
aa) In der VV I vom 23. Dezember 1955 (AS 1956 S. 13) hiess es in Art. 35 Abs. 1 (inhaltlich übereinstimmend mit Art. 32 Abs. 1 der VV I vom 15. August 1939, BS 7 S. 786):
"Die Taxe der Warenmuster ist anwendbar auf die zur Bemusterung im Handelsverkehr dienenden Sendungen, sowie auf nicht zur Bemusterung bestimmte Warensendungen von geringem Handels- und Verkaufswert."
bb) Durch BRB vom 1. März 1966 (AS 1966 S. 488) wurde der zweite Teilsatz von Art. 35 Abs. 1 gestrichen und damit die frühere Gleichstellung der Warensendungen von geringem Handels- und Verkaufswert mit den Warenmustern aufge hoben.
BGE 98 Ib 156 S. 158
cc) In der neuen VV I vom 1. September 1967 (AS 1967 S. 1419) lautete die Vorschrift über die Anwendung der Warenmuster-Taxe in Art. 46 Abs. 1:
"Die Taxe für Warenmuster ist nur auf unverschlossene Sendungen anwendbar, die der kostenlosen Bemusterung im Handelsverkehr dienen."
(Die Vorschrift, dass die Sendungen unverschlossen sein müssten, befand sich bis 1966 im Gesetz; sie wurde dort gestrichen und in die VV I übernommen.)
dd) Durch BRB vom 12. Mai 1971 wurde Art. 46 Abs. 1 VV I neu gefasst (AS 1971 S. 683):
"Als Warenmuster gelten unverschlossene Sendungen mit Warenproben oder Teilen einer Ware, die vom Hersteller oder Verkäufer oder ihren Vertretern zur kostenlosen Bemusterung der zum Kauf angebotenen Ware aufgegeben werden."
B.-
a) Die Firmen Gebrüder Ackermann AG, Entlebuch, und Beyeler AG, Lenzburg, sind Versandunternehmen der Textilbranche. Sie verschicken an Interessenten Musterhefte, die über die Produkte orientieren und dem Kunden erlauben, die für ihn in Frage kommenden Artikel auszuwählen und auf dem Korrespondenzweg zu bestellen. Die Kunden schicken die Musterkataloge nach Gebrauch an die Versandgeschäfte zurück.
Die Musterhefte der Firma Gebrüder Ackermann AG enthalten neben gedruckten Beschreibungen und Preisangaben sowie farbigen Abbildungen der zum Verkauf angebotenen Kleidungsstücke auch kleine in den Text eingeklebte Muster von Stoffen und Strickwolle. - Die Musterhefte der Beyeler AG bestehen aus einer Kollektion von Garnmustern mit kurzen Angaben über die Eigenschaften der offerierten Garne.
b) Bis 1970 wurde für diese Musterhefte sowohl auf dem Versandweg (von der Firma zu den Kunden) als auch auf dem Rücksendungsweg (von den Kunden an die Firma) die Taxe für Warenmuster angewendet. Am 10. Juni 1970 teilte die Postbetriebsabteilung der Firma Gebrüder Ackermann AG mit, durch den BRB vom 1. März 1966 sei Art. 35 Abs. 1 der VV I abgeändert und der Warenmusterbegriff eingeschränkt worden; demzufolge müssten nun die Rücksendungen von Musterheften an die Beschwerdeführerin zur Brief- oder Pakettaxe frankiert sein, es liege auf dem Rückweg keine Bemusterung
BGE 98 Ib 156 S. 159
mehr vor, sondern es handle sich um ganz gewöhnliche Warensendungen.
Eine gleichlautende Verfügung ging am 7. Juli 1970 an die Beyeler AG
c) Die beiden Versandgeschäfte fochten die Verfügungen der Postbetriebsabteilung bei der Generaldirektion der PTT an. Diese wies am 30. Juni 1971 die beiden Beschwerden ab und bestätigte die Verfügungen der Postbetriebsabteilung unter Verzicht auf einen Taxnachbezug. Die beiden Entscheide enthalten den Hinweis, dass auf den 1. Juli 1971 eine Neufassung des Art. 46 VV I in Kraft trete, welche den Warenmusterbegriff im Sinne der angefochtenen Verfügungen eindeutig definiere.
d) Die beiden betroffenen Firmen reichten gegen die Entscheidungen der Generaldirektion PTT beim Bundesgericht Verwaltungsgerichtsbeschwerde ein mit dem Antrag, die Beschwerdeentscheide der Generaldirektion der PTT vom 30. Juni 1971 und die Verfügungen der Postbetriebsabteilung vom 10. Juni 1970 bzw. 7. Juli 1970 seien aufzuheben und es sei festzustellen, dass auf die an die Beschwerdeführerinnen zurückgehenden Sendungen von Musterkatalogen die Taxe für Warenmuster anzuwenden sei.
e) Die Generaldirektion PTT beantragt, es sei auf die beiden Beschwerden nicht einzutreten, eventuell seien die Beschwerden abzuweisen. | 1,074 | 848 | Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
...
2.
Der Begriff "Drucksache", der im PVG nicht definiert ist, wird in Art. 51 VV I (vom 1. September 1967) folgendermassen umschrieben (AS 1967 S. 1420):
"Als gewöhnliche Drucksachen im Sinne von Art. 17 des Postverkehrsgesetzes gelten:
a) einen Text oder eine Abbildung ergebende Abdrucke auf Papier oder papierähnlichen Stoffen, die in einem Hoch-, Tief- oder Flachdruckverfahren mit den im graphischen Gewerbe hiefür gebräuchlichen Maschinen hergestellt sind. Der Absender hat nötigenfalls den Nachweis über das Herstellungsverfahren zu leisten;
b) die mit Kopierapparaten und -maschinen hergestellten Vervielfältigungen, sofern wenigstens 20 Sendungen mit vollkommen gleichen Abzügen gleichzeitig am Schalter aufgegeben werden;
BGE 98 Ib 156 S. 160
c) Abdrucke, die auf der Anwendung verschiedener mechanischer Vervielfältigungsverfahren beruhen, sofern die unter a und b vorgesehenen Bedingungen erfüllt sind;
d) Photographien, auch solche in Alben, und Lichtpausen."
Nach dieser Vollzugsvorschrift ist die Anwendung der Drucksachentaxe auf gedruckte oder irgendwie vervielfältigte Texte und Abbildungen beschränkt. Weder aus dem Wort "Drucksache" noch aus der eher etwas über den allgemeinen Sprachgebrauch hinausgehenden Definition im zitierten Art. 51 VV I lässt sich ableiten, dass Kataloge, welche kleine Warenproben enthalten, noch unter den Begriff der Drucksache zu subsumieren sind. Die früher in der VV I vom 23. Dezember 1955 vorgesehenen Mischsendungen (Art. 38), welche gemischte Sendungen mit Warenmustern und Drucksachen bis zu einem Gesamtgewicht von 500 g betrafen, wurden der Warenmuster-Taxe unterstellt. Nichts spricht dafür, dass jetzt nach der Aufhebung der Bestimmung über Mischsendungen auf Musterkataloge die Drucksachentaxe anwendbar sein soll. Auf die äussere Form (Buch, Heft) kann nicht abgestellt werden, sonst käme auf flache Warenmuster, die sich in Bücher oder Hefte einfügen lassen, eine andere Taxe zur Anwendung als auf Warenproben, bei denen diese direkte Verbindung mit gedrucktem Text oder Abbildungen nicht möglich ist. Auch eine Regelung, nach welcher die Taxe gemäss dem überwiegenden gewichtsmässigen oder volumenmässigen Anteil der Warenmuster bzw. des Gedruckten an der Sendung zu bestimmen wäre, dürfte kaum befriedigend sein und lässt sich auf jeden Fall nicht aus dem PVG oder der VV I ableiten. Es erscheint als durchaus folgerichtig, jede Sendung, die ausser Drucksachen auch Warenmuster enthält, als Warenmuster-Sendung zu behandeln und die entsprechende Taxe zur Anwendung zu bringen.
Dadurch, dass die Generaldirektion PTT die Musterkataloge der Firma Gebrüder Ackermann AG nicht als Drucksachen behandelte, wurde somit nicht Bundesrecht verletzt. Die Firma selber hat übrigens offenbar bis zu diesem Streit über die Taxe für die Rücksendung von Warenmustern die Warenmuster-Qualität ihrer Kataloge nie bezweifelt.
3.
a) Der seit dem 1. Juli 1971 in Kraft stehende Art. 46 Abs. 1 VV I bestimmt, dass die Taxe für Warenmuster nur auf Sendungen zur Anwendung kommen soll, "die vom Hersteller
BGE 98 Ib 156 S. 161
oder Verkäufer oder ihren Vertretern zur kostenlosen Bemusterung der zum Kauf angebotenen Ware aufgegeben werden". Damit ist die Anwendung der Warenmuster-Taxe auf Rücksendungen von Musterkatalogen durch den Kunden an den Verkäufer ausgeschlossen. Die zuvor zwischen den Beschwerdeführerinnen einerseits und der PTT anderseits streitige Frage wurde in der Neufassung von Art. 46 VV I bewusst geregelt. Zu prüfen bleibt, ob diese Regelung mit dem Gesetz im Einklang steht oder ob der Bundesrat durch diese Einschränkung der Anwendbarkeit der Warenmuster-Taxe die ihm eingeräumte Befugnis zum Erlass von Vollzugsvorschriften überschritten hat (vgl.
BGE 94 I 88
E. 1 und 396 ff., SALADIN in ZBl 1966 S. 194).
b) Gemäss
Art. 67 PVG
sind die zum Vollzug des Gesetzes erforderlichen Vorschriften vom Bundesrat zu erlassen. In
Art. 68 PVG
wird bestimmt, dass der Bundesrat die im Gesetz festgesetzten Taxen herabsetzen und inbezug auf Gewichtssätze und Entfernungsstufen Erleichterungen gewähren kann. In der frühern Fassung von
Art. 68 PVG
, die bis 1967 galt, wurde noch ausdrücklich gesagt, eine Änderung im entgegengesetzten Sinne (also zu Lasten der Postbenützer) könne nur auf dem Gesetzesweg erfolgen. Dieser Satz wurde bei der Revision von 1966 gestrichen, "weil selbstverständlich" (BBl 1966 I 1088). Art. 13 lit. g des BG über die Organisation der Post-, Telephon- und Telegraphenbetriebe in der Fassung vom 19. Dezember 1969 weist heute die Kompetenz, die Inlandtaxen für Briefe, Postkarten, Warenmuster etc. festzusetzen, ausdrücklich der Bundesversammlung zu.
c) Da eine gesetzliche Definition des Warenmusters fehlt, drängte es sich auf, im Rahmen der Vollzugsvorschriften eine Umschreibung zu schaffen. Mit Formulierungen wie "zur Bemusterung im Handelsverkehr dienende Sendungen" (VV I 1955) oder "Sendungen, die der kostenlosen Bemusterung im Handelsverkehr dienen" (VV I 1967) wird entsprechend dem allgemeinen Sinn, den das Wort Warenmuster hat, zum Ausdruck gebracht, dass es sich bei diesen Sendungen um Warenproben handelt, die nicht wegen ihres Verbrauchswertes zugestellt werden, sondern als Muster, um dem Kunden die Beurteilung der offerierten Ware zu ermöglichen und den Entschluss zum Kauf zu erleichtern.
In einer ersten Phase, die bis 1966 dauerte, wurde die Anwendbarkeit der Warenmuster-Taxe deutlich über die eigentlichen
BGE 98 Ib 156 S. 162
Mustersendungen hinaus ausgedehnt auf Warensendungen von geringem Handels- und Verkaufswert. Diese Ausdehnung wurde durch den BRB vom 1. März 1966 aufgehoben (Streichung des Teilsatzes in Art. 35 Abs. 1 VV I 1955). Seither ist die Anwendung der Warenmuster-Taxe klar beschränkt auf Warensendungen, die der Bemusterung dienen.
d) Bis 1970 wurde auch von seiten der PTT nie ein Unterschied zwischen der Mustersendung an den Kunden und der Rücksendung gemacht. Diese Praxis wurde hinterher damit begründet, dass eben bis 1966 auch andere Warensendungen von geringem Wert, nicht nur die der Bemusterung dienenden Sendungen, gemäss ausdrücklicher Vorschrift zur Warenmuster-Taxe befördert worden seien; seit der Änderung der VV I durch den BRB vom 1. März 1966 aber sei der Begriff des Warenmusters in der VV I auf Mustersendungen vom Verkäufer an den Kunden limitiert, denn nur auf diesem Wege diene die Warenprobe der Bemusterung. Mit dieser Argumentation wird 1970 ein neues Kriterium als massgebend bezeichnet; für die Anwendbarkeit der Warenmuster-Taxe soll nicht mehr ausschliesslich die Beschaffenheit und die Zweckbestimmung des Inhaltes massgebend sein, sondern es soll entscheidend darauf ankommen, ob die konkrete Sendung an einen Kunden geht oder ob es sich um eine Rücksendung handelt. Diese Einschränkung der Warenmuster-Taxe auf entsprechende Sendungen an Kunden unter Ausschluss der Rücksendung lässt sich nicht aus der Änderung der VV I durch den BRB vom 1. März 1966 ableiten. Mit der Streichung des Teilsatzes über die Anwendung der Warenmuster-Taxe auf andere Sendungen von geringem Wert wollte man offensichtlich jene bisher unter Art. 35 Abs. 1 VV I fallenden Warensendungen, die mit Handelsverkehr und Bemusterung nichts zu tun haben, vom Anwendungsbereich dieser günstigen Taxe ausschliessen. Dass der Bundesrat mit jener Änderung auch die Rücksendung eigentlicher Warenmuster an das Versandgeschäft von der Warenmuster-Taxe habe ausnehmen wollen, ist durch nichts belegt. Hätte man auch diese ganz andersartige und praktisch wichtige Einschränkung herbeiführen wollen, so hätte dies im BRB vom 1. März 1966 oder spätestens in der neuen VV I vom 1. September 1967 deutlich zum Ausdruck gebracht werden können, wie dies jetzt durch den BRB vom 12. Mai 1971 geschehen ist. Ein wichtiges Indiz gegen die Behauptung, man
BGE 98 Ib 156 S. 163
habe den Begriff des Warenmusters schon immer nur als Mustersendung vom Verkäufer an den Kunden verstanden, ist die Tatsache, dass die Organe der PTT weder nach dem Inkrafttreten des BRB vom 1. März 1966 noch bei der Einführung der neuen VV I vom 1. September 1967 die Taxberechnung für die Rücksendung von Musterkatalogen änderten. Wenn auch heute über Sinn und Bedeutung der frühern Fassungen der einschlägigen Bestimmungen der VV I nicht zu entscheiden ist, so zeigt der Rückblick doch, dass die Organe der PTT den Begriff des Warenmusters bis 1970 so interpretiert haben, wie ihn die Beschwerdeführerinnen jetzt verstanden wissen wollen, nämlich als Bezeichnung des Inhaltes, nicht als Umschreibung des Zwecks der konkreten Sendung.
e) In diesem Verfahren ist zu entscheiden, ob der Begriff des Warenmusters, wie er im PVG verwendet wird, durch den Bundesrat in der Vollziehungsverordnung so abgegrenzt werden darf, dass die Rücksendung eines Warenmusters nicht unter die Warenmuster-Taxe fällt.
Vom rein abstrakten logischen Standpunkt aus, ist die Argumentation der Generaldirektion PTT vertretbar: Man könnte die Warenmuster-Taxe im Postverkehr auf Sendungen an Kunden unter Ausschluss der Rücksendung beschränken. Ob sachliche Gründe der Tarifgestaltung für eine solche Differenzierung sprechen, kann an dieser Stelle offen bleiben. - Es geht hier nicht darum, die Haltbarkeit einer neuen Umschreibung des Warenmuster-Begriffes in abstracto zu prüfen, sondern es ist festzustellen, ob der Bundesrat auf dem Verordnungsweg im Rahmen des geltenden PVG diese neue Abgrenzung des Warenmuster-Begriffs vornehmen durfte. Die Schöpfer des PVG gingen historisch gesehen eindeutig von einem weitern, auch die Rücksendung von Warenproben umfassenden Warenmuster-Begriff aus. Das ergibt sich aus der langjährigen Praxis der PTT. Noch in der Botschaft des Bundesrates zur Revision des PVG vom 6. Juni 1966, in welcher Ausführungen über die Belastung der Post mit solchen Sendungen gemacht wurden zur Begründung einer Erhöhung der Taxsätze, wird mit keinem Wort darauf hingewiesen, dass für Rücksendungen von Warenmustern inskünftig die ordentlichen Brief- oder Pakettaxen zu bezahlen seien (BBl 1966 I 1072 f). Über die kurz vorher vorgenommene Beschränkung des Warenmuster-Begriffs im BRB vom 1. März 1966 heisst es, der Bundesrat habe in Anlehnung
BGE 98 Ib 156 S. 164
an die internationalen Postvorschriften verfügt, "dass nur noch der eigentlichen Bemusterung dienende Gegenstände zur Warenmustertaxe aufgegeben werden können". Dieser Satz in Verbindung mit der Weiterführung der bisherigen Taxberechnung bei Muster-Rücksendungen bestätigt, dass man zu jener Zeit nicht daran dachte, Rücksendungen von der Warenmuster-Taxe auszuschliessen.
Auch in den ausführlichen Vorschriften, welche auf internationaler Ebene über die Warenmuster bestanden, bevor der Weltpostkongress 1969 in Tokio die Kategorie der Warenmuster im Weltpostvertrag aufhob (BBl 1970 II 769), findet sich keine Einschränkung des Warenmuster-Begriffs nach der wirtschaftlichen Funktion von Absender und Empfänger: Im Weltpostvertrag von 1957 (Ottawa) wurde im Fehlen eines Handelswertes das entscheidende Merkmal des Warenmusters gesehen (Art. 49 Ziff. 10). Eine Beschränkung der Warenmuster-Taxe auf Sendungen vom Verkäufer an den Kunden lässt sich diesen internationalen Regeln nicht entnehmen.
f) Die herkömmliche und durch die langjährige Praxis der Post bestärkte Auffassung, auf eine der Bemusterung dienende Warenprobe komme auch bei der Rücksendung die Warenmuster-Taxe zur Anwendung, steht mit einer unvoreingenommenen Auslegung des Wortes "Warenmuster" keineswegs in Widerspruch. Die Bezeichnung "Warenmuster" weist auf die Art und Zweckbestimmung des Gegenstandes hin. Musterkataloge, Mustersammlungen, der Bemusterung dienende Warenproben fallen unter diesen Begriff. Eine Beschränkung auf die dem Angebot an den Kunden dienende Sendung ergibt sich aus dem Wort nicht. Die jetzt von der Generaldirektion PTT vertretene Auffassung, beim Warenmuster handle es sich begrifflich um eine Sendung, deren Inhalt in der Regel beim Kunden bleibe, stimmt insofern mit dem Sprachgebrauch nicht überein, als Musterhefte, Musterbücher (z.B. Tapeten, Stoffe, Papier usw.), Musterkataloge, Musterkollektionen (z.B. Bodenbeläge, Leder usw.) - auch nach Auffassung der PTT - typische Warenmuster sind, aber nach allgemeiner Übung als Eigentum des Verkäufers oder seines Vertreters dem einzelnen Kunden nur temporär zur Verfügung gestellt werden. Daneben gibt es auch Warenmuster, die beim Kunden bleiben, weil er das Produkt ausprobieren oder die Möglichkeit haben soll, die Übereinstimmung der spätern Lieferung mit dem Muster zu
BGE 98 Ib 156 S. 165
prüfen. Der in Deutschland heute gebräuchliche Begriff "Warenprobe" bezeichnet vielleicht eher diese zweite Art von Warenmustern. Der im PVG verwendete Ausdruck Warenmuster umfasst nach dem eindeutigen Sprachgebrauch auch Musterbücher und Musterkollektionen, die im allgemeinen nicht beim Kunden bleiben, sondern an den Verkäufer retourniert werden. Aus dem Warenmuster-Begriff lässt sich somit kein Ausschluss der Rücksendung von der Warenmuster-Taxe ableiten.
Wenn der Gesetzgeber schon den Handel auf Grund von Warenmustern durch eine niedrige Posttaxe begünstigen wollte, dann fehlt überdies ein überzeugender Grund, um die zu dieser Geschäftstätigkeit gehörende Rücksendung von Musterkollektionen von der günstigen Taxe auszuschliessen. Ein Interesse der Post, dass das Warenmuster beim Kunden bleibt, oder eine die höhere Taxe begründende Mehrarbeit der Post bei solchen Rücksendungen ist nicht erkennbar.
g) Wenn auch dem Bundesrat bei der Ausgestaltung der Vollzugsvorschriften zum PVG ein gewisses Ermessen zukommt, so darf er auf diesem Wege doch nicht durch eine vom Sprachgebrauch und von der bisherigen Praxis abweichende Interpretation eines gesetzlichen Terminus eine erhebliche Erhöhung der Posttaxen für eine ganze Kategorie von Sendungen anordnen. Zwar wird durch Art. 46 Abs. 1 VV I in der Fassung vom 12. Mai 1971 nicht die zahlenmässige gesetzliche Fixierung einer Posttaxe geändert, aber es wird durch die neue restriktive Interpretation des Begriffs "Warenmuster" in Abänderung der bis zum 30. Juni 1971 angewandten Taxberechnung für die Rücksendung von Musterheften, Musterkatalogen usw. eine Erhöhung der Posttaxe herbeigeführt. Dieses Vorgehen überschreitet die in Art. 67 und 68 erteilte Befugnis zum Erlass von Vollziehungsvorschriften. Der Bundesrat konnte, wie er dies bis 1966 getan hat, die Warenmuster-Taxe zu Gunsten der Postbenützer extensiv auch auf andere Warensendungen zur Anwendung bringen. Es ist ihm aber verwehrt, den gesetzlichen Warenmuster-Begriff zu Lasten der Postbenützer in Abweichung vom Sprachgebrauch und von der langjährigen Praxis der Postorgane einschränkend zu umschreiben. Ob der Bundesrat in eigener Kompetenz von ihm statuierte begünstigende, über das Gesetz hinausgehende Ausweitungen des Anwendungsbereichs einer Taxe wieder aufheben kann, ist hier nicht
BGE 98 Ib 156 S. 166
zu beurteilen; denn - wie oben dargelegt wurde - entspricht die Anwendung der Warenmuster-Taxe auf Rücksendungen dem Gesetzestext und kann nicht als ein über das Gesetz hinausgehendes besonderes Entgegenkommen betrachtet werden.
h) Die im angefochtenen Art. 46 Abs. 1 VV I vorgenommene Änderung der Auslegung des Warenmuster-Begriffs kommt praktisch einer Taxerhöhung gleich. Nachdem die Posttaxen vom Gesetzgeber bestimmt werden, drängt es sich auch von der sachlichen Bedeutung des Entscheides her auf, eine im Widerspruch zur langjährigen Praxis stehende, den Postbenützer belastende Änderung durch den Gesetzgeber vornehmen zu lassen. Der Gesetzgeber wird dann darüber zu befinden haben, ob die Differenzierung zwischen Hin- und Rückweg gerechtfertigt ist oder ob das finanzielle Ziel nicht richtigerweise einfach mit einer entsprechenden Erhöhung der Warenmuster-Taxe (ohne Ausschluss der Rücksendung) erreicht werden soll.
4.
Da die im neuen Art. 46 Abs. 1 VV I vorgenommene Änderung der Taxberechnung mit dem PVG nicht im Einklang steht und als Überschreitung der Kompetenz zum Erlass von Vollzugsvorschriften zu qualifizieren ist, sind die Beschwerden in diesem Sinne teilweise gutzuheissen.
Es erübrigt sich, auf die Rüge der Verletzung von
Art. 4 BV
einzutreten. | 3,373 | 2,656 | Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.- In teilweiser Gutheissung der Beschwerden wird festgestellt, dass auf die Rücksendung von Musterkatalogen und Musterheften an die Beschwerdeführerinnen die Taxe für Warenmuster anzuwenden ist.
2.- Im übrigen werden die Beschwerden abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. | 70 | 49 | CH_BGE_003 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_003_BGE-98-Ib-156_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=27&from_date=&to_date=&from_year=1972&to_year=1972&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=261&highlight_docid=atf%3A%2F%2F98-IB-156%3Ade&number_of_ranks=374&azaclir=clir | BGE_98_Ib_156 |
||
ed1dd4f7-1810-49d7-ba41-18c4076165ce | 1 | 83 | 1,346,681 | 1,440,633,600,000 | 2,015 | de | Sachverhalt
ab Seite 370
BGE 141 IV 369 S. 370
A.X., sein Bruder B.X. und ihr im Jahre 2003 verstorbener Vater C.X. waren Eigentümer der vier Holdinggesellschaften D. AG (Autoimport und Handel), E. Holding AG (Finanzen und Dienstleistungen), F. Holding AG (Industrie) sowie G. Holding AG (früher H. Schweiz AG [bis 10. Juli 1992] bzw. H. Zürich AG [bis 11. Juli 2002]) mit ihren über 80 Tochtergesellschaften im In- und Ausland. Sie bildeten den Verwaltungsrat der Holdinggesellschaften; ferner oblag ihnen die oberste Führungsverantwortung über die ganze Gruppe. Zu dieser gehörten ausserdem mehrere Gesellschaften, welche von der Familie X. privat gehalten wurden und nicht einer der vier Holdinggesellschaften zugeordnet waren.
Als Revisionsstelle fungierte die I. AG, Zürich. Diese erstellte die Konzernabschlüsse der D. AG, der E. Holding AG und der F. Holding AG sowie die Einzelabschlüsse u.a. der C.X. AG und der J. AG jeweils per 31. Dezember der Jahre 1998 bis 2002.
A.X. wird vorgeworfen, er habe in den Jahren 1998 bis 2002/2003 von verschiedenen Banken für die Holdinggesellschaften D. AG, E. Holding AG und F. Holding AG sowie die H. Zürich AG bzw. G. Holding AG, und die Gesellschaften J. AG und C.X. AG im Wissen um deren Überschuldung betrügerisch neue Kredite in Höhe zwei- bis dreistelliger Millionenbeträge erlangt bzw. die Banken dazu bewegt, bereits gewährte Kredite zu verlängern. Dabei habe er die Kreditinstitute mit unwahren Jahres- und Konzernabschlüssen sowie Revisionsberichten der Jahre 1998-2002 dieser Gesellschaften arglistig über deren Vermögens- und Ertragslage und damit über ihre Kreditwürdigkeit getäuscht.
A.X. schloss ferner als Verwaltungsratspräsident der X. Autokredit AG am 2. Juli 1998 mit der K. Corporation (UK) PLC einen
BGE 141 IV 369 S. 371
Rahmenkreditvertrag zur Vorfinanzierung der Autokäufe durch die in der Schweiz tätigen Händler verschiedener Fahrzeugmarken. A.X. wird vorgeworfen, er habe in den wöchentlichen Kreditziehungsnachrichten wahrheitswidrig einen um insgesamt 38 Mio. CHF höheren Kreditbedarf vorgetäuscht, als für die Finanzierung der Geschäfte tatsächlich benötigt wurde.
Schliesslich wird A.X. vorgeworfen, er habe im Zeitraum vom 23. Mai 2002 bis 2. April 2003 im Hinblick auf den sich anbahnenden und am 13. Juli 2004 über ihn eröffneten Privatkonkurs verschiedene Vermögenswerte (Hausratsgegenstände, Automobile, Buchgeld, Aktien, Liegenschaften) aus seinem Privatvermögen unentgeltlich an seine Lebenspartnerin A.Y. sowie an seine damals knapp einjährigen Söhne B.Y. und C.Y. übertragen, wobei er eine Schädigung seiner Gläubiger in Kauf genommen habe.
Das Bezirksgericht Winterthur erklärte A.X. mit Urteil vom 22. März 2012 des gewerbsmässigen Betrugs, der mehrfachen Urkundenfälschung sowie der mehrfachen Gläubigerschädigung durch Vermögensverminderung schuldig und verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von 8 Jahren, unter Anrechnung von 1 Tag Haft. Mit Urteil vom 9. Mai 2012 entschied es über die Einziehung der beschlagnahmten Vermögenswerte und mit Grundbuchsperre belegten Parzellen und deren Zuweisung zur Wiederherstellung des rechtmässigen Zustandes an die Konkursmasse A.X.
Das gegen B.X. eröffnete Verfahren wurde am 16. Dezember 2010 eingestellt (vgl. Urteil des Bundesgerichts 6B_192/2013 vom 10. Dezember 2013).
Gegen dieses Urteil erhoben der Beurteilte, die Staatsanwaltschaft, B.X., A.Y. sowie B.Y. und C.Y. Berufung. Das Obergericht des Kantons Zürich erklärte A.X. am 13. Januar 2014 des gewerbsmässigen Betruges, der mehrfachen Urkundenfälschung sowie der mehrfachen Gläubigerschädigung durch Vermögensminderung schuldig und verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von 7 Jahren, unter Anrechnung von 1 Tag Untersuchungshaft. Von der Anklage der Gläubigerschädigung durch Vermögensminderung bezüglich des Kaufes von Schloss O. sprach es ihn frei. Das Verfahren wegen gewerbsmässigen Betruges zum Nachteil der K. Corporation mit Bezug auf den Anklagevorwurf im Zusammenhang mit der Ziehungsnachricht vom 2. Oktober 1998 sowie wegen Gläubigerschädigung durch Vermögensminderung im Zusammenhang mit dem Verkauf von Schloss O.
BGE 141 IV 369 S. 372
durch die C.X. AG an ihn selbst (Tathandlungen zulasten der Gläubiger der C.X. AG) stellte es ein. Ferner entschied es über die Nebenpunkte. | 1,822 | 709 | 2 | 0 | A.X. führt Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt, er sei in Aufhebung des angefochtenen Urteils freizusprechen und es seien sämtliche Feststellungen, Anordnungen und Anweisungen gemäss Ziff. 4 bis 16 des angefochtenen Dispositivs aufzuheben. Ferner sei festzustellen, dass das Beschleunigungsgebot verletzt worden sei. Eventualiter sei das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zu seiner Freisprechung, zur Feststellung der Verletzung des Beschleunigungsgebots, zur Neuregelung der Kosten- und Entschädigungsfolgen sowie zur Aufhebung sämtlicher Feststellungen, Anordnungen und Anweisungen gemäss Ziff. 4 bis 16 des angefochtenen Dispositivs an die Vorinstanz zurückzuweisen. Schliesslich ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es auf diese eintritt.
(Zusammenfassung)
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
6.
6.1
Zieht das Gericht mangels eigener Fachkenntnis eine sachverständige Person bei, ist es bei der Würdigung des Gutachtens grundsätzlich frei. Ob das Gericht die in einem Gutachten enthaltenen Erörterungen für überzeugend hält oder nicht und ob es dementsprechend den Schlussfolgerungen der Experten folgen will, ist mithin eine Frage der Beweiswürdigung. Die Beweiswürdigung und die Beantwortung der sich stellenden Rechtsfragen ist Aufgabe des Richters. Dieser hat zu prüfen, ob sich aufgrund der übrigen Beweismittel und der Vorbringen der Parteien ernsthafte Einwände gegen die Schlüssigkeit der gutachterlichen Darlegungen aufdrängen. Nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung entscheiden die Organe der Strafrechtspflege frei von Beweisregeln und nur nach ihrer persönlichen Ansicht aufgrund gewissenhafter Prüfung darüber, ob sie eine Tatsache für erwiesen halten (vgl.
Art. 10 Abs. 2 StPO
). Das Gericht ist somit nicht an den Befund oder die Stellungnahme des Sachverständigen gebunden. Es hat vielmehr zu prüfen, ob sich aufgrund der übrigen Beweismittel und der Vorbringen der Parteien ernsthafte Einwände gegen die Schlüssigkeit der gutachterlichen Darlegungen aufdrängen. Auch wenn das gerichtlich eingeholte
BGE 141 IV 369 S. 373
Gutachten grundsätzlich der freien Beweiswürdigung unterliegt, darf das Gericht in Fachfragen nicht ohne triftige Gründe von ihm abrücken und muss Abweichungen begründen.
Auf der anderen Seite kann das Abstellen auf eine nicht schlüssige Expertise bzw. der Verzicht auf die gebotenen zusätzlichen Beweiserhebungen gegen das Verbot willkürlicher Beweiswürdigung (
Art. 9 BV
) verstossen (
BGE 136 II 539
E. 3.2;
BGE 133 II 384
E. 4.2.3;
BGE 132 II 257
E. 4.4.1;
BGE 130 I 337
E. 5.4.2;
BGE 129 I 49
E. 4;
BGE 128 I 81
E. 2). Erscheint dem Gericht die Schlüssigkeit eines Gutachtens in wesentlichen Punkten zweifelhaft, hat es nötigenfalls ergänzende Beweise zur Klärung dieser Zweifel zu erheben. Ein Gutachten stellt namentlich dann keine rechtsgenügliche Grundlage dar, wenn gewichtige, zuverlässig begründete Tatsachen oder Indizien die Überzeugungskraft des Gutachtens ernstlich erschüttern. Das trifft etwa zu, wenn der Sachverständige die an ihn gestellten Fragen nicht beantwortet, seine Erkenntnisse und Schlussfolgerungen nicht begründet oder diese in sich widersprüchlich sind oder die Expertise sonstwie an Mängeln krankt, die derart offensichtlich sind, dass sie auch ohne spezielles Fachwissen erkennbar sind (Urteil des Bundesgerichts 6B_829/2013 vom 6. Mai 2014 E. 4.1).
6.2
Privatgutachten haben nach konstanter Praxis des Bundesgerichts nicht den gleichen Stellenwert wie ein Gutachten, das von der Untersuchungsbehörde oder von einem Gericht eingeholt wurde. Den Ergebnissen eines im Auftrag des Beschuldigten erstellten Privatgutachtens kommt lediglich die Bedeutung einer der freien Beweiswürdigung unterliegenden Parteibehauptung bzw. eines Bestandteils der Parteivorbringen zu, nicht die Qualität eines Beweismittels (
BGE 132 III 83
E. 3.4;
BGE 127 I 73
E. 3f/bb S. 82; vgl. Urteil 6B_215/2013 vom 27. Januar 2014 E. 1.2; MARIANNE HEER, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 6 zu
Art. 189 StPO
). Da Privatgutachten in der Regel nur eingereicht werden, wenn sie für den Auftraggeber günstig lauten, sind sie mit Zurückhaltung zu würdigen (ANDREAS DONATSCH, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, Donatsch und andere [Hrsg.], 2. Aufl. 2014, N. 15 zu
Art. 182 StPO
). Dies gilt auch, wenn das Privatgutachten durch eine erfahrene und etablierte Fachperson erstellt wird, die auch als Gerichtsgutachter beigezogen wird. Der Privatgutachter ist nicht unabhängig und unparteiisch wie der amtliche Sachverständige. Er steht vielmehr in einem Auftragsverhältnis zu der ihn beauftragenden privaten Partei und äussert seine
BGE 141 IV 369 S. 374
Meinung, ohne von den juristischen Entscheidungsträgern in die Pflicht genommen worden zu sein. Es ist daher beim Privatgutachter vom Anschein einer Befangenheit auszugehen, zumal er vom Angeschuldigten nach dessen Kriterien ausgewählt worden ist, zu diesem in einem Vertrags- und Treueverhältnis steht und von ihm entlöhnt wird. Demgegenüber ist der amtliche Sachverständige oder Experte - gleichgültig ob er von der Untersuchungsbehörde oder vom Gericht ernannt wurde - nicht Gutachter einer Partei, namentlich auch nicht des Untersuchungsrichters oder des Anklägers. Er ist vielmehr Entscheidungsgehilfe des Richters, dessen Wissen und Erfahrungen er durch besondere Kenntnisse auf seinem Sachgebiet ergänzt (
BGE 127 I 73
E. 3f/bb S. 81 f.;
BGE 118 Ia 144
E. 1c; je mit Hinweisen; vgl. auch DONATSCH, a.a.O., N. 2 zu
Art. 182 StPO
). Aus diesen Gründen ist ein privates Gutachten, auch wenn es durch eine anerkannte Fachperson erstellt wird, einem gerichtlich angeordneten Gutachten nicht gleichgestellt (Urteil 6B_49/2011 vom 4. April 2011 E. 1.4).
Aus diesen Gründen ist zweifelhaft, ob ein Privatgutachten die Überzeugungskraft eines gerichtlich angeordneten Gutachtens zu erschüttern vermag (Urteile 6B_951/2009 vom 26. Februar 2010 E. 1.3; 6B_283/2007 vom 5. Oktober 2007 E. 2 mit Hinweisen). Immerhin kann ein Privatgutachten unter Umständen aber geeignet sein, Zweifel an der Schlüssigkeit eines Gerichtsgutachtens oder die Notwendigkeit eines (zusätzlichen) Gutachtens zu begründen. Ergibt sich aus ihm, dass entscheidrelevante Aspekte im amtlich bestellten Gutachten nicht rechtsgenügend geprüft sind oder dass erhebliche Zweifel an der Schlussfolgerung dieses Gutachtens bestehen, müssen diese abgeklärt bzw. ausgeräumt werden. Entscheide dürfen indes nicht ausschliesslich auf Parteigutachten abgestützt werden (Urteil 6B_438/ 2011 vom 18. Oktober 2011 E. 2.4.3). Wie bei jeder substantiiert vorgebrachten Einwendung ist das Gericht deshalb verpflichtet zu prüfen, ob das Privatgutachten die Schlussfolgerungen des behördlich bestellten Gutachters derart zu erschüttern vermag, dass davon abzuweichen ist (
BGE 125 V 351
E. 3b und c; Urteile 6B_215/2013 vom 27. Januar 2014 E. 1.2; 6B_48/2009 vom 11. Juni 2009 E. 4.2 mit Hinweisen; HEER, a.a.O., N. 7 zu
Art. 189 StPO
).
Aus der unterschiedlichen Rollenverteilung zwischen amtlichem Sachverständigen und Privatgutachter ergibt sich, dass es nicht gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens verstösst, wenn der amtliche Sachverständige zu den Vorbringen des privaten Gutachters Stellung nehmen kann, diesem aber kein Recht auf eine "Replik"
BGE 141 IV 369 S. 375
eingeräumt wird. Es genügt unter dem Gesichtspunkt des Fairnessprinzips gemäss
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
, wenn dem Angeklagten bzw. seinem Verteidiger Gelegenheit gegeben wird, sich zu den Ausführungen des amtlichen Sachverständigen betreffend das Privatgutachten zu äussern (
BGE 127 I 73
E. 3f/bb S. 82 mit Hinweis).
6.3
Der Beschwerdeführer wendet sich gegen den Schluss der Vorinstanz, er habe in Bezug auf die Anklagepunkte des gewerbsmässigen Betruges und der mehrfachen Urkundenfälschung mit Täuschungs- bzw. Schädigungsabsicht gehandelt. Was der Täter wusste, wollte und in Kauf nahm, betrifft sogenannte innere Tatsachen, ist damit Tatfrage. Als solche prüft sie das Bundesgericht nur unter dem Gesichtspunkt der Willkür (
Art. 9 BV
;
Art. 97 Abs. 1 BGG
;
BGE 137 IV 1
E. 4.2.3;
BGE 135 IV 152
E. 2.3.2). Den kantonalen Instanzen steht bei der Beweiswürdigung ein weiter Spielraum des Ermessens zu. Willkür im Sinne von
Art. 9 BV
liegt nur vor, wenn der angefochtene Entscheid auf einer schlechterdings unhaltbaren Beweiswürdigung beruht, d.h. wenn die Behörde in ihrem Entscheid von Tatsachen ausgeht, die mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch stehen oder auf einem offenkundigen Fehler beruhen (
BGE 140 I 201
E. 6.1;
BGE 138 I 49
E. 7.1 und 305 E. 4.3;
BGE 138 V 74
E. 7).
Die Rüge der willkürlichen Feststellung des Sachverhalts prüft das Bundesgericht gemäss
Art. 106 Abs. 2 BGG
nur insoweit, als sie in der Beschwerde explizit vorgebracht und substantiiert begründet worden ist. In der Beschwerde muss im Einzelnen dargelegt werden, inwiefern der angefochtene Entscheid an einem qualifizierten und offensichtlichen Mangel leidet. Auf eine blosse appellatorische Kritik am angefochtenen Urteil tritt das Bundesgericht nicht ein (
BGE 140 I 201
E. 6.1;
BGE 138 I 171
E. 1.4;
BGE 136 II 489
E. 2.8;
BGE 133 IV 286
E. 1.4; je mit Hinweisen).
6.4
Im Folgenden ist zu prüfen, ob in Bezug auf die zu beurteilenden Anklagepunkte des gewerbsmässigen Betruges und der mehrfachen Urkundenfälschung der Schluss der kantonalen Instanzen auf den Vorsatz des Beschwerdeführers bzw. auf dessen Handeln in Täuschungs- und Schädigungsabsicht im Einklang mit Bundesrecht steht. Dabei sind die beiden Anklagepunkte getrennt zu betrachten.
7.
7.1
Nach
Art. 251 Ziff. 1 StGB
erfüllt den Tatbestand der Urkundenfälschung u.a., wer in der Absicht, jemanden am Vermögen oder an andern Rechten zu schädigen oder sich oder einem andern einen
BGE 141 IV 369 S. 376
unrechtmässigen Vorteil zu verschaffen, eine rechtlich erhebliche Tatsache unrichtig beurkundet oder beurkunden lässt (Falschbeurkundung) oder eine Urkunde dieser Art zur Täuschung gebraucht.
Die kaufmännische Buchführung und ihre Bestandteile (Belege, Bücher, Buchhaltungsauszüge über Einzelkonten, Bilanzen oder Erfolgsrechnungen) sind kraft Gesetzes (
Art. 957 ff. OR
) bestimmt und geeignet, Tatsachen von rechtlich erheblicher Bedeutung zu beweisen (
BGE 138 IV 130
E. 2.2.1;
BGE 132 IV 12
E. 8.1; je mit Hinweisen). Die Rechnungslegung muss ein genaues und vollständiges Bild der tatsächlichen wirtschaftlichen Lage des Unternehmens vermitteln. Eine falsche Buchung erfüllt den Tatbestand der Falschbeurkundung, wenn sie ein falsches Gesamtbild der Buchführung zeichnet und dabei Buchungsvorschriften und -grundsätze verletzt, die errichtet worden sind, um die Wahrheit der Erklärung zu gewährleisten. Solche Grundsätze werden namentlich in den gesetzlichen Bestimmungen über die ordnungsgemässe Rechnungslegung in
Art. 958a ff. OR
(aArt. 958 ff., 662a ff. OR) aufgestellt, die den Inhalt bestimmter Schriftstücke näher festlegen. Gemäss ständiger Praxis kommt der kaufmännischen Buchführung daher hinsichtlich der in ihr aufgezeichneten wirtschaftlichen Sachverhalte erhöhte Glaubwürdigkeit zu (
BGE 132 IV 12
E. 8.1;
BGE 129 IV 130
E. 2.3 mit Hinweisen; erstmals
BGE 79 IV 162
E. 3 S. 163 f.).
7.2
Der Beschwerdeführer stellt im bundesgerichtlichen Verfahren nicht in Abrede, dass die Jahresabschlüsse (insbesondere die Einzelabschlüsse) und ein Grossteil der monierten Abschlussbuchungen in Verletzung der geltenden Rechnungslegungsregeln erstellt wurden. Er rügt auch nicht Willkür in Bezug auf die Feststellung der Vorinstanz, wonach er von den angeklagten Abschlussbuchungen Kenntnis gehabt habe (anders noch im kantonalen Verfahren, in welchem er bestritt, in irgendeiner Weise in die Abschlussgestaltung involviert gewesen zu sein; vgl. nur etwa die Erwägungen der Vorinstanz zu den handschriftlichen Änderungen auf den provisorischen Jahresrechnungen). Der Beschwerdeführer räumt mithin ein, dass der Tatbestand der Urkundenfälschung (Falschbeurkundung) in objektiver Hinsicht erfüllt ist. Er macht indes geltend, die unwahren Einzelabschlüsse seien in offensichtlich steueroptimierender Absicht erstellt worden und hätten insbesondere weniger Erträge ausgewiesen, als tatsächlich erwirtschaftet worden seien. Dies sei den Banken bewusst gewesen, zumal diese auch von den Gruppenabschlüssen Kenntnis gehabt hätten. Zudem hält er dafür, die wirtschaftliche
BGE 141 IV 369 S. 377
Lage der X.-Gruppe sei in einer wirtschaftlichen Gesamtbetrachtung zu beurteilen.
7.3
Die Vorinstanz nimmt an, konzernrechtliche Überlegungen erlangten im Strafrecht nur im Rahmen der ungetreuen Geschäftsbesorgung Bedeutung. Im Rahmen der Urkundenfälschung bzw. bei der Frage der Verwendung inhaltlich unwahrer Jahresrechnungen müsse für jede einzelne Gesellschaft bzw. Gruppe geprüft werden, ob die Jahresrechnungen lege artis erstellt worden seien.
Es trifft zu, dass Vermögensdispositionen zwischen Konzerngesellschaften oder Transferleistungen zugunsten notleidender Konzerngesellschaften im Rahmen von Sanierungen im Lichte des Tatbestandes der ungetreuen Geschäftsbesorgung strafrechtlich relevant werden können (vgl. MARTIN SCHUBARTH, in: Wirtschaftsstrafrecht der Schweiz, Ackermann/Heine [Hrsg.], 2013, § 9 Konzernstrafrecht, N. 5 ff.;
ders.
, Konzernstrafrecht, SZW 2006 S. 163 ff.;
ders.
, Konzernstrafrecht, in: Umfangreiche Wirtschaftsstrafverfahren in Theorie und Praxis, 2008, S. 10 ff. N. 29 ff., S. 19 f. N. 53 ff. und S. 21 N. 61 ff.; vgl. auch HANS CASPAR VON DER CRONE, Aktienrecht, 2014, § 15 N. 63; vgl. auch
BGE 130 III 213
E. 2.2.2 [konzernrechtliches Trennungsprinzip]). Die Vorinstanz nimmt auch zu Recht an, bei der Frage der Erstellung und Verwendung unwahrer Jahresabschlüsse der Gruppengesellschaften spielten konzernrechtliche Überlegungen grundsätzlich keine Rolle. Das bedeutet freilich nicht, dass bei der Einschätzung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit einer Gruppe miteinander verbundener Unternehmen, die im Rahmen der Beurteilung des subjektiven Tatbestandes Bedeutung erlangen kann, derartige Überlegungen von vornherein ausser Betracht fallen würden.
7.4
Der subjektive Tatbestand der Urkundenfälschung verlangt zunächst Vorsatz in Bezug auf alle objektiven Merkmale, wobei Eventualvorsatz genügt (
BGE 138 IV 130
E. 3.2.1). Darüber hinaus erfordert er ein Handeln in der Absicht, jemanden am Vermögen oder anderen Rechten zu schädigen oder sich oder einem andern einen unrechtmässigen Vorteil zu verschaffen. Der Täter muss die Urkunde im Rechtsverkehr als wahr verwenden (lassen) wollen. Dies setzt eine Täuschungsabsicht voraus. Dabei muss sich der erstrebte Vorteil bzw. die Schädigung gerade aus dem Gebrauch der unechten bzw. unwahren Urkunde ergeben (
BGE 138 IV 130
E. 3.2.4 mit Hinweisen); die Täuschung muss mithin auf die Hervorrufung einer falschen Vorstellung über die Echtheit oder Wahrheit der Urkunde
BGE 141 IV 369 S. 378
gerichtet sein. Nach der Rechtsprechung liegt der täuschende Gebrauch der Urkunde schon darin, dass sie in den Rechtsverkehr gebracht wird (
BGE 113 IV 77
E. 4). Bei der Erstellung einer unwahren Buchhaltung wird eine Täuschung Dritter in der Regel in Kauf genommen (
BGE 138 IV 130
E. 3.2.4;
BGE 133 IV 303
E. 4.6 und 4.9).
Bei der Schädigungsabsicht muss sich die angestrebte Benachteiligung gegen fremdes Vermögen richten, wobei der Begriff des Vermögens gleichbedeutend ist wie bei den Vermögensdelikten (
BGE 83 IV 75
E. 3b). Handeln in Vorteilsabsicht ist nach der Rechtsprechung nicht nur gegeben, wenn der Täter nur Vorteile vermögensrechtlicher Natur anstrebt. Als Vorteil gilt jegliche Besserstellung, sei sie vermögensrechtlicher oder sonstiger Natur (
BGE 118 IV 254
E. 5 mit Hinweisen; TRECHSEL/ERNI, in: Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, 2. Aufl. 2013, N. 15 zu
Art. 251 StGB
). Der Vorteil muss sich auch nicht zum Nachteil eines anderen auswirken (
BGE 103 IV 176
E. 2b).
7.5
Im Lichte dieser Rechtsprechung verletzt der Schluss der Vorinstanz, das Handeln des Beschwerdeführers erfülle den subjektiven Tatbestand der Urkundenfälschung (Falschbeurkundung), kein Bundesrecht. Der Beschwerdeführer reichte den Banken im Rahmen der Verhandlungen über Kreditgewährungen oder -verlängerungen die unwahren Jahresrechnungen 1998-2002 der vier Holdinggesellschaften sowie der C.X. AG und der J. AG ein. Aufgrund der Feststellungen der Vorinstanz besteht kein Zweifel, dass er mit der Vorlage der Jahresrechnungen den Banken gegenüber vorgab, die Abschlüsse seien wahr. Ausser Frage steht auch, dass er mit diesem Vorgehen beabsichtigt hat, seine Position bzw. diejenige der X.-Gruppe bei den Kreditverhandlungen zu verbessern. Dem Umstand, ob er der Auffassung war, die X.-Gruppe sei aus gesamtwirtschaftlicher Sicht nicht überschuldet und in der Lage, die Auslandsinvestitionen zu finanzieren, kommt in diesem Kontext keine eigenständige Bedeutung zu.
Der Beschwerdeführer bringt zwar in diesem Zusammenhang vor, die Einzelabschlüsse seien in steueroptimierender Absicht erstellt worden und hätten insbesondere weniger Erträge ausgewiesen, als tatsächlich erwirtschaftet worden seien. Dieser Auffassung des Beschwerdeführers steht indes die Feststellung der Vorinstanz entgegen, dass es lediglich eine einzige Version von Abschlüssen gegeben habe, welche gegenüber Drittpersonen, einschliesslich Bankenvertretern, kommuniziert worden sei. Der Beschwerdeführer hat denn
BGE 141 IV 369 S. 379
an der Berufungsverhandlung auch eingeräumt, es habe nur eine Bilanz gegeben und diese sei gleichzeitig die handelsrechtliche und die steuerliche Bilanz gewesen. Im Übrigen verweist die Vorinstanz zu Recht darauf, dass gemäss den amtlichen Gutachtern die Vermögens- und Ertragslage der einzelnen kreditnehmenden Gesellschaften in den kommunizierten Jahresabschlüssen der X.-Gesellschaften nicht schlechter, sondern viel besser dargestellt, als sie in Wirklichkeit war. Die Abschlüsse hätten mithin ein viel zu positives Bild der Vermögens- und Ertragslage der einzelnen Gesellschaften gezeigt. Nach Auffassung der Vorinstanz war es den Banken auch nicht durchwegs bewusst, dass es sich bei den eingereichten Abschlüssen um Steuerabschlüsse gehandelt haben soll. Mit dieser Erwägung und den Aussagen der Bankenvertreter, auf welche sich die Vorinstanz in diesem Kontext bezieht, setzt sich der Beschwerdeführer nicht auseinander. Er beschränkt sich vielmehr auf die pauschale Behauptung, die Banken hätten darum gewusst, dass es sich bei den vorgelegten Abschlüssen um steueroptimierte Jahresabschlüsse gehandelt habe. Damit wird die Beschwerde in diesem Punkt den Begründungsanforderungen nicht gerecht. Schliesslich nimmt die Vorinstanz in diesem Zusammenhang zu Recht an, die handschriftlichen Manipulationsanweisungen durch den Beschwerdeführer wären, hätte es sich tatsächlich um steueroptimierte Bilanzen gehandelt, gar nicht erforderlich gewesen. Der Beschwerdeführer habe gewusst, dass die kreditgebenden Banken auf Grundlage dieser Jahresabschlüsse über die Vergabe und Verlängerung von Krediten an die X.-Gesellschaften entscheiden würden. Die Zustellung der unwahren Abschlüsse durch den Beschwerdeführer lasse sich nicht anders deuten, als dass er die Banken über die Vermögens- und Ertragslage der kreditnehmenden Gesellschaften und der X.-Gruppe insgesamt habe täuschen wollen. Dafür spreche auch der Umstand, dass er die unwahren Abschlüsse anlässlich der Besprechungen gegenüber den Bankenvertretern noch näher erläutert habe. Mit seinen Täuschungshandlungen habe er erreichen wollen, dass die kreditgebenden Banken die X.-Gesellschaften (weiterhin) als finanziell intakt und kreditwürdig einstuften und ihnen Kredite einräumten bzw. bestehende Kredite verlängerten. Es sei nicht ersichtlich, welchen anderen Zweck der Versand gefälschter Bilanzen an potentiell kreditgebende Banken hätte haben können.
Zuletzt ist darauf hinzuweisen, dass nach dem Prinzip der Massgeblichkeit die nach den Regeln des Handelsrechts aufgestellte Handelsbilanz - unter Vorbehalt der steuerrechtlichen Korrekturvorschriften
BGE 141 IV 369 S. 380
sowie der zwingenden handelsrechtlichen Vorschriften - Ausgangspunkt und Grundlage auch für die steuerliche Gewinnermittlung bildet (
BGE 141 II 83
E. 3.1;
BGE 137 II 353
E. 6.2 mit Hinweisen; vgl. zu Inhalt und Tragweite des Prinzips etwa BRÜLISAUER/POLTERA, in: Bundesgesetz über die direkte Bundessteuer [DBG], in: Kommentar zum schweizerischen Steuerrecht, Bd. I/2a, 2. Aufl. 2008, N. 11 ff. zu
Art. 58 DBG
). Die Gestaltungsmöglichkeiten bei der Erstellung einer Steuerbilanz sind damit jedenfalls nicht uneingeschränkt. | 8,939 | 3,491 | CH_BGE_006 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_006_BGE-141-IV-369_2015-08-27 | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=11&from_date=&to_date=&from_year=2015&to_year=2015&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=106&highlight_docid=atf%3A%2F%2F141-IV-369%3Ade&number_of_ranks=280&azaclir=clir | BGE_141_IV_369 |
|||
ed203947-246b-4d21-ba47-e4522ca299b9 | 1 | 81 | 1,354,443 | null | 2,024 | de | Sachverhalt
ab Seite 176
BGE 129 II 175 S. 176
X., geboren 1978, stammt aus der Volksrepublik China und reiste 1993 in die Schweiz ein. Er verfügt über eine Aufenthaltsbewilligung B und hat sich seit dem Einreisedatum nie ins Ausland abgemeldet.
Am 15. März 2000 stellte ihm das Verkehrsamt des Kantons Schwyz (nachfolgend: Verkehrsamt) auf Gesuch hin einen Lernfahrausweis der Kategorie B mit Gültigkeit bis zum 15. September 2001 aus.
X. erwarb am 27. Februar 2001 anlässlich eines Ferienaufenthaltes in der Volksrepublik China den chinesischen Führerausweis für Motorfahrzeuge.
Am 27. Juni 2001 scheiterte er bei der theoretischen Fahrprüfung in Pfäffikon und ersuchte am 15. Oktober 2001 das Verkehrsamt des Kantons Schwyz erneut um Erteilung eines Lernfahrausweises der Kategorie B. Auf dem Gesuchsformular erwähnte er unter Ziffer 4 den Erwerb des chinesischen Führerausweises.
Das Verkehrsamt des Kantons Schwyz verfügte am 15. März 2002 die Aberkennung des ausländischen Führerausweises auf unbestimmte Zeit. Im Wesentlichen mit der Begründung, X. habe die "Niederlassungsbewilligung B", womit sein Wohnsitz in der Schweiz sei. Den Führerausweis habe er demzufolge unter Umgehung des Wohnortprinzips in China erworben. Es handle sich somit um eine "klassische Umgehung".
Auf telefonische Intervention des damaligen Rechtsvertreters von X. hin ersetzte das Verkehrsamt am 25. März 2002 seine Verfügung vom 15. März 2002 durch eine neue, wobei es wiederum den ausländischen Führerausweis auf unbestimmte Zeit aberkannte und die Begründung teilweise änderte. Auch wenn X. nicht beabsichtigt habe, mit diesem Ausweis in der Schweiz zu fahren, müsse dieser gleichwohl aberkannt werden. X. habe ein Verfahren ausgelöst, weshalb es sich rechtfertige, ihm die Verfahrenskosten zu auferlegen.
BGE 129 II 175 S. 177 | 382 | 303 | Das Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz (nachfolgend: Verwaltungsgericht) hiess die gegen diese Verfügung erhobene Beschwerde am 28. Juni 2002 gut und hob die angefochtene Verfügung im Sinne der Erwägungen auf. Es erwog im Wesentlichen, dass kein Umgehungstatbestand erstellt und die verfügte Massnahme der Aberkennung unverhältnismässig sei.
Das Verkehrsamt führt beim Bundesgericht Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, den Entscheid des Verwaltungsgerichts aufzuheben und X. den ausländischen Führerausweis auf unbestimmte Zeit abzuerkennen.
X. beantragt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, soweit darauf einzutreten sei. Das Verwaltungsgericht schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Strassen beantragt die Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
Das Bundesgericht heisst die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gut, hebt den Entscheid des Verwaltungsgerichts auf und weist die Sache zum neuen Entscheid im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurück.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
2.1
Wer in der Schweiz ein Motorfahrzeug führt, bedarf des Führerausweises, wer Lernfahrten unternimmt, des Lernfahrausweises (
Art. 10 Abs. 2 SVG
). Der Führerausweis wird von der Verwaltungsbehörde am Wohnsitz des Fahrzeugführers erteilt und entzogen (
Art. 22 Abs. 1 SVG
), wobei sich der Wohnsitz nach den Bestimmungen des schweizerischen Zivilgesetzbuches richtet (
Art. 2 Abs. 2 der Verordnung vom 27. Oktober 1976 über die Zulassung von Personen und Fahrzeugen zum Strassenverkehr [VZV; SR 741.51]
).
2.2
Motorfahrzeugführer aus dem Ausland dürfen in der Schweiz nur Motorfahrzeuge führen, wenn sie einen gültigen nationalen Führerausweis oder einen gültigen internationalen Führerausweis nach dem internationalen Abkommen vom 24. April 1926 über Kraftfahrzeugverkehr (SR 0.741.11) oder nach dem (von der Schweiz nicht ratifizierten) Abkommen vom 19. September 1949 über den Strassenverkehr oder nach jenem vom 8. November 1968 über den Strassenverkehr (SR 0.741.10) besitzen (
Art. 42 Abs. 1 VZV
). Die Wirksamkeit des ausländischen Ausweises ist auf dem Schweizer Territorium insofern eingeschränkt, als Fahrzeugführer aus dem Ausland, die seit zwölf Monaten in der Schweiz wohnen und sich in dieser Zeit
BGE 129 II 175 S. 178
nicht länger als drei Monate ununterbrochen im Ausland aufgehalten haben, einen schweizerischen Führerausweis benötigen (
Art. 42 Abs. 3bis lit. a VZV
). Dessen Erwerb richtet sich nach
Art. 44 VZV
. Dem Inhaber eines gültigen nationalen ausländischen Ausweises wird der schweizerische Führerausweis der entsprechenden Kategorie erteilt, wenn er auf einer Kontrollfahrt nachweist, dass er die Verkehrsregeln kennt und Fahrzeuge der Kategorien, für die der Ausweis gelten soll, sicher zu führen versteht (
Art. 44 Abs. 1 VZV
).
2.3
Ausländische Führerausweise können in der Schweiz nach den gleichen Bestimmungen aberkannt werden, die für den Entzug des schweizerischen Führerausweises gelten (
Art. 45 Abs. 1 Satz 1 VZV
); sie können aber nicht entzogen werden, weil darin ein unzulässiger Eingriff in ausländische Hoheitsrechte läge (vgl.
BGE 121 II 447
E. 3a S. 450 mit Hinweisen).
In Bezug auf ausländische Führerausweise, die in Umgehung der schweizerischen oder ausländischen Zuständigkeitsbestimmungen im Ausland erworben werden, sind indes die Rechtsfolgen in der VZV unklar geregelt. Solche Ausweise dürfen nach
Art. 42 Abs. 4 VZV
in der Schweiz nicht verwendet werden. Nach
Art. 45 Abs. 1 Satz 2 VZV
sind sie ausserdem auf unbestimmte Zeit abzuerkennen. Daraus folgt nach
BGE 109 Ib 205
E. 4a S. 208 jedoch nicht, dass ausländische Führerausweise, die in der Schweiz nicht verwendet werden dürfen, stets abzuerkennen sind. Die schweizerischen (und a fortiori die ausländischen) Zuständigkeitsvorschriften gestatten vielmehr einer in der Schweiz wohnhaften Person, in einem ausländischen Staat den Führerausweis zu erwerben, wenn der Betreffende diesen nur im Ausland verwenden will. Erst die Verwendung des ausländischen Ausweises in der Schweiz stellt eine Umgehung der schweizerischen Zuständigkeitsbestimmungen dar und begründet die Aberkennung des ausländischen Ausweises. Allein dessen Besitz verstösst nicht gegen schweizerisches Recht und rechtfertigt keine Aberkennung, soweit nicht nachgewiesen ist, dass der Betreffende den Führerausweis benützt hat oder willens ist, dies zu tun (
BGE 108 Ib 57
E. 3a S. 60 f.;
BGE 109 Ib 205
E. 4a S. 208; Urteile 2A.485/1999 vom 8. Februar 2000, E. 2a, 2A.485/1996 vom 26. September 1997, E. 4a und 2A.275/1988 vom 10. Mai 1989, E. 2b).
2.4
Für die Aberkennung wegen Umgehung der Zuständigkeitsbestimmungen müssen nach dieser bisherigen Rechtsprechung somit objektive und subjektive Tatbestandsmerkmale erfüllt sein. Objektiv ist der Erwerb eines ausländischen Ausweises im Ausland unter Verletzung des Wohnsitzprinzips notwendig. Der Besitz eines
BGE 129 II 175 S. 179
ausländischen Ausweises allein führt jedoch nicht automatisch zur Aberkennung (vgl.
BGE 109 Ib 205
E. 4a S. 208;
BGE 108 Ib 57
E. 3a S. 60). Dafür ist entweder der widerrechtliche Gebrauch des Ausweises oder der - von den Behörden nur schwer zu erbringende - Nachweis der subjektiven Absicht der widerrechtlichen Verwendung notwendig. Das Bundesgericht führte zwar im Urteil 2A.485/1999 vom 8. Februar 2000, E. 2b, aus, die (subjektive) Umgehungsabsicht spiele keine Rolle; es genüge die objektive Umgehung der Zuständigkeitsbestimmungen für eine Aberkennung nach
Art. 42 Abs. 4 und
Art. 45 Abs. 1 VZV
. In jenem Fall war jedoch die Absicht bzw. die erfolgte Verwendung des ausländischen Ausweises in der Schweiz nicht bestritten. Deshalb scheint sich dieser Hinweis nur auf die Widerrechtlichkeit der Verwendung des Ausweises zu beziehen.
2.5
An der bisherigen Rechtsprechung ist namentlich unter dem Aspekt der Verkehrssicherheit unbefriedigend, dass mit der Aberkennung zugewartet werden muss bis zur tatsächlichen widerrechtlichen Verwendung des Ausweises oder bis der Nachweis der Absicht der widerrechtlichen Verwendung erbracht ist. Gerade ein solcher Nachweis ist oft schwer zu erbringen und häufig vom Zufall abhängig.
Die praktische Möglichkeit und das Bedürfnis nach Aberkennung besteht dann, wenn der Inhaber des Ausweises in der Schweiz unzulässigerweise ein Fahrzeug führt bzw. geführt hat oder gegenüber den schweizerischen Behörden als potenzieller Motorfahrzeugführer auftritt. Eine individualrechtliche Anordnung, welche das generell-abstrakte Verbot der Verwendung zuständigkeitswidrig erworbener Ausweise aktualisiert und durch Aberkennung bzw. Hinterlegung des ausländischen Ausweises auch besser durchsetzbar macht, erscheint nicht erst dann gerechtfertigt, wenn die Absicht der widerrechtlichen Verwendung eindeutig nachgewiesen ist, sondern bereits dann, wenn auf Grund objektiver Umstände mit der Möglichkeit zu rechnen ist, dass der betreffende Inhaber den Ausweis in der Schweiz widerrechtlich benützen könnte.
Der von der bisherigen Rechtsprechung verlangte Nachweis der subjektiven Absicht der widerrechtlichen Verwendung ergibt sich denn auch nicht zwingend aus dem Begriff der Umgehung. Eine "Umgehung" der Zuständigkeitsbestimmungen liegt bereits dann vor, wenn eine in der Schweiz wohnhafte Person den Führerausweis entgegen der Regel von
Art. 22 Abs. 1 SVG
nicht in der Schweiz als zuständigem Wohnsitzstaat, sondern im Ausland erwirbt. Hierin liegt zwar keine Verletzung der schweizerischen Rechtsordnung,
BGE 129 II 175 S. 180
weil dieser Vorgang ausserhalb des schweizerischen Hoheitsbereichs liegt, aber es handelt sich um eine Umgehung der schweizerischen Zuständigkeitsordnung, welche bezüglich der Fahrberechtigung in der Schweiz entsprechende Rechtsfolgen nach sich zieht. Es rechtfertigt sich deshalb, auf das bisher verlangte subjektive Tatbestandselement als unabdingbare Voraussetzung zu verzichten und die Aberkennungsvoraussetzungen zu objektivieren. Die Zuständigkeitsbestimmungen im Sinne von
Art. 45 Abs. 1 Satz 2 VZV
umgeht deshalb nicht nur, wer einen Führerausweis im Ausland erwirbt, obwohl er ihn in der Schweiz hätte erwerben müssen, und den so erworbenen ausländischen Ausweis in der Schweiz verwenden will; es genügt vielmehr bereits, wenn auf Grund objektiver Umstände mit der Möglichkeit zu rechnen ist, dass der betreffende Inhaber den Ausweis in der Schweiz widerrechtlich benützen könnte. Die bisherige Rechtsprechung ist insofern zu präzisieren.
3.
Der Beschwerdegegner erwarb seinen chinesischen Ausweis am 27. Februar 2001 zu einem Zeitpunkt, in dem er seinen Wohnsitz in der Schweiz hatte. Mit dem Erwerb missachtete er unbestrittenermassen die Zuständigkeitsbestimmungen. Nachdem er die theoretische Fahrprüfung nicht bestanden hatte, stellte der Beschwerdegegner am 15. Oktober 2001 ein zweites Gesuch um Erteilung eines schweizerischen Lernfahrausweises, in dem er seinen chinesischen Ausweis korrekt deklarierte. Damit trat er dem Verkehrsamt gegenüber als potenzieller Motorfahrzeugführer auf, sodass objektive Umstände vorhanden sind, auf Grund derer mit der Möglichkeit zu rechnen ist, dass der Beschwerdegegner den Ausweis in der Schweiz widerrechtlich benutzen könnte. Der unter Umgehung der Zuständigkeitsbestimmungen erworbene chinesische Ausweis ist deshalb im Sinn der präzisierten Rechtsprechung nach
Art. 45 Abs. 1 Satz 2 VZV
abzuerkennen. Indem das Verwaltungsgericht die Aberkennungsverfügung des Verkehrsamtes aufhob, verletzte es somit Bundesrecht, weshalb der angefochtene Entscheid aufzuheben ist.
4.
4.1
Für aberkannte ausländische nationale Führerausweise sieht
Art. 45 Abs. 4 VZV
vor, dass sie bei der Behörde hinterlegt werden und dem Berechtigten nach Ablauf der Aberkennungsfrist oder Aufhebung der Aberkennung bzw. auf Verlangen beim Verlassen der Schweiz auszuhändigen sind, unabhängig davon, ob der Berechtigte in der Schweiz Wohnsitz hat (vgl.
BGE 121 II 447
E. 3c S. 451 mit Hinweisen).
BGE 129 II 175 S. 181
4.2
Als wohl mildere Massnahme gegenüber der Einziehung könnte die Aberkennung eines ausländischen Führerausweises für das Gebiet der Schweiz auch im betreffenden Ausweis eingetragen werden. Diese Möglichkeit ist in
Art. 45 Abs. 1 VZV
nur für internationale Führerausweise vorgesehen. Ein solches Vorgehen muss aber auch bei nationalen ausländischen Ausweisen möglich sein, wenn sich der Inhaber ausdrücklich mit einem derartigen Eintrag einverstanden erklärt. Eine Ungültigerklärung des Ausweises durch Anmerkung und Stempelung der Urkunde ist zweckmässig, weil dadurch der betreffende ausländische Ausweis für das Gebiet der Schweiz unmittelbar entwertet wird. Die polizeiliche Kontrolle ist damit ebenso gut gewährleistet wie bei einer Hinterlegung. Die Anmerkung direkt auf dem Dokument verringert zudem nicht nur den Verwaltungsaufwand der Behörde; auch mit Rücksicht auf die Umtriebe, die dem Beschwerdegegner durch die Hinterlegung des Ausweises bei beabsichtigter Verwendung desselben im Ausland entstehen würden, erscheint sie praktikabel und verhältnismässig (
BGE 121 II 447
E. 4 S. 452 f. mit Hinweisen).
4.3
Nach
Art. 114 Abs. 2 OG
kann das Bundesgericht eine Streitsache, wenn es den angefochtenen Entscheid aufhebt, zum neuen Entscheid an die Vorinstanz zurückweisen. Nach den vorliegenden Akten konnte sich der Beschwerdegegner noch nicht dazu äussern, ob er im Fall einer Aberkennung seinen chinesischen Ausweis bei der Behörde hinterlegen will oder ob die Ungültigkeit in der Schweiz im Ausweis angemerkt werden soll. Es rechtfertigt sich deshalb, die Sache zu ergänzender Abklärung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Das Verwaltungsgericht wird auch über die kantonalen Verfahrenskosten neu zu befinden haben und erhält Gelegenheit, die dem Beschwerdegegner vom Verkehrsamt auferlegten Kosten auf ihre Recht- und Verhältnismässigkeit zu überprüfen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Beschwerdegegner nicht mit einem zusätzlichen Verfahren rechnen musste, als er sein Gesuch um Erteilung eines Lernfahrausweises korrekt ausfüllte. Das Verkehrsamt aberkannte ihm den chinesischen Ausweis entgegen der bisherigen bundesgerichtlichen Rechtsprechung und die vom Betroffenen dagegen erhobene Beschwerde war insoweit nicht unbegründet. | 2,514 | 1,970 | 2 | 0 | CH_BGE_004 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_004_BGE-129-II-175_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=28&from_date=&to_date=&from_year=2003&to_year=2003&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=273&highlight_docid=atf%3A%2F%2F129-II-175%3Ade&number_of_ranks=300&azaclir=clir | BGE_129_II_175 |
|||
ed23bc98-4d0b-4187-8ce0-c2cb0044ce70 | 2 | 81 | 1,362,239 | 852,076,800,000 | 1,997 | fr | Sachverhalt
ab Seite 242
BGE 123 II 241 S. 242
Le 24 juillet 1993, dame G. a été agressée par un inconnu alors qu'elle pratiquait la course à pied le long des rives de l'Arve. Elle a subi une fracture ouverte du tibia et du péroné de la jambe droite; elle a souffert en outre de contusions multiples et d'un hématome à l'oeil droit.
A raison de ces faits, dame G. a déposé plainte pénale le 25 juillet 1993.
L'auteur de l'agression n'ayant pu être identifié, le Procureur général du canton de Genève a classé la plainte le 16 septembre 1993.
Le 18 octobre 1995, dame G. s'est adressée à l'instance cantonale d'indemnisation (ci-après: l'instance cantonale) instituée en vertu de la loi fédérale sur l'aide aux victimes d'infractions du 4 octobre 1991 (LAVI; RS 312.5). Alléguant n'avoir reçu aucune information sur l'existence de la loi fédérale et des droits qu'elle confère aux victimes, elle s'est enquis de la possibilité de recevoir une indemnité à ce titre. Le 24 octobre 1995, la présidente de l'instance cantonale a indiqué à la requérante que ses droits étaient périmés au regard de l'
art. 16 al. 3 LAVI
.
Le 21 juin 1996, dame G. a réitéré sa requête d'indemnisation, que l'instance cantonale a rejetée le 27 juin 1996 parce que tardive au regard de l'
art. 16 al. 3 LAVI
.
Par arrêt du 24 septembre 1996, le Tribunal administratif du canton de Genève a rejeté le recours formé par dame G. contre la décision du 27 juin 1996.
Agissant parallèlement par la voie du recours de droit public et du recours de droit administratif, dame G. demande au Tribunal fédéral d'annuler l'arrêt du 24 septembre 1996 et de renvoyer la cause au Tribunal administratif pour nouvelle décision au sens des considérants. A l'appui du recours de droit administratif, elle invoque les
art. 4 Cst.
et 16 al. 3 LAVI. A l'appui du recours de droit public, elle invoque l'
art. 4 Cst.
Elle requiert en outre l'assistance judiciaire.
Le Tribunal administratif se réfère à son arrêt. Le Département fédéral de justice et police (ci-après: le Département fédéral) a produit des observations tendant au rejet des recours. Invitée à répliquer, la recourante a maintenu ses conclusions.
Le Tribunal fédéral a admis le recours de droit administratif | 841 | 444 | Erwägungen
Extrait des considérant:
3.
La recourante se plaint de la violation de l'
art. 16 al. 3 LAVI
, mis en relation avec le principe de la bonne foi ancré à l'
art. 4 Cst.
BGE 123 II 241 S. 243
a) L'aide fournie aux victimes d'infractions comprend notamment l'indemnisation et la réparation morale pour le dommage subi (
art. 1 al. 2 let
. c LAVI). Toute victime d'une infraction commise en Suisse peut demander une indemnisation ou une réparation morale dans le canton dans lequel l'infraction a été commise (
art. 11 al. 1 LAVI
). Les conditions d'octroi, le calcul du montant de l'indemnité et la subsidiarité des prestations de l'Etat sont régies par les
art. 12, 13 et 14 LAVI
. A teneur de l'
art. 16 al. 3 LAVI
, la victime doit introduire ses demandes d'indemnisation et de réparation morale devant l'autorité dans un délai de deux ans à compter de la date de l'infraction; à défaut, ses prétentions sont périmées. Les dispositions relatives à l'indemnisation sont applicables aux infractions commises après l'entrée en vigueur de la LAVI, le 1er janvier 1993 (
art. 12 al. 3 OAVI
; RS 312.51).
b) Il est constant que la recourante est une victime au sens de l'
art. 2 al. 1 LAVI
et que la demande d'indemnisation a été présentée à l'instance cantonale le 18 octobre 1995, soit plus de deux ans après l'agression du 24 juillet 1993.
c) En principe, un délai de forclusion ou de péremption ne peut être suspendu, ni interrompu - sinon par une action - ni restitué (PIERRE MOOR, Droit administratif, vol. II, Berne 1991, p. 56, ANDRÉ GRISEL, Traité de droit administratif, Neuchâtel, 1984 p. 663, 666/667). Dans son Message du 25 avril 1990, le Conseil fédéral a exposé qu'un délai de péremption relativement court obligerait les victimes à se décider rapidement, l'indemnité octroyée sur la base de la loi fédérale visant à permettre aux victimes de surmonter les difficultés surgissant immédiatement après l'infraction. En outre, l'autorité compétente devrait être en mesure de statuer à un moment où il est encore possible d'élucider les circonstances exactes de l'infraction. Selon le Conseil fédéral, les victimes ne seraient pas démunies des moyens d'agir à temps; les centres de consultation les aideraient à déposer une demande d'indemnisation dans le délai prescrit (Message du 25 avril 1990, FF 1990 II p. 909 ss p. 942 relatif à l'art. 15 al. 3 du projet de loi, correspondant à l'art. 16 al. 3 de la loi actuelle). L'Assemblée fédérale a adopté cette disposition sans discussion (BOCN 991 p. 22; BOCE 1991 p. 588).
d) La doctrine a relevé que le délai de péremption de l'
art. 16 al. 3 LAVI
peut s'avérer trop court, s'agissant notamment des délits commis sur des enfants et des délits sexuels, lorsque les effets d'une infraction peuvent se manifester plus tard ou la victime se trouver dans l'impossibilité concrète d'agir à temps (PETER GOMM/
BGE 123 II 241 S. 244
PETER STEIN/DOMINIK ZEHNTNER, Kommentar zum Opferhilfegesetz, Berne, 1995, no19, 20, 28-30 ad art. 16; RUTH BANTLI KELLER, Überblick über das Opferhilfegesetz, Kriminalistik 1995 p. 65, 69; RUTH BANTLI KELLER/ULRICH WEDER/KURT MEIER, Anwendungsprobleme des Opferhilfegesetzes, Plädoyer 5/1995 p. 30 ss, 44).
e) Complément procédural nécessaire du délai de péremption prévu par l'
art. 16 al. 3 LAVI
, l'
art. 6 LAVI
charge la police d'informer la victime, lors de sa première audition, de l'existence des centres de consultation (al. 1), auxquels elle transmet les nom et adresse de la victime, à moins que celle-ci ne s'y oppose (al. 2). Les centres de consultation devant informer la victime de l'aide que lui fournit la loi (
art. 3 al. 2 let. b LAVI
), ce devoir d'information doit nécessairement inclure, même si la loi fédérale ne le dit pas expressément, celui d'avertir la victime de son droit de demander une indemnisation ou une réparation morale au sens des
art. 11 ss LAVI
(Message précité, p. 926; cf. GOMM/STEIN/ZEHNTNER, op.cit., n. 25 ad art. 3). En cela, la loi fédérale renverse la présomption, rappelée dans l'arrêt attaqué (consid. 7), selon laquelle "nul n'est censé ignorer la loi" (cf. BERNARD CORBOZ, Les droits procéduraux découlant de la LAVI, SJ 1996 p. 53 ss, 83, pour ce qui concerne les droits mentionnés à l'
art. 8 al. 2 LAVI
).
f) Sans doute la loi fédérale ne précise-t-elle pas les conséquences procédurales de la violation, par l'autorité, de son devoir d'information. Dans le cas d'espèce, il convient d'examiner si, dans les circonstances concrètes du cas, le défaut d'information de l'autorité au titre des art. 3 al. 2 let. b et 6 al. 1 LAVI peut exceptionnellement avoir pour conséquence d'écarter la péremption des prétentions de la victime, prévue par l'
art. 16 al. 3 LAVI
.
Trancher cette question exige de replacer l'
art. 16 al. 3 LAVI
dans le système de la loi fédérale et de la disposition constitutionnelle qui lui sert de fondement. Comme le souligne le Conseil fédéral dans le résumé de son Message (p. 910), en acceptant l'
art. 64ter Cst.
le 2 décembre 1984, le peuple et les cantons ont chargé la Confédération et les cantons de veiller à ce que les victimes d'infractions graves reçoivent une "aide efficace". Plusieurs prescriptions de la loi fédérale seraient dénuées d'effet concret si les justiciables n'étaient pas rendus attentifs à la nature et à l'étendue de leurs droits. Tel est manifestement le cas des conséquences légales à l'introduction tardive d'une demande d'indemnisation. En d'autres termes, la brièveté du délai de péremption de deux ans selon l'
art. 16 al. 3 LAVI
ne peut être opposée à la victime que si, en contrepartie, celle-ci a été
BGE 123 II 241 S. 245
effectivement en mesure de faire valoir ses droits, comme le souligne le Conseil fédéral dans son Message. Cela présuppose que la victime soit informée à temps de l'existence de ses droits et des moyens de les concrétiser. Lorsque la loi confère à l'autorité un devoir d'information qu'elle a complètement omis de satisfaire, l'administré peut, en se prévalant de la protection de la bonne foi, exiger de l'autorité qu'elle entre en matière sur sa demande quand bien même ses droits seraient prescrits. Il convient de rapprocher le cas d'espèce de la jurisprudence développée par le Tribunal fédéral en matière d'assurances sociales, où la restitution de délais de péremption est admise lorsque le créancier, sans sa faute, n'a pas été en mesure d'agir à temps (
ATF 114 V 1
;
ATF 112 V 115
consid. 2b p. 119; cf.
ATF 111 Ib 269
consid. 3a/cc p. 278/279; cf. aussi MOOR, op.cit., vol. II, p. 57). Eu égard à l'importance que représente, dans le système légal, le droit à l'indemnisation selon les
art. 11 ss LAVI
, le devoir d'information a pour corollaire que la victime ne doit subir aucun préjudice d'un défaut d'information qui l'a empêché d'agir à temps sans sa faute. En l'occurrence, la recourante aurait été en mesure de former une demande d'indemnisation dans le délai légal si la police lui avait dispensé une information complète concernant l'existence de ce droit et du délai de péremption.
g) La prise en considération du droit international pertinent, à laquelle le Tribunal fédéral procède d'office dans le cadre du recours de droit administratif (art. 114 al. 1 in fine OJ), corrobore cette interprétation. En vertu de l'art. 1er de la Convention européenne du 24 novembre 1983 relative au dédommagement des victimes d'infractions violentes (RS 0.312.5), en vigueur pour la Suisse - comme la LAVI - depuis le 1er janvier 1993, la Suisse s'est engagée à édicter les dispositions nécessaires pour donner effet aux principes énoncés au Titre I de cet instrument international; parmi ceux-ci figure l'engagement des parties contractantes à prendre les mesures appropriées "afin que des informations concernant le régime de dédommagement soient à la disposition des requérants potentiels" (art. 11). Cet engagement conventionnel contient une obligation de résultat, dont l'effet utile exige une information effective des bénéficiaires potentiels de l'aide. L'art. 11 de la Convention limite, de ce point de vue, la marge de manoeuvre dont disposent les Etats en vertu de l'art. 6 pour - facultativement - "fixer un délai dans lequel les requêtes de dédommagement doivent être introduites": un tel délai (dont la Convention ne précise ni la durée, ni la nature - prescription ou péremption), ne saurait être invoqué par l'Etat contre le
BGE 123 II 241 S. 246
bénéficiaire potentiel d'un dédommagement, si l'Etat lui-même est à l'origine de la carence d'information (cf. également le rapport explicatif de cette Convention, Strasbourg, 1984, par. 42 ad art. 11, qui souligne la nécessité d'un "surcroît d'information dans ce domaine" en raison de l'ignorance fréquente du public quant à l'exigence du régime de dédommagement; cf. aussi le par. 4 de la Recommandation NoR (87) 21 du Comité des Ministres du Conseil de l'Europe aux Etats membres intitulée "Assistance aux victimes et prévention de la victimisation", du 17 septembre 1987).
En conclusion, l'équité commande qu'en l'espèce, on ne puisse opposer à la recourante la péremption de l'
art. 16 al. 3 LAVI
.
h) Certes, l'entrée en vigueur de la LAVI le 1er janvier 1993, selon l'arrêt du Conseil fédéral du 18 novembre 1992 (RO 1992 p. 2470) a pris les cantons de court, malgré le préavis du Département fédéral de justice et police des 26 juillet et 19 novembre 1991, au point que la plupart des cantons n'ont pu adopter à temps la législation d'application de la loi fédérale (cf. les indications fournies à ce propos par THOMAS MAURER, Das Opferhilfegesetz und die kantonalen Strafprozessordnungen, RPS 1993 p. 378). Ainsi, le canton de Genève n'a-t-il édicté que le 11 août 1993 un règlement instituant l'instance d'indemnisation (Feuille d'avis officielle du 18 août 1993). De même, le Code de procédure pénale cantonal a été modifié le 30 avril 1993, afin de tenir compte des exigences de la loi fédérale. Cette novelle, entrée en vigueur le 26 juin 1993 - soit à peine un mois avant l'agression subie par la recourante -, porte notamment sur les art. 107A et 312A, régissant le devoir d'information de la police et du juge d'instruction à l'égard des victimes au sens de l'
art. 2 LAVI
. Cette adaptation relativement tardive du droit cantonal explique dans une certaine mesure, sans toutefois le justifier, que les policiers qui ont entendu la recourante lors du dépôt de sa plainte, le 25 juillet 1993, n'ont pas attiré son attention sur les droits que lui confère la loi, contrairement à ce que prévoient les
art. 6 al. 1 LAVI
et 107A CPP gen. Quant au juge d'instruction, il n'a pu corriger ce défaut selon l'
art. 312A CPP
gen., la plainte ayant été classée par le Procureur général le 16 septembre 1993.
Ainsi, la recourante n'a été informée, à aucun stade de la procédure, de l'existence de ses droits découlant de la loi fédérale, et notamment de celui de demander une indemnisation selon les
art. 11 ss LAVI
. On ne saurait à cet égard, sauf à renverser le système légal, reprocher à la recourante, comme le fait le Département fédéral dans sa détermination du 10 février 1997, de n'avoir pas pris toutes les
BGE 123 II 241 S. 247
mesures propres à assurer l'exercice effectif de ses droits. La recourante, veuve, est au chômage depuis le 1er janvier 1993. Les certificats médicaux joints au dossier de la procédure attestent qu'elle subit aujourd'hui encore non seulement les séquelles physiques de l'agression dont elle a été victime, mais souffre aussi d'une atteinte importante à son équilibre psychologique et mental, liée à cette agression. On peut certes s'étonner, avec le Département fédéral, que la recourante n'ait pas consulté un avocat avant le mois d'octobre 1995. Cette inaction s'explique toutefois par la grande détresse physique et morale dans laquelle la recourante s'est trouvée, ainsi que par son isolement social. Or, la loi fédérale tend précisément à secourir en priorité les victimes démunies de l'assistance nécessaire pour défendre efficacement leurs droits. Elle souligne (
art. 3 al. 3 LAVI
) que les centres de consultation cantonaux doivent être à même de fournir une aide immédiate. Le Message (p. 926) précise que cette aide comprend notamment "des consultations juridiques simples" et que "les conseils et l'assistance concernant toutes les questions de procédure revêtent une grande importance" (ibidem).
Compte tenu des circonstances exceptionnelles de la cause qu'ils ont insuffisamment éclaircies, l'instance cantonale, puis le Tribunal administratif, devaient admettre que la recourante avait laissé expirer sans sa faute le délai fixé à l'
art. 16 al. 3 LAVI
. En refusant d'entrer en matière sur la requête d'indemnisation pour les motifs évoqués dans l'arrêt attaqué, le Tribunal administratif a appliqué faussement l'
art. 16 al. 3 LAVI
, mis en relation avec l'
art. 4 Cst.
Le recours de droit administratif doit être admis pour ce seul motif et l'arrêt attaqué annulé, sans qu'il soit nécessaire d'examiner, pour le surplus, le grief tiré de l'égalité de traitement. | 4,950 | 2,611 | 2 | 0 | CH_BGE_004 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_004_BGE-123-II-241_1997 | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=17&from_date=&to_date=&from_year=1997&to_year=1997&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=170&highlight_docid=atf%3A%2F%2F123-II-241%3Ade&number_of_ranks=276&azaclir=clir | BGE_123_II_241 |
|||
ed25be42-3255-4f4b-9141-3a15c0bc8b8b | 2 | 84 | 1,343,009 | null | 2,024 | fr | Sachverhalt
ab Seite 182
BGE 122 V 182 S. 182
A.-
A. et Jeanne B. se sont mariés en 1977; de cette union est né, le 10 octobre 1981, l'enfant Jérôme A. Le divorce des époux A.-B. a été prononcé en 1985; en 1992, le père versait une pension alimentaire mensuelle de 1'035 francs français pour son fils.
Le 26 octobre 1990, Jeanne B. a épousé C. en secondes noces. Le 20 décembre 1990, ce dernier a signé une déclaration à l'intention du Contrôle des habitants de la commune de X, aux termes de laquelle il s'engageait à
BGE 122 V 182 S. 183
prendre en charge l'enfant Jérôme A. jusqu'à sa majorité. C. est décédé le 7 septembre 1992.
Par décision du 26 octobre 1992, la Caisse de compensation AVS commerce de gros et de transit a mis Jeanne C. au bénéfice d'une rente de veuve mensuelle de 1'253 francs dès le 1er octobre 1992. En revanche, elle a refusé d'allouer une rente d'orphelin à Jérôme A., motif pris que celui-ci ne jouissait pas du statut d'enfant recueilli.
B.-
Jeanne C. a recouru contre cette décision devant le Tribunal des assurances du canton de Vaud en concluant à l'allocation d'une rente d'orphelin pour son fils.
Par jugement du 23 février 1993, la Cour cantonale a rejeté le pourvoi.
C.-
a) Jeanne C. interjette recours de droit administratif contre ce jugement dont elle demande l'annulation, en reprenant ses conclusions formulées en première instance.
Dans un premier temps, la caisse intimée a conclu implicitement au rejet du recours, alors que de son côté, l'Office fédéral des assurances sociales (OFAS) a renoncé à se déterminer.
b) Le 25 mars 1996, le Tribunal fédéral des assurances a rendu un arrêt (
ATF 122 V 125
).
Invités à se déterminer à nouveau à la lumière de cette jurisprudence, l'OFAS et l'intimée concluent désormais à l'admission du recours. Quant à la recourante, elle a renoncé à prendre position. | 736 | 376 | Erwägungen
Extrait des considérants:
2.
a) Selon l'art. 25 al. 1, 1ère phrase LAVS, ont droit à une rente d'orphelin simple les enfants dont le père est décédé. Quant à l'
art. 28 al. 2 LAVS
, il dispose que le Conseil fédéral détermine les conditions auxquelles les enfants recueillis ont droit aux rentes d'orphelins.
Faisant application de cette délégation de compétence, le gouvernement a édicté l'
art. 49 al. 1 RAVS
. D'après cette disposition réglementaire, les enfants recueillis ont droit à une rente d'orphelin au décès des parents nourriciers, si ceux-ci en ont assumé gratuitement et de manière durable les frais d'entretien et d'éducation. Les art. 25 à 27 LAVS sont applicables par analogie.
b) Le premier juge a rappelé, en se référant tant aux arrêts RCC 1973 p. 531 et 1958 p. 318 qu'au ch. 162 DR, que le statut d'enfant recueilli au sens de la jurisprudence sur l'
art. 49 al. 1 RAVS
(cf. p.ex. RCC 1992 p. 131 sv. consid. 3b) est réputé gratuit si le montant des prestations en
BGE 122 V 182 S. 184
faveur de l'enfant que les parents nourriciers reçoivent de la part de tiers (par exemple les pensions alimentaires), couvrent moins du quart des frais d'entretien effectifs de l'enfant. Par ailleurs, s'agissant du calcul des frais d'entretien et d'éducation de l'enfant, au regard desquels on pourra déterminer l'éventuelle gratuité de l'entretien, il s'est fondé sur les normes définies par H. WINZELER dans sa thèse "Die Bemessung der Unterhaltsbeiträge für Kinder", Zurich 1974, compte tenu d'une réduction d'un quart opérée sur les valeurs contenues dans les tables (
ATF 103 V 55
; ch. 166 DR).
En l'espèce, pour un enfant de 11 ans, le juge cantonal a fixé la valeur de l'entretien à 916 francs par mois, dont le quart représente mensuellement 229 francs. Or, la pension payée par le père de Jérôme A. s'étant élevée à 1'035 francs français en 1992, soit environ 270 francs suisses (de l'époque), elle couvrait dès lors plus du quart des frais (théoriques) d'entretien de l'enfant. Aussi ce dernier ne pouvait-il être qualifié d'enfant recueilli au sens de l'
art. 49 al. 1 RAVS
, quand bien même le père nourricier assumait la plus grande partie des frais de son entretien.
3.
a) Dans l'affaire qui a donné lieu à l'arrêt
ATF 122 V 125
, le Tribunal fédéral des assurances est revenu sur la jurisprudence de l'arrêt S. (
ATF 103 V 55
), lors d'un litige portant sur l'application de l'
art. 34 al. 2 LAI
.
En bref, la Cour de céans a considéré que pour déterminer le montant qui doit être pris en compte pour l'entretien d'un enfant, il y a toujours lieu de se fonder sur les valeurs (actualisées) retenues par H. WINZELER en collaboration avec l'Office de la jeunesse du canton de Zurich, mais sans procéder, désormais, à la réduction d'un quart dont il était question dans l'arrêt
ATF 103 V 55
(consid. 4c in fine de l'arrêt
ATF 122 V 125
).
b) Cette nouvelle jurisprudence vaut pour les cas futurs, ainsi que pour les affaires pendantes devant un tribunal au moment de son changement (
ATF 119 V 412
consid. 3 et les références).
Elle a, en outre, une incidence sur le statut d'enfant recueilli au sens de la LAVS, car ce statut dépend précisément, selon la pratique administrative actuelle, du montant des prestations versées par des tiers et en particulier de la prise en compte du quart des frais d'entretien de l'enfant (ch. 162 DR), lesquels sont comparés aux valeurs de référence contenues dans les tables de H. WINZELER, elles-mêmes réduites d'un quart dans l'Appendice IV aux DR (ch. 166 DR). Or, à la suite de l'arrêt ATF 122
BGE 122 V 182 S. 185
V 125, le ch. 166 DR (dans sa teneur - applicable en l'occurrence - en vigueur depuis le 1er janvier 1987) n'est plus conforme au droit fédéral, dans la mesure où il commande de tenir compte de taux réduits. Le juge doit donc s'en écarter (
ATF 120 V 187
consid. 4f,
ATF 119 V 259
consid. 3a et les références; v. aussi
ATF 120 II 139
consid. 2b; SPIRA, Le contrôle juridictionnel des ordonnances administratives en droit fédéral des assurances sociales, Mélanges Grisel, p. 803 ss).
4.
a) En l'espèce, appliquant la jurisprudence de l'arrêt S., l'intimée, puis le premier juge ont comparé le montant de la pension de 270 francs versée par le père biologique du recourant (ch. 162 DR), avec la valeur de référence de 916 francs, applicable pour l'entretien d'un enfant seul de 7 à 12 ans en 1992, selon l'Appendice IV aux DR (ch. 166 DR). Comme le montant de 270 francs représentait plus du quart des frais théoriques d'entretien (270:916 = 0,29), ils en ont conclu que Jérôme A. n'avait pas droit à une rente d'orphelin.
b) A la lumière de la jurisprudence instaurée par l'arrêt
ATF 122 V 125
, il n'y a désormais plus lieu de réduire les données de référence d'un quart (cf. le consid. 3a ci-dessus). Dès lors, la pension mensuelle de 270 francs doit être comparée avec le montant de référence de 1'220 francs (RDT 1993 p. 78). Cela donne ainsi un rapport de 0,22 (270:1'220), et ouvre par conséquent droit à la rente d'orphelin (ch. 162 DR).
Jérôme A. avait donc le statut d'enfant recueilli au sens des
art. 28 al. 2 LAVS
et 49 RAVS, au décès de son père nourricier, le 7 septembre 1992. Dans ces conditions, il convient de renvoyer la cause à l'administration, afin qu'elle rende une nouvelle décision sur son droit à une rente d'orphelin. | 2,133 | 1,143 | 2 | 0 | CH_BGE_007 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_007_BGE-122-V-182_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=15&from_date=&to_date=&from_year=1996&to_year=1996&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=150&highlight_docid=atf%3A%2F%2F122-V-182%3Ade&number_of_ranks=331&azaclir=clir | BGE_122_V_182 |
|||
ed3b95a4-176b-47b2-90e1-aa30878d8f95 | 1 | 84 | 1,343,512 | null | 2,024 | de | 2 | 0 | Erwägungen
ab Seite 11
BGE 129 V 11 S. 11
Aus den Erwägungen:
3.
Die Beschwerdeführer wiederholen in ihrer Verwaltungsgerichtsbeschwerde die bereits im vorinstanzlichen Verfahren geäusserte Kritik an der Organhaftung nach
Art. 52 AHVG
. Das AHVG enthalte keinerlei Hinweise für die Haftung von Organen. Auch in den Materialien fänden sich hiefür keine Anhaltspunkte. Die subsidiäre Haftung der verantwortlichen Organpersonen, welche klarerweise keine Arbeitgeber seien, lasse sich aus
Art. 52 AHVG
nicht herleiten. Die Auslegung der genannten Bestimmung durch das Eidgenössische Versicherungsgericht widerspreche auch nach Ansicht der Lehre (FORSTMOSER/MEYER-HAYOZ/NOBEL, Schweizerisches Aktienrecht, Bern 1996,
§ 38 N 10
ff.) dem klaren Wortlaut des Gesetzes.
3.1
Die in der Lehre erhobene Kritik, wonach die Ausdehnung der Haftpflicht auf Organe nicht unbedenklich sei, ist schon früher geäussert worden (MAURER, Schweizerisches Sozialversicherungsrecht, Bd. II, Bern 1981, S. 67; FORSTMOSER, Die aktienrechtliche Verantwortlichkeit, 2. Aufl., Zürich 1987, S. 305 f. N 1071). Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat hiezu 1988 im Grundsatzentscheid
BGE 114 V 219
ausführlich Stellung bezogen. Es hat darin erwogen: Bei der Auslegung des in
Art. 52 AHVG
für das Haftungssubjekt verwendeten Begriffs "Arbeitgeber" ist davon auszugehen, dass dem Arbeitgeber bezüglich der in
Art. 14 Abs. 1
BGE 129 V 11 S. 12
AHVG
in Verbindung mit
Art. 34 ff. AHVV
statuierten öffentlichrechtlichen Pflicht zum Bezug, zur Ablieferung und zur Abrechnung der paritätischen Sozialversicherungsbeiträge die Stellung eines gesetzlichen Vollzugsorgans zukommt. Die Haftung des Arbeitgebers gemäss
Art. 52 AHVG
bildet das Korrelat zu dieser öffentlichrechtlichen Organstellung. Kommt dem Arbeitgeber bezüglich Bezug, Ablieferung und Abrechnung der Beiträge Organstellung bei der Durchführung verschiedener Zweige der Sozialversicherung zu, untersteht er dem Verantwortlichkeitsrecht des Bundes.
Art. 52 AHVG
bildet innerhalb des Systems des Bundesgesetzes vom 14. März 1958 über die Verantwortlichkeit des Bundes sowie seiner Behördemitglieder und Beamten (VG; SR 170.32) eine Spezialbestimmung. Nach Art. 19 (Abs. 1 lit. b) VG haftet intern - auch wenn die öffentliche Aufgabe einer Organisation übertragen ist - primär der Schadensverursacher persönlich und die Organisation erst subsidiär. Es fehlen Anhaltspunkte für die Annahme, dass
Art. 52 AHVG
diese Verantwortlichkeit der für die Organisation handelnden Personen wegbedingen wollte (
BGE 114 V 220
f. Erw. 3b mit Hinweisen).
3.2
Mit der grundsätzlichen Kritik an der Haftung der Organe hat sich auch NUSSBAUMER auseinandergesetzt (THOMAS NUSSBAUMER, Die Haftung des Verwaltungsrates nach
Art. 52 AHVG
, in: AJP 1996 S. 1071 ff., insbesondere S. 1075 f.). Er hat ausgeführt, weder die Definition des Arbeitgebers in
Art. 12 Abs. 1 AHVG
noch die Gesetzesmaterialien böten Anhaltspunkte für eine Verantwortlichkeit der Arbeitgeberorgane. Rechtfertigen lasse sich die Organhaftung letztlich nur mit der analogen Anwendung der privatrechtlichen Regeln über die Verantwortlichkeit der Organe. Privatrechtliche Bestimmungen, die den allgemeinen Rechtsgrundsätzen zugerechnet würden, hätten im Sozialversicherungsrecht auch ohne ausdrückliche Verankerung Geltung. Die Verantwortlichkeit der Organe sei bei allen Formen juristischer Personen vorgesehen und könne damit als tragendes Prinzip des Privatrechts bezeichnet werden. Das Eidgenössische Versicherungsgericht habe mit der Ausdehnung von
Art. 52 AHVG
auf die Organe des Arbeitgebers im Grunde genommen nur die Rechtsprechungszuständigkeit des Sozialversicherungsrichters begründet. Angesichts der dürftigen rechtlichen Basis seien jedoch die subsidiär angewendeten privatrechtlichen Verantwortlichkeitsbestimmungen im Sozialversicherungsrecht nicht ohne Grund uneinheitlich auszulegen. Inskünftig sei es aus rechtsstaatlichen Gründen angezeigt, sich insbesondere
BGE 129 V 11 S. 13
mit Blick auf die Voraussetzung der Grobfahrlässigkeit privatrechtskonform zu verhalten.
3.3
Angesichts der teils auf Kritik gestossenen Rechtsprechung zu
Art. 52 AHVG
(MAURER, a.a.O., S. 67; FORSTMOSER, a.a.O., S. 305 f.; MÜLLER/LIPP, Der Verwaltungsrat, Zürich 1994, S. 229; PETER BÖCKLI, Schweizer Aktienrecht, 2. Aufl., Zürich 1996, S. 849 Rz 1618a; NUSSBAUMER, a.a.O., S. 1079 f.; HARALD BÄRTSCHI, Verantwortlichkeit im Aktienrecht, Diss. Zürich 2001, S. 86 Fn. 376) rechtfertigt sich ein Ausblick auf Bestrebungen der Gesetzgebung. In seiner Botschaft vom 2. Februar 2000 über die 11. Revision der Alters- und Hinterlassenenversicherung und die mittelfristige Finanzierung der Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (BBl 2000 1865 ff.) führt der Bundesrat zu
Art. 52 AHVG
aus, an der heutigen Situation sei störend, dass nicht nur die Tatsache der subsidiären Organhaftung, sondern auch weitere wichtige Charakteristika der Haftung nicht im Gesetz selber geregelt seien. Im Sinne der Bürgerfreundlichkeit solle das Gesetz diesbezüglich transparenter gestaltet werden. An der Grundkonzeption werde indessen nichts geändert. Die subsidiäre Haftung der Organe einer juristischen Person entspreche allgemeinen Rechtsgrundsätzen und finde sich auch im Privatrecht. Die Organhaftung sei nicht nur sachgerecht, sondern darüber hinaus notwendig, damit die Haftung nach
Art. 52 AHVG
nicht toter Buchstabe bleibe. Auch die präventive Bedeutung der persönlichen Organhaftung dürfe nicht unterschätzt werden. Aus diesen Gründen sei es angezeigt, die Organhaftung im AHVG ausdrücklich zu verankern (BBl 2000 2007).
3.4
In Übereinstimmung mit dieser gesetzgeberisch erwünschten präventiven Bedeutung empfehlen MÜLLER/LIPP (a.a.O., S. 231), verantwortliche Organe einer Aktiengesellschaft sollten in schlechteren Zeiten insbesondere darauf bedacht sein, die ausstehenden Sozialabgaben jederzeit zu entrichten; eine ständige Überwachung der Abrechnungen sowie der Zahlungen sei dabei unumgänglich. BÄRTSCHI (a.a.O., S. 86 f.) sieht die Rechtfertigung für die strenge Praxis darin, dass es sich bei den zurückbehaltenen Beiträgen um Lohnbestandteile handle, die nicht dem Arbeitgeber zustünden.
3.5
Mit der Frage der Arbeitgeberhaftung nach
Art. 52 AHVG
hat sich schliesslich der Gesetzgeber im Rahmen des Erlasses eines Allgemeinen Teils zum Sozialversicherungsrecht (Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts [ATSG]; BBl 2000 5041 ff.) befasst. Aus den Materialien zum ATSG ergibt sich, dass sich sowohl der Bundesrat
BGE 129 V 11 S. 14
als auch das Parlament mit den geltenden Haftungsgrundsätzen auseinander gesetzt haben.
3.5.1
Der Bundesrat hat in seiner vertieften Stellungnahme vom 17. August 1994 (BBl 1994 V 921ff., insbesondere 983) den Grundsatzentscheid des Eidgenössischen Versicherungsgerichts (
BGE 114 V 221
Erw. 3b) zitiert. Er hat festgestellt, nachdem das Eidgenössische Versicherungsgericht
Art. 52 AHVG
als Spezialbestimmung innerhalb des Systems des Verantwortlichkeitsgesetzes (VG; SR 170.32) betrachte, dränge sich eine Wiederangliederung der Bestimmung an sein Vorbild,
Art. 60 OR
, auf. Nach dem Willen des Bundesrates sollte die bestehende Rechtsprechung weiterhin volle Gültigkeit behalten.
3.5.2
Aus dem Bericht der nationalrätlichen Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit vom 26. März 1999 an das Parlament (BBl 1999 4523 ff., insbesondere 4666 und 4763) ist ersichtlich, dass auch der Nationalrat an der Haftung für grobfahrlässiges Verhalten festhalten wollte. Am Gehalt der Arbeitgeberhaftung sollte nichts verändert werden. Die geltenden Grundsätze sind schliesslich auch anlässlich der Beratung im Parlament nicht in Frage gestellt worden.
3.6
Wollen demnach Bundesrat und Gesetzgeber - in Kenntnis und Bestätigung der langjährigen Praxis des Eidgenössischen Versicherungsgerichts - weiterhin am geltenden System der Arbeitgeber-Organhaftung im Rahmen von
Art. 52 AHVG
festhalten, besteht kein Anlass, von der konstanten Rechtsprechung abzuweichen. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob die Organhaftung mit Verweis auf das Verantwortlichkeitsgesetz begründet oder als Ausfluss eines allgemeinen Privatrechtsgrundsatzes, der auch im Sozialversicherungsrecht gilt, betrachtet wird. Jedenfalls vermögen die Beschwerdeführer weder aus dem noch nicht in Kraft gesetzten ATSG (vgl.
BGE 125 II 282
Erw. 3c,
BGE 119 Ia 259
Erw. 4, je mit Hinweisen) noch aus anderen Revisionsprojekten etwas zu ihren Gunsten abzuleiten. | 1,883 | 1,425 | 2 | 0 | CH_BGE_007 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_007_BGE-129-V-11_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=11&from_date=&to_date=&from_year=2002&to_year=2002&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=103&highlight_docid=atf%3A%2F%2F129-V-11%3Ade&number_of_ranks=303&azaclir=clir | BGE_129_V_11 |
||||
ed3bb1e6-f16a-4c55-a47f-1cf0f0400f22 | 1 | 81 | 1,345,195 | null | 2,024 | de | Sachverhalt
ab Seite 63
BGE 82 II 62 S. 63
A.-
Von der Bundesbahnlinie Döttingen-Siggenthal zweigt ausserhalb des Einfahrtssignals der Station Döttingen-Klingnau ein Verbindungsgeleise ab, das zum Tonwerk der A.-G. Hunziker & Cie und zum thermischen Kraftwerk der Nordostschweizerischen Kraftwerke A.-G. in der Beznau führt und über dessen Bau und Benützung die Schweiz. Bundesbahnen (SBB) mit den beiden erwähnten Firmen ("Anschliesserinnen") am 1. August 1950 einen Vertrag abgeschlossen haben.
Als am 2. Juli 1954 ein Lastwagen der Transportfirma Emil Meier auf dem Fabrikareal der A.-G. Hunziker & Cie dieses Geleise überquerte, rammte ihn eine mit Bundesbahnpersonal bemannte Rangier-Dampflokomotive der SBB, die, nachdem sie Tankwagen zum thermischen Kraftwerk geführt hatte, auf der Rückfahrt zur Station Döttingen-Klingnau begriffen war. Personen wurden nicht verletzt. Dagegen wurde der Lastwagen stark beschädigt.
B.-
Mit Klage vom 22. Juli 1955 verlangte Emil Meier von den SBB rund Fr. 14'000.-- Schadenersatz. Die beklagte Bahnunternehmung bestritt vor allem ihre Passivlegitimation. Sie machte im wesentlichen geltend, im Falle der Anwendbarkeit des EHG treffe die Haftpflicht den "Inhaber der Eisenbahnunternehmung" (
Art. 1 Abs. 1 EHG
). Dies sei derjenige, auf dessen Rechnung und Gefahr die Unternehmung zur Zeit des Unfalls geführt werde. Nach
Art. 6 und 7 des Bundesgesetzes über die Rechtsverhältnisse der Verbindungsgeleise zwischen dem schweizerischen Eisenbahnnetz und gewerblichen Anstalten vom 19. Dezember 1874 (VG; siehe BS 7 S. 23 ff.)
seien die SBB nur verpflichtet, den Betrieb bis zum Anschlusspunkt (Anschlussweiche) zu besorgen. Was ausserhalb dieses Punktes geschehe, sei Sache des Anschliessers ("des Besitzers des Verbindungsgeleises"). Dieser sei Herr des Verkehrs auf dem Anschlussgeleise, auch wenn die SBB vertraglich den Transport der ankommenden und abgehenden
BGE 82 II 62 S. 64
Bahnwagen über den Anschlusspunkt hinaus übernommen haben. Der Anschliesser sei nur dann nicht Inhaber der Eisenbahnunternehmung, wenn die Hauptbahn auf Grund eines Vertrages oder widerrechtlich ihren eigenen Betrieb auf das Verbindungsgeleise ausgedehnt habe (Benützung als Abstell- oder Rangiergeleise, Eindringen eines Zugs infolge falscher Weichenstellung), was hier nicht geschehen sei. Die Übernahme der Zustellung und Abholung der Wagen durch die SBB mache den Betrieb auf dem Anschlussgeleise nicht zum öffentlichen, was sich darin zeige, dass für die Erstellung solcher Geleise das Enteignungsrecht nicht in Anspruch genommen werden könne und dass der Verkehr darauf auch bei Verwendung der Zugkraft der öffentlichen Bahn den strafrechtlichen Schutz des öffentlichen Eisenbahnverkehrs (Art. 238/39 StGB, früher Art. 67 BStrR) nicht geniesse. Da nicht öffentlich, lasse sich dieser Verkehr nicht als eigener Verkehr des öffentlichen Unternehmens qualifizieren und seien die SBB folglich nicht als Inhaber der Bahnunternehmung anzusehen, die diesen Verkehr betreibe. Wer ausservertraglich hafte, sei unter Ausserachtlassung jeder vertraglichen Vereinbarung zu beurteilen. Die Vorschrift von
Art. 6 VG
, wonach das Abholen und Abliefern der Wagen beim Anschlusspunkt Sache des Anschliessers ist, sei entgegen
BGE 26 II 18
zwingender Natur. Durch die Übernahme gewisser Transporte auf dem Verbindungsgeleise seien die SBB nur Erfüllungsgehilfe des Anschliessers geworden. Daraus, dass die SBB in Art. 12 des Anschlussvertrags die Haftpflicht intern übernommen haben, könne der Geschädigte kein direktes Klagerecht gegen die SBB ableiten. - Für den Fall, dass das Gericht ihre Passivlegitimation bejahen sollte, nahm die Beklagte materiell zur Sache Stellung. Dabei machte sie in erster Linie geltend, nach
Art. 13 VG
seien die bundesgesetzlichen Bestimmungen über die Verbindlichkeit der Eisenbahnen etc. für die beim Bau und Betrieb herbeigeführten Tötungen und Verletzungen auch auf die Privatverbindungsgeleise
BGE 82 II 62 S. 65
anwendbar. Für Sachschäden fehle eine Verweisung auf das EHG. Deshalb und weil das EHG als Spezialgesetz nicht ausdehnend ausgelegt werden dürfe, gelte für die beim Betrieb eines Verbindungsgeleises herbeigeführten Sachschäden nicht das EHG, sondern das OR und seien die SBB zum Exzeptionsbeweis nach
Art. 55 OR
zuzulassen.
C.-
Durch Vorentscheid vom 14. November 1955 hat der Appellationshof des Kantons Bern (II. Zivilkammer) die Passivlegitimation der Beklagten bejaht mit der Begründung, wenn die Beklagte den Betrieb auf einem Verbindungsgeleise vertraglich übernehme, habe er öffentlichen Charakter.
Art. 6 VG
sei dispositiver Natur. Bei Beurteilung der Frage, ob die Beklagte den Betrieb auf dem streitigen Verbindungsgeleise übernommen habe, falle in Betracht, dass derjenige als Betriebsunternehmer erscheine, auf dessen Rechnung der Betrieb geführt werde. Wer den Betrieb auf dem Verbindungsgeleise ökonomisch für sich ausnütze, müsse die Haftpflicht tragen. Das sei die Beklagte, sie sich im Anschlussvertrag zur Zustellung und Abholung der Bahnwagen zur bzw. bei der Verladerampe gegen eine Gebühr von Fr. 4.- pro Wagen verpflichtet habe. Dazu komme, dass alle Züge auf dem Verbindungsgeleise mit Lokomotiven und Personal der Beklagten geführt würden. Angesichts der technischen Einordnung des Betriebs auf dem Verbindungsgeleise in den Fahrdienst der SBB und der sonst noch bestehenden Bahnvorschriften über den Betrieb auf diesem Geleise könne von einer selbständigen Führung des Betriebs durch die Anschliesserin nicht die Rede sein. Vielmehr sei der Betrieb der Beklagten über den Anschlusspunkt hinaus ausgedehnt worden. In den regelmässigen Fahrten der Beklagten auf dem Verbindungsgeleise zwecks Zustellung und Abholung der Bahnwagen sei dessen bestimmungsgemässe Verwendung zu erblicken. Die Eigentumsverhältnisse am Verbindungsgeleise seien bei Beurteilung der Frage, welche Unternehmung bezüglich des den Unfall verursachenden
BGE 82 II 62 S. 66
Betriebsvorgangs als Betriebsunternehmerin erscheine, ohne Bedeutung. Die von
Art. 13 VG
getroffene Unterscheidung zwischen Personen- und Sachschaden gelte nur für die Fälle, wo der Anschliesser Inhaber des Betriebs auf dem Verbindungsgeleise sei. Wo der Betrieb auf diesem Geleise als Betrieb der Hauptbahn zu gelten habe, hafte diese nach EHG, wie wenn sich der Unfall auf ihrer Hauptgeleiseanlage ereignet hätte. Wenn übrigens die Anwendbarkeit des EHG verneint würde, wäre die Beklagte als Geschäftsherrin passivlegitimiert.
D.-
Gegen diesen Entscheid hat die Beklagte die Berufung an das Bundesgericht erklärt mit dem Antrag, ihre Passivlegitimation sei zu verneinen. In der Berufungsbegründung führt sie aus, dass der Betrieb auf dem Verbindungsgeleise in erster Linie vom Anschliesser wirtschaftlich ausgenützt werde und dass das unmittelbare Interesse daran bei ihm liege, auch wenn sie den technischen Betrieb übernommen habe. Ferner hält sie daran fest, dass jener Betrieb nicht öffentlichen, sondern privaten Charakter habe und daher nicht als ihr eigener Betrieb gelten könne, und dass
Art. 6 VG
die "Verbindungsgeleise-Unternehmung" von der öffentlichen Bahnunternehmung ohne Rücksicht darauf, ob und wie die beiden Unternehmungen einander Dienste leisten, nach einem formellen Kriterium (Anschlusspunkt) abgrenze. Dies habe den Vorteil, dass rasch und einfach bestimmt werden könne, wer der Haftpflichtige sei. Auch sei es sachlich richtig, dass der "Besitzer des Verbindungsgeleises" haftpflichtig sei. Er setze die Gefahr, indem er den Betrieb aus eigenen wirtschaftlichen Interessen in Gang bringe. Dies gelte unabhängig davon, wer die technische Durchführung besorge.
Art. 13 VG
bedeute, dass der Besitzer des Verbindungsgeleises jedenfalls dann nach EHG hafte, wenn er den Betrieb selber besorge. Besorge er ihn nicht selbst, sondern beauftrage er damit z.B. die Hauptbahn selbst, so hafte er nach
Art. 1 EHG
auch für diese als diejenige Person, deren er sich zum Betrieb des Transportgeschäftes bediene.
BGE 82 II 62 S. 67 | 1,751 | 1,315 | Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
(Zulässigkeit der Berufung).
2.
Das EHG regelt die Haftpflicht für die beim Betrieb einer Eisenbahn erfolgte Beschädigung von Gegenständen, die weder als Frachtgut noch als Reisegepäck aufgegeben und auch nicht im Zusammenhang mit der Verletzung oder Tötung eines Menschen beschädigt worden sind, in Art. 11 Abs. 2. Träger der Haftpflicht ist nach dieser Bestimmung gleich wie in den Fällen von Art. 11 Abs. 1 (im Zusammenhang mit einem Personenschaden eingetretene Beschädigung von Sachen, die der Verunfallte unter seiner Obhut mit sich führte) und Art. 1 Abs. 1 (Tötung oder Verletzung eines Menschen) die Eisenbahnunternehmung oder vielmehr, gemäss der genauern Ausdrucksweise von Art. 1, der Inhaber der Eisenbahnunternehmung, bei deren Betrieb der Unfall sich ereignete.
Entgegen der Auffassung, welche die Beklagte im kantonalen Verfahren vertreten hat, lässt sich aus
Art. 13 VG
nicht ableiten, dass die Haftpflicht aus Unfällen beim Betrieb eines Verbindungsgeleises sich nur hinsichtlich des Personenschadens nach dem EHG richte, wogegen die Ersatzpflicht für Sachschaden bei solchen Unfällen nach dem OR zu beurteilen sei. Wenn
Art. 13 VG
die bundesgesetzlichen Bestimmungen "über die Verbindlichkeit der Eisenbahnen etc. für die beim Bau und Betrieb herbeigeführten Tötungen und Verletzungen" als anwendbar erklärt, so knüpft er unzweifelhaft an den Titel an, den das bei Erlass des VG im Wurf liegende erste EHG (vom 1. Juli 1875) nach dem bundesrätlichen Entwurf vom 26. Mai 1874 in Anlehnung an Art. 38 Ziff. 2 des Eisenbahngesetzes vom 23. Dezember 1872 tragen sollte ("Bundesgesetz betreffend die Verbindlichkeit der Eisenbahnen und anderer vom Bunde konzedierter Transportanstalten für die beim Bau und Betriebe herbeigeführten Tötungen und Verletzungen"; vgl. BBl. 1874 I S. 889, 899). Bereits dieser Entwurf enthielt eine dem heutigen
Art. 11 Abs. 1 und 2
BGE 82 II 62 S. 68
EHG
entsprechende Vorschrift über die Sachschäden (Art. 7). Unter diesen Umständen darf aus der Fassung von
Art. 13 VG
nicht die Absicht herausgelesen werden, die Anwendbarkeit des EHG auf die Personenschäden zu beschränken; dies um so weniger, als eine solche Beschränkung jedes sachlichen Grundes ermangeln würde. Vielmehr ist die in
Art. 13 VG
enthaltene Verweisung auf das EHG in seinem vollen Umfange zu beziehen.
Für den Fall, dass die Haftpflicht für beim Betrieb eines Verbindungsgleises eingetretene Sachschäden nach dem EHG zu beurteilen ist, hat die Beklagte mit Recht nicht in Abrede gestellt, dass der Inhaber der Bahnunternehmung auch dann belangt werden kann, wenn nicht ihm selber, sondern nur seinem Personal ein Verschulden vorgeworfen wird (vgl.
BGE 37 II 224
Erw. 2).
Der Entscheid über die Passivlegitimation der Beklagten hängt also davon ab, ob sie im Sinne des EHG Inhaber der Eisenbahnunternehmung sei, bei deren Betrieb der eingeklagte Sachschaden entstanden ist.
3.
Art. 6 VG
bestimmt, es sei Sache des Besitzers des Verbindungsgeleises, die Wagen beim Anschlusspunkt (Anschlussweiche) zu holen und dorthin abzuliefern, sowie dieselben auf seinem Geleise zu beladen und abzuladen; hinsichtlich der Art der Beladung habe er sich den auf der Hauptbahn geltenden Vorschriften zu unterziehen. Nach der Ansicht der Beklagten setzt diese Bestimmung ein für allemal die Grenze zwischen der "Verbindungsgeleise-Unternehmung" und der öffentlichen Eisenbahnunternehmung fest.
Art. 6 VG
regelt jedoch nur Fragen der Betriebsführung und tut dies, wie schon in
BGE 26 II 18
festgestellt, mit Bezug auf die Abholung und Ablieferung der Wagen nicht in zwingender Weise. Das Gegenteil ergibt sich klar aus
Art. 7 Abs. 2 VG
, wonach die Verwendung der Zugkraft der öffentlichen Bahn auf dem Geleise der gewerblichen Anstalt (oder umgekehrt) Sache der freien Verständigung zwischen den beteiligten Eigentümern ist. In
Art. 6 VG
liegt also keineswegs eine Sondervorschrift
BGE 82 II 62 S. 69
des Inhalts, dass im Bereich des Verbindungsgeleises, soweit der Güterverkehr mit dem Anschliesser in Frage steht, unter allen Umständen dieser als Inhaber der Bahnunternehmung zu betrachten sei. Der Entscheid darüber, wem diese Eigenschaft zukomme, ist bei dieser Sachlage nach den Kriterien zu treffen, die für die Bestimmung des Inhabers der Eisenbahnunternehmung im allgemeinen gelten. Von diesem Grundsatz wäre selbst dann nicht abzuweichen, wenn die von der Beklagten befürwortete Lösung den Vorteil der grössern Einfachheit hätte. Im übrigen kann keine Rede davon sein, dass diese Lösung alle Schwierigkeiten vermiede. Bei Unfällen im Gebiet der Anschlussweiche und in dem gerade hier gegebenen Falle, dass ein Verbindungsgeleise mehreren gewerblichen Anstalten dient, würde das "formelle" Kriterium, auf das die Beklagte abstellen möchte, für die Ermittlung des Haftpflichtigen nicht genügen.
4.
Inhaber der Eisenbahnunternehmung im Sinne von
Art. 1 EHG
ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts derjenige, auf dessen Rechnung und Gefahr der Betrieb im Zeitpunkte des Unfalls geführt wurde (BGE 9 S. 282, 19 S. 181,
BGE 26 II 18
,
BGE 31 II 224
/25). Ausser der Frage, auf wessen Rechnung und Gefahr der Betrieb lief, kann, wie OFTINGER (Schweiz. Haftpflichtrecht II S. 662, 812) zutreffend annimmt, auch von Bedeutung sein, wer über die zum Betrieb notwendigen Gegenstände und Personen die tatsächliche, unmittelbare Verfügung besass (vgl.
BGE 26 II 19
). Die Unternehmung, auf welche diese Merkmale zutreffen, hat nach dem Sinne des EHG die Haftpflicht zu tragen. Wem die Bahnanlage und die Transportmittel gehören, ist unerheblich (BGE 9 S. 281,
BGE 26 II 18
). Nicht diese Gegenstände an und für sich sind die Gefahrenquelle, sondern der mit ihrer Hilfe durchgeführte Betrieb.
Im vorliegenden Falle erhält die Beklagte von den Anschliesserinnen für die Bedienung des Anschlusses (der Anschlussweiche und einer Schutzweiche) sowie für die von ihr gemäss Art. 6 des Anschlussvertrags zu besorgende
BGE 82 II 62 S. 70
Verbringung der Wagen vom Anschlusspunkt bis zu dem von Fall zu Fall zu bezeichnenden Übergabepunkt innerhalb des Areals der Anschliesserinnen pro Bahnwagen eine Gebühr von Fr. 4.- (Hin- und Rückfahrt inbegriffen) nebst einem Zuschlag von 5% Haftpflichtprämie (Art. 7 des Anschlussvertrags). Dafür trägt sie die aus dem Transport entstehenden Sach- und Personalkosten und übernimmt gemäss Art. 12 des Anschlussvertrags (intern) die Haftpflicht für die bei diesen Verrichtungen eintretenden Unfälle und Schäden, soweit sie nicht die Folge von Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit der Organe oder des Personals der Anschliesserinnen sind oder deren Organe oder deren obligatorisch versichertes Personal treffen. Die Zustellung und Abholung der Bahnwagen zum bzw. beim Wagenübergabepunkt (wozu auch die damit zusammenhängenden Leerfahrten von Rangierlokomotiven zu rechnen sind) gehen also auf Rechnung und Gefahr der Beklagten. Dieser steht aber während der in Frage stehenden Betriebsvorgänge auch die unmittelbare Verfügung über das dabei eingesetzte Rollmaterial und Personal zu. Demnach hat die Beklagte als Inhaberin der Eisenbahnunternehmung zu gelten, bei deren Betrieb der streitige Schaden entstanden ist.
Die Beklagte wendet freilich ein, bei Beurteilung der Frage, auf wessen Rechnung der Betrieb geführt werde, komme es weniger auf die "buchhaltungstechnischen" Auswirkungen als darauf an, wer bei Würdigung aller wirtschaftlichen Faktoren in erster Linie am Betrieb des Verbindungsgeleises interessiert sei; dies sei der Anschliesser. Das Kriterium, mit dem die Beklagte arbeiten möchte, kann jedoch nicht massgebend sein. Es ist klar, dass der Betrieb von Verbindungsgeleisen sowohl den angeschlossenen gewerblichen Anstalten als auch der Hauptbahn Nutzen zu bringen pflegt. Das Interesse der letztern lässt sich keineswegs nur darnach beurteilen, was ihr der Verkehr auf dem Verbindungsgeleise, für sich allein betrachtet, einbringt. Ihr Interesse liegt, wie die Beklagte einräumt,
BGE 82 II 62 S. 71
vor allem darin, dass der Betrieb von Verbindungsgeleisen der Erhaltung und Förderung des Güterverkehrs auf ihrem Hauptnetz dient. Dieses Interesse ist ein sehr erhebliches. Wessen Interesse im einzelnen Fall überwiege, liesse sich nur durch eingehende betriebswirtschaftliche Untersuchungen ermitteln, die übrigens bei einem und demselben Verbindungsgeleisebetrieb je nach den Zeitumständen zu verschiedenen Ergebnissen führen könnten. Das von der Beklagten vorgeschlagene Kriterium ist daher schon aus rein praktischen Gründen nicht brauchbar. Es ist aber auch aus grundsätzlichen Erwägungen abzulehnen, weil die Frage, wer Unternehmer eines Betriebs sei, sich nicht darnach beurteilt, wem der Betrieb am meisten nützt, sondern in erster Linie eben darnach, wer die allfälligen Betriebseinnahmen bezieht und die Betriebskosten trägt. Etwas anderes ist nicht gemeint, wenn einzelne Entscheide darauf abstellen, wer den Eisenbahnbetrieb ökonomisch für sich ausnützt (BGE 9 S. 282), wer in eigenem Interesse und auf eigene Kosten den Transport auf dem Geleise besorgt (
BGE 31 II 224
/25).
Dass die Beklagte bei der Zustellung und Abholung der Bahnwagen auf demVerbindungsgeleise nicht etwa bloss Hilfsperson ("Erfüllungsgehilfin") der Anschliesserin ist, liegt auf der Hand. Der mit ihren Maschinen und ihrem Personal besorgte Fahrdienst auf dem Verbindungsgeleise muss sich, wie insbesondere aus Art. 6 des Anschlussvertrags hervorgeht, dem Verkehr auf der Hauptbahn einordnen und nach den von dieser erlassenen Vorschriften abwickeln. Die Anschliesserinnen können lediglich den sog. Wagenübergabepunkt bestimmen. Von einer Bindung an die Weisungen der Anschliesserinnen, wie sie gegeben sein müsste, wenn die Beklagte als deren Hilfsperson gelten sollte, kann also nicht die Rede sein (vgl.
BGE 26 II 19
/20, wo das Bestehen eines derartigen Verhältnisses aus ähnlichen Gründen verneint wurde). Wer in einem solchen Falle haftpflichtig wäre, kann unter diesen Umständen dahingestellt bleiben.
BGE 82 II 62 S. 72
Für die Auffassung der Beklagten, dass der Träger der Haftpflicht im Sinne des EHG unter Ausserachtlassung aller vertraglichen Vereinbarungen zu bestimmen sei, bietet das Gesetz keine Grundlage. Es erklärt einfach den Inhaber der Bahnunternehmung als haftpflichtig. Um zu ermitteln, wer dies sei, spielt beim Betrieb auf einem Verbindungsgeleise naturgemäss der Anschlussvertrag (in den Einsicht zu erhalten für den Geschädigten kaum je mit Schwierigkeiten verbunden sein dürfte) eine erhebliche, oft entscheidende Rolle (vgl.
BGE 26 II 19
,
BGE 31 II 225
/26).
Ob ein Verbindungsgeleise ein im öffentlichen Interesse liegendes Werk im Sinne des Enteignungsrechts darstelle und der Verkehr darauf im Sinne des Strafrechts als öffentlicher Verkehr gelten könne oder nicht, ist für die heute zu treffende Entscheidung, die eine ganz andere Frage betrifft, ohne jeden Belang.
Die Vorinstanz hat also die Passivlegitimation der Beklagten zu Recht bejaht. | 2,356 | 1,899 | Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird abgewiesen und der Vorentscheid des Appellationshofes des Kantons Bern, II. Zivilkammer, vom 14. November 1955 bestätigt. | 41 | 30 | CH_BGE_004 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_004_BGE-82-II-62_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=19&from_date=&to_date=&from_year=1956&to_year=1956&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=188&highlight_docid=atf%3A%2F%2F82-II-62%3Ade&number_of_ranks=207&azaclir=clir | BGE_82_II_62 |
||
ed4856e7-ccf6-43e2-95eb-3cbcbe431517 | 1 | 79 | 1,363,106 | null | 2,024 | de | Sachverhalt
ab Seite 603
BGE 98 Ia 602 S. 603
A.- | 22 | 14 | Am 29., 30. und 31. Oktober 1971 fand im Kanton Basel-Stadt die Wahl des Abgeordneten in den Ständerat statt. Einziger vorgeschlagener Kandidat war der bisherige Dr. Willi Wenk, welcher mit starkem Mehr wiedergewählt wurde. Die in Basel stimmberechtigte Hedwig Aschwanden reichte am 3. November 1971 beim Regierungsrat des Kantons Basel-Stadt eine Wahleinsprache ein mit dem Antrag, die Wahl ungültig zu erklären. Sie machte eine Verletzung des Wahlgeheimnisses sowie der behördlichen Informationspflicht gegenüber den Stimmbürgern geltend, weil die Stimmbürger im Wahllokal Wettsteinschulhaus ihr Wahlrecht nicht hätten geheim ausüben können und weil der Wahlvorschlag nicht in genügender Form bekanntgegeben worden sei. Am 16. November 1971 wies der Regierungsrat des Kantons Basel-Stadt die Einsprache ab. Der betreffende Regierungsratsbeschluss wurde mit einer Begründung, die den nachstehenden rechtlichen Erwägungen zu entnehmen ist, Fräulein Aschwanden in Form eines Briefes mitgeteilt.
B.-
Mit Beschluss vom 16. November 1971 beantragte der Regierungsrat dem Grossen Rat des Kantons Basel-Stadt, die Ständeratswahl zu validieren. In seinem Bericht an den Grossen Rat stellte er fest. dass von 148'585 Stimmberechtigten sich 62'811 an der Wahl beteiligten. Bei 41'716 eingelegten gültigen Stimmzetteln betrage das absolute Mehr 20'859. Gewählt sei
BGE 98 Ia 602 S. 604
mit 34'571 Stimmen der bisherige Vertreter des Kantons Basel-Stadt, Herr Dr. Willi Wenk. Weiter wurde erwähnt, dass eine Einsprache von Fräulein H. Aschwanden eingereicht worden sei, die der Regierungsrat in seiner Sitzung vom 16. November 1971 als unbegründet abgewiesen habe.
Mit Beschluss des Grossen Rates vom 18. November 1971 wurde die Ständeratswahl entsprechend dem regierungsrätlichen Antrag als validiert erklärt.
C.-
Hedwig Aschwanden wollte den Regierungsratsbeschluss vom 16. November 1971, mit welchem ihre Wahleinsprache abgewiesen wurde, anfechten. Auf ihre Anfrage hin teilte ihr der Staatsschreiber des Kantons Basel-Stadt schriftlich mit, dass gemäss § 16 des Gesetzes über die Verwaltungsrechtspflege gegen den betreffenden Regierungsratsbeschluss innert 7 Tagen ab Zustellung der Rekurs an das Verwaltungsgericht ergriffen werden könne und dass spätestens innert 14 Tagen eine schriftliche Rekursbegründung einzureichen sei.
D.-
Mit Eingabe vom 22. November 1971 reichte Hedwig Aschwanden beim Appellationsgericht als Verwaltungsgericht des Kantons Basel-Stadt einen begründeten Rekurs ein. Sie beantragte, dass das Abstimmungsresultat vom 29., 30., 31. Oktober 1971 wegen Verletzung des Wahlgeheimnisses und Verletzung der Informationspflicht ungültig erklärt und eine neue Wahl durchgeführt werde.
Am 23. November 1971 schrieb der vorsitzende Präsident des Appellationsgerichts Basel Hedwig Aschwanden, dass das von ihr ergriffene Rechtsmittel aussichtslos sei. In dem Schreiben legte er unter Hinweis auf die massgebenden Bestimmungen von Verwaltungsrechtspflegegesetz und Wahlgesetz dar, dass und weshalb das Verwaltungsgericht zur Behandlung ihres Rekurses nicht zuständig sei. Es wurde ihr erklärt, dass ohne ihren Gegenbericht bis zum 30. November 1971 angenommen werde, dass sie im Interesse der Vermeidung von Kosten auf ein förmliches Urteil verzichte. Hedwig Aschwanden hielt jedoch an ihrem Rekurs fest. Am 16. Dezember 1971 fällte das Verwaltungsgericht den Nichteintretensentscheid. Er wurde - wie schon im Schreiben des Präsidenten vom 23. November 1971 dargelegt - damit begründet, dass der Beurteilung des Verwaltungsgerichts nur solche Verfügungen des Regierungsrats unterlägen, welche eine materielle Erledigung des behandelten Geschäfts enthalten oder auf Nichteintreten lauten. Die Validierung
BGE 98 Ia 602 S. 605
der Ständeratswahl sei Sache des Grossen Rates. Die Vorkehrungen des Regierungsrats auf diesem Gebiete dienten bloss der Vorbereitung der Beschlussfassung des Grossen Rates und enthielten keine materielle Erledigung des Geschäftes. Eine Anfechtung des in Frage stehenden Regierungsratsbeschlusses beim Verwaltungsgericht sei daher ausgeschlossen. Hedwig Aschwanden wurde eine Gerichtsgebühr von Fr. 100.-- auferlegt, weil sie trotz des Hinweises auf die Aussichtslosigkeit des Rekurses an diesem festgehalten habe.
E.-
Hedwig Aschwanden hat im Anschluss an den Entscheid des Verwaltungsgerichts vom 16. Dezember 1971 mit Eingabe vom 3. Januar 1972 staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung ihrer politischen Rechte als Stimmbürgerin sowie des
Art. 4 BV
erhoben. Sie beantragt, zu berücksichtigen, dass ihr aus der falschen Rechtsmittelbelehrung durch die kantonale Instanz kein Nachteil erwachsen dürfe und dass die daraus entstandenen Kosten dem Verwaltungsgericht anzulasten seien. Dem Verwaltungsgericht wird ein gesetzwidriges Verhalten vorgeworfen, weil es ihre Rechtsmitteleingabe nicht unverzüglich an die zuständige Instanz weitergeleitet habe. Zur Sache selbst wiederholt die Beschwerdeführerin ihre im kantonalen Verfahren vorgebrachten Rügen der Verletzung des Wahlgeheimnisses und der behördlichen Informationspflicht gegenüber den Stimmbürgern und beantragt, die Ständeratswahl ungültig zu erklären. Zudem sei der Regierngsrat zu verpflichten, in den Wahllokalen für die Wahrung der geheimen Stimmabgabe zu sorgen; auch sei ihr Recht auf Information zu schützen. Die Begründung der Beschwerde ergibt sich, soweit nötig, aus den nachstehenden Erwägungen.
F.-
Das Verwaltungsgericht des Kantons Basel-Stadt beantragt unter Verzicht auf Gegenbemerkungen die Abweisung der Beschwerde. Der Regierungsrat des Kantons Basel-Stadt hat sich nicht vernehmen lassen.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Nach § 10 des baselstädtischen Gesetzes über die Verwaltungsrechtspflege vom 14. Juni 1928 (VRPG) unterliegen der Beurteilung des Verwaltungsgerichts grundsätzlich nur die Verfügungen des Regierungsrats, welche eine materielle Erledigung des behandelten Geschäftes enthalten oder auf Nichteintreten lauten. § 27 Abs. 2 der Kantonsverfassung (KV) bestimmt,
BGE 98 Ia 602 S. 606
dass die Untersuchung der Gültigkeit der Abstimmungen sowie der Wahl der Abgeordneten in den Ständerat vom Regierungsrat vorgenommen wird und dass der Bericht darüber dem Grossen Rate zum Entscheid vorzulegen ist. Die
§
§ 26 und 29 des kantonalen Gesetzes betreffend die Wahlen und Abstimmungen vom 9. März 1911 (WG)
wiederholen im wesentlichen diese Verfassungsvorschrift und bestimmen präzisierend weiter, dass die Einsprachen gegen kantonale Wahlen dem Regierungsrat einzureichen sind, der sie an die Behörde weiterleitet, die über die Gültigkeit der Wahl zu entscheiden hat. Demnach wird eine Einsprache gegen die Ständeratswahl nicht vom Regierungsrat erledigt. Zuständig dazu ist der Grosse Rat, der die Wahl validiert.
Von dieser Ordnung geht zu Recht auch der auf Nichteintreten lautende Entscheid des Verwaltungsgerichts aus. Das Verwaltungsgericht verkennt jedoch, dass der Regierungsrat im Falle der Beschwerdeführerin offensichtlich doch über die Wahleinsprache entschieden hat. Durch Regierungsratsbeschluss vom 16. November 1971 - welcher der Beschwerdeführerin zwar in Form eines Briefes mitgeteilt wurde, was aber nicht ändert, dass es sich um einen Entscheid handelt - wurde entschieden, dass die Wahleinsprache abgewiesen werde. Dem entspricht der Beschluss des Regierungsrats vom gleichen Tag, womit dem Grossen Rat über die Ständeratswahl Bericht erstattet und deren Validierung beantragt wurde. Die Wahleinsprache der Beschwerdeführerin wird darin dem Grossen Rat nicht zum Entscheid unterbreitet, sondern es wird nurmehr daraufhingewiesen, dass eine Einsprache von Fräulein H. Aschwanden fristgemäss eingereicht worden sei und dass der Regierungsrat diese Einsprache in seiner Sitzung vom 16. November 1971 als unbegründet abgewiesen habe. Demgemäss hat auch der Grosse Rat die Ständeratswahl validiert, ohne die Einsprache selbst beurteilt zu haben. Die Tatsache, dass der Regierungsrat über die Wahleinsprache der Beschwerdeführerin materiell entschied - was wohl erklärt, weshalb der Staatsschreiber diese auf den Rechtsmittelweg an das Verwaltungsgericht wies -, vermag jedoch die nach dem Gesetz ausgeschlossene Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts nicht zu begründen. Die Beschwerdeführerin behauptet denn auch mit Recht nicht, dass dieses auf ihren Rekurs hätte eintreten müssen.
BGE 98 Ia 602 S. 607
2.
Die Beschwerdeführerin sieht eine Verletzung von
Art. 4 BV
darin, dass das Verwaltungsgericht ihren Rekurs nicht unverzüglich an die zuständige Instanz weiterleitete, wie es seine gesetzliche Pflicht gewesen wäre. Die gesetzlichen Vorschriften, welche ein solches Vorgehen vorschreiben sollten, werden jedoch nicht genannt. Der Beschwerde fehlt es insoweit an der nach
Art. 90 OG
erforderlichen Begründung, weshalb auf die Rüge nicht einzutreten ist.
3.
Der Entscheid des Verwaltungsgerichts vom 16. Dezember 1971 wird mit der staatsrechtlichen Beschwerde insoweit angefochten, als der Beschwerdeführerin eine Gerichtsgebühr von Fr. 100.-- auferlegt wird, weil sie trotz Hinweises auf die Aussichtslosigkeit des Rekurses an diesem festhielt.
Nach § 30 Abs. 1 VRPG werden in der Regel weder Gerichtsgebühren erhoben noch Parteientschädigungen zugesprochen. Nach Abs. 2 Satz 1 dieser Bestimmung, und auf diese stützt sich das Verwaltungsgericht im angefochtenen Entscheid, kann jedoch das Gericht ausnahmsweise einem Rekurrenteneine Gerichtsgebührbis zumBetrage vonFr. 1'000.-- auferlegen, wenn unter anderem die Art der Prozessführung dies rechtfertigt. Wohl wurde der Beschwerdeführerin vom Präsidenten des Appellationsgerichts dargelegt, dass und weshalb ihr Rekurs aussichtslos sei. Nachdem sie aber im Besitze eines Schreibens des Staatsschreibers, der den Regierungsratsentscheid mitunterzeichnet hatte, war, worin sie auf den Rechtsweg an das Verwaltungsgericht gewiesen wurde, kann ihr kein Vorwurf gemacht werden, wenn sie auf einem förmlichen Entscheid des Verwaltungsgerichts beharrte. Unter diesen Umständen ist es aber schlechthin unhaltbar und verstösst damit gegen
Art. 4 BV | 2,051 | 1,525 | , ihr eine tadelnswerte Prozessführung, welche die ausnahmsweise Auflage einer Gerichtsgebühr rechtfertigen würde, zur Last zu legen. Satz 2 des Dispositivs des Verwaltungsgerichtsentscheids vom 16. Dezember 1971, worin der Beschwerdeführerin eine Gerichtsgebühr von Fr. 100.-- auferlegt wird, ist daher aufzuheben.
4.
Soweit die staatsrechtliche Beschwerde das Wahlverfahren rügt und sich gegen den die Wahleinsprache abweisenden Entscheid des Regierungsrats vom 16. November 1971 richtet, ist sie verspätet. Die dreissigtägige Beschwerdefrist des
Art. 89 OG
, die mit der offenbar am 17. November 1971 erfolgten Zustellung des Regierungsratsentscheids zu laufen begann, ist
BGE 98 Ia 602 S. 608
unbenutzt verstrichen. Nach
Art. 35 OG
kann jedoch die Wiederherstellung einer versäumten Frist gewährt werden, wenn der Gesuchsteller durch ein unverschuldetes Hindernis davon abgehalten worden ist, innert Frist zu handeln. Als unverschuldetes Hindernis im Sinne dieser Vorschrift anerkennt die bundesgerichtliche Rechtsprechung auch eine von der zuständigen Behörde erteilte unrichtige Rechtsmittelbelehrung, sofern der Betroffene sich nach den Umständen darauf verlassen durfte (
BGE 96 II 72
,
BGE 94 I 284
je mit Verweisungen). Dass der Staatsschreiber des Kantons Basel-Stadt zuständig ist, eine Belehrung über das gegen einen Regierungsratsentscheid zu ergreifende Rechtsmittel zu erteilen, steht ausser Zweifel. Es ist deshalb bloss zu prüfen, ob die Beschwerdeführerin darauf vertrauen durfte. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts kann eine Partei sich dann nicht auf ihren guten Glauben berufen bzw. sich nicht auf die ihr erteilte Rechtsmittelbelehrung verlassen, wenn sie die Voraussetzungen des in Frage stehenden Rechtsmittels tatsächlich kannte, sodass sie durch die falsche Belehrung nicht irregeführt werden konnte, oder wenn die Unrichtigkeit der Belehrung für sie ohne weiteres erkennbar war (
BGE 96 II 72
,
BGE 94 I 284
je mit Verweisungen). Das ist hier anzunehmen von dem Zeitpunkt an, da die Beschwerdeführerin durch das Schreiben des Präsidenten des Verwaltungsgerichts von der Rechtslage Kenntnis erhielt. Auch wenn es an sich verständlich ist, dass sie angesichts der schriftlichen Rechtsmittelbelehrung des Staatsschreibers auf einem förmlichen Entscheid des Verwaltungsgerichts beharrte, so musste ihr dieses Schreiben dennoch allen Anlass geben, die Richtigkeit der ihr erteilten Rechtsmittelbelehrung zumindest in Zweifel zu ziehen. Eine Wiederherstellung kann deshalb nur für die Zeit gewährt werden, da die Beschwerdeführerin noch nicht im Besitze des Schreibens des Verwaltungsgerichtspräsidenten vom 23. November 1971 war. Wird aufgrund der Akten angenommen, die Beschwerdeführerin habe dieses am darauffolgenden Tag, dem 24. November 1971, erhalten, so endigte die 30tägige Beschwerdefrist am 10. Januar 1972 (Gerichtsferien vom 18. Dezember bis und mit 1. Januar, 8./9. Januar 1972 Samstag/Sonntag). Die Beschwerdeeingabe vom 3. Januar 1972 ist somit rechtzeitig.
5.
Nach der verfassungsmässigen Ordnung steht der Entscheid über die Wahleinsprachen dem Grossen Rat zu,
BGE 98 Ia 602 S. 609
welcher die Wahl validiert (§ 27 Abs. 2 KV,
§
§ 26, 29 WG
; vgl. Erw. 1). Der Regierungsratsbeschluss, mit welchem dem Grossen Rat Bericht und Antrag über die Wahl erstattet wird, ist daher kein letztinstanzlicher kantonaler Hoheitsakt, der mit staatsrechtlicher Beschwerde angefochten werden kann (
Art. 86 Abs. 2 OG
). Ein solcher liegt erst mit dem Entscheid des Grossen Rates über die Einsprachen und die Validierung der Wahl vor. Auch wenn im vorliegenden Fall der Regierungsrat die Wahleinsprache der Beschwerdeführerin selbst materiell entschieden hat, so kann der betreffende Beschluss für sich allein dennoch nicht der staatsrechtlichen Beschwerde unterliegen. Anzufechten ist auch so in erster Linie der Beschluss des Grossen Rates vom 18. November 1971, mit welchem die im regierungsrätlichen Bericht erwähnte Abweisung der Wahleinsprache, wenn nicht zum Inhalt des Validierungsbeschlusses erhoben, so zum mindesten genehmigt wurde. In der staatsrechtlichen Beschwerde wird das Begehren gestellt, die Ständeratswahl als ungültig zu erklären. Das kann dahin verstanden werden, dass auch die Aufhebung des Validierungsbeschlusses des Grossen Rats vom 18. November 1971 verlangt wird, zumal die ausdrückliche Anfechtung auch dieses Beschlusses wohl deshalb unterblieb, weil der Regierungsrat die Wahleinsprache entschied und der Beschwerdeführerin zudem eine falsche Rechtsmittelbelehrung erteilt wurde. Gegenstand des Beschwerdeverfahrens ist somit auch der Validierungsbeschluss des Grossen Rates vom 18. November 1971.
6.
Mit der staatsrechtlichen Beschwerde vorliegender Art kann die Kassation nicht bloss des letztinstanzlichen kantonalen Entscheids, sondern auch der in Frage stehenden Wahl oder Abstimmung selbst verlangt werden. Soweit die Beschwerdeführerin jedoch mehr beantragt als die Aufhebung der angefochtenen Entscheide des Regierungsrats und des Grossen Rats sowie die Kassation der Ständeratswahl, ist darauf nicht einzutreten (
BGE 94 I 124
, nicht veröffentlichtes Urteil vom 6. November 1957 i.S. Stockalper E. 2).
7.
Mit der Beschwerde wird nicht beantstandet, dass der Regierungsrat statt des Grossen Rates über die Wahleinsprache entschied. Es ist deshalb nicht zu prüfen, ob die angefochtenen Entscheide wegen Rechtsverweigerung aufzuheben wären.
8.
Die Beschwerdeführerin verlangt die Aufhebung der Ständeratswahl mit der Begründung, dass die Stimmbürger
BGE 98 Ia 602 S. 610
durch die Behörde über den Wahlvorschlag nicht hinreichend orientiert worden seien und zudem ihre Stimme nicht hätten geheim abgeben können.
Das vom Verfassungsrecht des Bundes gewährleistete Stimmrecht gibt dem Bürger Anspruch darauf, dass kein Abstimmungsergebnis anerkannt wird, das nicht den freien Willen der Stimmbürger zuverlässig und unverfälscht zum Ausdruck bringt. Der Bürger soll sein Stimmrecht völlig frei ausüben und den Stimmzettel so ausfüllen können, wie es seinem wirklichen Willen entspricht, was unter anderem durch geheime Stimmabgabe gewährleistet wird (
BGE 98 Ia 78
,
BGE 90 I 73
, je mit Verweisungen). Bei der Frage, ob diese Grundsätze und damit das Stimmrecht verletzt sind, prüft das Bundesgericht nicht nur die Auslegung und Anwendung des Bundesrechts und des kantonalen Verfassungsrechts frei, sondern auch anderer kantonaler Vorschriften, sofern diese das Stimmrecht nach Inhalt und Umfang näher normieren (
BGE 94 I 124
E. 2 mit Verweisungen). Die Sachverhaltsfeststellungen der kantonalen Behörden dagegen prüft es nur unter dem beschränkten Gesichtswinkel der Willkür (
BGE 98 Ia 78
,
BGE 97 I 663
).
9.
Eine fehlerfreie Willensbildung setzt voraus, dass den Stimmbürgern Abstimmungsvorlagen und Wahlvorschläge gehörig bekannt gemacht werden (PICENONI, Die Kassation von Volkswahlen und Volksabstimmungen, Diss. Zürich 1945, S. 63 ff.). Wie die Bekanntmachung zu erfolgen hat, ergibt sich vorab aus dem kantonalen Recht. Die betreffenden kantonalen Bestimmungen, welche den Umfang der Informationspflicht der Behörden festlegen, sind nicht bloss Ordnungsvorschriften, sondern sie umschreiben, wie weit ein aus der politischen Stimmberechtigung sich ergebender Anspruch der Bürger geht.
Der Regierungsrat hat die Rüge, der Wahlvorschlag sei den Stimmbürgern nicht zugestellt und damit nicht gehörig bekannt gemacht worden, unter Hinweis auf
§ 88 Abs. 3 WG
als unbegründet erklärt. Nach dieser Bestimmung, die unter anderem speziell für die Ständeratswahl gilt, erhält der Stimmberechtigte nach Vorweisung des Stimmrechtsausweises vom Wahlbüro einen leeren Stimmzettel, den er nach allfälliger Ausfüllung in die Urne legt. Daraus schliesst der Regierungsrat, dass bei der Ständeratswahl eine Zustellung der Wahlvorschläge nicht zu erfolgen habe - anders als bei den Regierungsratswahlen, wo die Wahlvorschläge auf den Stimmzetteln vorgedruckt sind,
BGE 98 Ia 602 S. 611
die den Wählern vor der Wahl zugestellt werden (
§ 72 Abs. 2,
§ 73 WG
). Die Beschwerdeführerin wendet dagegen ein, die Vorschrift von
§ 88 Abs. 3 WG
habe nicht den Sinn, dass der Wahlvorschlag den Stimmbürgern nicht bekanntzugeben sei. Die Stimmbürger seien vielmehr wie bei der Abstimmung über Sachvorlagen zu informieren, oder wie bei den Regierungsratswahlen mit dem Unterschied, dass der Wahlvorschlag nicht gleichzeitig als Stimmzettel gelte. Dem ist insoweit beizupflichten, als der Umstand, dass bei der Ständeratswahl die Wähler erst im Wahllokal den - leeren - Stimmzettel erhalten, nicht bedeuten kann, der Wahlvorschlag sei ihnen vor der Wahl überhaupt nicht zur Kenntnis zu bringen.
§ 72 Abs. 1 WG
, wonach die Wahlvorschläge vom Polizeidepartement spätestens eine Woche vor dem Wahltage im Kantonsblatt bekanntgegeben werden, muss auch für die Ständeratswahl gelten. Der Wahlvorschlag mit Dr. Willi Wenk als Kandidaten wurde denn auch am 4. Oktober 1971 im Kantonslatt veröffentlicht. Eine weitergehende Information der Stimmbürger, wie die Beschwerdeführerin sie im Auge hat, ist im Gesetz jedoch nicht vorgesehen, und es wird auch nicht behauptet, dass eine solche sich aus der Verfassung ergeben müsste. Die Rüge, die Regierung habe ihre Informationspflicht gegenüber den Stimmbürgern verletzt, erweist sich daher als unbegründet.
10.
§ 27 KV schreibt für kantonale Wahlen und Abstimmungen die Urnenabstimmung vor. Die Verwendung von Stimmurnen garantiert, dass der einzelne seine Stimme geheim abgeben kann. In der Verfassungsbestimmung, welche das System der Urnenabstimmung vorsieht, liegt somit die Gewährleistung der geheimen Stimmabgabe als verfassungsmässiges Prinzip. Entsprechend bestimmt
§ 19 Abs. 1 Satz 2 WG
, das Wahlbüro habe darauf zu achten, dass die Stimmabgabe durch die Berechtigten persönlich und geheim vor sich geht.
Die Beschwerdeführerin sieht sich in ihrem Recht aufgeheime Stimmabgabe verletzt, weil das Wahllokal im Wettsteinschulhaus so eingerichtet gewesen sei, dass die Mitglieder des Wahlbüros die Stimmbürger beim Ausfüllen des Wahlzettels hätten beobachten können. Man habe nämlich in den wie für den Schulbetrieb angeordneten Bänken schreiben müssen, vor denen die Mitglieder des Wahlbüros gleich dem Lehrer gestanden oder gesessen seien. Der Regierungsrat dagegen erklärt, es sei aufgrund des Tatsachenmaterials so gut wie sicher anzunehmen,
BGE 98 Ia 602 S. 612
dass keine Verletzung oder Ritzung des Wahlgeheimnisses stattgefunden habe. Die Tische seien so angeordnet gewesen, dass der Stimmbürger auf dem Weg vom Büro zu den Tischen resp. zur Urne den Stimmzettel, den ein Stimmbürger gerade ausfüllte, in der Regel nicht gesehen habe, es sei denn, er habe ihn sehen wollen. In solchen Fällen aber wären die Wahlbüros verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die Stimmbürger den Wahlakt geheim vornehmen könnten. Dass man zudem vom Wahlbüro aus die Stimmbürger absichtlich beobachtet habe, sei unwahrscheinlich. Die Mitglieder und Sekretäre seien bei jenen letzten Wahlen vollauf mit dem Abschneiden der Couvertecken, mit dem Abstempeln der Listen und mit der Abgabe der Stimmzettel beschäftigt gewesen. Seit Jahrzehnten habe übrigens das bisherige System keinen Anlass zu Beanstandungen gegeben.
a) Den kantonalen Akten ist kein Hinweis darauf zu entnehmen, dass der Regierungsrat den von der Beschwerdeführerin behaupteten Sachverhalt näher überprüfte. Aus dessen Ausführungen im angefochtenen Entscheid ist jedoch zu schliessen, dass das Wahllokal im Wettsteinschulhaus so eingerichtet war, wie es in der Einsprache dargestellt wurde. Mit dem Argument, dass die Wähler beim Ausfüllen des Stimmzettels nur beobachten konnte, wer wollte, und dass überdies die Mitglieder des Wahlbüros zu beschäftigt gewesen seien, um solches zu tun, räumt der Regierungsrat ein, dass eine Beobachtung der Wähler möglich war. Überdies wird die Behauptung der Beschwerdeführerin, dass auch die übrigen Wahllokale gleich eingerichtet gewesen seien, vom Regierungsrat offenbar anerkannt mit der Bemerkung, das bisherige System habe bis anhin keinen Anlass zu Beanstandungen gegeben. Unter diesen Umständen kann jedenfalls nicht von einer Rechtsverweigerung gegenüber der Beschwerdeführerin gesprochen werden, die der Regierungsrat durch ungenügende Abklärung des Sachverhalts begangen haben sollte (
BGE 93 I 537
).
b) Die
§
§ 13 und 63 WG
enthalten die Vorschrift, dass die zuständige Behörde "für gehörige Einrichtung und Ausstattung der Wahllokale zu sorgen hat". Ein wesentlicher Gesichtspunkt muss dabei die Ermöglichung der geheimen Stimmabgabe sein. Die Urnenabstimmung, wie sie in § 27 KV vorgeschrieben wird, nämlich die sukzessive Stimmgebung in die Urne (vgl. GIACOMETTI, Das Staatsrecht der schweizerischen Kantone, Zürich
BGE 98 Ia 602 S. 613
1941, S. 249), ist dasjenige Abstimmungs- bzw. Wahlverfahren, welches eine absolute Sicherung des Stimmgeheimnisses verbürgen will, mehr noch als eine Stimmgebung in die Urne anlässlich einer Versammlung, da alle in einem Raume anwesenden Bürger ihren Stimmzettel gleichzeitig ausfüllen. Die Anforderungen an die Vorkehren, welche die geheime Stimmabgabe sichern sollen, sind deshalb entsprechend streng zu stellen. Sind in einem Wahllokal, wie es im Wettsteinschulhaus unbestrittenermassen der Fall war, die Wahlzettel in den Schulbänken auszufüllen, vor denen sich die Mitglieder des Wahlbüros aufhalten, so kann mehr oder weniger leicht beobachtet werden, wie gestimmt wird; der Regierungsrat selbst stellt diese Möglichkeit nicht in Abrede. Zwar kann unter solchen Umständen der Wähler leicht schon z.B. mit der Hand den Wahlzettel, den er ausfüllt, gegen Blicke seitens des Wahlbüros oder anderer Stimmberechtigter abdecken. Ein solches Spiel soll dem Stimmbürger aber nicht zugemutet werden. Es ist vielmehr am Staat, diejenigen Vorkehren zu treffen, die eine Beobachtung der Wähler von vornherein ausschliessen. Die beste Gewähr bieten in dieser Hinsicht sog. Isolierzellen oder mit Trennwänden versehene Schreibpulte, wie sie in verschiedenen Kantonen von Gesetzes wegen vorgeschrieben sind (vgl. die Zussamenstellung bei JEAN CASTELLA, L'exercice du droit de vote, in ZSR N.F. 78 II S. 583 a; für den Kanton Freiburg Art. 38 Abs. 3 des Gesetzes über die Ausübung der bürgerlichen Rechte vom 15. Juli 1966). Solche oder ähnliche Einrichtungen sind nicht mit übermässigen Umtrieben und Kosten verbunden und können dem Staat zugemutet werden, will er nicht ein Wahlverfahren anordnen, bei welchem die Bürger ihren Wahlzettel vor dem Urnengang zuhause ausfüllen und die geheime Stimmabgabe auf diese Weise hinreichend gesichert ist. Sie dürfen nicht für überflüssig gehalten werden mit der Begründung, dass bei den gegebenen Verhältnissen eine Kontrolle der Wähler nicht denkbar sei. Die politischen Verhältnisse können sich ändern, und im Hinblick darauf ist das Wahlgeheimnis auch dann streng zu hüten, wenn solche Vorkommnisse fern liegen. Entgegen der Auffassung des Regierungsrats ist deshalb nicht wesentlich, ob im konkreten Fall eine Kontrolle der Wähler tatsächlich stattfindet oder nicht. Ein Verstoss gegen den mit dem System der Urnenwahl verankerten Grundsatz der geheimen Stimmabgabe liegt schon dann vor, wenn ein Wahllokal
BGE 98 Ia 602 S. 614
so eingerichtet ist, dass die Wahlzettel nicht unbeobachtet ausgefüllt werden können.
c) Auch wenn sich die Rüge der Beschwerdeführerin, das Wahlgeheimnis sei nicht gehörig gewahrt gewesen, als begründet erweist, so führt dies nicht ohne weiteres zur Kassation der in Frage stehenden Ständeratswahl. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts wird eine Wahl nur dann kassiert, wenn die festgestellten Unregelmässigkeiten das Wahlergebnis beeinflusst haben können (
BGE 98 Ia 78
,
BGE 97 I 662
/3 je mit Verweisungen). Das lässt sich im vorliegenden Fall nicht annehmen. Nach den Ausführungen im angefochtenen Entscheid und in der Beschwerde deutet nichts darauf hin, dass ausser der Beschwerdeführerin noch andere Stimmbürger sich bei der Stimmabgabe kontrolliert fühlten. Bei den eingangs erwähnten Zahlen hätten sich mehrere tausend Stimmbürger in ihrem Wahlgeheimnis verletzt glauben müssen, damit sich das Wahlergebnis zuungunsten des Kandidaten Wenk verschieben könnte. Dass eine derart hohe Zahl von Wählern begründeten Anlass dazu hatten, ist bei den gegebenen Verhältnissen, da es um eine unbestrittene Wahl ging und keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Stimmabgabe tatsächlich kontrolliert wurde, jedoch ausgeschlossen. Die angefochtene Wahl ist daher nicht aufzuheben. Dies ändert indessen nichts daran, dass die beanstandete Einrichtung der Wahllokale den Anforderungen, die sich aus dem mit der Urnenwahl verankerten Grundsatz der absolut geheimen Stimmabgabe ergeben, nicht genügt und nach dem Gesagten nicht beibehalten werden kann. Die Beschwerde ist deshalb, soweit sie sich gegen den Regierungsratsbeschluss vom 16. November 1971 und den Validierungsbeschluss des Grossen Rats vom 18. November 1971 richtet, im Sinne der Erwägungen abzuweisen.
Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird, soweit auf sie einzutreten ist, im Sinne der Erwägungen teilweise gutgeheissen und der Entscheid des Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt als Verwaltungsgericht vom 16. Dezember 1971 mit Bezug auf die Kostenregelung (Disp. Satz 2) aufgehoben. | 3,582 | 2,827 | CH_BGE_002 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_002_BGE-98-Ia-602_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=4&from_date=&to_date=&from_year=1972&to_year=1972&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=37&highlight_docid=atf%3A%2F%2F98-IA-602%3Ade&number_of_ranks=374&azaclir=clir | BGE_98_Ia_602 |
||
ed4954f3-958e-4341-9b55-913e38b13b97 | 1 | 82 | 1,355,959 | null | 2,024 | de | Sachverhalt
ab Seite 521
BGE 130 III 520 S. 521
A.
A.a
Die Eidg. Steuerverwaltung betrieb die X. AG für Mehrwertsteuerforderungen in den Betreibungen Nr. 1 (Pfändung Nr. a), 2 (Pfändung Nr. b) und 3 (Pfändung Nr. c). Das Betreibungsamt Zürich 1 pfändete in diesen drei Betreibungen Kleidungsstücke der Schuldnerin. In den ersten beiden Pfändungen vom 22. August und 23. September 2002 wurden jeweils die gleichen Kleidungsstücke gepfändet. Bei der dritten Pfändung vom 11. und 31. März 2003 wurden ebenfalls diese Gegenstände, dazu aber noch weitere Kleidungsstücke gepfändet. Mit der dritten Pfändung nahm das Betreibungsamt sämtliche Pfändungsgegenstände in Gewahrsam, da die Schuldnerin die Abschlagszahlungen im Sinne von
Art. 123 SchKG
nicht mehr leistete. Bevor die Verwertung stattfinden konnte, wurde über die Schuldnerin am 22. Mai 2003 der Konkurs eröffnet.
A.b
In der Folge stellte das Betreibungsamt der Eidg. Steuerverwaltung für Gebühren und Auslagen in den drei Betreibungen insgesamt Fr. 5'801.40 in Rechnung. Die dagegen erhobene Beschwerde wurde vom Bezirksgericht Zürich (6. Abteilung) als unterer Aufsichtsbehörde am 5. April 2004 abgewiesen.
Mit dem dagegen beim Obergericht des Kantons Zürich (II. Zivilkammer) als oberer kantonaler Aufsichtsbehörde in Schuldbetreibungs- und Konkurssachen eingereichten Rekurs beantragte die Gläubigerin die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses sowie der betreffenden Kostenrechnungen des Betreibungsamtes. Weiter verlangte sie, es seien die Kosten in der Betreibung Nr. 1 auf Fr. 339.15, in der Betreibung Nr. 2 auf Fr. 272.90 und in der Betreibung Nr. 3 auf Fr. 2'204.- (total Fr. 2'816.05) festzusetzen. Diese Beträge entsprechen den von der Gläubigerin bereits bezahlten Kosten in den betreffenden Betreibungen. Mit Entscheid vom 3. Juni 2004 hiess das Obergericht den Rekurs teilweise gut und hob den angefochtenen Beschluss sowie die Kostenrechnungen und Verfügungen des Betreibungsamtes Zürich 1 vom 26. Juni 2003 auf. Die von der Gläubigerin noch zu zahlenden Kostenanteile wurden neu wie folgt festgesetzt: Fr. 854.35 in der Betreibung Nr. 1; Fr. 1'057.80 in der Betreibung Nr. 2 und Fr. 2'844.65 in der Betreibung Nr. 3 (total Fr. 4'756.80).
B.
Mit Eingabe vom 14. Juni 2004 hat die Eidg. Steuerverwaltung die Sache an die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer des
BGE 130 III 520 S. 522
Bun desgerichts weitergezogen. Sie beantragt, der Beschluss des Obergerichts Zürich vom 3. Juni 2004 und die Kostenverfügungen in den Betreibungen Nr. 1, 2 und 3 seien aufzuheben. Die Kosten seien in der Betreibung Nr. 1 auf Fr. 339.15, in der Betreibung Nr. 2 auf Fr. 272.90 und in der Betreibung Nr. 3 auf Fr. 2'204.- festzusetzen. Eventualiter sei das Verfahren betreffend die Frage des Ermessensmissbrauchs an die Vorinstanz zurückzuweisen. | 699 | 478 | Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
2.1
Die Beschwerdeführerin bringt vor, das Betreibungsamt habe in den vorliegenden Betreibungen/Pfändungen kostspielige Vorbereitungshandlungen in der Höhe von rund Fr. 10'000.- vorgenommen, ohne dafür einen Kostenvorschuss zu verlangen. Das Betreibungsamt habe das ihm zustehende Ermessen missbraucht. Die Vorinstanz sei nicht auf die Fragen eingegangen, ob das Betreibungsamt einen Kostenvorschuss hätte einverlangen müssen, und was die Folgen seien, wenn kein Vorschuss erhoben werde.
2.2
Gemäss
Art. 68 Abs. 1 SchKG
sind die Betreibungskosten vom Gläubiger vorzuschiessen und kann das Betreibungsamt, wenn der Vorschuss nicht geleistet wird, die Betreibungshandlung einstweilen unterlassen. Der Schuldner hat die dem Gläubiger entstandenen Kosten grundsätzlich zu ersetzen (vgl. Art. 68 Abs. 1 erster Satz SchKG). Kommt es nicht zur Verwertung, so tritt die Überwälzung der Kosten auf den Schuldner nicht ein, so dass diese beim Gläubiger bleiben (FRITZSCHE/WALDER, Schuldbetreibung und Konkurs nach schweizerischem Recht, Bd. I, Zürich 1984, § 15 N. 11, S. 184). Es steht im pflichtgemässen Ermessen des Betreibungsamtes, in welcher Höhe es einen Kostenvorschuss einverlangt. Es hat hierzu die anfallenden Kosten zu schätzen (EMMEL, in: Kommentar zum Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs, SchKG I, Staehelin/ Bauer/Staehelin [Hrsg.], Basel 1998, N. 14 zu
Art. 68 SchKG
; GILLIÉRON, Commentaire de la loi fédérale sur la poursuite pour dettes et la faillite, articles 1-88, N. 26 zu
Art. 68 SchKG
, S. 1053;
BGE 85 III 81
E. 3 S. 85/86). Der Gläubiger hat keinen Anspruch, lediglich Kosten in der Höhe der Kostenvorschüsse tragen zu müssen.
Mit Beschwerde kann gerügt werden, dass bei der Ermessensausübung sachfremde Kriterien berücksichtigt oder rechtserhebliche Umstände ausser Acht gelassen worden sind (
Art. 19 Abs. 1 SchKG
;
BGE 128 III 337
E. 3a).
BGE 130 III 520 S. 523
2.3
Gemäss dem angefochtenen Urteil sind in den ersten beiden Pfändungen 922 und in der dritten Pfändung zusätzlich 3'899 Kleidungsstücke gepfändet worden. Dabei sind Sortier- und Transportkosten im Umfang von Fr. 9'921.- angefallen, welche die Vorinstanz als Verwertungskosten denjenigen Gläubigern auferlegt hat, welche ein Verwertungsbegehren gestellt und sich damit zur Übernahme des entsprechenden Kostenrisikos entschieden haben (
BGE 55 III 122
E. 2;
111 III 63
E. 2 S. 65). Weil in der dritten Pfändung Nr. c erheblich mehr Gegenstände gepfändet worden waren als in den ersten beiden Pfändungen zuvor, hat die Vorinstanz die angefallenen Zähl-, Sortier- und Transportkosten im Umfang von Fr. 9'921.- zu einem Fünftel als Verwertungskosten den Gläubigern in den Pfändungsgruppen Nr. a und b sowie zu vier Fünfteln als Pfändungskosten den Gläubigern in der Pfändung Nr. c auferlegt.
2.4
Nach der früheren Rechtsprechung des Bundesgerichts konnte das Betreibungsamt davon absehen, einen Kostenvorschuss zu verlangen, wenn vorauszusehen war, dass die Verwertung ergebnislos verlaufen wird. Diese Praxis wurde jedoch aufgegeben, da sie zu
Art. 68 SchKG
im Widerspruch stand (
BGE 37 I 344
/345; GILLIÉRON, a.a.O., N. 28 zu
Art. 68 SchKG
, S. 1053/1054). Der Gläubiger, der die Verwertung verlangt hat, wird jedoch nicht von der Leistung eines Kostenvorschusses befreit, wenn zu erwarten ist, dass die Kosten der Verwertung und Verteilung ohne weiteres durch den Erlös gedeckt werden können (
BGE 111 III 63
E. 3 S. 66). Die Pflicht zur Leistung von Kostenvorschüssen stellt den Gläubiger vor die Frage, ob er diese weiteren Ausgaben wagen oder eine aussichtslos erscheinende Betreibung nicht lieber unterlassen soll (FRITZSCHE/WALDER, a.a.O., § 15 N. 13, S. 184). Die Kostenvorschusspflicht hat somit eine gewisse prohibitive Funktion. Ist vorauszusehen, dass die Kosten aussergewöhnlich hoch sein werden und nicht mehr im Verhältnis zur Forderung stehen, so soll das Betreibungsamt den Gläubiger vorerst darauf aufmerksam machen, bevor es, ohne einen Kostenvorschuss zu verlangen, die betreffende Handlung vornimmt (JAEGER, Das Bundesgesetz betreffend Schuldbetreibung und Konkurs, 3. Aufl., 1911, Bd. I, N. 4 zu
Art. 68 SchKG
, S. 356).
Wie die Beschwerdeführerin in Übereinstimmung mit den Pfändungsurkunden und dem angefochtenen Urteil ausführt, betrug der Schätzwert der gepfändeten Kleidungsstücke Fr. 108'366.-. Die von der Beschwerdeführerin in Betreibung gesetzten Forderungen
BGE 130 III 520 S. 524
belaufen sich auf Fr. 79'000.-, die der übrigen Gläubiger auf Fr. 20'369.-. Da die Schuldnerin die ihr am 11. November 2002 gewährten Abschlagszahlungen nicht mehr entrichtete, musste das Betreibungsamt gemäss
Art. 123 Abs. 5 SchKG
vorgehen und die bereits gepfändeten Aktiven am 31. März 2003 wegnehmen, was die zusätzlichen Zähl-, Sortier- und Transportkosten zur Folge hatte. Diese Wende trat plötzlich ein, und angesichts des namhaften Schätzwertes der gepfändeten Objekte für die laufenden Betreibungen durfte das Betreibungsamt ohne weiteres die voraussehbaren Kosten des Pfändungsvollzugs als zu den in Betreibung gesetzten Forderungen verhältnismässig würdigen; deshalb durfte es davon absehen, von der Beschwerdeführerin einen Vorschuss für die Kosten des Pfändungsvollzugs zu verlangen. Diese Schlussfolgerung kann nicht mit dem Einwand umgestossen werden, dem Betreibungsamt sei seit "März/April 2003" bekannt gewesen, dass der Schuldnerin der Konkurs angedroht worden sei. Ein dem Schuldner angedrohter Konkurs befreit das Betreibungsamt nicht, eine sich aufdrängende Pfändung gemäss
Art. 123 Abs. 5 SchKG
vorzunehmen.
2.5
Gemäss den vorstehenden Ausführungen hat die Vorinstanz kein Bundesrecht verletzt, wenn sie die Kostenanteile der Beschwerdeführerin nicht auf die Summe der von dieser bereits bezahlten Betreibungskosten festgesetzt hat. | 1,441 | 1,029 | 2 | 0 | CH_BGE_005 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_005_BGE-130-III-520_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=13&from_date=&to_date=&from_year=2004&to_year=2004&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=129&highlight_docid=atf%3A%2F%2F130-III-520%3Ade&number_of_ranks=296&azaclir=clir | BGE_130_III_520 |
|||
ed516a59-c839-41bb-9807-e5583a5b08bf | 1 | 84 | 1,330,262 | null | 2,024 | de | Sachverhalt
ab Seite 409
BGE 133 V 408 S. 409
A.
A.a
H. war seit 1987 bei der Bank X. tätig, zuletzt ab Januar 1995 als Bankleiter. Im Rahmen dieses Arbeitsverhältnisses war er einerseits bei der Berna Schweizerische Personalfürsorge- und Hinterbliebenen-Stiftung (Rechtsvorgängerin der Beschwerdeführerin 1) und andererseits bei der Berna-Plus Sammelstiftung für Personalvorsorge (Rechtsvorgängerin der Beschwerdeführerin 2) berufsvorsorgeversichert. Die Bank X. löste den Anschlussvertrag mit der Berna Schweizerische Personalfürsorge- und Hinterbliebenen-Stiftung (Rechtsvorgängerin der Beschwerdeführerin 1) per 1. Januar 2003 auf.
Im Jahre 2001 wurde H. seiner Funktion als Bankleiter enthoben und war in der Folge teilweise arbeitsunfähig. Am 18. Oktober 2002 kündigte die Bank X. das Arbeitsverhältnis auf den 30. April 2003 und reichte im Dezember 2002 gegen H. eine Strafanzeige ein. Mit Verfügung vom 29. Juni 2004 sprach ihm die IV-Stelle des Kantons Bern mit Wirkung ab 1. Oktober 2003 bei einem Invaliditätsgrad von 50 % eine halbe Invalidenrente zu.
A.b
Mit Wirkung ab 1. August 1988 hatte die Bank X. für ihre Mitarbeiter bei der Berna-Plus Sammelstiftung für Personalvorsorge (Rechtsvorgängerin der Beschwerdeführerin 2) eine Gruppenversicherung abgeschlossen, mit der u.a. ein Todesfallkapital als Hinterlassenenleistung versichert wurde. Als versicherte Mitarbeiterin wurde der Sammelstiftung auch die Ehefrau von H., C.H., gemeldet. Sie verstarb im Sommer 2002. Die Sammelstiftung richtete hierauf H. am 22. August 2002 das versicherte Todesfallkapital von Fr. 200'000.- aus. Am 11. April 2005 zedierte die Beschwerdeführerin 2 ihre diesbezügliche Rückerstattungsforderung an die Beschwerdeführerin 1.
A.c
Am 11. April 2005 teilte die Allianz Lebensversicherungs-Gesellschaft H. mit, dass ihm aus den Berufsvorsorgeversicherungen bei den Beschwerdeführerinnen 1 und 2 Invalidenrenten von insgesamt Fr. 27'641.50 pro Jahr zustehen und die vom 20. November 2003 bis 30. Juni 2005 aufgelaufenen Rentenbetreffnisse von Fr. 44'619.30 mit der Rückerstattungsforderung verrechnet werden. Die verbleibende Rückerstattungsforderung belaufe sich noch auf Fr. 155'380.70.
B.
Am 22. April 2005 liess H. Klage erheben mit dem Rechtsbegehren, die beiden Beklagten seien zu verpflichten, ihm die "bis
BGE 133 V 408 S. 410
dato" fälligen Invalidenrenten von Fr. 44'619.30 nebst Zins zu 5 % "seit wann rechtens" zu bezahlen und es sei festzustellen, dass er Anspruch auf Invalidenrenten von Fr. 27'641.50 pro Jahr habe; ausserdem seien die ihm zustehenden Freizügigkeitsleistungen gerichtlich festzustellen und die Beklagten zu verpflichten, ihm diese auf sein Freizügigkeitskonto zu überweisen.
Die beiden Beklagten liessen beantragen, die gegen die Sammelstiftung Berufliche Zusatzvorsorge der Allianz Lebensversicherungs-Gesellschaft erhobene Klage sei vollumfänglich, diejenige gegen die Sammelstiftung BVG der Allianz Lebensversicherungs-Gesellschaft insoweit abzuweisen, als der Kläger mehr als eine Invalidenrente von Fr. 8'002.- pro Jahr verlange. Die Sammelstiftung BVG der Allianz Lebensversicherungs-Gesellschaft erhob überdies Widerklage mit dem Rechtsbegehren, der Kläger sei zu verpflichten, ihr unter Verrechnung der Rentenbetreffnisse für die Zeit vom 20. November 2003 bis 30. Juni 2005 in der Höhe von Fr. 12'915.- noch Fr. 187'083.05 nebst Zins zu 5 % ab Einreichung der Widerklage zu bezahlen.
Mit Entscheid vom 20. September 2006 hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Bern die gegen die Sammelstiftung Berufliche Zusatzvorsorge der Allianz Lebensversicherungs-Gesellschaft und die Sammelstiftung BVG der Allianz Lebensversicherungs-Gesellschaft erhobenen Klagen gut und verpflichtete erstere, dem Kläger ab 20. November 2003 eine Invalidenrente von Fr. 9'214.- pro Jahr sowie letztere, eine Invalidenrente von Fr. 18'427.50 pro Jahr, je nebst Zins von 5 % ab dem Zeitpunkt der "jeweiligen Fälligkeit" der Rentenbetreffnisse auszurichten. Auf die Widerklage der Sammelstiftung BVG der Allianz Lebensversicherungs-Gesellschaft trat das Verwaltungsgericht des Kantons Bern nicht ein.
C.
Die Sammelstiftung BVG der Allianz Lebensversicherungs-Gesellschaft und die Sammelstiftung Berufliche Zusatzvorsorge der Allianz Lebensversicherungs-Gesellschaft führen Verwaltungsgerichtsbeschwerde; erstere mit dem Rechtsbegehren, die ihr gegenüber erhobene Klage sei abzuweisen, soweit dem Kläger mehr als eine Invalidenrente von Fr. 8'002.- pro Jahr ab 20. November 2003 zugesprochen worden sei. Die Streitsache sei an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit diese prüfe, inwieweit die dem Kläger ab 20. November 2003 zustehenden Invalidenrenten durch Verrechnung getilgt seien. Die Widerklage sei materiell zu beurteilen.
BGE 133 V 408 S. 411
Die Sammelstiftung Berufliche Zusatzvorsorge der Allianz Lebensversicherungs-Gesellschaft beantragt vollumfängliche Abweisung der gegen sie erhobenen Klage.
H. lässt in seiner Vernehmlassung beantragen, beide Verwaltungsgerichtsbeschwerden seien, soweit darauf einzutreten sei, vollumfänglich abzuweisen. Falls die Verwaltungsgerichtsbeschwerde der Beschwerdeführerin 2 betreffend ihre Widerklage gutgeheissen werde, sei die Widerklage vollumfänglich abzuweisen, eventuell zur Abweisung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Ferner stellt er das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege.
Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) hat auf eine Vernehmlassung verzichtet.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut. | 1,234 | 807 | Erwägungen
Aus den Erwägungen:
5.
5.1
5.1.1
Die Beschwerdeführerin 1 stützt die zur Verrechnung gestellte Rückerstattungsforderung für die am 22. August 2002 dem Beschwerdegegner ausbezahlte Todesfallsumme von Fr. 200'000.- auf die Ungültigkeit des von der Beschwerdeführerin 2 im Jahre 1988 mit der Ehefrau des Beschwerdegegners abgeschlossenen Berufsvorsorgevertrages. Sie macht geltend, beim Abschluss jenes Vertrages sei Frau C.H. fälschlicherweise als Arbeitnehmerin der Bank X. gemeldet und versichert worden, obwohl nie ein solches Arbeitsverhältnis bestanden habe. Von diesem Irrtum über die Versicherteneigenschaft von C.H. habe die Beschwerdeführerin 2 erst mit dem Schreiben des kantonalen Untersuchungsrichters vom 18. Juni 2004 erfahren.
5.1.2
Das kantonale Gericht ist auf die Widerklage, welche die Rückerstattungsforderung der Beschwerdeführerin 1 zum Streitgegenstand hat, nicht eingetreten, weil es sich beim entsprechenden streitgegenständlichen Versicherungsvertrag um "eine ausserhalb der beruflichen Vorsorge stehende Versicherungsvereinbarung" handle, deren materielle Beurteilung in die sachliche Zuständigkeit des Zivilrichters und nicht des Berufsvorsorgerichters im Sinne von
Art. 73 Abs. 1 Satz 1 BVG
falle. Aus demselben Grund hat die Vorinstanz auch die Verrechenbarkeit der bereits fällig gewordenen
BGE 133 V 408 S. 412
Invalidenrentenansprüche des Beschwerdegegners mit der Rückerstattungsforderung - mangels rechtlicher Durchsetzbarkeit - verneint.
5.2
5.2.1
Was zunächst die Qualifikation des von der Beschwerdeführerin 2 im Jahre 1988 mit der Ehefrau des Beschwerdegegners abgeschlossenen Versicherungsvertrages betrifft, kann der vorinstanzlichen Rechtsauffassung nicht beigepflichtet werden.
5.2.2
Der privatrechtliche Vorsorgevertrag ist ein Innominatkontrakt, der funktional mit dem Lebensversicherungsvertrag im Sinne des VVG verwandt ist (
BGE 129 III 305
E. 2.2 S. 307). Seine vertragstypischen Merkmale bestehen darin, dass sich eine Vorsorgeeinrichtung gegenüber ihren Destinatären verpflichtet, diese und ihre Familienangehörigen planmässig durch normierte Leistungen gegen die wirtschaftlichen Folgen eines versicherbaren Risikos - in aller Regel Alter, Tod und Invalidität - zu schützen. Nicht begriffswesentlich sind Beitragsleistungen der versicherten Arbeitnehmer, doch müssen sich diese in der Regel zu solchen verpflichten (HANS MICHAEL RIEMER, Vorsorge-, Fürsorge- und Sparverträge der beruflichen Vorsorge, in: Forstmoser/Tercier/Zäch [Hrsg.], Innominatverträge, Festgabe zum 60. Geburtstag von Walter R. Schluep, Zürich 1988, S. 233). Beitragsschuldner der Arbeitnehmerbeiträge ist aber auch in diesem Fall der Arbeitgeber (RIEMER/RIEMER-KAFKA, Das Recht der beruflichen Vorsorge in der Schweiz, 2. Aufl., Bern 2006, § 4 Rz. 19 S. 93).
Die Rechtsvorgängerin der Beschwerdeführerin 2 (Berna-Plus Sammelstiftung für Personalvorsorge) verpflichtete sich als Personalvorsorgestiftung im Sinne von
Art. 89
bis
Abs. 6 ZGB
in dem mit Wirkung ab 1. August 1988 abgeschlossenen Vertrag, den Arbeitnehmern der Bank X. nach dem reglementarischen Vorsorgeplan (Art. 5 des Reglementes G 5992) die versicherten Hinterlassenenleistungen im Todesfall (Art. 5 Ziff. 2 des Reglementes G 5992) sowie die Befreiung von der Beitragspflicht bei Erwerbsunfähigkeit (Art. 5 Ziff. 1 des Reglementes G 5992) zu erbringen. Dieser Vertrag enthielt damit alle Wesensmerkmale eines überobligatorischen Berufsvorsorgevertrages, und die Beurteilung der daraus entstandenen Streitigkeiten zwischen Sammelstiftung und Destinatären fällt gemäss
Art. 73 Abs. 1 BVG
in die Zuständigkeit des Berufsvorsorgegerichts. Das kantonale Gericht hat daher seine
BGE 133 V 408 S. 413
sachliche Zuständigkeit zu Unrecht verneint. Die von der Beschwerdeführerin 1 dem Beschwerdegegner verrechnungsweise entgegengehaltene Gegenforderung ist im vorliegenden Verfahren materiell zu beurteilen.
5.3
5.3.1
Dem Rechtssinne nach macht die Beschwerdeführerin 1 einen wesentlichen Irrtum (Erklärungs- oder Grundlagenirrtum) im Sinne von Art. 23/24 OR geltend, weil ihr sowohl beim Abschluss des Vorsorgevertrages mit der Ehefrau des Beschwerdegegners als auch danach verschwiegen worden sei, dass diese gar nie Arbeitnehmerin der Bank X. war und ihr deshalb die erforderliche Versicherteneigenschaft von Anfang an fehlte. Die Beschwerdeführerin 1 stützt sich hiefür auf den Umstand, dass der beim Vertragsabschluss für die Rechtsvorgängerin der Beschwerdeführerin 2 (Berna-Plus Sammelstiftung für Personalvorsorge) handelnde Y. Vermittlungs- und nicht Abschlussagent gewesen sei, weshalb sein Wissen nicht zugerechnet werden könne.
5.3.2
Y., der die Bank X. beim Abschluss des Berufsvorsorgevertrages im Jahre 1988 als Mitarbeiter der Generalagentur Z. der Berner Lebensversicherungs-Gesellschaft beraten hat, wurde am 7. Juni 2004 in dem gegen den Beschwerdegegner geführten Strafuntersuchungsverfahren als Auskunftsperson befragt. Er hat dabei zu Protokoll erklärt, er habe gewusst, dass Frau C.H. nicht "in der Bank arbeitete und auch keine Anstellung vorgesehen war". Es sei daher klar gewesen, dass sie "nicht in den BVG-Vertrag eintreten durfte". Hingegen hätten "für den Beitritt in die zusätzliche und separate Risikogruppenversicherung" keine "Probleme" bestanden. Er selbst habe den "Miteinbezug von Frau C.H." in diese Versicherung vorgeschlagen (".... von mir ausgehend ...."). Es habe damals zwar kein "Versicherungsmodell unter Einbezug von Ehepartnern der Angestellten" gegeben. Vielmehr sei es "dem jeweiligen Berater resp. der Generalagentur überlassen" gewesen, "für entsprechende Fälle Lösungen zu suchen". Der Vertrag mit der Bank X. sei "kein Ausnahmevertrag" gewesen. "Die praktische Umsetzung" sei "öfters auch mit Mitarbeitern der Direktion besprochen" worden; so z.B. "mit Herrn lic. iur. M., Verantwortlicher der Berna-Verträge".
5.3.3
Die Beschwerdeführerinnen haben den Wahrheitsgehalt dieser Depositionen von Y. in keiner Weise infrage gestellt, und es
BGE 133 V 408 S. 414
gibt auch sonst keinerlei Anhaltspunkt, der Zweifel an ihrer Richtigkeit begründen könnte. Es ist damit nachgewiesen, dass der Einbezug von Ehepartnern der Arbeitnehmer eines Arbeitgebers in einen überobligatorischen Berufsvorsorgevertrag von jener Art, wie er im Jahre 1988 von der Rechtsvorgängerin der Beschwerdeführerin 2 mit C.H. abgeschlossen wurde, vom Personalvorsorgeberater der Bank X. vorgeschlagen wurde und mit Wissen und Willen der Generaldirektion der Berner Lebensversicherungs-Gesellschaft erfolgte.
5.3.4
Gemäss
Art. 34 Abs. 1 VVG
(in der bis 31. Dezember 2006 gültigen Fassung) gilt der Agent dem Versicherungsnehmer gegenüber als ermächtigt, für den Versicherer alle diejenigen Handlungen vorzunehmen, welche die Verrichtungen eines solchen Agenten gewöhnlich mit sich bringen, oder die der Agent mit stillschweigender Genehmigung des Versicherers vorzunehmen pflegt.
Diese Bestimmung enthält eine dem allgemeinen Stellvertretungsrecht (
Art. 32 ff. OR
) vorgehende, spezialgesetzliche Regelung der Stellvertretungsvollmacht des Versicherungsagenten. Sie entspricht im Wesentlichen einer Umschreibung der Voraussetzungen, die im Versicherungsgeschäft erfüllt sein müssen, damit eine Anscheins- oder Duldungsvollmacht im Sinne von
Art. 33 Abs. 3 OR
(vgl. dazu
BGE 120 II 197
E. 2b S. 200 f.) vorliegt und das Handeln eines Versicherungsagenten auf Seiten des Versicherers Vertretungswirkungen erzeugt.
In Lehre und Rechtsprechung zu
Art. 34 VVG
hat sich die Unterscheidung zwischen Abschluss- und Vermittlungsagent durchgesetzt, welche dem Grundsatz nach besagt, dass sich der Versicherer das Wissen des Abschlussagenten ohne weiteres als eigenes zurechnen lassen muss, das Wissen des Vermittlungsagenten hingegen unter Vorbehalt unrichtiger Aufklärung und Belehrung nicht (
BGE 96 II 204
E. 6 S. 214 f.; ALFRED MAURER, Schweizerisches Privatversicherungsrecht, 3. Aufl., Bern 1995, S. 209/210).
5.3.5
Geht man im vorliegenden Fall ebenfalls von der Unterscheidung zwischen Abschluss- und Vermittlungsagent sowie davon aus, dass Y. beim Abschluss des Berufsvorsorgevertrages mit der Ehefrau des Beschwerdegegners im Jahre 1988 als Vermittlungsagent tätig war, so liegt ein Ausnahmefall in dem Sinne vor, dass sein Wissen um die tatsächlichen Anstellungsverhältnisse bei der Bank X. der Rechtsvorgängerin der Beschwerdeführerin 2
BGE 133 V 408 S. 415
zuzurechnen ist. Denn wenn er um das fehlende Arbeitsverhältnis zwischen der Bank X. und C.H. wusste, wäre er nach Treu und Glauben zumindest verpflichtet gewesen, ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass dieser Umstand dem Einbezug von C.H. in den Berufsvorsorgevertrag entgegenstand. Stattdessen hat er den Einschluss der Ehefrau des Beschwerdegegners in die Berufsvorsorgeversicherung der Bankmitarbeiter selbst vorgeschlagen. Abgesehen von der Aufklärungs- und Beratungspflicht beim konkreten Vertragsabschluss kann aufgrund der Depositionen von Y. im Strafuntersuchungsverfahren auch nicht zweifelhaft sein, dass ganz allgemein der Einbezug von nicht bei einer Arbeitgeberfirma angestellten Ehepartnern in die Berufsvorsorgeverträge der Berna-Plus Sammelstiftung für Personalvorsorge damals mit Wissen und Willen der Direktion der Berner Lebensversicherungs-Gesellschaft erfolgte. Die Mitversicherung der Ehepartner von (leitenden) Mitarbeitern entsprach damals einer den geschäftsführenden Organen der Versicherungsgesellschaft bekannten und von ihnen tolerierten Praxis. Somit lag eine stillschweigende Genehmigung solcher Berufsvorsorgeverträge durch den Versicherer vor, was sowohl nach den allgemeinen aus
Art. 33 Abs. 3 OR
abgeleiteten stellvertretungsrechtlichen Regeln als auch nach dem Wortlaut von
Art. 34 Abs. 1 VVG
(in der bis 31. Dezember 2006 gültigen Fassung) zur Folge hat, dass das Handeln des Versicherungsagenten dem Versicherer zuzurechnen ist und für diesen Vertretungswirkungen auslöst.
5.3.6
Ist es aber der Beschwerdeführerin 1 verwehrt, sich auf die Nichtkenntnis des fehlenden Anstellungsverhältnisses von C.H. im Zeitpunkt des mit ihr abgeschlossenen Berufsvorsorgevertrages zu berufen, ist auch ein wesentlicher Irrtum auf Seiten ihrer Rechtsvorgängerinnen (Beschwerdeführerin 2 und Berna-Plus Sammelstiftung für Personalvorsorge) ausgeschlossen, der die Ungültigkeit jenes Vertrages zur Folge haben könnte. Das dem Beschwerdegegner gestützt auf diesen Vertrag ausgerichtete Todesfallkapital von Fr. 200'000.- ist nicht rechtsgrundlos im Sinne von
Art. 62 Abs. 2 OR
, sondern in Erfüllung des gültigen Vorsorgevertrages ausbezahlt worden. Es fehlt daher am Rechtsgrund für die von der Beschwerdeführerin 1 geltend gemachte Rückerstattungs- und zur Verrechnung gestellte Gegenforderung. Soweit die Beschwerdeführerin 1 ihre Rückerstattungsforderung im vorliegenden Verfahren widerklageweise (aktiv) geltend gemacht hat, ist ihre
BGE 133 V 408 S. 416
Widerklage demgemäss abzuweisen. Insoweit ist der vorinstanzliche Entscheid aufzuheben und zu ändern. Hingegen hat das kantonale Gericht die Rückerstattungsforderung zu Recht nicht zur Verrechnung mit den fälligen Invalidenrenten des Beschwerdegegners zugelassen. | 2,410 | 1,727 | 2 | 0 | CH_BGE_007 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_007_BGE-133-V-408_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=16&from_date=&to_date=&from_year=2007&to_year=2007&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=152&highlight_docid=atf%3A%2F%2F133-V-408%3Ade&number_of_ranks=307&azaclir=clir | BGE_133_V_408 |
|||
ed51f377-5757-4022-babf-64d502afd8ab | 1 | 84 | 1,347,629 | null | 2,024 | de | 2 | 0 | Erwägungen
ab Seite 70
BGE 129 V 70 S. 70
Aus den Erwägungen:
3.
Laut Art. 27 Abs. 1 (Satz 1) ELV sind unrechtmässig bezogene Ergänzungsleistungen vom Bezüger oder seinen Erben zurückzuerstatten.
Mit dem Tod der rückerstattungspflichtigen Person geht die Rückerstattungsschuld - falls die Erbschaft nicht ausgeschlagen wurde - auf die Erben über (
BGE 105 V 82
Erw. 3,
BGE 96 V 73
f. Erw. 1), und zwar auch dann, wenn die Rückforderung zu Lebzeiten
BGE 129 V 70 S. 71
der rückerstattungspflichtigen Person nicht geltend gemacht wurde (ZAK 1959 S. 439 Erw. 2 mit Hinweis).
3.1
Nach der Rechtsprechung ist die Verfügung jedem einzelnen Erben persönlich zu eröffnen, wenn die Rückforderung erst nach dem Tod des Leistungsbezügers geltend gemacht wird (EVGE 1959 S. 141; in
BGE 97 V 221
nicht veröffentlichte, aber in ZAK 1972 S. 422 publizierte Erw. 1b mit Hinweisen; nicht veröffentlichte Urteile M. vom 3. Oktober 1996, P 63/95, G. vom 21. März 1987, H 103/87, und K. vom 1. Juni 1987, H 106/86; vgl. auch FRITZ WIDMER, Die Rückerstattung unrechtmässig bezogener Leistungen in den Sozialversicherungen, Diss. Basel 1984, S. 139). Allerdings kann in bestimmten Fällen von der Zustellung der Verfügung an jeden einzelnen Erben abgesehen werden, so wenn es nicht möglich ist, alle Erben zu erreichen, oder wenn sie einen gemeinsamen Stellvertreter haben (ZAK 1972 S. 422 Erw. 1b).
3.2
Gemäss
Art. 603 Abs. 1 ZGB
haften die Erben für die Schulden des Erblassers solidarisch. Die Solidarhaftung der Erben richtet sich nach
Art. 143 ff. OR
, woraus folgt, dass jeder einzelne Erbe allein für die Erbschaftsschulden in Anspruch genommen werden kann, und zwar nicht nur für seine Quote, sondern für die ganze Schuld. Die Erbschaftsgläubiger können deshalb nach ihrer Wahl entweder alle Erben zugleich oder einen nach dem andern oder auch nur einen beliebigen Erben in Anspruch nehmen (PETER C. SCHAUFELBERGER, Kommentar zum Schweizerischen Privatrecht [Basler Kommentar], Zivilgesetzbuch II:
Art. 457-977 ZGB
, Basel 1998, N 2 zu Art. 603). Sämtliche Erben bleiben so lange verpflichtet, bis die ganze Forderung getilgt ist (
Art. 144 OR
). Eigenheit der Solidarität ist es, dass sich die Gläubiger nicht um das Innenverhältnis und damit die endgültige Aufteilung eines Forderungsbetrages zwischen den Schuldnern zu kümmern brauchen (vgl.
BGE 114 II 344
Erw. 2b).
In Nachachtung dieser rechtlichen Situation hat das Bundesgericht mit nicht veröffentlichtem Urteil vom 16. Mai 1995, B.103/1995, entschieden, dass bei Bestehen einer Erbengemeinschaft nicht notwendigerweise sämtliche Mitglieder derselben betrieben werden müssen. Ein einzelner Erbe kann für das Ganze belangt werden, weshalb nur der belangten Person ein Zahlungsbefehl zuzustellen ist.
3.3
Ein Grund, weshalb eine Verfügung, mit welcher zu Unrecht bezogene Ergänzungsleistungen zurückgefordert werden, jedem Erben persönlich zuzustellen ist, um rechtswirksam zu sein, während
BGE 129 V 70 S. 72
es im Unterschied dazu im Schuldbetreibungs- und Konkursrecht ausreicht, den Zahlungsbefehl einem (beliebigen) Erben persönlich zuzustellen, damit er Rechtswirkungen entfalten kann, ist nicht ersichtlich. Mit Blick darauf, dass die Erben Solidarschuldner sind (
Art. 143 Abs. 2 OR
in Verbindung mit
Art. 603 Abs. 1 ZGB
) und nach
Art. 144 OR
von Gläubigern je einzeln für einen Teil oder auch für das Ganze belangt werden können, ist an der bisherigen Rechtsprechung, wonach eine Rückerstattungsverfügung, welche nicht allen Erben persönlich zugestellt wurde, als rechtsunwirksam zu betrachten ist, nicht festzuhalten. Für die Rechtswirksamkeit einer Rückforderungsverfügung muss es genügen, wenn mit dem Verwaltungsakt nur ein einzelner Erbe ins Recht gefasst wird. | 863 | 710 | 2 | 0 | CH_BGE_007 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_007_BGE-129-V-70_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=8&from_date=&to_date=&from_year=2002&to_year=2002&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=77&highlight_docid=atf%3A%2F%2F129-V-70%3Ade&number_of_ranks=303&azaclir=clir | BGE_129_V_70 |
||||
ed56f001-79f0-41be-b5ae-e9ca8f67aa75 | 1 | 79 | 1,344,182 | null | 2,024 | de | Sachverhalt
ab Seite 137
BGE 112 Ia 136 S. 137
Der Grosse Rat des Kantons Schaffhausen verabschiedete am 18. Februar 1985 das Gesetz über die Organisation der Regierungs- und Verwaltungstätigkeit (Organisationsgesetz). Der Abschnitt "D. Schlussbestimmungen" enthält unter anderem folgende Vorschrift:
Art. 44 Organisationsrechtliche Befugnisse des Regierungsrates Der Regierungsrat ist ohne Rücksicht auf abweichende Vorschriften in bestehenden Gesetzen befugt, in Gesetzen oder Dekreten enthaltene Organisations- und Zuständigkeitsvorschriften für die kantonale Verwaltung im Sinne dieses Gesetzes auf dem Verordnungsweg anzupassen.
Er ist ermächtigt, im Falle einer solchen Anpassung gesetzliche Kompetenzvorschriften zugunsten eines bestimmten Departements oder einer bestimmten nachgeordneten Dienststelle allgemeiner zu fassen.
Die Volksabstimmung über das Organisationsgesetz wurde auf den 22. September 1985 angesetzt.
Mit Eingabe vom 5. September 1985 erhob X. staatsrechtliche Beschwerde beim Bundesgericht. Er rügt die in Art. 44 des Organisationsgesetzes enthaltene Delegationsnorm zugunsten des Regierungsrates als eine Verletzung des Stimmrechts sowie einen Verstoss gegen
Art. 4 BV
und Art. 2 Üb.Best. BV.
BGE 112 Ia 136 S. 138
Eine weitere Verletzung des Stimmrechts sieht er in einer angeblich unzulässigen Beeinflussung des Stimmbürgers durch die Botschaft des Grossen Rates. Er beantragt, Art. 44 des Organisationsgesetzes als "verfassungswidrig unzulässig und somit unanwendbar zu erklären und aufzuheben".
In der Volksabstimmung vom 22. September 1985 wurde das Organisationsgesetz angenommen.
Mit Teilurteil vom 24. April 1986 wies das Bundesgericht die staatsrechtliche Beschwerde ab, soweit sie sich gegen die Volksabstimmung vom 22. September 1985 richtet. Im übrigen wurde das Verfahren bis zur amtlichen Veröffentlichung des Gesetzes sistiert. Mit der Veröffentlichung des Gesetzes am 9. Mai 1986 ist die Sistierung dahingefallen. Das Bundesgericht weist die staatsrechtliche Beschwerde ab, soweit darüber nicht bereits entschieden wurde und darauf eingetreten werden kann. | 401 | 320 | Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
a) Der Beschwerdeführer ist stimmberechtigter Einwohner des Kantons Schaffhausen und damit grundsätzlich berechtigt, im Zusammenhang mit der Volksabstimmung über das neue Organisationsgesetz Stimmrechtsbeschwerde zu führen (
Art. 85 lit. a OG
). Mit dieser Beschwerde kann nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts gerügt werden, ein Erlass enthalte eine Delegationsnorm, durch die eine referendumspflichtige Materie künftig der Volksabstimmung entzogen werde (
BGE 105 Ia 361
E. 4b;
BGE 104 Ia 307
/308 E. 1b). Die Beschwerde ist daher zulässig, soweit mit ihr die Aufhebung von Art. 44 des Organisationsgesetzes beantragt wird, der nach der Auffassung des Beschwerdeführers eine unzulässige Kompetenzdelegation enthält.
b) Soweit der Beschwerdeführer jedoch die Verletzung von
Art. 4 BV
und Art. 2 Üb.Best. BV sowie des Grundsatzes der Gewaltentrennung rügt, bestimmt sich die Legitimation zur Beschwerdeführung nach
Art. 88 OG
. Diese Vorschrift setzt voraus, dass der Beschwerdeführer durch den angefochtenen Erlass in seiner persönlichen Rechtsstellung beeinträchtigt wird. Das ist hier jedoch nicht der Fall, weshalb in dieser Hinsicht auf die Beschwerde nicht eingetreten werden kann (
BGE 105 Ia 359
E. 3d).
3.
a) Bei Stimmrechtsbeschwerden prüft das Bundesgericht nicht nur die Auslegung von Bundesrecht und kantonalem Verfassungsrecht frei, sondern auch jene anderer kantonaler Vorschriften,
BGE 112 Ia 136 S. 139
die den Inhalt des Stimm- und Wahlrechts regeln oder mit diesem eng zusammenhängen. In ausgesprochenen Zweifelsfällen schliesst es sich jedoch der von der obersten kantonalen Behörde vertretenen Auffassung an; als solche gelten das Parlament und das Volk (
BGE 111 Ia 117
/118 E. 2a;
BGE 110 Ia 181
E. 3a, je mit Hinweisen).
b) Der Beschwerdeführer macht geltend, die Schaffung der Delegationsnorm von Art. 44 des Organisationsgesetzes hebe das Stimmrecht in unzulässiger Weise auf. Wie es sich damit verhält, hängt von der Beantwortung der Frage ab, ob die mit dieser Vorschrift ausgesprochene Delegation an den Regierungsrat zulässig ist, in Gesetzen und Dekreten enthaltene Organisations- und Zuständigkeitsvorschriften für die kantonale Verwaltung auf dem Verordnungsweg anzupassen.
Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist die Delegation rechtsetzender Befugnisse an Verwaltungsbehörden zulässig, wenn sie nicht durch das kantonale Recht ausgeschlossen wird, wenn sie auf ein bestimmtes Gebiet beschränkt wird und das Gesetz die Grundzüge der Regelung selbst enthält, soweit sie die Rechtsstellung der Bürger schwerwiegend berührt, und wenn sie in einem der Volksabstimmung unterliegenden Gesetz enthalten ist. Ob die Delegationsnorm diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt, prüft das Bundesgericht frei (
BGE 104 Ia 310
E. 3c mit Hinweisen).
c) Im vorliegenden Fall stellt sich zunächst die Frage, ob bestehendes formelles Gesetzesrecht überhaupt auf dem Verordnungsweg geändert werden kann.
Aus dem rechtsstaatlichen Prinzip des Vorrangs des Gesetzes folgt unter anderem der Grundsatz der Parallelität der Formen. Danach kann eine Behörde ihre Anordnungen nur in jener Form gültig ändern, in der sie erlassen wurden (
BGE 108 Ia 184
E. 3d;
BGE 105 Ia 81
E. 6a;
BGE 101 Ia 591
E. 4a;
BGE 100 Ia 162
E. 5d;
98 Ia 111
E. 2d;
BGE 94 I 36
E. 3a). Mehr folgt aus diesem Grundsatz nicht; namentlich ist es dem Gesetzgeber nicht verwehrt, die Kompetenz zur Änderung oder Aufhebung einer Norm des formellen Gesetzes an den Verordnungsgeber zu delegieren (vgl.
BGE 103 Ia 379
E. 4b). Hingegen muss sich die Befugnis zur Aufhebung oder Änderung formellen Gesetzesrechts durch den Verordnungsgeber in klarer Weise aus der Delegationsnorm ergeben, die ihrerseits in einem dem Referendum unterstehenden Gesetz enthalten sein muss (
BGE 103 Ia 378
/379 E. 4b;
BGE 94 I 36
E. 3a).
BGE 112 Ia 136 S. 140
Diesem Erfordernis wurde im vorliegenden Fall dadurch Genüge getan, dass die Delegationsnorm im Organisationsgesetz enthalten und dem Volk unterbreitet worden ist.
d) Der umstrittenen Delegation von Rechtssetzungsbefugnissen an den Regierungsrat stehen im weitern keine Normen des kantonalen Rechts entgegen. Zwar beruft sich der Beschwerdeführer auf die Art. 41 Ziff. 4, Art. 42 Ziff. 1 und Art. 66 KV. Die Vorschrift von Art. 41 Ziff. 4 KV bestimmt jedoch lediglich, dass dem Grossen Rat unter Vorbehalt der Volksrechte das Recht der Gesetzgebung nach Massgabe der Verfassung zustehe. Art. 42 Ziff. 1 KV schreibt vor, dass unter anderem Gesetze der Volksabstimmung zu unterstellen sind. Art. 66 KV zählt die Befugnisse des Regierungsrates auf. Über die Frage der Zulässigkeit einer Delegation dieser Rechtssetzungsbefugnisse an den Regierungsrat lässt sich diesen Verfassungsvorschriften nichts entnehmen. Namentlich schliessen sie eine solche Delegation nicht aus.
e) Die Delegation ist sodann auf ein bestimmtes Gebiet beschränkt. Zwar sollen nach Art. 44 des Organisationsgesetzes sämtliche Gesetze und Dekrete angepasst werden können. Wortlaut, systematische Stellung unter dem Titel "D. Schlussbestimmungen" und die Beratungen der grossrätlichen Spezialkommission (Protokoll, S. 78/79) zeigen, dass es nur um Anpassung bestehender Gesetze und Dekrete an das neue Gesetz gehen kann. Obwohl sich die Delegation auf sämtliche bestehenden Gesetze und Dekrete bezieht, ist das Erfordernis der Beschränkung auf ein bestimmtes Gebiet gewahrt. Die Delegation beschränkt sich auf den klar abgegrenzten, engen Bereich der Anpassung von Organisations- und Zuständigkeitsvorschriften für die kantonale Verwaltung im Sinne des neuen Gesetzes.
f) Die Delegation nach Art. 44 des Organisationsgesetzes betrifft ferner keine Regelung, welche die Rechtsstellung der Bürger berührt. Es geht um blosse Organisations- und Zuständigkeitsvorschriften innerhalb der Verwaltung. Solche bereits bestehenden Vorschriften sollen mit dem neuen Gesetz in Übereinstimmung gebracht werden. Dabei hat sich der Regierungsrat an das Organisationsgesetz zu halten und ist nicht befugt, von Bestimmungen dieses Gesetzes abzuweichen. Wie sich auch aus der Liste ergibt, die bei der Beratung für das neue Gesetz vorlag, halten sich die vorgesehenen Gesetzesänderungen durchaus im Rahmen der Delegationsnorm. Substanzielle Änderungen wie jene des Verwaltungsrechtspflegegesetzes, die den Rechtsmittelweg im Verwaltungsverfahren
BGE 112 Ia 136 S. 141
regelt (Art. 16) und somit die Rechte des Einzelnen berührt, wurden durch Aufnahme in das Gesetz selbst vorgenommen (Art. 42 des Organisationsgesetzes). Der Grund zur Übertragung der allgemeinen Anpassungskompetenz liegt einzig darin, die betreffenden Vorschriften, die den Einzelnen in seinen Rechten nicht berühren, auf einfache Weise dem Organisationsgesetz anzupassen. Zwar wäre das auch ohne weiteres unmittelbar durch das neue Gesetz selbst möglich gewesen. Doch ist die Begründung der kantonalen Behörden berechtigt, wonach die Gesetzesvorlage durch den Verzicht auf eine in das Gesetz integrierte Anpassung an Übersicht gewonnen hat und zudem allfällige Fehler bei der Durchsicht des Rechtsbuchs auf einfache Art korrigiert werden können. Die entgegenstehenden Bedenken des Beschwerdeführers sind unbegründet. Namentlich kann der Regierungsrat die Gesetze nicht "nach Gutdünken" anpassen, da Art. 44 des Organisationsgesetzes die Kompetenz klar umschreibt, begrenzt und inhaltlich in den Rahmen des neuen Gesetzes weist. Es liegt auch im Wesen einer jeden vom Volk ausgesprochenen Delegation, dass der Stimmbürger dadurch sein Stimmrecht einschränkt. Genügt die Delegationsnorm den verfassungsrechtlichen Anforderungen, so hat sich der einzelne Stimmbürger diese Einschränkung gefallen zu lassen, auch wenn er ihr nicht zugestimmt hat.
g) Der Beschwerdeführer macht schliesslich geltend, durch eine allfällige Änderung anderer Gesetze auf dem Verordnungsweg werde der Grundsatz der Einheit der Materie verletzt.
Das vom Verfassungsrecht des Bundes gewährleistete politische Stimmrecht gibt dem Bürger unter anderem Anspruch darauf, dass kein Abstimmungsergebnis anerkannt wird, das nicht den freien Willen der Stimmbürger zuverlässig und unverfälscht zum Ausdruck bringt. Daraus wird unter anderem das generell gültige Prinzip der Einheit der Materie abgeleitet, wonach verschiedene Materien nicht zu einer einzigen Abstimmungsvorlage verbunden werden dürfen (
BGE 111 Ia 198
E. 2b mit Hinweis auf
BGE 108 Ia 157
E. 3b und
BGE 104 Ia 223
E. 2b).
Im vorliegenden Fall ist der Grundsatz der Einheit der Materie klarerweise nicht verletzt. Die Gesetzesvorlage hat die Organisation der Regierungs- und Verwaltungstätigkeit im Kanton Schaffhausen zum Gegenstand. Der umstrittene Art. 44 des Organisationsgesetzes ermöglicht dem Regierungsrat die Anpassung anderer Gesetze und Dekrete in bezug auf Organisations- und Zuständigkeitsvorschriften im Rahmen dieses neuen Gesetzes. Es handelt
BGE 112 Ia 136 S. 142
sich demnach um dieselbe Materie, wie sie im Organisationsgesetz geregelt ist. Darauf, ob jene Gesetze an sich verschiedene Materien regeln, kann es nicht ankommen. | 1,846 | 1,528 | 2 | 0 | CH_BGE_002 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_002_BGE-112-Ia-136_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=16&from_date=&to_date=&from_year=1986&to_year=1986&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=153&highlight_docid=atf%3A%2F%2F112-IA-136%3Ade&number_of_ranks=378&azaclir=clir | BGE_112_Ia_136 |
|||
ed700962-990d-4a51-8cca-16eee3db62c3 | 2 | 84 | 1,351,008 | null | 2,024 | fr | Sachverhalt
ab Seite 36
BGE 106 V 36 S. 36
A.-
Au début de 1978, le Dr V., généraliste, prescrivit à Claude-Myriam Parvex huit emballages de Sérocytol à titre thérapeutique. La patiente était alors assurée contre la maladie et les accidents auprès de la Caisse cantonale vaudoise d'assurance en cas de maladie et d'accidents (la caisse). Cette dernière refusa de prendre en charge le Sérocytol, par décision du 10 avril 1978. Le motif en était qu'il s'agissait d'un dérivé de glandes fraîches et que ce genre de dérivés figure sur la liste dite "négative" des produits que les caisses-maladie ne doivent pas fournir.
B.-
P. Parvex recourut au nom de sa fille Claude-Myriam. Il proposa de faire trancher la question de la nature du Sérocytol par le docteur X., professeur à l'Université de Lausanne. L'intimée accepta. Or, dans un rapport d'expertise déposé dans une autre affaire, le professeur X. a répondu qu'aucun Sérocytol n'est produit à partir de glandes fraîches ou sèches: les Sérocytols sont à base d'anticorps tissulaires et ce médicament présente une valeur thérapeutique, encore qu'il ait donné lieu à une controverse médicale qui n'est pas close. Dans son jugement du 15 décembre 1978, après avoir reproduit in extenso le rapport susmentionné, le
BGE 106 V 36 S. 37
Tribunal des assurances du canton de Vaud constata que les Sérocytols ne figuraient ni dans la liste des médicaments que les caisses-maladie doivent rembourser ni dans la liste des spécialités dont la prise en charge leur est recommandée, de sorte qu'en vertu de l'
art. 32 ch. 1 let
. e des statuts de l'intimée, tel qu'elle l'interprète elle-même, elle doit en principe en assumer les frais dans les limites fixées par l'
art. 9 al. 1 let
. d de la convention passée entre la Société suisse de pharmacie et l'Union des fédérations suisses de caisses-maladie, à moins qu'ils ne figurent dans la liste négative. Or, poursuit le jugement, la préparation litigieuse n'est pas concernée par cette liste, puisqu'il ressort du rapport du professeur X. que ce médicament n'est pas un de ces extraits de glandes qu'elle proscrit. C'est pourquoi le premier juge admit le recours et invita l'intimée à prendre en charge le Sérocytol prescrit à la recourante, dans les limites statutaires.
C.-
La caisse a formé en temps utile un recours de droit administratif contre le jugement cantonal, dont elle demande l'annulation. Elle admet que le Sérocytol ne figure ni dans la liste des médicaments, ni dans celle des spécialités, ni nommément dans la liste négative. Mais elle allègue, d'une part, que le produit serait bel et bien d'origine glandulaire et qu'il tomberait ainsi sous le coup de l'art. 9 de la liste négative et, d'autre part, que les médecins ne sont pas d'accord entre eux pour en reconnaître la valeur thérapeutique.
L'intimée n'a pas usé de la faculté qui lui fut offerte de se déterminer sur le recours.
Dans son préavis, l'Office fédéral des assurances sociales estime que, si l'on part de l'idée que le Sérocytol n'est pas à base de glandes, le jugement attaqué semble juste. Mais, ajoute-t-il, après avoir consulté son service pharmaceutique, il lui paraît hasardeux de trancher la question de la prise en charge de ce produit contesté sans se procurer une seconde expertise. Il conclut donc principalement à la mise en oeuvre d'un nouvel expert et, subsidiairement, au rejet du recours. | 1,299 | 638 | Erwägungen
Considérant en droit:
Conformément à l'
art. 12 al. 5 LAMA
, le Conseil fédéral a déterminé à l'art. 21 Ord. III les soins donnés par un médecin
BGE 106 V 36 S. 38
qui sont à la charge des caisses-maladie. Le premier al. de cet art. 21 s'exprime en ces termes:
"Par soins donnés par un médecin obligatoirement à la charge des caisses conformément à la loi, il faut entendre toute mesure diagnostique ou thérapeutique, reconnue scientifiquement, qui est appliquée par un médecin. Si une mesure diagnostique ou thérapeutique est contestée scientifiquement, le Département fédéral de l'intérieur ..., sur préavis de la commission de spécialistes prévue à l'art. 26, décide si les frais doivent être pris en charge obligatoirement par les caisses."
Les statuts de la caisse ne dérogent pas à la disposition précitée, ni ne la précisent. Il n'est dès lors pas nécessaire de tracer ici les limites dans lesquelles ils pourraient le faire, le cas échéant.
Dans le rapport d'expertise qu'il a déposé auprès du Tribunal des assurances du canton de Vaud, le professeur X. expose à propos de la valeur des traitements au moyen des Sérocytols que la controverse n'est pas close, parce que le problème posé par l'immunité tissulaire est loin d'être compris suffisamment pour emporter les convictions en un sens ou en l'autre. La recourante partage cette opinion, de même que l'Office fédéral des assurances sociales.
La présente espèce pose donc en premier lieu un problème sur le plan du traitement médical: il s'agit de savoir si la thérapie par Sérocytols fait partie des prestations obligatoirement à la charge des caisses-maladie. La solution n'en dépend donc pas uniquement de la matière dont le médicament dérive: glandes fraîches ou pas. Aussi bien le traitement aux Sérocytols ne semble-t-il pas se confondre avec la thérapie par cellules fraîches, selon Niehans, par exemple, sur laquelle le Département fédéral de l'intérieur s'est prononcé négativement (circulaire 139 de l'Office fédéral des assurances sociales du 4 janvier 1968; RJAM 1970, No 59, p. 17).
C'est pourquoi il n'appartient pas au Tribunal fédéral des assurances de se faire préciser l'origine des Sérocytols. Il suffit en effet que, comme en l'espèce, la valeur thérapeutique des traitements au moyen de ces produits ne soit pas reconnue scientifiquement et que le Département fédéral de l'intérieur ne les ait pas déclarés obligatoires pour que les caisses-maladie n'aient pas à en assumer la charge (cf.
ATF 105 V 180
,
ATF 102 V 73
).
BGE 106 V 36 S. 39
Il sera bien entendu loisible au Département fédéral de l'intérieur de mettre en oeuvre la commission de spécialistes prévue par l'art. 21 Ord. III, comme il l'a fait après que le Tribunal fédéral des assurances se fut prononcé sur la thérapie par cellules fraîches (ATFA 1962 p. 113 et circulaire précitée de l'Office fédéral des assurances sociales; RJAM 1970, No 59, p. 17). | 1,093 | 552 | Dispositiv
Par ces motifs, le Tribunal fédéral des assurances prononce:
Le recours est admis. | 38 | 19 | CH_BGE_007 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_007_BGE-106-V-36_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=35&from_date=&to_date=&from_year=1980&to_year=1980&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=346&highlight_docid=atf%3A%2F%2F106-V-36%3Ade&number_of_ranks=382&azaclir=clir | BGE_106_V_36 |
||
ed712cfc-ab9f-4ea4-9294-86d1761c399e | 2 | 78 | 1,353,777 | null | 2,024 | fr | Sachverhalt
ab Seite 474
BGE 87 I 473 S. 474
A.-
Alfred Blanc est propriétaire d'un domaine agricole de quelque huit hectares à Vers-chez-les-Blanc, sur la commune de Lausanne. Le 7 décembre 1960, il a vendu à Georges Leresche une parcelle de 4011 m2 de ce domaine.
Dans une lettre du 10 octobre 1960 au conservateur du registre foncier du district de Lausanne, la fille unique du vendeur, dame Hélène Métraux, avait manifesté l'intention d'exercer un droit de préemption sur le bien-fonds qui devait être aliéné. Le 23 décembre, une fois le contrat conclu, elle invita le conservateur à introduire la procédure prévue par les art. 13 et 14 de la loi du 12 juin 1951 sur le maintien de la propriété foncière rurale. S'étant heurtée à un refus, elle adressa le 4 janvier 1961 au Département cantonal des finances un recours qu'il rejeta le 26 de ce mois.
B.-
Le 19 janvier 1961, dame Métraux a intenté action à Blanc et Leresche, devant le Tribunal civil du district de Lausanne, pour faire constater qu'elle bénéficie d'un droit de préemption sur le domaine de son père, notamment sur le bien-fonds vendu le 7 décembre 1960, et qu'elle est en droit d'acquérir cette parcelle à sa valeur d'estimation.
Le 29 mars, à la requête de la demandresse, le juge saisi a suspendu l'instruction de la cause jusqu'à la solution de la procédure engagée devant les autorités administratives.
C.-
Le 7 février 1961, en effet, dame Métraux avait attaqué la décision du Département auprès du Conseil d'Etat, mais elle fut déboutée le 4 juillet. L'autorité cantonale supérieure considère qu'en vertu de l'art. 16
BGE 87 I 473 S. 475
al. 1 de la loi du 12 juin 1951, "les cantons peuvent limiter ou exclure l'application des dispositions sur le droit de préemption quant aux exploitations agricoles ou aux biens-fonds dont la superficie ne dépasse pas trois hectares" et que cette disposition autorise les cantons à supprimer le droit de préemption légal en cas de vente d'une parcelle dont l'aire n'est pas supérieure à trois hectares; elle déclare que le canton de Vaud a fait usage de cette faculté, à l'art. 4 al. 2 de la loi vaudoise d'exécution du 1er décembre 1952, en limitant le droit en question "aux exploitations et aux biens-fonds dont la superficie dépasse trois hectares ou, s'il s'agit de vignes, un hectare". Aussi, en l'espèce, le Conseil d'Etat refuse-t-il de soumettre le terrain vendu, qui ne mesure que 4011 m2, au droit de préemption de dame Métraux. Subsidiairement, il conteste que cet immeuble ait l'importance exigée par l'art. 6 al. 1 de la loi fédérale et, partant, puisse faire l'objet du droit invoqué.
D.-
Dame Métraux a déposé au Tribunal fédéral un recours de droit administratif contre la décision du Conseil d'Etat et requis l'ouverture de la procédure légale par le conservateur du registre foncier. Elle soutient que la limite de trois hectares fixée par l'art. 16 al. 1 de la loi du 12 juin 1951 se rapporte non pas à la parcelle vendue, mais au domaine ou au bien-fonds dont elle fait partie, cette interprétation étant seule conforme au système légal, aux intentions du législateur et aux buts qu'il a visés. Au surplus, elle dénie aux autorités de surveillance la compétence de se prononcer sur l'importance de l'immeuble aliéné, au sens de l'art. 6 al. 1 de la loi fédérale, cette question ne relevant que de l'appréciation du juge.
Le Conseil d'Etat conclut principalement à l'irrecevabilité du recours et subsidiairement à son rejet. Blanc se borne à se référer à la décision attaquée ainsi qu'aux arguments qu'il a exposés dans la procédure cantonale. Quant à Leresche, tout en souhaitant que le Tribunal fédéral se prononce au fond, il fait sienne l'argumentation du Conseil d'Etat.
BGE 87 I 473 S. 476 | 1,359 | 770 | Erwägungen
Considérant en droit:
1.
L'art. 99 ch. I litt. c OJ prévoit un recours de droit administratif contre les décisions des autorités cantonales de surveillance en matière de registre foncier.
Le droit de recours appartient notamment à celui qui est intéressé, comme partie, à la décision attaquée (art. 103 al. 1 OJ). En conséquence, les parties devant l'autorité cantonale supérieure ont en la forme la faculté de recourir: leur recours est recevable.
En l'espèce, dame Métraux a été considérée comme partie par le Conseil d'Etat. Son recours est donc recevable.
2.
La disposition de l'art. 103 al. 1 OJ part de l'idée qu'un recourant débouté en tant que partie par une décision possède la qualité quant au fond (Sachlegitimation). Tel n'est cependant pas toujours le cas. Aussi bien, d'après sa jurisprudence constante, le Tribunal fédéral rejette-t-il le recours sans plus ample examen, lorsque le recourant n'a pas cette qualité (RO 60 I 33 sv.;
62 I 167
sv.;
66 I 279
;
72 I 55
sv.;
75 I 382
;
81 I 397
;
85 I 124
, 131, 165, 290 sv.;
87 I 433
; KIRCHHOFER, Die Verwaltungsrechtspflege beim Bundesgericht, p. 32 sv.).
A qualité, dans cette acception du terme, celui qui est lésé, c'est-à-dire touché dans la sphère de ses droits subjectifs si la décision attaquée est illégale (RO 87 I 436).
En l'espèce, en saisissant le Tribunal civil du district de Lausanne, la recourante a exercé son prétendu droit de préemption. Depuis lors, sa situation juridique ne pouvait plus être affectée par la procédure engagée devant les autorités administratives et par la décision attaquée; l'ouverture de l'action dirigée contre Blanc et Leresche a suffi à réparer l'atteinte que le refus du conservateur du registre foncier aurait portée à la situation juridique de la recourante. Encore faut-il toutefois que l'action constitue en l'occurrence, avant même l'épuisement des voies de recours contre la décision du conservateur, un
BGE 87 I 473 S. 477
mode valable d'exercer le droit et qu'elle le sauvegarde entièrement, rendant ainsi inutile la procédure administrative. La réponse à cette question se fonde sur le but de la loi.
3.
La loi du 12 juin 1951 sur le maintien de la propriété foncière rurale fixe les obligations du conservateur du registre foncier et des personnes qui se prétendent titulaires d'un droit de préemption en cas de vente totale ou partielle d'une exploitation agricole (art. 13 et 14). Elle ne dit pas toutefois comment ces personnes doivent procéder lorsque le conservateur refuse d'appliquer les dispositions légales (parce qu'à son avis le droit de préemption n'existe manifestement pas).
Le refus du conservateur n'empêche en tout cas pas la personne qui se prétend au bénéfice d'un droit de préemption légal d'agir en justice (RO 79 I 270; v. aussi ZBGR 39 p. 21 et la Fiche juridique suisse no 228 a B ch. II litt. d).
Il se justifie d'autant moins de contraindre celle-ci à parcourir tous les degrés de la procédure administrative avant d'ouvrir action (art. 104 ORF et 99 ch. I litt. c OJ) que cette obligation différerait la solution de conflits qui, selon l'intention du législateur, doivent se liquider promptement. Celui qui prétend un tel droit sur une parcelle du territoire vaudois pourrait être amené à saisir trois autorités; s'il obtenait gain de cause, il faudrait encore que le conservateur procédât selon les art. 13 et 14 LPR; après seulement, il pourrait agir en justice. Or une telle procédure obligatoire ne se concilierait guère avec la volonté du législateur d'abréger autant que possible le règlement des différends, volonté exprimée notamment par la fixation de délais de péremption de un et trois mois et la réduction d'un an à trois mois du délai de péremption absolue (Bull. stén. CN 1948 p. 514 sv.).
Admissible, l'action rend en outre superflue, dès qu'elle est intentée, la procédure administrative prévue par les art. 13 et 14 LPR. Celle-ci tend à permettre aux titulaires
BGE 87 I 473 S. 478
éventuels du droit de préemption de le faire valoir, à les obliger de se déterminer dans un court délai et à informer le vendeur et l'acheteur de leur décision. Or celui qui ouvre action contre les parties au contrat de vente manifeste aux intéressés sa volonté d'exercer le droit qu'il prétend. Il atteint donc directement le but visé par la procédure administrative.
4.
Il est vrai que l'inutilité de la procédure administrative ne serait pas encore démontrée, si la décision du conservateur était de nature à influer sur la solution de l'action en justice. Mais il n'en est rien. Non seulement le conservateur ne tranche que préjudiciellement la question du droit de préemption, mais son pouvoir d'examen est limité. Il ne refuse en effet d'appliquer la procédure prévue par les art. 13 et 14 LPR que si d'après les pièces qui lui sont présentées, soit à première vue, l'existence d'un droit de préemption ne peut être sérieusement envisagée (RO 79 I 270 et 276 sv.). Loin de préjuger la décision des tribunaux ordinaires, celle du conservateur (ou des autorités de recours) leur laisse toute latitude de résoudre le problème au fond.
Certes, l'opinion du conservateur ou des autorités de surveillance et de recours peut jouir, en pratique et de cas en cas, d'un certain poids. En la connaissant, celui qui prétend un droit aura un moyen de plus de former la sienne propre et agira en justice avec une conviction mieux étayée, si elle lui est favorable. Dans le cas contraire, il réfléchira à deux fois et s'épargnera peut-être des désagréments inutiles. Mais s'il peut donc avoir quelque intérêt à obtenir une décision administrative définitive (dans une procédure relativement peu onéreuse), ce n'est toutefois là qu'une utilité de fait de cette décision. La qualité quant au fond pour recourir ne saurait en être touchée (KIRCHHOFER, op.cit. p. 35).
Au surplus, dans l'espèce qui la concerne, il va sans dire que la recourante n'est fondée à persister dans la procédure administrative ni dans l'intérêt des tiers susceptibles d'être
BGE 87 I 473 S. 479
lésés par la jurisprudence cantonale qu'elle critique, ni en prévision de l'éventualité où elle aurait de nouveau l'occasion de faire valoir un droit de préemption. Le recours de droit administratif n'est pas une actio popularis (RO 62 I 167;
66 I 279
; KIRCHHOFER, op.cit. p. 34) et ne peut servir qu'à protéger un intérêt juridique actuel (HEFTI, De la qualité pour agir dans la juridiction constitutionnelle et administrative du Tribunal fédéral, p. 64).
Quant au désir de faire trancher par la plus haute juridiction une question au fond qui vise l'existence du droit qu'elle prétend, la recourante aura tout loisir, dans la mesure où les prescriptions légales le permettent et où elle les respectera, de saisir le Tribunal fédéral par la voie d'un recours dirigé contre la décision rendue par la dernière instance cantonale sur l'action civile.
5.
Le recours doit donc être rejeté sans plus ample examen. Il se justifie de compenser les dépens de l'instance fédérale. En effet, Blanc s'est borné à se rallier aux observations du Conseil d'Etat. Quant à Leresche, il en fait de même sur le fond, mais souhaite que la qualité pour recourir soit reconnue à la recourante: il succombe donc sur le point qui a emporté la décision de la Cour. | 2,666 | 1,498 | Dispositiv
Par ces motifs, le Tribunal fédéral
Rejette le recours. | 27 | 14 | CH_BGE_001 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_001_BGE-87-I-473_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=2&from_date=&to_date=&from_year=1961&to_year=1961&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=15&highlight_docid=atf%3A%2F%2F87-I-473%3Ade&number_of_ranks=197&azaclir=clir | BGE_87_I_473 |
||
ed78ec96-9ebf-4785-b630-b07d30c8fe02 | 1 | 84 | 1,349,948 | 1,345,507,200,000 | 2,012 | de | Sachverhalt
ab Seite 311
BGE 138 V 310 S. 311
A.
Die 1962 geborene iranische Staatsangehörige S. reiste 1993 mit ihrer Mutter und drei Geschwistern in die Schweiz ein und stellte ein Asylgesuch, welches 1996 abgewiesen wurde. Die mit der Wegweisung verbundene Ausreisefrist lief am 15. November 1996 ab. Während ihre Mutter und zwei Geschwister in die USA ausgeschafft wurden, duldete das kantonale Migrationsamt S. und ihre Schwester Z. in der Schweiz. Das Amt für soziale Sicherheit des Kantons Solothurn verfügte am 13. Dezember 2007 den Ausschluss aus dem System der Sozialhilfe mit Wegweisung aus der Asylstruktur, sodass ihnen ab 1. Januar 2008, sofern beantragt, einzig Nothilfe gewährt würde. Das Amt führte weiter aus, damit ende der bestehende Krankenversicherungsschutz und sie habe die Wohnung bis 31. März 2008 zu verlassen. Auf Wunsch könne sie in die kantonale Kollektivunterkunft X. ziehen. S. verblieb in der Wohnung an der Strasse Y. in B., die sie sich mit ihrer Schwester und deren Freund teilt, und bezog keine Nothilfe; das Amt für soziale Sicherheit übernahm einzig
BGE 138 V 310 S. 312
weiterhin die administrative und finanzielle Regelung der Krankenversicherung. Am 31. Mai 2011 teilte es S. mit, da sie seit drei Jahren keine Anträge auf Nothilfeleistungen gestellt habe, sei von einer wirtschaftlichen Selbstständigkeit auszugehen, weshalb sie ab 31. Juli 2011 nicht mehr unterstützt und die kollektive Krankenversicherung in eine Einzelversicherung umgewandelt werde. Für die Versicherungsprämien und allfällige weitere Krankenkassenansprüche habe sie selbst aufzukommen. Nachdem S. am 18. Juni 2011 Nothilfe und Weiterführung der bisherigen Krankenversicherung geltend machte, hielt das Amt in einem Schreiben vom 7. Juli 2011 fest, die Nothilfe werde nur integral ausgerichtet, was bedeute, dass finanzielle Nothilfe nicht ausserhalb einer kantonalen Unterbringungsstruktur gewährt werde. Dementsprechend verfügte das Departement des Innern am 25. Juli 2011, dass die Anträge auf Nothilfe in B. und Beibehaltung der bisherigen Krankenversicherung abgewiesen werde. Sofern die Voraussetzungen gegeben seien, werde im Zentrum X. Nothilfe gewährt. Per 1. August 2011 werde sie aus der kollektiven Krankenversicherung ausscheiden und zum Übertritt in die Einzelversicherung angemeldet.
B.
Die hiegegen geführte Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn mit Entscheid vom 16. Dezember 2011 ab.
C.
S. lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und beantragen, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids sei ihr Nothilfe in B. zu gewähren. Das Departement des Innern des Kantons Solothurn sei zu verpflichten, ab 1. August 2011 weiterhin für die Kosten der bisherigen obligatorischen Krankenversicherung aufzukommen. Es wird um aufschiebende Wirkung der Beschwerde ersucht, weshalb das Departement des Innern des Kantons Solothurn für die Dauer des Verfahrens die Kosten für die kollektive Krankenversicherung zu übernehmen habe. Ferner sei ihr die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren.
Das Amt für soziale Sicherheit schliesst auf Abweisung der Beschwerde und das Verwaltungsgericht beantragt ebenfalls deren Abweisung, soweit darauf einzutreten sei.
D.
Mit Eingabe vom 15. Februar 2012 lässt S. ein Schreiben des Amtes für soziale Sicherheit vom 13. Februar 2012 zukommen, wonach dieses bis zum Abschluss des hängigen Beschwerdeverfahrens auf eine Änderung der bisherigen Ausgestaltung der Krankenversicherung verzichtet. Die Beschwerdeführerin bekräftigt zudem ihren Standpunkt mit Eingabe vom 27. Februar 2012.
BGE 138 V 310 S. 313
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut. | 728 | 579 | Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
2.1
Nach
Art. 12 BV
hat, wer in Not gerät und nicht in der Lage ist, für sich zu sorgen, Anspruch auf Hilfe und Betreuung und auf die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind. Dieses Grundrecht garantiert nicht ein Mindesteinkommen; verfassungsrechtlich geboten ist nur, was für ein menschenwürdiges Dasein unabdingbar ist und vor einer unwürdigen Bettelexistenz zu bewahren vermag. Der Anspruch umfasst einzig die in einer Notlage im Sinne einer Überbrückungshilfe unerlässlichen Mittel (in Form von Nahrung, Kleidung, Obdach und medizinischer Grundversorgung), um überleben zu können. Diese Beschränkung des verfassungsrechtlichen Anspruches auf ein Minimum im Sinne einer "Überlebenshilfe" bedeutet, dass Schutzbereich und Kerngehalt zusammenfallen. Durch das ausdrückliche Erwähnen des Subsidiaritätsprinzips hat der Verfassungsgeber somit (bereits) den Anspruch als solchen relativiert. Grundsätzliche Voraussetzung der Anwendbarkeit von
Art. 12 BV
ist das Vorliegen einer aktuellen, d.h. tatsächlich eingetretenen oder unmittelbar drohenden Notlage (
BGE 131 I 166
E. 3.1 S. 172, E. 3.2 S. 173;
BGE 130 I 71
E. 4.1 S. 74 f.; je mit Hinweisen).
Art 12 BV
umfasst nur eine auf die konkreten Umstände zugeschnittene, minimale individuelle Nothilfe. Sie beschränkt sich auf das absolut Notwendige und soll die vorhandene Notlage beheben. Insofern unterscheidet sich der verfassungsmässige Anspruch auf Hilfe in Notlagen vom kantonalen Anspruch auf Sozialhilfe, die umfassender ist (MARGRITH BIGLER-EGGENBERGER, in: Die schweizerische Bundesverfassung, Kommentar, Ehrenzeller und andere [Hrsg.], 2. Aufl. 2008, N. 12, 13 und 20 zu
Art. 12 BV
).
2.2
Gemäss Art. 81 des Asylgesetzes vom 26. Juni 1998 (AsylG; SR 142.31) erhalten Personen, die sich gestützt auf das AsylG in der Schweiz aufhalten und die ihren Unterhalt nicht aus eigenen Mitteln bestreiten können, die notwendigen Sozialhilfeleistungen, sofern nicht Dritte aufgrund einer gesetzlichen oder vertraglichen Verpflichtung für sie aufkommen müssen, beziehungsweise auf Ersuchen hin Nothilfe. Für die Ausrichtung von Sozialhilfeleistungen und Nothilfe gilt kantonales Recht. Personen mit einem rechtskräftigen Wegweisungsentscheid, denen eine Ausreisefrist angesetzt worden ist, können von der Sozialhilfe ausgeschlossen werden (
Art. 82 Abs. 1 AsylG
und
BGE 138 V 310 S. 314
Art. 3 Abs. 3 der Asylverordnung 2 vom 11. August 1999 über Finanzierungsfragen [Asylverordnung 2, AsylV 2; SR 142.312]). Wird der Vollzug der Wegweisung für die Dauer eines ausserordentlichen Rechtsmittelverfahrens ausgesetzt, so erhalten abgewiesene Asylsuchende auf Ersuchen hin Nothilfe (
Art. 82 Abs. 2 AsylG
). Aus diesen Bestimmungen ergibt sich, dass eine Person mit rechtskräftigem Wegweisungsentscheid, der eine Ausreisefrist angesetzt worden ist, keinen Anspruch auf Sozialhilfe mehr hat, sondern nur noch auf die durch
Art. 12 BV
gewährleistete Nothilfe (
BGE 137 I 113
E. 3.1 S. 115;
BGE 135 I 119
E. 5.3 S. 123; je mit Hinweisen).
2.3
Nach dem Sozialgesetz des Kantons Solothurn vom 31. Januar 2007 (SG/SO; BGS 831.1) werden Personen mit illegalem Aufenthalt, insbesondere auch Personen mit einem rechtskräftigen Nichteintretensentscheid, in Notlagen mit Nothilfe unterstützt (§ 158 Abs. 1 SG/SO). Gemäss § 93 Abs. 3 der Sozialverordnung vom 29. Oktober 2007 (SV/SO; BGS 831.2) erhalten Personen, die mit rechtskräftigem Nichteintretens- oder Abweisungsentscheid weggewiesen werden, keine Leistungen nach den SKOS-Richtlinien. Sie sind nur im Rahmen der Nothilfe zu unterstützen. Vorbehalten bleiben Härtefälle. Der Regierungsrat erlässt Richtlinien.
Der Regierungsratsbeschluss Nr. 2007/2002 vom 27. November 2007 hält dementsprechend fest, dass die Nothilfe nach Möglichkeit in Sachleistungen erbracht wird. Wenn es zweckmässig erscheint, können auch Geldleistungen ausbezahlt werden. Das Amt für soziale Sicherheit, Sozialhilfe und Asyl (ASO SOA) befindet über die Form der Ausrichtung (Ziff. 3.5). Personen mit rechtskräftigem Nichteintretensentscheid oder Abweisungsentscheid und Wegweisungsentscheid werden grundsätzlich aus den Gemeindestrukturen weggewiesen (Ziff. 3.6). Weggewiesene Personen, welche darlegen, in einer Notlage zu sein, sind an die Anlaufstelle des ASO SOA zu verweisen. Das ASO SOA weist diesen Personen bei Vorliegen einer Notlage einen Unterkunftsplatz bzw. Aufenthaltsort zu (Ziff. 3.7). In Härtefällen können Personen mit einem erhöhten Schutzbedürfnis weiterhin in den Gemeindestrukturen verweilen. Es kommen aber für Nahrung und Hygiene die nachgenannten Ansätze zur Anwendung. Das ASO SOA bezeichnet die berechtigten Personen und instruiert die örtlichen Sozialhilfeorgane (Ziff. 3.8). Nothilfe umfasst Gewährleistung von Obdach, Essen, Kleidung, Hygiene und medizinischer Notversorgung. Über eine eventuelle Weiterführung des Krankenversicherungsschutzes entscheidet das ASO SOA auf Antrag (Ziff. 3.9).
BGE 138 V 310 S. 315
3.
Streitig ist der Anspruch auf Nothilfe am Aufenthaltsort der Beschwerdeführerin in B. in Form der Übernahme der Prämien der obligatorischen Krankenversicherung durch das Amt für soziale Sicherheit.
3.1
Das kantonale Verwaltungsgericht gelangte zum Schluss, gestützt auf den vom Regierungsrat erlassenen Beschluss (Nr. 2007/2002 vom 27. November 2007) sei es zulässig, dass die Beschwerdeführerin aus den Gemeindestrukturen weggewiesen worden sei und dass der Kanton den Aufenthaltsort bestimme. Dementsprechend könne das Amt für soziale Sicherheit die Leistungen der Nothilfe, namentlich die Kostenübernahme der (kollektiven) Krankenversicherung, an die Bedingung knüpfen, dass sich die Beschwerdeführerin an einem ihr zugewiesenen Unterkunftsplatz aufhalte. Dieses Vorgehen verstosse nicht gegen
Art. 12 BV
. Gründe, die im Sinne eines Härtefalls den Verbleib in B. rechtfertigen würden, seien nicht ersichtlich.
3.2
Soweit die solothurnischen Behörden die tatsächliche Notlage der Beschwerdeführerin in Frage stellen, wozu die Vorinstanz keine Feststellungen getroffen hat, kann ihnen nicht gefolgt werden, zumal sie ihre Entscheide auch nicht mit dem Fehlen dieser Voraussetzung begründeten. Mit Blick auf die Notlage der Beschwerdeführerin steht fest, dass sie nach Einstellung der Sozialhilfeleistungen per 1. Januar 2008 - auch wenn sie erst auf die am 31. Mai 2011 ergangene Mitteilung hin, ab 1. August 2011 werde ihr Unterstützungsfall abgeschlossen, um die weitere behördliche Übernahme der Krankenkassenprämien ersuchte - im Umfang dieser Prämien nie ohne staatliche Hilfeleistungen auskam. Als weggewiesene Ausländerin kann die Beschwerdeführerin ohne geregelten Aufenthaltsstatus grundsätzlich keine Bewilligung zur Erwerbstätigkeit erhalten (vgl.
Art. 43 Abs. 2 und
Art. 14 AsylG
), auch wenn die Leiterin für Ausländerfragen in einem Schreiben vom 31. Mai 2007 anführte, einen Stellenantritt ausnahmsweise wohlwollend zu prüfen. Es ist davon auszugehen, dass sich die Beschwerdeführerin in einer Notlage befindet, aus der sie sich auch mit zumutbaren Anstrengungen nicht selbst befreien kann (
BGE 135 I 119
E. 7.2 S. 126).
4.
4.1
Der seit 1. August 2011 in Kraft stehende
Art. 92d KVV
(SR 832.102) regelt die Prämienübernahme von nothilfeberechtigten Personen, indem gemäss Abs. 1 dieser Bestimmung auf nothilfeberechtigte Personen nach
Art. 82 AsylG
die Artikel 82a AsylG und 105a KVG sinngemäss anwendbar sind.
BGE 138 V 310 S. 316
4.2
Wie das Bundesamt für Gesundheit (BAG) in einer Medienmitteilung vom 6. Juli 2011 festhielt, sind damit Nothilfeberechtigte obligatorisch krankenversichert, sofern sie in der Schweiz Wohnsitz haben. Die Versicherungspflicht endet mit der Ausreise aus der Schweiz. Abgewiesene Asylsuchende und Asylsuchende mit einem rechtskräftigen Nichteintretensentscheid, die die Schweiz nicht verlassen, bleiben somit bis zur Ausreise aus der Schweiz der obligatorischen Krankenversicherung unterstellt.
4.3
Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung dieser bundesrechtlichen Bestimmung. Die vorinstanzliche Argumentation, mit der Umschreibung von der Kollektiv- in eine Einzelversicherung sei ihr der Zugang zur obligatorischen Krankenversicherung nicht verwehrt, sei willkürlich und unhaltbar.
4.4
Streitig ist die Übernahme der Krankenkassenprämien durch den Staat ab Inkrafttreten dieser Bestimmung. Gemäss der Übergangsbestimmung zur Änderung vom 6. Juli 2011 sind die Prämien und der Aufschlag nach dieser Änderung rückwirkend ab dem Inkrafttreten dieser Änderung geschuldet, wenn ein Versicherer ein Gesuch um Kostenübernahme von einer nothilfeberechtigten Person erhält, deren Asylentscheid vor dem Inkrafttreten dieser Änderung rechtskräftig entschieden wurde. Damit ist diese Rechtsnorm auf den vorliegenden Sachverhalt anwendbar. Als nothilfeberechtigte, abgewiesene Asylsuchende ist die Beschwerdeführerin ab 1. August 2011 gestützt auf
Art. 92d KVV
obligatorisch krankenversichert und die Prämien sind durch das Amt für Soziale Sicherheit zu übernehmen.
5.
5.1
Es bleibt zu prüfen, ob vorliegend die Prämienübernahme der obligatorischen Krankenversicherung mit der Auflage des Umzugs der Beschwerdeführerin in eine kantonal vorgesehene Unterbringungsstruktur verknüpft werden kann.
5.2
Art. 92d KVV
sieht keine Möglichkeit vor, den obligatorischen Krankenversicherungsschutz von nothilfeberechtigten Personen nach
Art. 82 AsylG
mit Nebenbestimmungen wie Auflagen oder Bedingungen zu versehen. Indem Abs. 1 dieser Verordnungsbestimmung
Art. 82a AsylG
als sinngemäss anwendbar erklärt, sind einzig Einschränkungen hinsichtlich Wahl des Versicherers und der Leistungserbringer im Sinne von
Art. 82a AsylG
vorgesehen. Zwar bedürfen Nebenbestimmungen wie Auflagen oder Bedingungen nicht zwingend einer im Gesetz ausdrücklich wiedergegebenen Grundlage; ihre
BGE 138 V 310 S. 317
Zulässigkeit kann sich unter Umständen auch unmittelbar aus dem Gesetzeszweck und dem damit zusammenhängenden öffentlichen Interesse ergeben. Sachfremde Nebenbestimmungen sind aber unzulässig. Ferner müssen Nebenbestimmungen auch mit dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit vereinbar sein, was bedeutet, dass sie u.a. für die Erreichung des angestrebten Ziels erforderlich sein müssen (HÄFELIN/MÜLLER/UHLMANN, Allgemeines Verwaltungsrecht, 6. Aufl. 2010, Rz. 918 ff.). Mit den Nebenbestimmungen werden die rechtmässige Ausübung eines eingeräumten Rechts oder einer Bewilligung oder die zweckkonforme Verwendung von staatlichen Leistungen sichergestellt (
BGE 131 I 166
E. 4).
5.3
Die Beschwerdeführerin ersucht nicht um Obdach, sondern einzig um finanzielle Unterstützung in Form von Fortführung der bisherigen Krankenkassenprämienleistung durch das Amt für soziale Sicherheit. Insofern diktiert sie damit - entgegen der Ansicht der Beschwerdegegnerin - nicht die Art der Nothilfeleistung in Bezug auf die Unterbringung, da sie in diesem Punkt nicht nothilfebedürftig ist. In Berücksichtigung des auch im Rahmen der Nothilfe geltenden Grundsatzes der Subsidiarität (vgl. etwa
BGE 131 I 166
E. 4.1 S. 173 mit Hinweisen sowie CHRISTOPH HÄFELI, Prinzipien der Sozialhilfe, in: Das Schweizerische Sozialhilferecht, 2008, S. 73 ff.) gehen tatsächlich erbrachte Leistungen Dritter, die einen Teil der elementaren Grundbedürfnisse abdecken und auf die kein durchsetzbarer Rechtsanspruch besteht, dem Leistungsanspruch gegenüber dem Staat vor. Zumindest soweit und solange die Beschwerdeführerin in der Wohnung an der Strasse Y. in B. verbleiben kann und der Lebenspartner ihrer Schwester die Mietzinse derselben trägt, ist die Beschwerdeführerin hinsichtlich Unterkunft nicht nothilfebedürftig. Wie dargelegt (E. 4), hat die Beschwerdeführerin nicht nur den grundrechtlich geschützten Anspruch auf medizinische Notfallversorgung, sondern sie ist - darüber hinaus - als Nothilfeberechtigte ab 1. August 2011 kraft Bundesrecht obligatorisch krankenversichert. Wenn das Amt seine weitere Übernahme der dementsprechend anfallenden Krankenkassenprämien mit der Auflage verknüpfen will, dass die Beschwerdeführerin die vom Freund ihrer Schwester finanzierte Wohnung zu verlassen und in die kantonale Kollektivunterkunft zu ziehen hat, ist dies sachfremd und dient nicht der Sicherstellung einer zweckkonformen Verwendung der staatlichen Leistungen. Dürfte sich die Beschwerdeführerin nicht mehr in der vor Jahren bezogenen Wohnung aufhalten, um die ersuchte finanzielle Leistung zu
BGE 138 V 310 S. 318
erhalten, würde dies vielmehr zusätzlich die Notlage hinsichtlich der Unterkunft aktualisieren, die finanzielle Unmöglichkeit der Beschwerdeführerin, die Krankenversicherungskosten selbst zu tragen, hingegen nicht beseitigen.
Überdies ist auch das vorinstanzliche Argument, die Zuweisung einer Unterkunft gewähre die Kontrolle der zugesprochenen Nothilfe, nicht stichhaltig, da die administrative Abwicklung der Krankenversicherungskosten hier so oder anders direkt durch das Amt für Soziale Sicherheit erfolgt, was dem Amt eine genügende Kontrolle der aus der obligatorischen Krankenversicherung anfallenden Kosten erlaubt. Daran würde auch ein Umzug nichts ändern. Die Durchsetzung der behördlichen Auflage einer Unterbringung in der Kollektivunterkunft beseitigt weder die bestehende Notlage noch dient sie einer zweckkonformen Umsetzung des Versicherungsschutzes nach
Art. 92d KVV
, weshalb die Nebenbestimmung unzulässig ist. | 2,817 | 2,148 | 2 | 0 | CH_BGE_007 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_007_BGE-138-V-310_2012-08-21 | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=12&from_date=&to_date=&from_year=2012&to_year=2012&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=117&highlight_docid=atf%3A%2F%2F138-V-310%3Ade&number_of_ranks=309&azaclir=clir | BGE_138_V_310 |
|||
ed7b04b6-8173-469c-ad58-e66a18d2b97e | 3 | 81 | 1,358,213 | null | 2,024 | it | Sachverhalt
ab Seite 46
BGE 128 II 46 S. 46
Con decisione del 21 novembre 2001 l'Archivista notarile del Distretto di Lugano ha determinato il valore di un atto pubblico rogato dal notaio avv. A., concernente la compravendita di azioni e
BGE 128 II 46 S. 47
la cessione di un credito tra persone non domiciliate in Svizzera, in fr. 2'445'125.-, e stabilito un'imposta sul bollo di fr. 7'336.-, indicando che contro tale decisione è data facoltà di reclamo nel termine di 30 giorni dall'intimazione.
Con decisione del 7 dicembre 2001 la Divisione delle contribuzioni del Cantone Ticino ha respinto un reclamo presentato l'8 novembre 2001 da A. per conto della D. S.A., avverso la bolletta concernente l'assoggettamento al bollo del contratto di scrittura privata, per un'imposta di fr. 150.-, indicando che contro tale decisione è data facoltà di ricorso alla Camera di diritto tributario del Tribunale d'appello del Cantone Ticino nel termine di 30 giorni dall'intimazione.
Il 21 dicembre 2001 A., B., C. e la D. S.A. hanno introdotto al Tribunale federale un'azione di diritto amministrativo contro la decisione del 21 novembre 2001 e, in subordine, quella del 7 dicembre 2001, chiedendone l'annullamento. Contestano in sostanza l'assoggettamento all'imposta cantonale, siccome incompatibile con il diritto federale.
Il Tribunale federale ha dichiarato inammissibile l'azione di diritto amministrativo e ha trasmesso gli atti alle autorità cantonali competenti conformemente alle indicazioni dei rimedi giuridici nelle decisioni impugnate. | 550 | 276 | Erwägungen
Dai considerandi:
2.
a) Il Tribunale federale esamina d'ufficio e con piena cognizione l'ammissibilità dei gravami sottopostigli, senza essere vincolato, in tale ambito, dagli argomenti delle parti o dalle loro conclusioni (
DTF 127 I 92
consid. 1;
DTF 127 II 198
consid. 1 e relativi richiami).
b) Le fattispecie in esame concernono l'imposta di bollo sugli atti notarili ai sensi degli art. 18 segg. della legge ticinese del 20 ottobre 1986 sull'imposta di bollo e sugli spettacoli cinematografici (LIB/TI), rispettivamente l'imposta di bollo su contratti per scrittura privata, secondo gli art. 2 segg. LIB/TI, le quali costituiscono tributi fondati sul diritto cantonale. Ora, a norma dell'art. 3 cpv. 1 prima frase della legge federale del 27 giugno 1973 sulle tasse di bollo (LTB; RS 641.10), i documenti che la presente legge assoggetta a una tassa di bollo o dichiara esenti non possono essere gravati dai Cantoni con contribuzioni o tasse di registro dello stesso genere; la seconda frase del disposto sancisce che il Tribunale federale giudica come istanza unica (
art. 116 OG
) le contestazioni derivanti da tale disposizione.
BGE 128 II 46 S. 48
Tuttavia, con l'entrata in vigore il 1o gennaio 1994 della novella del 4 ottobre 1991 intesa alla modifica della legge federale sull'organizzazione giudiziaria, il campo d'applicazione dell'azione di diritto amministrativo è stato ampiamente ristretto, quale misura di sgravio per il Tribunale federale (v. FF 1991 II 443 seg.). In particolare, l'art. 116 lett. f OG è stato abrogato, di modo che l'azione di diritto amministrativo non è più proponibile in materia di esonero di tributi cantonali (v.
DTF 127 II 1
consid. 2b;
123 II 56
consid. 2;
DTF 122 II 241
consid. 2c). Pertanto, il rinvio dell'
art. 3 cpv. 1 LTB
all'
art. 116 OG
, anteriore alla menzionata modifica legislativa e rimasto immutato, per quanto ciò non sia il frutto di una svista, concerne semmai litigi tra autorità (
art. 116 lett. a e b OG
; cfr.
DTF 122 II 241
consid. 2c) e i privati non possono quindi prevalersene (
DTF 123 II 56
consid. 1-3; ALFRED KÖLZ/ISABELLE HÄNER, Verwaltungsverfahren und Verwaltungsrechtspflege des Bundes, 2a ed., Zurigo 1998, n. 1045, pag. 367). In altri termini, nei casi in cui l'imposizione litigiosa sia, come in concreto, fondata sul diritto cantonale, l'azione di diritto amministrativo non è più proponibile per lamentare una presunta incompatibilità dell'imposta cantonale con il diritto federale, bensì è aperta unicamente la via del ricorso di diritto pubblico per violazione della forza derogatoria del diritto federale (v.
DTF 127 II 1
consid. 2; sulla situazione anteriore cfr. la sentenza del Tribunale federale A.443/1981 del 2 dicembre 1983, in ASA 53 pag. 431, consid. 1, richiamata dai ricorrenti).
c) Sennonché, l'ammissibilità di quest'ultimo rimedio presuppone l'esaurimento del corso delle istanze cantonali (
art. 86 cpv. 1 OG
). Ora, nel caso specifico tale condizione non è soddisfatta, poiché le decisioni impugnate, come indicano i rispettivi dispositivi, non sono d'ultima istanza cantonale. Di conseguenza, gli atti vanno trasmessi alle autorità cantonali competenti conformemente alle indicazioni dei rimedi giuridici nelle decisioni contestate, le quali autorità dovranno vagliare, alla luce del diritto procedurale cantonale, l'ammissibilità della memoria introdotta erroneamente, ma tempestivamente, al Tribunale federale. | 1,309 | 703 | 2 | 0 | CH_BGE_004 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_004_BGE-128-II-46_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=31&from_date=&to_date=&from_year=2002&to_year=2002&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=302&highlight_docid=atf%3A%2F%2F128-II-46%3Ade&number_of_ranks=303&azaclir=clir | BGE_128_II_46 |
|||
ed7f7ae6-67fa-4d90-8335-b371f8cefe2f | 1 | 82 | 1,333,250 | 694,224,000,000 | 1,992 | de | Sachverhalt
ab Seite 27
BGE 118 III 27 S. 27
A.-
M. erklärte sich beim Gerichtspräsidenten zahlungsunfähig und verlangte gestützt auf
Art. 191 SchKG
die Konkurseröffnung. Gleichzeitig stellte er das Begehren, es sei ihm im Verfahren nach
Art. 191 SchKG
die unentgeltliche Prozessführung zu gewähren und Fürsprecher S. als amtlicher Anwalt beizuordnen. Mit Entscheid vom 19. September 1991 wies der Gerichtspräsident das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung ab. Er auferlegte die diesbezüglichen Gerichtskosten dem Gesuchsteller zur Bezahlung und forderte diesen auf, binnen 5 Tagen für das durchzuführende Konkursverfahren einen Kostenvorschuss von Fr. 3'000.-- zu leisten; bei nicht fristgerechter Bezahlung werde die Insolvenzerklärung ohne weiteres mangels rechtlichen Interesses vom Protokoll abgeschrieben.
Gegen diesen Entscheid rekurrierte M. an den Appellationshof des Kantons X. und verlangte die unentgeltliche Prozessführung und die
BGE 118 III 27 S. 28
Verbeiständung durch Fürsprecher S. als Amtsanwalt sowohl für das Konkursverfahren als auch im Verfahren um die unentgeltliche Prozessführung vor dem Gerichtspräsidenten.
Der Appellationshof des Kantons X. wies den Rekurs am 9. Oktober 1991 vollumfänglich ab.
B.-
M. führt staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von
Art. 4 BV
und beantragt, der Entscheid des Appellationshofes sei aufzuheben.
Das Bundesgericht heisst die staatsrechtliche Beschwerde teilweise gut. | 313 | 229 | Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Eine Verletzung von
Art. 4 BV
erblickt der Beschwerdeführer darin, dass der Appellationshof seinen bundesrechtlichen Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege beeinträchtigt und ihm damit den Zugang zum Privatkonkurs gemäss
Art. 191 SchKG
in verfassungswidriger Weise verweigert habe. Insgesamt hält er dafür, die Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes sei für das Einreichen der Insolvenzerklärung notwendig und die unentgeltliche Prozessführung müsse für das Gesuch um Eröffnung des Konkurses sowie für das Verfahren nach der Konkurseröffnung gewährt werden. Vorliegend einzig zu prüfende Frage ist somit, ob unmittelbar aus
Art. 4 BV
ein Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege (unentgeltliche Prozessführung, unentgeltlicher Rechtsbeistand) im Konkursverfahren zufolge Insolvenzerklärung abgeleitet werden kann.
a) Über das Betreibungsverfahren und das Konkursrecht steht dem Bund die Gesetzgebung zu (
Art. 64 Abs. 1 BV
), und zwar in einem umfassenden, kantonales Recht grundsätzlich ausschliessenden Sinne (vgl. etwa PIERRE-ROBERT GILLIÉRON, Poursuite pour dette, faillite et concordat, 2. A. Lausanne 1988, S. 26). Hinsichtlich der Kosten im Konkursverfahren bestimmt
Art. 169 SchKG
, dass der Gläubiger, welcher das Konkursbegehren stellt, für die bis zur ersten Gläubigerversammlung entstehenden Kosten haftet (Abs. 1) und das Gericht von ihm einen entsprechenden Kostenvorschuss verlangen kann (Abs. 2). Für die gerichtliche Spruchgebühr ist von derjenigen Partei ein Vorschuss zu leisten, die den Richter angerufen oder den Entscheid weitergezogen hat (Art. 54 Abs. 2 GebTSchKG). Sie ist eine Pauschalgebühr (Art. 54 Abs. 1 GebTSchKG) und bemisst sich nicht nach kantonalen Tarifen, sondern ausschliesslich nach
BGE 118 III 27 S. 29
dem bundesrätlich verordneten Gebührentarif zum SchKG (Art. 52 i.V.m. Art. 55 GebTSchKG).
aa) Die Bestimmungen über die Kosten im Konkursverfahren machen keinerlei Vorbehalt zugunsten der unentgeltlichen Rechtspflege. Das Bundesgericht ist in seiner Rechtsprechung denn auch immer davon ausgegangen, dass ein solcher Anspruch im Betreibungsverfahren (
BGE 55 I 366
) und dabei insbesondere im Rechtsöffnungsverfahren (
BGE 85 I 139
mit Hinweisen) nicht bestehe. Die Verweigerung der unentgeltlichen Rechtspflege im Verfahren der Insolvenzerklärung ist bisher nicht als willkürlich beurteilt worden (nicht veröffentlichtes Bundesgerichtsurteil i.S. S. c. Richteramt IV Bern vom 2. Juni 1978, E. 2). Die Frage, ob eine verfassungsmässige Auslegung der
Art. 68 SchKG
und 54 Abs. 2 GebTSchKG dazu führe, einen Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege auch im Bereich der Schuldbetreibung anzuerkennen, hat das Bundesgericht in
BGE 114 III 69
E. c erstmals wieder neu aufgeworfen, aber nicht beantwortet.
bb) Einen Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege hat das Bundesgericht in jüngster Zeit nicht nur für den Zivil- und Strafprozess (
BGE 112 Ia 15
E. 3a mit Hinweisen), sondern auch für das Verwaltungsbeschwerde- und das Verwaltungsgerichtsverfahren unmittelbar aus
Art. 4 BV
abgeleitet (
BGE 112 Ia 17
E. 3c); in gewissen zeitlichen und sachlichen Grenzen ist dieser Anspruch in der Folge auf das nichtstreitige IV-Abklärungsverfahren gemäss
Art. 65 ff. IVV
ausgedehnt (
BGE 114 V 234
E. 5) und neuerdings auch im nichtstreitigen Verwaltungsverfahren betreffend Rückversetzung in den Massnahmenvollzug bzw. Vollzug der aufgeschobenen Strafe anerkannt worden (
BGE 117 Ia 279
E. 5a).
cc) Dem grundsätzlichen Ausschluss des Anspruchs auf unentgeltliche Rechtspflege im Schuldbetreibungsverfahren ist in der neueren Literatur Kritik erwachsen. Unter Hinweis auf die Entwicklung in der Rechtsprechung wird angeregt, diese Ansprüche wenigstens in rein betreibungsrechtlichen Streitigkeiten sowie im Beschwerdeverfahren gemäss
Art. 17 ff. SchKG
anzuerkennen (vgl. ADRIAN STAEHELIN, Die betreibungsrechtlichen Streitigkeiten, in: FS 100 Jahre SchKG, Zürich 1989, S. 81 f.; PIERMARCO ZEN-RUFFINEN, Assistance judiciaire et administrative: Les règles minimales imposées par l'art. 4 de la Constitution fédérale, in: JdT 137/1989 I S. 58 f.).
b) Die Kosten, für die der antragstellende Gläubiger gemäss
Art. 169 SchKG
haftet, umfassen sowohl die Gebühren und Auslagen des Konkursamtes bis zur ersten Gläubigerversammlung als
BGE 118 III 27 S. 30
auch jene des Gerichtes für das Konkurserkenntnis (vgl. GILLIÉRON, a.a.O., S. 266; HANS-ULRICH WALDER, SchKG, 12. A. Zürich 1990, Verweise/Anmerkungen zu
Art. 169 SchKG
; WERNER BAUMANN, Die Konkurseröffnung nach dem Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs, Diss. Zürich 1979, S. 94). Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung bewirkt die Missachtung der gestützt auf
Art. 169 Abs. 2 SchKG
angesetzten Zahlungsfrist, dass der Konkurs nicht eröffnet werden darf (
BGE 113 III 118
E. 3b), d.h. auch im Konkursrecht ist die rechtzeitige Hinterlegung eines vom Richter einverlangten Kostenvorschusses Voraussetzung dafür, dass die geforderte Amtshandlung vorgenommen werden kann (
BGE 97 I 612
f. mit Literaturhinweisen).
c) Nach dem klaren Wortlaut des Gesetzes gilt die Kostenvorschusspflicht gemäss
Art. 169 SchKG
auch für "die ohne vorgängige Betreibung erfolgten Konkurseröffnungen" (
Art. 194 SchKG
), so dass dem Schuldner, der sich beim Konkursgerichte nach
Art. 191 SchKG
zahlungsunfähig erklärt, die Konkurseröffnung verweigert werden darf, wenn er den festgesetzten Kostenvorschuss nicht leistet. Die Zulässigkeit, auch bei Insolvenzerklärung einen Kostenvorschuss zu verlangen, wird in Art. 35 der bundesgerichtlichen Verordnung über die Geschäftsführung der Konkursämter (KOV) ausdrücklich bestätigt und ist im übrigen nach der herrschenden Lehre unbestritten (vgl. die Literaturhinweise bei BEAT LANTER, Die Insolvenzerklärung als Mittel zur Abwehr von Pfändungen, Diss. Zürich 1976, S. 45 Fn. 2; ebenso: KURT AMONN, Grundriss des Schuldbetreibungs- und Konkursrechts, 4. A. Bern 1988, N 33 zu § 38; GILLIÉRON, a.a.O., S. 266 und 269; a.M. ERNST BLUMENSTEIN, Handbuch des Schweizerischen Schuldbetreibungsrechts, Bern 1911, S. 604 Anm. 26).
d) Die Bestimmungen über die Tragung der Kosten und deren Bevorschussung, wie sie in den
Art. 68 und 169 SchKG
festgeschrieben sind, waren bereits im ersten Gesetzesentwurf des Bundesrats enthalten. In seinen Erläuterungen führte er diesbezüglich aus: "Es ist die Absicht des Entwurfes, dem Gläubiger die Durchführung einer Betreibung auch ausserhalb seines Wohnortes, Betreibungskreises oder Kantons ohne Zuhilfenahme eines Vertreters zu ermöglichen. Darum enthält der Entwurf (Art. 53) die Vorschrift, dass der Gläubiger von Bestellung einer Kaution enthoben sei, dagegen für die vom Beamten ohne Begehren des Gläubigers vorzunehmenden Betreibungshandlungen die Kosten vorzuschiessen habe, ..." (BBl 1886 II 59). In seinem umgearbeiteten Entwurf für die zweite Beratung in den Kammern strich der Bundesrat das Verbot, dem
BGE 118 III 27 S. 31
Gläubiger eine Sicherheitsbestellung aufzuerlegen, da das Bundesgesetz alle vom Gläubiger zu erfüllenden Bedingungen in erschöpfender Weise aufzähle (BBl 1888 I 359). Die nachmaligen
Art. 68 und 169 SchKG
wurden in der Folge nicht mehr geändert.
e) Aus dem klaren Wortlaut des Gesetzes sowie den Materialien ergibt sich somit lediglich, dass der Gesetzgeber das Zwangsvollstreckungsverfahren nach SchKG grundsätzlich nicht kostenfrei gestalten und der Kostenvorschusspflicht keine andere Bedeutung beimessen wollte als die, die ihr allgemein zukommt: die Vorausleistung der Verfahrenskosten für diejenigen Handlungen, die im Interesse einer Partei vorgenommen werden sollen. In Anbetracht der zahlreichen Lücken im SchKG, die durch die Rechtsprechung geschlossen werden mussten (AMONN, a.a.O., N 17 zu § 3), erscheint die seinerzeitige Annahme des Bundesgerichts, der Gesetzgeber habe durch sein Schweigen die unentgeltliche Rechtspflege im Schuldbetreibungs- und Konkursverfahren ausdrücklich ausschliessen wollen (vgl.
BGE 55 I 366
), "reichlich gewagt" (MAX GULDENER, Zwangsvollstreckung und Zivilprozess, in: ZSR 74/1955 I S. 32).
3.
Bei Entscheidung der Frage, ob im Konkursverfahren zufolge Insolvenzerklärung gestützt auf
Art. 4 BV
ein Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege (unentgeltliche Prozessführung, unentgeltlicher Rechtsbeistand) bestehe, ist demnach allein von der Rechtsnatur der Zwangsvollstreckung im allgemeinen und des Konkurses gemäss
Art. 191 SchKG
im besonderen auszugehen.
a) Die Zwangsvollstreckung nach dem Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs unterscheidet sich wesentlich von derjenigen des Zivilprozessrechts, zumal sie einerseits auf die Vollstreckung von Geldforderungen und Ansprüchen auf Sicherheitsleistung in Geld beschränkt ist, und andererseits auf einfaches Begehren des Gläubigers hin, ohne vorheriges Gerichtsurteil, regelmässig ohne richterliche Ermächtigung und oftmals auch ohne jegliche Mitwirkung einer Gerichtsbehörde stattfinden kann. Die Schuldbetreibung ist daher kein Bestandteil des eigentlichen Zivilprozesses; sie ist ein besonderer Zweig des schweizerischen Rechtssystems, der dem Verwaltungsrecht angehört und der besonderen Verwaltungsbehörden, nicht Gerichten, anvertraut ist (vgl.
BGE 96 III 98
; ANTOINE FAVRE, Droit de poursuite, 3. A. Fribourg 1974, S. 10 f.; GILLIÉRON, a.a.O., S. 28; BLUMENSTEIN, a.a.O., S. 2 ff.; AMONN, a.a.O., N 11 und N 14 ff. zu § 1).
b) Ist der verwaltungsrechtliche Charakter des Konkursverfahrens bis zur ersten Gläubigerversammlung (Inventaraufnahme,
BGE 118 III 27 S. 32
Sicherungsmassnahmen usw.) offenkundig, mag dies für das Konkurseröffnungsverfahren vor dem Richter zweifelhaft scheinen. Nach der herrschenden Lehre bildet die Konkurseröffnung indes keine richterliche Tätigkeit im Sinne eines Erkenntnisverfahrens; das Konkursgericht wird vielmehr als Organ des Vollstreckungsrechts tätig, und sein Entscheid ist Teil des Konkursverfahrens (GILLIÉRON, a.a.O., S. 66; FAVRE, a.a.O., S. 81; HANS FRITZSCHE, Schuldbetreibung und Konkurs nach schweizerischem Recht, Bd. 2, 2. A. Zürich 1968, S. 14; BLUMENSTEIN, a.a.O., S. 110). Diese rein betreibungsrechtlichen Charakter aufweisende Verfügung wurde nur wegen der besonderen Tragweite der Entscheidung sowie im Interesse der Rechtssicherheit dem Richter als Betreibungsorgan übertragen (AMONN, a.a.O., N 46 zu § 4). Auch das Konkurseröffnungsverfahren, für dessen Kosten die gesuchstellende Partei vorschusspflichtig ist, erweist sich somit seinem Wesen nach als verwaltungsrechtlicher Natur.
c) Die Erwägungen, die im Verwaltungsbeschwerde- und Verwaltungsgerichtsverfahren sowie in bestimmten Bereichen des nichtstreitigen Verwaltungsverfahrens zur Anerkennung eines Anspruchs auf unentgeltliche Rechtspflege geführt haben (E. 2a/bb hiervor), sprechen dem Grundsatze nach für die Gewährung eines ebensolchen Anspruchs im Verfahren der Konkurseröffnung zufolge Insolvenzerklärung und des Konkurses bis zur ersten Gläubigerversammlung. Die unentgeltliche Prozessführung befreit dabei ganz oder teilweise von der Bezahlung der Verfahrenskosten und damit auch von der Bezahlung eines Kostenvorschusses, sofern die ersuchende Partei bedürftig ist, ihr Rechtsbegehren nicht zum vornherein aussichtslos erscheint und die verlangten Prozesshandlungen nicht unzulässig sind (
BGE 112 Ia 18
mit Hinweisen).
d) Die Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes, wie sie der Beschwerdeführer für das Einreichen der Insolvenzerklärung verlangt, drängt sich indes nicht auf. Fragen, die sich nicht leicht beantworten liessen, stellen sich dabei keine, und auch eine besondere Rechtskunde zur Abgabe der Insolvenzerklärung, die einen Anspruch auf Beigabe eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes rechtfertigte, ist nicht erforderlich (vgl.
BGE 115 Ia 105
;
BGE 112 Ia 18
, je mit Hinweisen). Das diesbezügliche Verfahren ist denn auch einfach ausgestaltet: Der Schuldner, der über sein Vermögen die Generalexekution herbeiführen will, hat beim zuständigen Richter mündlich oder schriftlich zu erklären, er sei nicht mehr zahlungsfähig. Seine Insolvenz braucht er weder zu beweisen noch glaubhaft zu machen,
BGE 118 III 27 S. 33
und der Konkursrichter darf solches auch nicht fordern (CARL JAEGER, Schuldbetreibung und Konkurs, 2 Bde., 3. A. Zürich 1911, N 3 zu
Art. 191 SchKG
; GILLIÉRON, a.a.O., S. 266). Der blosse Antrag an den Richter genügt; ein Parteiverfahren, in welchem die Gläubiger des Antragstellers ihre Einwendungen vorbringen könnten, ähnlich wie dies im Rechtsöffnungs- und im Konkursverfahren auf Begehren eines Gläubigers für den Schuldner zulässig ist, findet nicht statt (AMONN, a.a.O., N 28 f. zu
§ 36, N 27
und N 32 zu § 38).
e) Seinen Rekursentscheid vom 9. Oktober 1991 hat der Appellationshof des Kantons X. nicht nur mit der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichts begründet, sondern auch mit der Überlegung gestützt, dass durch die Kostenvorschusspflicht, angesichts der beschränkten Prüfungsmöglichkeit des Konkursrichters im Verfahren nach
Art. 191 SchKG
, nicht zuletzt rechtsmissbräuchlichen Insolvenzerklärungen entgegengewirkt werden könne (AMONN, a.a.O., N 27 f. und N 33 zu § 38). Die unbedingte Aufrechterhaltung der Kostenvorschusspflicht und damit gegebenenfalls die Verweigerung des verfassungsmässigen Anspruchs auf unentgeltliche Rechtspflege lässt sich indes auch mit dieser Begründung nicht rechtfertigen. Ob eine Verletzung der sich aus
Art. 2 ZGB
ergebenden Grundsätze, die auch im Zwangsvollstreckungsrecht zu beachten sind (
BGE 113 III 3
E. a mit Hinweis), vorliege, hat der Richter nämlich in jedem Einzelfall von Amtes wegen unter Würdigung sämtlicher Umstände zu prüfen und zu entscheiden (
BGE 115 II 339
;
BGE 104 II 101
E. 2 und 3 mit Hinweisen). | 3,214 | 2,364 | 2 | 0 | CH_BGE_005 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_005_BGE-118-III-27_1992 | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=27&from_date=&to_date=&from_year=1992&to_year=1992&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=265&highlight_docid=atf%3A%2F%2F118-III-27%3Ade&number_of_ranks=372&azaclir=clir | BGE_118_III_27 |
|||
ed7fc708-33e7-4539-89d6-2ae95aacf203 | 1 | 81 | 1,362,864 | null | 2,024 | de | Sachverhalt
ab Seite 336
BGE 128 II 335 S. 336
A.-
R., geboren 1978, erwarb im Mai 1997 seinen Führerausweis der Kategorie B. Mit Verfügung vom 9. Juni 1999 wurde ihm der Führerausweis für die Dauer von zwei Monaten entzogen, weil er am 25. April 1999 ein Motorfahrzeug in angetrunkenem Zustand mit einer minimalen Blutalkoholkonzentration von 0,92 Gewichtspromille gelenkt hatte. Wegen Überschreitens der innerorts zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h um 20 km/h wurde er mit Verfügung vom 10. Februar 2000 zum Besuch von einem Tag Verkehrsunterricht verpflichtet.
Am 18. Februar 2001 führte R. seinen Personenwagen um ca. 04.00 Uhr bzw. um ca. 07.10 Uhr von Biel nach Grenchen und wieder zurück nach Biel in nicht fahrfähigem Zustand, d.h. unter Drogeneinfluss und zum zweiten Mal innert 22 Monaten in angetrunkenem Zustand. Die beim Institut für Rechtsmedizin der Universität Bern (IRM) in Auftrag gegebenen chemisch-toxikologischen Untersuchungen ergaben, dass R. zum Zeitpunkt der Verkehrskontrolle unter dem kombinierten Einfluss von Amphetamin, MDMA (Methylendioxymethamphetamin), Cannabis und Trinkalkohol stand. Aufgrund der Tatsache, dass R. unter dem kombinierten Einfluss dieser Substanzen am Strassenverkehr teilgenommen hatte, empfahl das IRM dringend die Abklärung seiner Fahreignung durch die Administrativbehörde.
B.-
Mit Strafmandat vom 14. Juni 2001 wurde R. vom Untersuchungsrichteramt I Berner Jura-Seeland wegen Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz sowie Führens eines Personenwagens unter Drogeneinfluss und in angetrunkenem Zustand zu einer bedingt aufgeschobenen Strafe von 20 Tagen Gefängnis (Probezeit 3 Jahre) und einer Busse von Fr. 1'000.- verurteilt. R. erhob gegen dieses Strafmandat keinen Einspruch, sodass es in
BGE 128 II 335 S. 337
Rechtskraft erwuchs. Mit Verfügung vom 5. September 2001 entzog das Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt des Kantons Bern R. den Führerausweis für Motorfahrzeuge in Anwendung von
Art. 16 Abs. 3 lit. b und
Art. 17 Abs. 1 lit. d SVG
(SR 741.01) auf die Dauer von 15 Monaten. Die Rekurskommission des Kantons Bern für Massnahmen gegenüber Fahrzeugführern wies die von R. gegen diese Verfügung erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 7. November 2001 ab.
C.-
Gegen diesen Entscheid führt das Bundesamt für Strassen (ASTRA) Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die Sache sei an das Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt des Kantons Bern zur medizinischen Abklärung der Eignung von R. zum Führen von Motorfahrzeugen im Sinne von
Art. 14 Abs. 2 lit. c SVG
zurückzuweisen. | 599 | 434 | Erwägungen
Aus den Erwägungen:
4.
a) Das Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt des Kantons Bern forderte den Beschwerdegegner am 7. Juni 2001 gestützt auf die Verzeigung wegen Führens eines Personenwagens unter Einfluss von Drogen sowie eventuell in angetrunkenem Zustand auf, innert zehn Tagen ein Arztzeugnis einzureichen, das sich zu seiner Fahreignung äussern sollte. Mit Schreiben vom 19. Juni 2001 bestätigte der Hausarzt, dass beim Beschwerdegegner keine Drogensucht vorliege; alle durchgeführten Urinproben - auch hinsichtlich Cannabis - hätten ein negatives Ergebnis gezeigt. Die Frage betreffend die Fahreignung des Beschwerdegegners liess er hingegen unbeantwortet. Nach Abschluss der strafrechtlichen Beurteilung verfügte die Administrativbehörde ohne weitere Abklärungen hinsichtlich der Fahreignung des Beschwerdegegners einen 15-monatigen Warnungsentzug. Diesen Entscheid schützte die Vorinstanz.
b) Nach der Rechtsprechung erlaubt ein regelmässiger, aber kontrollierter und mässiger Haschischkonsum für sich allein noch nicht den Schluss auf eine fehlende Fahreignung (
BGE 127 II 122
E. 4b;
BGE 124 II 559
E. 4d und e). Ob diese gegeben ist, kann ohne Angaben über die Konsumgewohnheiten des Betroffenen, namentlich über Häufigkeit, Menge und Umstände des Cannabiskonsums und des allfälligen Konsums weiterer Betäubungsmittel und/oder von Alkohol, sowie zu seiner Persönlichkeit, insbesondere hinsichtlich Drogenmissbrauch im Strassenverkehr, nicht beurteilt werden (
BGE 124 II 559
BGE 128 II 335 S. 338
E. 4e und 5a). Ein die momentane Fahrfähigkeit beeinträchtigender Cannabiskonsum kann hingegen Anlass bieten, die generelle Fahreignung des Betroffenen durch ein Fachgutachten näher abklären zu lassen (
BGE 127 II 122
E. 4b mit Hinweis).
c) Im konkreten Fall war die momentane Fahrfähigkeit des Beschwerdeführers durch übermässigen Konsum von Alkohol in Kombination mit Betäubungsmitteln beeinträchtigt. Der Beschwerdegegner konsumierte nach eigenen Angaben am fraglichen Tag nach 9 dl Bier und 1 dl Champagner einen Joint, dies im Wissen darum, dass er nachher noch bzw. wieder ein Motorfahrzeug führen würde. Zudem war er bereits 22 Monate vorher wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand angehalten worden, weshalb ihm der Führerausweis für die Dauer von zwei Monaten entzogen worden war. Auch wegen Verstosses gegen das Betäubungsmittelgesetz war er zuvor schon verzeigt worden. Zudem hatte er anlässlich der polizeilichen Ermittlungen im Zusammenhang mit seinen Verfehlungen vom 18. Februar 2001 eingestanden, seit ungefähr einem Jahr täglich Marihuana zu konsumieren, pro Monat ca. 30 Joints, d.h. rund 15 g Marihuana. Die chemisch-toxikologischen Untersuchungen des IRM stellten über die vom Beschwerdegegner angegebenen Drogen hinaus den Konsum weiterer Drogen (Amphetamin, MDMA) fest. Im Weiteren wurde im Gutachten der Verdacht auf eine starke Gewöhnung des Beschwerdegegners an die konsumierten Drogen geäussert und abschliessend dringend eine Überprüfung seiner Fahreignung durch die Administrativbehörde empfohlen.
Dass die Administrativbehörde aufgrund der ihr im Juni 2001 bekannten Umstände - vom bzw. von den zwei Gutachten des IRM hat sie wohl erst nach Zustellung der Strafakten Mitte Juli 2001 erfahren - abklären liess, ob der Beschwerdegegner drogenabhängig sei, ist selbstredend nicht zu beanstanden. Wenn das Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt aber eine solche Abklärung für erforderlich hielt, hätte es, wie das beschwerdeführende Amt zu Recht geltend macht, sich nicht mit dieser ärztlichen Bestätigung begnügen dürfen. Der Hausarzt machte darin insbesondere keine Angaben darüber, seit wann der Beschwerdegegner von ihm betreut worden war (Frage 1 auf dem Formular). Zudem hätte dem Amt auffallen müssen, dass auf dem vorgedruckten Formular "Ärztliches Zeugnis betr. Fahreignung nach Drogenkonsum" auch die Frage nach der Fahreignung unbeantwortet blieb. Erst recht hätte das Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt nach Erhalt des IRM-Gutachtens vom 10. April 2001 betreffend die chemisch-toxikologischen Untersuchungen
BGE 128 II 335 S. 339
Anlass genug gehabt, an der Fahreignung des Beschwerdegegners ernsthaft zu zweifeln und der dringenden Empfehlung des IRM zur Einholung eines entsprechenden Fachgutachtens nachzukommen.
Unter den oben genannten Umständen erweisen sich die Abklärungen der Administrativbehörden als offensichtlich unvollständig. Nicht erst die Vorinstanz, sondern schon das Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt hätte ein verkehrsmedizinisches und -psychologisches Gutachten durch ein spezialisiertes Institut anordnen müssen - dies spätestens nach Erhalt des Gutachtens des IRM vom 10. April 2001 durch die Zustellung der Strafakten Mitte Juli 2001. Zu diesem Zeitpunkt hätte es auch unverzüglich prüfen müssen, ob die Voraussetzungen für die vorsorgliche Abnahme des Führerausweises gegeben gewesen wären. Indem sowohl das Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt als auch die Vorinstanz auf die Einholung eines Fachgutachtens verzichteten, haben sie ihre Ermittlungspflicht verletzt (vgl.
BGE 127 II 122
E. 4b;
BGE 120 Ib 305
E. 4d und 5a). Die Beschwerde erweist sich somit als begründet.
d) Die Dauer des Warnungsentzugs von fünfzehn Monaten ist unbestritten. Sollte die Abklärung des Sachverständigen ergeben, dass beim Beschwerdegegner kein Eignungsmangel vorliegt und deshalb ein Sicherungsentzug nicht erforderlich ist, bleibt es beim angefochtenen Entscheid.
5.
Die Abklärungen der Vorinstanz sind unvollständig. Dies führt, wenn das Bundesgericht nicht selbst in der Sache entscheidet, zur Aufhebung und Rückweisung der Sache. (...)
6.
Im Hinblick auf die in solchen oder ähnlichen Fällen notwendige Koordinierung der Tätigkeit der Strafverfolgungsbehörden einerseits und der Führerausweisentzugsbehörden andererseits sollte der Kanton Bern dafür besorgt sein, dass zukünftig die vom IRM im Auftrag der Strafverfolgungsbehörden erstellten Gutachten unverzüglich an das Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt weitergeleitet werden. Darüber hinaus wird das Bundesamt für Strassen (ASTRA) eingeladen, den Erlass entsprechender Empfehlungen zuhanden aller Kantone zu prüfen. | 1,269 | 947 | 2 | 0 | CH_BGE_004 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_004_BGE-128-II-335_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=19&from_date=&to_date=&from_year=2002&to_year=2002&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=188&highlight_docid=atf%3A%2F%2F128-II-335%3Ade&number_of_ranks=303&azaclir=clir | BGE_128_II_335 |
|||
ed9126bd-0413-4b42-b7da-1929f8f67484 | 2 | 84 | 1,344,805 | null | 2,024 | fr | Sachverhalt
ab Seite 282
BGE 127 V 281 S. 282
A.-
Le 16 juillet 1998, trente-deux caisses-maladie, toutes représentées par la Fédération vaudoise des assureurs-maladie (ci-après: FVAM), ont requis la constitution du Tribunal arbitral des assurances du canton de Vaud dans le litige qui les oppose au docteur P., médecin, auquel elles réclament la restitution d'une somme de 122'000 francs avec intérêt à 5% l'an dès le 1er juillet 1996 au titre d'honoraires reçus à tort.
Après l'échec de la tentative de conciliation, le tribunal arbitral a été constitué. D'entrée de cause, le défendeur a contesté la recevabilité de la demande et, après un échange de mémoires complémentaires à ce sujet, les parties ont convenu, avec l'accord du tribunal, que celui-ci statuerait à titre préjudiciel sur cette seule question.
B.-
Par jugement du 4 novembre 1999, le tribunal arbitral a déclaré la demande irrecevable et mis les frais de la cause, par 3000 francs, à la charge des demanderesses sans allouer de dépens.
C.-
Les demanderesses, toujours représentées par la FVAM, interjettent recours de droit administratif contre ce jugement dont elles requièrent l'annulation, en invitant le Tribunal fédéral des assurances à déclarer recevable leur demande et à mettre les frais de la cause ainsi qu'une indemnité de dépens de 5000 francs à la charge "des défendeurs" (sic).
Le docteur P. conclut, sous suite de dépens, au rejet du recours. De son côté, l'Office fédéral des assurances sociales ne s'est pas déterminé. | 587 | 286 | Erwägungen
Extrait des considérants:
4.
Aux termes de l'
art. 56 al. 1 et 2 LAMal
:
"1 Le fournisseur de prestations doit limiter ses prestations à la mesure exigée par l'intérêt de l'assuré et le but du traitement.
2 La rémunération des prestations qui dépassent cette limite peut être refusée. Le fournisseur de prestations peut être tenu de restituer les sommes reçues à tort au sens de la présente loi. Ont qualité pour demander la restitution:
a. l'assuré ou, conformément à l'article 89, 3e alinéa, l'assureur dans le système du tiers garant (art. 42, 1er al.);
b. l'assureur dans le système du tiers payant (art. 42, 2e al.)"
BGE 127 V 281 S. 283
D'après les premiers juges, "au regard de l'
art. 56 LAMal
(...) la démarche des demandeurs ne paraît plus possible contrairement à la pratique en vigueur sous l'empire de la LAMA. C'est en effet, conformément à l'
art. 56 al. 2 LAMal
, à chaque assuré individuellement, représenté par son assureur - dans le système du tiers garant (
art. 89 al. 3 LAMal
) - et à chaque assureur - conformément au système du tiers payant - qu'il incombe d'intervenir auprès du fournisseur de prestations concerné, dans la mesure où il n'aurait pas respecté le principe de l'économicité du traitement". Cette thèse se fonde apparemment sur un arrêt de la Cour de cassation pénale du Tribunal fédéral qui a considéré que l'assuré qui, au lieu de payer la facture d'un prestataire de soins médicaux (en l'occurrence une clinique), utilise à d'autres fins l'argent versé par sa caisse-maladie, ne se rend pas coupable d'abus de confiance au sens de l'ancien
art. 140 CP
(
ATF 117 IV 256
). Dès lors, en concluent les juges cantonaux, dans le système du tiers garant, comme ce n'est pas la caisse mais l'assuré qui rétribue le fournisseur de prestations, ce n'est pas elle non plus qui peut exiger de ce dernier la restitution d'une somme qu'elle ne lui a pas versée; ainsi, la demande est irrecevable.
Les recourantes contestent ce point de vue et soutiennent qu'en édictant l'
art. 56 al. 2 LAMal
le législateur n'entendait pas modifier le régime fondé sur l'
art. 23 LAMA
qui, comme cela ressort du texte de la disposition, reconnaît à l'assureur un droit propre à agir contre un fournisseur de prestations même dans le système du tiers garant (
art. 56 al. 2 let. a LAMal
). Selon elles, il s'agit d'un droit fondé sur une cession légale de la créance de l'assuré en faveur de l'assureur. Au demeurant, toujours selon les recourantes, on parviendrait à la même conclusion en se fondant sur la volonté du législateur telle qu'on peut la dégager des travaux préparatoires. Si l'on devait suivre la thèse des premiers juges, cela conduirait à une différence de traitement insoutenable entre les fournisseurs de prestations - notamment les médecins - liés aux fédérations cantonales de caisses-maladie par une convention instaurant le système du tiers payant et les autres. Le contrôle du caractère économique du traitement médical serait rendu totalement illusoire.
Quant à l'intimé dont la thèse a, pour l'essentiel, été suivie par le tribunal arbitral, il se réfère lui aussi à l'arrêt précité de la Cour de cassation pénale du Tribunal fédéral et conteste l'existence d'un droit propre de l'assureur pour agir en restitution du trop-perçu dans le système du tiers garant. Il s'appuie en particulier sur un article de
BGE 127 V 281 S. 284
son arbitre, le professeur honoraire JEAN-LOUIS DUC, La polypragmasie sous l'empire de l'article 23 LAMA et au regard de l'article 56 LAMal (in: Etudes de droit social, Cahiers genevois et romands de sécurité sociale [CGSS], Hors série no 3 (2001), p. 107-114), dont l'opinion a convaincu le tribunal arbitral vaudois.
5.
a) Le texte de l'
art. 56 al. 2 let. a LAMal
- dont l'interprétation est au centre du présent litige - est issu, pratiquement sans changement, de l'art. 48 al. 2 let. a du projet du Conseil fédéral du 6 novembre 1991 (FF 1992 I 260), lui-même repris, avec quelques modifications purement rédactionnelles, de l'art. 41 al. 2 let. a du projet de la commission d'experts du 2 novembre 1990 (p. 124-125). Cette dernière s'exprimait ainsi qu'il suit dans son rapport (p. 67 et ss):
"Comme actuellement (
art. 23 LAMA
) dans chaque cas particulier, on se fondera sur l'intérêt de l'assuré et le but du traitement pour déterminer dans quelle mesure une prestation doit être prise en charge par l'assurance obligatoire des soins. Les fournisseurs de prestations doivent s'en tenir à cette limite (...). Si, pour des prestations qui dépassent la limite, des rémunérations ont déjà été payées, leur restitution peut être demandée. A le droit de demander la restitution, dans le système du tiers payant, l'assureur et, dans celui du tiers garant, l'assuré ou l'assureur. En cas de litige avec le fournisseur de prestations, l'assureur, dans le système du tiers garant, doit, à ses frais, représenter l'assuré."
Ce passage est repris, pour l'essentiel, dans le message du Conseil fédéral à l'appui de l'art. 48 du projet de loi (FF 1992 I 171).
b) D'après l'
art. 32 al. 1 LAMal
, les prestations mentionnées aux art. 25 à 31 LAMal doivent être efficaces, appropriées et économiques. L'exigence du caractère économique des prestations ressort également de l'
art. 56 al. 1 LAMal
, selon lequel le fournisseur de prestations doit limiter ses prestations à la mesure exigée par l'intérêt de l'assuré et le but du traitement. Comme le Tribunal fédéral des assurances l'a déjà relevé à propos de l'
art. 23 LAMA
(dont le contenu était analogue), les caisses sont en droit de refuser la prise en charge de mesures thérapeutiques inutiles ou de mesures qui auraient pu être remplacées par d'autres, moins onéreuses; elles y sont d'ailleurs obligées, dès lors qu'elles sont tenues de veiller au respect du principe de l'économie du traitement (FRANÇOIS-X. DESCHENAUX, Le précepte de l'économie du traitement dans l'assurance-maladie sociale, en particulier en ce qui concerne le médecin, in: Mélanges pour le 75ème anniversaire du TFA, Berne 1992, p. 537). Ce principe ne concerne pas uniquement les relations entre caisses et fournisseurs de soins, il est également opposable à
BGE 127 V 281 S. 285
l'assuré, qui n'a aucun droit au remboursement d'un traitement non économique (
ATF 125 V 98
consid. 2b et la jurisprudence citée). Pour l'essentiel, ces principes conservent leur valeur sous le régime du nouveau droit (SVR 1999 KV no 6 p. 12 consid. 7 non publié aux
ATF 124 V 128
).
c) L'
art. 23 LAMA
, dont s'inspire l'
art. 56 LAMal
, ne contenait pas de prescription formelle sur l'obligation de restitution du fournisseur de prestations et notamment du médecin. C'est ce qui avait amené le Tribunal fédéral des assurances, dans un arrêt fondamental du 31 décembre 1969 (K 24/69), à juger ce qui suit:
"Das geltende KUVG enthält über die Rückerstattungspflicht keine Vorschriften. Auch die bundesrätliche Botschaft äussert sich dazu nicht. Allein der geltende Art. 23 KUVG verpflichtet die Ärzte zur wirtschaftlichen Behandlungsweise im bereits umschriebenen Rahmen und stellt damit eine Schutzvorschrift für die Versicherten und die Kassen dar. Diese sind gemäss Art. 3 Abs. 3 KUVG verpflichtet, die Krankenversicherung nach den Grundsätzen der Gegenseitigkeit zu betreiben. Sie müssen ferner Sicherheit dafür bieten, dass sie die übernommenen Verpflichtungen erfüllen können (Art. 3 Abs. 4 KUVG). Zur Verwirklichung des Prinzips der Gegenseitigkeit und zur Garantie ihrer Leistungsfähigkeit haben die Kassen dafür zu sorgen, dass die Ärzte die Pflicht zur wirtschaftlichen Behandlungsweise befolgen. Dieser Aufgabe könnten sie nicht hinreichend gerecht werden, wenn es ihnen bloss gestattet wäre, eine unwirtschaftliche Behandlung im voraus abzulehnen, was ohnehin praktisch selten genug zutreffen dürfte. Vielmehr muss ihnen auch die Möglichkeit offenstehen, Zahlungen für pflicht- und rechtswidrige Behandlung zu verweigern. Folgerichtig dürfen bereits erbrachte Leistungen zurückgefordert werden, wenn sich nachträglich ergibt, dass sie zu Unrecht bezogen worden sind. Andernfalls wäre Art. 23 KUVG - auch ungeachtet des Art. 24 über den Ausschluss von Ärzten - weitgehend illusorisch. Die Kassen sind, mit andern Worten, gegenüber der Gesamtheit ihrer Versicherten gehalten, unrechtmässig erfolgte Leistungen wieder einzutreiben, damit der von Art. 23 zwingend geforderte gesetzliche Zustand verwirklicht und gegebenenfalls wieder hergestellt wird. - Indirekt geht übrigens auch Art. 25 Abs. 3 KUVG davon aus, dass der Kasse ein Rückforderungsanspruch gegenüber den Ärzten zusteht, bestimmt er doch, dass das Schiedsgericht auch zuständig ist, wenn das Honorar vom Versicherten geschuldet wird, und dass die Kasse zur selbständigen Prozessführung ermächtigt ist, ohne Rücksicht darauf, ob die Rechnung vom Versicherten als Honorarschuldner bereits bezahlt worden ist."
(RSKV 1970 no 65 p. 85 ss consid. 2, traduit en français au RJAM 1970 p. 85 ss consid. 2).
Cette jurisprudence, plusieurs fois confirmée depuis lors (cf.
ATF 103 V 151
consid. 3 et les arrêts cités à la fin de ce consid.), fonde un droit propre des caisses-maladie à exiger d'un fournisseur de
BGE 127 V 281 S. 286
prestations la restitution des sommes qu'il a perçues indûment, même lorsque celles-ci lui ont été versées par l'assuré et non par la caisse (système du tiers garant) et fût-ce contre la volonté de cet assuré (RJAM 1980 no 393 p. 3; cf. aussi
ATF 121 V 318
consid. 4b). On peut déduire des travaux préparatoires de la LAMal mentionnés plus haut que l'
art. 56 al. 2 let. a LAMal
codifie cette pratique, ce qui ressort également de l'
art. 89 al. 3 LAMal
auquel il renvoie. Cette dernière disposition reprend en effet la règle qui figurait auparavant à l'
art. 25 al. 3 LAMA
(cf. FF 1992 I 189ss; voir aussi l'arrêt
ATF 124 V 130
et GEBHARD EUGSTER, Krankenversicherung, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], ch. 416 et 417), auquel se référait le Tribunal fédéral des assurances dans l'arrêt précité. Dès lors, contrairement à ce que soutiennent les juges cantonaux et l'intimé à la suite de l'opinion exprimée par DUC dans l'article précité, l'
art. 56 al. 2 let. a LAMal
n'a nullement instauré un nouveau principe, d'après lequel, dans le système du tiers garant au sens de l'
art. 42 al. 1 LAMal
, seul l'assuré serait en droit d'exiger du fournisseur de prestations la restitution de la rémunération qu'il lui a versée, lorsque celle-ci dépasse la limite fixée par l'
art. 56 al. 1 LAMal
. On ne trouve rien de tel dans les travaux préparatoires de la loi et c'est même faire violence au texte de celle-ci que d'affirmer le contraire.
d) Dans plusieurs arrêts relatifs à l'
art. 23 LAMA
, la Cour de céans a souligné qu'il ne saurait être question d'exiger de chaque caisse séparément qu'elle entame contre le fournisseur de prestations en cause une action en restitution du trop-perçu. Une disposition de procédure cantonale qui ferait obstacle à une action collective menée de front par plusieurs caisses-maladie et fondée sur les statistiques du Concordat des assureurs-maladie suisses (CAMS) serait contraire au droit fédéral. Ainsi, les caisses, représentées le cas échéant par leur fédération cantonale, peuvent introduire une demande globale de restitution à l'encontre d'un fournisseur de prestations et, à l'issue de la procédure, se partager le montant obtenu à titre de restitution des rétributions perçues sans droit (arrêt non publié C. du 11 juillet 1996 [K 39/95] consid. 5d qui se réfère lui-même à l'arrêt non publié S. du 29 octobre 1993 [K 101/92]).
Par identité de motifs, ces mêmes principes s'appliquent lorsque plusieurs assureurs s'unissent pour agir à l'encontre d'un fournisseur de prestations, dans le cadre de l'
art. 56 al. 2 let. a LAMal
. Dès lors, on ne saurait non plus suivre les juges cantonaux lorsqu'ils considèrent que la demande des recourantes est irrecevable au motif
BGE 127 V 281 S. 287
"qu'il ne peut s'agir d'une représentation générale par un consortium de caisses, même nommément désignées, d'un groupe d'assurés forcément anonymes".
6.
Sur le vu de ce qui précède, c'est à tort que le tribunal arbitral a déclaré irrecevable la demande des trente-deux caisses-maladie recourantes dirigée contre l'intimé. En conséquence, le jugement attaqué doit être annulé et la cause renvoyée audit tribunal pour jugement sur le fond. | 4,389 | 2,430 | 2 | 0 | CH_BGE_007 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_007_BGE-127-V-281_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=13&from_date=&to_date=&from_year=2001&to_year=2001&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=125&highlight_docid=atf%3A%2F%2F127-V-281%3Ade&number_of_ranks=284&azaclir=clir | BGE_127_V_281 |
|||
ed9824fc-0343-45c1-a4d1-f5edb6e29e7d | 2 | 78 | 1,344,956 | null | 2,024 | fr | Sachverhalt
ab Seite 193
BGE 81 I 192 S. 193
A.-
Dans le canton de Fribourg, l'initiative constitutionnelle exigée par l'art. 6 litt. c Cst. féd. est réglée par les
art. 78 à 82
de la Cst. frib. et par les
art. 1 à 9
et 28 à 40 de la loi cantonale du 13 mai 1921 sur l'exercice du droit d'initiative constitutionnelle et législative des citoyens et du droit de referendum. Ces dispositions instituent en bref le système suivant:
Une demande d'initiative est déposée. Elle ne peut comprendre qu'un seul objet, exactement déterminé, et doit être signée par vingt-cinq citoyens au moins (art. 2 et 3 de la loi). Elle est publiée par le Conseil d'Etat, qui fixe un délai de quatre-vingt-dix jours pendant lequel 6000 signatures au moins doivent être recueillies (art. 79 ch. 1 Cst. frib., 1 et 4 de la loi cantonale). A l'expiration de ce délai, le Grand Conseil est saisi et se prononce sur la validité de la demande d'initiative (art. 5 et 6 de la loi). Il soumet ensuite au peuple la question de savoir si la constitution doit être revisée (art. 79 al. 2 Cst. frib. et 6 de la loi). Lorsque cette question est résolue affirmativement, la revision est entreprise par le Grand Conseil si
BGE 81 I 192 S. 194
elle est partielle et par une constituante si elle est totale (art. 80 et 82 Cst. frib. et 9 de la loi). Enfin, le peuple se prononce sur la constitution ou les dispositions constitutionnelles revisées (art. 81 et 82 Cst. frib.).
B.-
Le 29 janvier 1953, trente-cinq citoyens, parmi lesquels notamment Georges Gremaud, ont déposé à la Chancellerie d'Etat du canton de Fribourg une demande d'initiative tendant à la revision partielle de la constitution en ce qui concerne le secret du vote, le droit d'initiative et de referendum, l'élection des députés au Conseil des Etats, le quorum électoral, le nombre des conseillers d'Etat, la couverture des dépenses extraordinaires et l'incompatibilité entre certaines fonctions. La Chancellerie a publié le texte de cette demande dans la Feuille officielle des 7 et 14 février 1953. Le 13 février 1953, le Conseil d'Etat a pris un arrêté fixant le point de départ du délai de quatre-vingt-dix jours pour la récolte des signatures. Le 31 juillet 1953, il a saisi le Grand Conseil en l'informant que 9176 citoyens avaient valablement signé la demande d'initiative et en le priant de "procéder ultérieurement conformément à la loi". Le Grand Conseil a examiné cet objet dans sa séance du 25 novembre 1953. L'un des députés ayant fait valoir que la demande d'initiative violait le principe de l'unité d'objet (appelée aussi unité de la matière), l'affaire a été renvoyée à l'examen d'une commission spéciale. Après avoir pris l'avis du professeur Giacometti, cette commission a proposé au Grand Conseil de dire que la demande d'initiative populaire du 29 janvier 1953 ne respectait pas le principe de l'unité d'objet et que, partant, elle était nulle. Le Grand Conseil a adopté cette proposition le 18 novembre 1954.
C.-
Georges Gremaud et consorts portent cette décision du Grand Conseil devant le Tribunal fédéral par la voie d'un recours de droit public. Ils se plaignent d'une violation des
art. 78 à 82
Cst. frib. et soutiennent en bref ce qui suit:
Le Conseil d'Etat est seul compétent pour contrôler la
BGE 81 I 192 S. 195
validité de la demande d'initiative signée de vingt-cinq citoyens au moins. En l'espèce, il a implicitement admis cette validité. Dès lors, le Grand Conseil était lié et ne pouvait revoir cette question, ni annuler "la demande d'initiative populaire du 29 janvier 1953", c'est-à-dire le texte signé par trente-cinq citoyens. Il n'avait de pouvoir que pour examiner l'initiative appuyée par 9176 citoyens. Or celle-ci est incontestablement valable. Sans doute lui a-t-on reproché de violer le principe de l'unité d'objet. Mais ce grief ne saurait être retenu. En effet, le principe de l'unité est lui-même contraire à la constitution fribourgeoise et, supposé qu'il ne le soit pas, sa violation ne peut entraîner la nullité de l'initiative.
Le Grand Conseil et le Conseil d'Etat du canton de Fribourg concluent au rejet du recours. | 999 | 865 | Erwägungen
Considérant en droit:
1.
Les recourants - cela n'est pas contesté - sont des citoyens actifs du canton de Fribourg. Ils se plaignent d'une violation du droit d'initiative garanti par la constitution cantonale. Dès lors, conformément à la jurisprudence, ils ont qualité pour interjeter au Tribunal fédéral le recours de droit public prévu par l'art. 85 litt. a OJ (RO 59 I 122; arrêt du 13 février 1947 dans la cause Glasson c. Fribourg, consid. 1, non publié). Ils ne sauraient prétendre d'autre part que le Conseil d'Etat n'a pas le droit d'agir au nom du Grand Conseil, car, dans ces matières, le Tribunal fédéral a toujours considéré le gouvernement comme habilité à représenter le parlement cantonal (RO 45 I 64/65, consid. 2, arrêt Glasson précité, consid. 1).
2.
En sa qualité de juridiction compétente pour statuer sur le recours de droit public des art. 84 et 85 OJ, le Tribunal fédéral n'a en principe d'autre pouvoir que celui d'annuler les décisions cantonales contraires à une règle constitutionnelle. Dans la mesure donc où les conclusions des recourants excèdent ce pouvoir, elles sont irrecevables (RO 80 I 313/314;
77 I 2
, 217/218).
BGE 81 I 192 S. 196
3.
Les recourants se plaignent d'une violation du droit constitutionnel fribourgeois, Ils ne font état de certaines dispositions de la loi de 1921 qu'à l'appui de ce moyen. Ainsi, il s'agit uniquement d'interpréter le droit constitutionnel cantonal. Dans ces conditions, le Tribunal fédéral a plein pouvoir d'examen. Toutefois, en pareille hypothèse, il ne s'écarte pas sans nécessité de l'interprétation adoptée par l'autorité cantonale supérieure (RO 75 I 245; arrêt non publié du 9 février 1955, dans la cause Babel c. Genève, Conseil d'Etat, ainsi que les nombreux arrêts cités).
4.
Le Grand Conseil a déclaré nulle "la demande d'initiative du 29 janvier 1953", c'est-à-dire la demande signée par trente-cinq citoyens. Les recourants soutiennent qu'il n'était pas compétent pour le faire et que cette décision rentrait dans les attributions du Conseil d'Etat. Cependant cet argument n'est pas fondé. C'est en effet le peuple qui a qualité pour demander la revision de la constitution par voie d'initiative populaire (art. 79 Cst. frib.). Dès lors, une autorité représentative ou exécutive ne peut déclarer sans effet la volonté exprimée par certains citoyens qu'en vertu d'une disposition claire de la loi. Or il n'existe pas de disposition de ce genre en ce qui concerne le Conseil d'Etat. D'après la loi de 1921 (art. 28, 39, 40), celui-ci se borne, en matière d'initiative, à publier la demande, à fixer le délai de 90 jours, à édicter les mesures d'exécution nécessaires pour l'apposition des signatures, à rechercher le nombre de signatures valables et à publier le résultat du dépouillement dans la Feuille officielle. En revanche, à la différence du Grand Conseil, il n'est pas tenu par une disposition légale expresse de contrôler la validité de la demande d'initiative. Aussi bien n'a-t-il pas examiné cette question en l'occurrence.
Les recourants en déduisent, il est vrai, que le Conseil d'Etat a ainsi implicitement admis la validité de la demande d'initiative signée de trente-cinq citoyens, que sa décision sur ce point liait le Grand Conseil et que, dès lors, celui-ci
BGE 81 I 192 S. 197
ne pouvait plus examiner que la demande d'initiative portant les 9176 signatures. Toutefois, cette argumentation ne résiste pas davantage à l'examen. Pour qu'elle puisse être accueillie, il faudrait qu'il y ait des raisons impérieuses de considérer d'une part que le Conseil d'Etat a des compétences propres au sujet de la validité de l'initiative, d'autre part qu'il convient de faire une nette distinction entre deux stades de la procédure d'initiative, la demande des vingt-cinq citoyens et celle des six mille. Or, ainsi qu'on l'a vu, les pouvoirs du Conseil d'Etat ne s'étendent pas à l'examen de la validité de l'initiative. Quant à la distinction entre la demande des vingt-cinq citoyens et celle des six mille, le Grand Conseil ne la fait pas. Il considère bien plutôt la procédure d'initiative comme un tout et son interprétation ne peut en tout cas pas être qualifiée d'anticonstitutionnelle.
5.
L'art. 2 de la loi de 1921 consacre, dans le domaine de l'initiative, le principe de l'unité d'objet. Il dispose que "la demande d'initiative ne peut comprendre qu'un seul objet, exactement déterminé, et doit tendre à la revision totale ou partielle de la constitution". Les recourants considèrent que cette disposition est anticonstitutionnelle. En effet, disent-ils, la constitution fribourgeoise ignore la règle de l'unité d'objet et, en l'introduisant dans la loi de 1921, le législateur a restreint l'exercice du droit d'initiative.
Du moment que les recourants agissent à propos d'un cas particulier où l'autorité a appliqué l'art. 2 de la loi, ils sont recevables à attaquer, pour appuyer leur argument principal, la constitutionnalité de cette disposition, bien qu'ils soient hors délai pour recourir contre la loi elle-même (RO 80 I 137). Autre chose est de savoir si le moyen qu'ils soulèvent ainsi est fondé. A ce propos, il convient de rappeler que l'art. 79 Cst. frib. se borne à disposer que "la revision totale ou partielle peut avoir lieu... lorsqu'elle est demandée, suivant les prescriptions de la loi, par 6000 citoyens actifs au moins". Le constituant n'a donc
BGE 81 I 192 S. 198
en aucune manière limité l'objet du droit d'initiative. Par conséquent, l'art. 2 de la loi de 1921 serait inconstitutionnel s'il restreignait l'exercice du droit d'initiative à certains domaines. Mais tel n'est manifestement pas le cas. Contrairement à l'opinion des recourants, la règle de l'unité d'objet vise non le fond mais la forme dans laquelle l'initiative doit être présentée. Elle constitue une des règles de procédure que les citoyens doivent suivre pour obtenir la revision de leur constitution et signifie simplement qu'il faut déposer autant de demandes d'initiative qu'il y a d'objets de revision en vue. En revanche, elle ne restreint pas les possibilités de revision à un nombre limité d'objets; elle n'empêche pas les citoyens de demander n'importe quelle revision de la constitution, partant elle ne limite pas le contenu ou l'objet du droit d'initiative et n'est pas contraire à la constitution.
Tout au plus la règle de l'unité pourrait-elle restreindre le droit d'initiative si son application à la récolte des signatures était exclue par l'art. 79 Cst. frib., autrement dit si cette disposition garantissait la revision de la constitution sans exiger que les 6000 signatures requises visent toutes le même objet. Toutefois le Grand Conseil n'admet pas pareille interprétation. A son avis, la règle de l'unité d'objet signifie non seulement qu'à la suite d'une initiative ayant réuni 6000 signatures, le peuple doit être appelé à voter sur un seul objet, mais aussi que, lors de la récolte de ces signatures, un objet unique par demande d'initiative doit être soumis aux citoyens. Ce système, qui contribue à assurer une manifestation exacte de la volonté populaire, n'est pas contraire à la constitution.
Tout en admettant que la votation populaire doit porter sur un seul objet, les recourants voudraient, pour récolter les signatures, pouvoir proposer aux citoyens des buts divers. C'est là une autre interprétation de la constitution. Toutefois, elle ne s'impose pas, car elle est moins logique que celle du Grand Conseil et n'assure pas une manifestation aussi exacte de la volonté populaire. En effet, c'est un
BGE 81 I 192 S. 199
fait d'expérience que le citoyen signe volontiers une demande d'initiative lorsqu'il approuve certains des buts poursuivis et même s'il est opposé aux autres. Quand 6000 signatures sont récoltées dans de telles conditions, la volonté manifestée ne signifie donc pas toujours que chacun des 6000 signataires appuie toutes les requêtes présentées dans l'initiative. Dès lors, la manifestation de volonté est faussée.
Rien ne servirait d'objecter que l'art. 82 al. 2, 3 et 4 Cst. frib., relatif à la revision partielle, fait allusion aux "articles à reviser". En dépit de ce que croient les recourants, l'existence de ce pluriel ne signifie pas nécessairement que, d'après le texte même de la constitution, la revision partielle peut porter sur divers objets. Il est évident en effet qu'un objet unique pourrait entraîner la modification de plusieurs articles. Les recourants en fournissent eux-mêmes un exemple par le point 3 de leur demande d'initiative, qui vise l'élection des députés au Conseil des Etats par le peuple et suppose la revision des art. 29 al. 1 et 45 litt. h Cst. frib.
Il serait tout aussi vain de soutenir, comme le font les recourants, que la règle de l'unité d'objet ne vaut qu'à l'intérieur de chaque article constitutionnel nouveau et que dès lors elle n'empêche pas de requérir la modification de plusieurs dispositions, pourvu que chacune d'elles vise un objet unique. Le Grand Conseil est d'une opinion différente à ce sujet. Il estime que le principe de l'unité concerne la demande d'initiative elle-même, envisagée comme un tout. Or cette interprétation n'est pas contraire à la constitution cantonale.
Enfin, les recourants ne sauraient tirer argument des diverses revisions partielles que la constitution fribourgeoise a subies jusqu'à ce jour. En effet, les revisions de 1884-1885 et 1943-1948, provoquées par une initiative populaire, ne visaient qu'un seul objet, la première la nomination des syndics par les communes et la seconde l'introduction du referendum financier facultatif. Quant aux
BGE 81 I 192 S. 200
autres revisions (1872-1874, 1891-1894, 1917-1921, 1947-1950), si elles ont pour la plupart porté sur plusieurs objets chacune, elles ont eu cependant leur origine non dans une initiative populaire mais dans un décret du Grand Conseil (J. CASTELLA, L'organisation des pouvoirs politiques dans les constitutions du canton de Fribourg, p. 266-289). Or l'art. 2 de la loi de 1921, qui institue la règle de l'unité d'objet, n'est applicable qu'à l'initiative constitutionnelle populaire et non à la procédure de revision décrétée par le Grand Conseil. Malgré ce que paraissent croire les recourants, cette différence peut se justifier par de sérieuses raisons. En effet, la revision décrétée par le Grand Conseil ne comprend pas la récolte de 6000 signatures au moins. Il n'y a donc pas de risque de fausser la volonté que le peuple exprime en demandant l'introduction de la procédure de revision proprement dite. Tout au plus la volonté populaire pourrait-elle être faussée si, lors de la votation sur le principe de la revision ou sur les dispositions constitutionnelles revisées, le Grand Conseil soumettait en même temps au peuple des objets différents. Mais les recourants n'allèguent pas que tel ait été le cas depuis l'entrée en vigueur de la loi de 1921. En fait d'ailleurs, la revision de 1947-1950, qui a été décrétée par le Grand Conseil, ne visait que la modification des cercles électoraux et respectait ainsi le principe de l'unité d'objet.
Dans ces conditions, le moyen que les recourants entendent tirer d'une prétendue inconstitutionnalité de l'art. 2 de la loi de 1921 n'est pas fondé.
6.
Le Grand Conseil a déclaré la demande d'initiative nulle parce qu'elle violait le principe de l'unité d'objet. Les recourants soutiennent qu'une inobservation de cette règle ne saurait entraîner la nullité de l'initiative, mais doit simplement amener le Grand Conseil à ordonner une votation séparée sur chacun des objets visés par la demande.
Ainsi que cela résulte du considérant 5 ci-dessus, la règle de l'unité n'est pas contraire à la constitution fribourgeoise. Il est constant d'autre part qu'elle n'a pas été
BGE 81 I 192 S. 201
respectée en l'espèce. Il s'agit dès lors simplement de rechercher s'il y a des raisons impérieuses de penser qu'en droit constitutionnel fribourgeois, cette irrégularité ne doit pas être sanctionnée par la nullité de l'initiative.
A cet égard, il faut relever tout d'abord que le droit fribourgeois ne contient aucune règle expresse indiquant la sanction à prendre lorsque la règle de l'unité d'objet est violée. Il ne contient pas davantage de disposition dont l'interprétation permette d'admettre que cette sanction doit être la nullité de l'initiative ou, au contraire, une votation séparée sur chacun des objets de la demande. En particulier, les art. 78 et 79 Cst. frib. ne fournissent à ce sujet aucune indication décisive dans un sens ou dans l'autre.
Il n'existe pas non plus un principe général du droit constitutionnel prescrivant la sanction à prendre en pareil cas. La question est au contraire fort discutée. Dans la doctrine, certains auteurs se prononcent nettement en faveur de la nullité, tout au moins quant à l'initiative dans le domaine fédéral (FLEINER/GIACOMETTI, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, p. 733; GIACOMETTI, Die Einheit der Materie als formelle Voraussetzung der Volksanregung auf Partialrevision der Bundesverfassung und die Kriseninitiative, SJZ 32, p. 93 ss., spéc. p. 96; BÜELER, Die Entwicklung und Geltendmachung des schweizerischen Volks-Initiativrechtes, p. 66). D'autres auteurs expriment une opinion plus nuancée et affirment que la sanction de la nullité doit être prononcée avec mesure (Burckhardt, Commentaire, p. 816) ou seulement lorsque l'initiative ayant plusieurs objets ne peut être divisée sans en modifier le sens (VON WALDKIRCH, Die Mitwirkung des Volkes bei der Rechtsetzung nach dem Staatsrecht der schweizerischen Eidgenossenschaft und ihrer Kantone, p. 18/19). Dans son arrêt RO 48 I 164, le Tribunal fédéral a reconnu au Grand Conseil bernois le pouvoir d'examiner la validité d'une demande d'initiative et de refuser éventuellement de la soumettre à une votation populaire. En
BGE 81 I 192 S. 202
revanche, le Conseil fédéral est d'un avis opposé; il estime qu'une initiative qui a plusieurs objets différents et viole par conséquent la règle d'unité de l'art. 121 al. 3 Cst. féd. ne doit pas être déclarée non valable, mais divisée par l'Assemblée fédérale suivant ses objets (FF 1920 IV 208, 1954 p. 712).
Dans ces conditions et contrairement à ce que pensent les recourants, le Grand Conseil n'était pas tenu d'opter nécessairement pour une autre sanction que l'invalidité. Il l'était d'autant moins que sa décision peut se justifier par de bons arguments. En effet, la règle de l'unité, qui vise à assurer une manifestation fidèle et smcère de la volonté populaire, n'atteint véritablement ce but que si son inobservation entraîne la nullité de la demande d'initiative. Sinon, c'est admettre ce que la règle veut empêcher, à savoir que les auteurs de l'initiative puissent réunir des partisans de réformes différentes et atteindre ainsi plus aisément le chiffre de 6000 signatures, en risquant cependant de donner un reflet inexact de l'opinion populaire.
On ne saurait dès lors affirmer que l'annulation d'une demande d'initiative violant la règle de l'unité de l'objet soit contraire au droit constitutionnel fribourgeois. Le moyen soulevé par les recourants sur ce point doit donc être rejeté. | 3,566 | 2,997 | Dispositiv
Par ces motifs, le Tribunal fédéral:
Rejette le recours en tant qu'il est recevable. | 26 | 21 | CH_BGE_001 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_001_BGE-81-I-192_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=12&from_date=&to_date=&from_year=1955&to_year=1955&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=111&highlight_docid=atf%3A%2F%2F81-I-192%3Ade&number_of_ranks=270&azaclir=clir | BGE_81_I_192 |
||
ed9c51f5-6141-4b6f-8417-7834a8cc5460 | 3 | 78 | 1,493,066 | 1,640,995,200,000 | 2,022 | it | Sachverhalt
ab Seite 227
BGE 148 I 226 S. 227
A.
Ottenuta, il 2 maggio 2017, l'aggiudicazione di un pubblico concorso concernente la fornitura e la posa di serramenti in legno-alluminio nell'ambito del risanamento di una scuola dell'infanzia e dopo un iter che non occorre ora rievocare, il 25 settembre 2019 la A. SA è stata sanzionata dal Consiglio di Stato del Cantone Ticino per aver subappaltato, senza il consenso del committente, opere ad una impresa che a sua volta si è rivolta ad un'altra ditta. Nei confronti della società è stata quindi decisa l'esclusione dall'aggiudicazione di tutte le commesse pubbliche soggette alla LCPubb ed al Concordato intercantonale del 25 novembre 1994/15 marzo 2001 sugli appalti pubblici (CIAP; RL/TI 730.500) per la durata di due mesi a decorrere dalla data di pubblicazione della risoluzione nonché la condanna ad una multa di fr. 900.-. È stato altresì stabilito che il dispositivo relativo alla pronuncia dell'esclusione per due mesi andasse pubblicato a cura dell'Ufficio ticinese di vigilanza delle commesse pubbliche nel suo sito internet e nel Foglio ufficiale cantonale.
B.
L'11 gennaio 2021 il Tribunale cantonale amministrativo, al quale la A. SA, senza contestare la materialità dell'infrazione né la sanzione pecuniaria irrogatale si era rivolta chiedendo che l'esclusione pronunciata nei suoi confronti e la relativa pubblicazione sul Foglio ufficiale fossero annullate, ne ha respinto integralmente il ricorso.
C.
Il 15 febbraio 2021 la A. SA ha presentato dinanzi al Tribunale federale un ricorso sussidiario in materia costituzionale contro la decisione del Tribunale cantonale amministrativo.
Il Tribunale federale ha parzialmente accolto il ricorso sulla questione della pubblicazione dell'esclusione nel Foglio ufficiale.
(riassunto) | 664 | 303 | Erwägungen
BGE 148 I 226 S. 228
Dai considerandi:
5.
5.1
La ricorrente fa valere una violazione dell'
art. 13 cpv. 2 Cost.
Adduce che il dispositivo n. 2 della decisione governativa, poi confermato con la sentenza qui avversata, lederebbe gravemente il suo onore siccome renderebbe pubblici dati personali degni di particolare protezione, quali sono i dati concernenti procedure e sanzioni amministrative ai sensi dell'art. 3 lett. c n. 4 della legge federale del 19 giugno 1992 sulla protezione dei dati (LPD; RS 235.1) e dell'art. 4 della legge ticinese del 9 marzo 1987 sulla protezione dei dati personali (LPDP; RL/TI 163.100).
5.2
Ai sensi dell'
art. 13 Cost.
ognuno ha diritto al rispetto della sua vita privata e familiare, della sua abitazione, della sua corrispondenza epistolare, nonché delle sue relazioni via posta e telecomunicazioni (cpv. 1) e ha altresì il diritto d'essere protetto da un impiego abusivo dei suoi dati (cpv. 2). Il diritto all'autodeterminazione informativa, garantito da quest'ultima disposizione nonché dalla legge cantonale sulla protezione dei dati citata in precedenza, assicura di principio al singolo cittadino il dominio sui dati concernenti la sua persona, indipendentemente da quanto essi siano sensibili (
DTF 144 I 281
consid. 6.2 e richiamo). In particolare, sono protette la divulgazione e la diffusione di informazioni contenenti un riferimento identificabile ad una persona (
DTF 144 II 77
consid. 5.2 con riferimenti). Per le persone giuridiche come la ricorrente, in un contesto come quello oggetto della presente causa, la garanzia in questione si traduce in un diritto alla protezione della propria ditta, delle proprie comunicazioni e dei propri dati (
DTF 141 I 201
consid. 4.1), nonché della propria reputazione (
DTF 138 III 337
consid. 6.1;
DTF 114 IV 14
consid. 2a e 2b;
DTF 95 II 481
consid. 4 e rispettivi rinvii); quest'ultima comprende la tutela degli interessi commerciali della società (
DTF 121 III 168
consid. 3a e rinvii; cfr. ugualmente sentenza della CorteEDU
Uj contro Ungheria
del 19 luglio 2011 § 22 nonché HERTIG RANDALL/MARQUIS, in Commentaire romand, Constitution fédérale, 2021, n. 17 ad
art. 13 Cost.
e numerosi riferimenti).
5.3
5.3.1
L'effettività del diritto alla protezione della sfera privata dipende ampiamente dalla sua concretizzazione nel diritto ordinario, in particolare, nel concreto caso, del vecchio art. 45 cpv. 4 della legge sulle commesse pubbliche, nella versione in vigore fino al 31 dicembre 2019 (LCPubb; BU 2019 211). Questa dev'essere applicata
BGE 148 I 226 S. 229
in maniera conforme all'
art. 13 Cost.
, il quale impone agli organi dello Stato non solo di astenersi da una qualsivoglia ingerenza ingiustificata, ma anche di attuare un quadro giuridico appropriato, in grado di assicurare una protezione effettiva delle diverse componenti della sfera privata (cf.
art. 35 cpv. 1 Cost.
; in tal senso vedasi pure HERTIG RANDALL/MARQUIS, op. cit., n. 71 ad
art. 13 Cost.
). A ragione la ricorrente (riferendosi all'art. 3 lett. c n. 4 LPD che tuttavia, va rilevato, può essere richiamato solo per analogia poiché inapplicabile in concreto) sottolinea che l'informazione relativa ad una sanzione amministrativa costituisce un dato sensibile, degno di protezione particolare. Occorre ammettere che la sua divulgazione attraverso il Foglio ufficiale e il sito internet dell'Ufficio di vigilanza sulle commesse pubbliche (in seguito: UVCP) comporta un'ingerenza nella garanzia della protezione della sfera privata della ricorrente, per la quale va quindi esaminato se sono date le condizioni dell'
art. 36 Cost.
(cfr. KIENER/KÄLIN/WYTTENBACH, Grundrechte, 3
a
ed. 2018, pag. 184; BRUNO BAERISWYL, Internet als Fahndungsmittel mit Kollateralschäden, in Sicherheit & Recht 1/2010 pagg. 11 segg.).
5.3.2
La misura in questione si fonda sul vecchio art. 45 cpv. 4 LCPubb, che, come visto, costituisce una base legale in senso formale e che mira essenzialmente a garantire una lotta più efficace agli abusi riscontrati negli appalti pubblici, in particolare nel settore edile attraverso il meccanismo dei subappalti a catena. La ricorrente contesta tuttavia che esista un interesse pubblico a mettere
"alla berlina"
le imprese escluse, divulgando in maniera indiscriminata informazioni così sensibili attraverso il Foglio ufficiale, accessibile a chiunque abbia un accesso a internet. Sostiene che sarebbe come voler pubblicare sul Foglio ufficiale tutti i nominativi di coloro che sono stati condannati per qualsiasi reato amministrativo e/o penale, ciò che sarebbe scioccante e inammissibile. A torto.
A mente di questa Corte, in concreto, in realtà la pubblicazione di una sanzione nell'ambito delle commesse pubbliche per aver violato le disposizioni in materia di subappalto, cui il legislatore cantonale accorda una particolare attenzione per le ragioni già evocate, risponde ad un interesse pubblico di per sé legittimo, che è quello di
"scoraggiare coloro che intendono violare o aggirare abusivamente le norme di legge"
per evitare il riprodursi di casi anche molto gravi di dumping salariale derivanti da una
"degenerazione dei metodi e delle condizioni di lavoro (soprattutto nel settore edile, con in particolare la dinamica dei subappalti a catena)"
(cfr. Rapporto n. 6455
BGE 148 I 226 S. 230
R del 28 settembre 2011 della Commissione della legislazione sul messaggio n. 6455 dell'8 febbraio 2011 concernente la modifica dell'art. 45 della Legge cantonale sulle commesse pubbliche relativo alle sanzioni amministrative, pag. 2). Ne consegue che su questo punto la ricorrente non può essere seguita, poiché la restrizione persegue un interesse di per sé legittimo e deve quindi, in principio, essere tollerata.
5.3.3
Occorre tuttavia che detta restrizione sia anche, con riferimento ai principi che tutelano la protezione dei dati, proporzionale. Per come era formulato nella versione in vigore all'epoca della pronuncia contestata (
"le decisioni... sono rese pubbliche per il tramite del Foglio ufficiale"
), il vecchio art. 45 cpv. 4 LCPubb era tassativo riguardo alla pubblicazione della sanzione e non lasciava alcun margine di apprezzamento all'autorità competente. Tale automatismo appare già di per sé problematico dal profilo del principio della proporzionalità (si veda infra consid. 5.3.4; cfr. pure, per analogia, sentenza 2C_929/2010 del 13 aprile 2011 consid. 5.2.1 nonché LUKAS MÜLLER, Unzulässige Entgegennahme von Publikumsgeldern, gruppenweises Handeln und Veröffentlichung eines Werbeverbots [("naming andshaming")], Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht [GesKR], 2011pagg. 423 segg. e pag. 428), ma lo diventa ancor di più alla luce del canale scelto dal legislatore ticinese per la pubblicazione automatica dell'esclusione dalle commesse pubbliche future. È vero che, come ha affermato il Consiglio di Stato nella sua risposta, la disposizione sulla pubblicazione delle decisioni di esclusione non comporta la diffusione di segreti d'affari o professionali ma mira unicamente a rendere disponibile l'informazione relativa alla ragione sociale ed al domicilio o sede di chi è oggetto della sanzione. D'altra parte la pubblicazione sul sito dell'UVCP ha luogo limitatamente al periodo in cui l'esclusione è effettiva, venendo poi rimossa dal portale dell'autorità di vigilanza una volta terminato il periodo in questione. La situazione è tuttavia molto diversa per la pubblicazione sul Foglio ufficiale. Sebbene venga indicata la durata dell'esclusione anche in quella sede, il Foglio ufficiale resta disponibile negli archivi sul sito del Cantone Ticino e può essere liberamente consultato da qualsiasi persona anche diversi anni dopo, soprattutto a seguito della sua recente completa digitalizzazione (dal 2021) e del suo inserimento nella piattaforma centrale gestita dalla Confederazione (www.amtsblattportal.ch). In simili circostanze, occorre convenire con la ricorrente che esiste un concreto rischio che gli svantaggi e le conseguenze
BGE 148 I 226 S. 231
irrimediabili della pubblicazione vadano "ben al di là della mancata considerazione [dell'impresa] nell'ambito di una commessa pubblica".Il rischio reputazionale è poi ancor più elevato se si pensa che, come afferma il Consiglio di Stato nelle sue osservazioni, "rendere nota l'esclusione non è necessario solo per i committenti e le autorità di vigilanza e di controllo, ma anche agli offerenti stessi per la loro valutazione preventiva in materia di consorzio e subappalto" (riposta del 17 marzo 2021 pag. 7). In concreto, quindi, il sacrificio per gli interessi della ricorrente alla protezione della sua reputazione è manifestamente eccessivo rispetto all'interesse perseguito dalla pubblicazione della sanzione. Ciò vale a maggior ragione se si tiene conto del fatto che, dopo aver pubblicato il Foglio ufficiale su internet, non sarà più possibile (o lo sarà solo molto difficilmente) porre fine alla facoltà per i terzi di accedere a tali informazioni relative alla ricorrente e che quindi il danno d'immagine e la conseguente lesione della personalità a cui quest'ultima resta esposta perdurerà nel tempo, senza che nel contempo l'interesse pubblico sussista ancora.
5.3.4
Una pubblicazione automatica dell'esclusione su internet attraverso il Foglio ufficiale, pur tenendo conto degli interessi pubblici in gioco, non si giustifica nemmeno confrontandola con soluzioni analoghe in altre leggi che contemplano la pubblicazione quale sanzione disciplinare aggiuntiva che l'autorità può valutare di pronunciare in caso di grave violazione di doveri professionali. Ad esempio, l'art. 34 della legge federale del 22 giugno 2007 concernente l'Autorità federale di vigilanza sui mercati finanziari (LFINMA; RS 956.1) prevede che, in caso di grave violazione delle disposizioni legali in materia di vigilanza, la FINMA può decidere di pubblicare in forma elettronica o a stampa la sua decisione finale con l'indicazione dei dati personali (cpv. 1). Per un simile provvedimento, che ha lo scopo di realizzare la trasparenza dei mercati garantendo un'informazione preventiva e di protezione del pubblico, la giurisprudenza del Tribunale federale ha posto l'esigenza che la pubblicazione sia delimitata in riferimento al suo oggetto, alla sua estensione geografica, alla sua durata ed alle persone interessate (
DTF 147 I 57
consid. 5.4.3.1. e 5.4.3.3 e riferimenti) e che la FINMA soppesi in ogni caso concreto gli interessi pubblici in gioco con gli interessi privati del soggetto i cui dati personali vengono diffusi (cfr. MÜLLER, op. cit., pagg. 428 segg.). D'altra parte, con riguardo alle sanzioni disciplinari pronunciate nei confronti di un avvocato, l'art. 10 della legge federale del 23 giugno 2000 sulla libera circolazione degli avvocati (LLCA;
BGE 148 I 226 S. 232
RS 935.61) prevede un diritto di consultazione del registro degli avvocati differenziandone tuttavia le condizioni e la portata in funzione del soggetto (autorità o persona) interessata. Un diritto ampio di consultazione è in particolare accordato alle autorità di sorveglianza cantonali al fine di garantire un'adeguata informazione rispetto alle misure disciplinari nelle relazioni intercantonali, ma solo su richiesta (STAEHELIN/OETIKER, in Kommentar zum Anwaltsgesetz, 2
a
ed. 2011, n. 1 e 3 ad
art. 10 LLCA
). Da parte sua il diritto del pubblico di consultare il registro (
art. 10 al. 2 LLCA
) è incondizionato, nel senso che non viene fatto dipendere dall'esistenza di un interesse particolare, ma non illimitato. Il pubblico può unicamente chiedere all'autorità cantonale preposta se un determinato avvocato è iscritto nel registro e se gli è stato imposto un divieto di esercitare la professione definitivo o provvisorio (BOHNET/MARTENET, Droit de la profession d'avocat, 2009, pag. 316 seg.; GUILLAUME BRAIDI, L'individu en droit de la surveillance financière: Autorisation, obligations et interdiction d'exercer, 2016, pag. 333). Infine, riguardo alle misure disciplinari pronunciate nei confronti di chi svolge una professione medica universitaria le stesse vengono iscritte nel registro delle professioni mediche (artt. 51 e 52 della legge federale del 23 giugno 2006 sulle professioni mediche universitarie [LPMed; RS 811.11] nonché, sul contenuto del registro, vedasi l'ordinanza del 5 aprile 2017 sul registro delle professioni mediche universitarie [RS 811.117.3], segnatamente gli artt. 3 a 8). L'accesso a questi dati non è però pubblico, contrariamente ad altre informazioni figuranti nel menzionato registro, che sono accessibili via Internet o su richiesta (
art. 53 cpv. 4 LPMed
in relazione con l'art. 10 dell'ordinanza sul registro delle professioni mediche nonché l'allegato 1 alla stessa), ma è concesso unicamente, su richiesta, alle autorità competenti per il rilascio dell'autorizzazione all'esercizio della professione e alle autorità di vigilanza (
art. 53 cpv. 1 LPMed
nonché art. 12 dell'ordinanza sopramenzionata; vedasi anche YVES DONZALLAZ, Traité de droit médical, vol. II, 2021, pag. 2792 e seg. n. 5849 segg.).
5.3.5
Alla luce dei suoi effetti molto severi, anche in confronto con altre misure analoghe, occorre quindi concludere che nella fattispecie la pubblicazione sul Foglio ufficiale, prevista dal vecchio art. 45 cpv. 4 LCPubb, dell'esclusione della ricorrente dagli appalti pubblici futuri confermata con la decisione impugnata lede l'
art. 13 Cost.
e va quindi annullata. Nell'ambito di un ricorso indirizzato contro una decisione concreta, il Tribunale federale, pur non potendo più
BGE 148 I 226 S. 233
procedere ad un controllo astratto, può infatti comunque sempre pronunciare l'annullamento di una misura adottata sulla base di una disposizione cantonale che, a causa della sua formulazione eccessivamente stringente, non è possibile applicare in maniera conforme alla protezione offerta dall'
art. 13 Cost.
(cosiddetto controllo accessorio, vedasi sentenza 2C_731/2018 del 22 aprile 2021 consid. 2.4 e riferimenti). Per quanto attiene invece alla pubblicazione sul sito dell'UVCP, limitata alla durata dell'esclusione, essa può nel concreto caso, alla luce dell'interesse pubblico inteso ad assicurare un'informazione adeguata che il legislatore ha fermamente voluto, essere ancora considerata proporzionale e quindi mantenuta.
5.3.6
A titolo abbondanziale va ancora rilevato che il nuovo art. 45a cpv. 4 LCPubb, in vigore dal 1° gennaio 2020, sembra prestarsi ad un'applicazione conforme alla garanzia costituzionale della sfera privata, nella misura in cui stabilisce che "[l]e decisioni di esclusione devono essere rese pubbliche per il tramite del Foglio ufficiale o tramite altri mezzi destinati al medesimo scopo", lasciando così all'autorità un adeguato margine di apprezzamento rispetto al canale di pubblicità, margine che dovrà essere utilizzato tenendo conto delle considerazioni che precedono ed in particolare interrogandosi sulla necessità, in ogni caso concreto, di rendere accessibile l'informazione a tutto il pubblico (forse anche solo per un periodo limitato) o soltanto ai committenti. | 5,583 | 2,723 | 2 | 0 | CH_BGE_001 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_001_BGE-148-I-226_2022 | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=4&from_date=&to_date=&from_year=2022&to_year=2022&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=31&highlight_docid=atf%3A%2F%2F148-I-226%3Ade&number_of_ranks=130&azaclir=clir | BGE_148_I_226 |
|||
eda55332-e8d1-4446-9489-d0d4e345d5eb | 1 | 83 | 1,349,269 | null | 2,024 | de | 2 | 0 | Erwägungen
ab Seite 87
BGE 112 IV 87 S. 87
Aus den Erwägungen:
2.
Die Vorinstanz stellt ausdrücklich und für den Kassationshof verbindlich fest, der genannte Knabe sei 4-4,5 m nach dem Fussgängerstreifen vom Trottoir auf die Strasse getreten. In diesem Bereich aber war er (der Knabe) wartepflichtig, und es stand der Vortritt dem Motorfahrzeugführer zu. Diese Tatsache ist wesentlich für die Beurteilung des Falles, weil nämlich der vortrittsberechtigte Führer grundsätzlich nur dann zu besonderen Vorsichtsmassnahmen verpflichtet ist, wenn konkrete Anzeichen ein Fehlverhalten des Fussgängers nahelegen. Wohl besteht nach
Art. 26 Abs. 2 SVG
für
BGE 112 IV 87 S. 88
Kinder eine Ausnahme von der Regel. Doch kann auch sie nicht so weit gehen, dass der Führer angesichts eines Kindes in jedem Fall seine Fahrt verlangsamen und Hupsignale geben müsste. Das ist zumindest innerorts nur geboten, wenn das Kind sich auf der Fahrbahn oder am Strassenrand befindet (s.
BGE 104 IV 31
), oder wenn es sich auf einem angrenzenden Trottoir oder einem benachbarten Platz in unmittelbarer Nähe der Fahrbahn dem Spiele hingibt oder sonstwie ein Verhalten an den Tag legt, das erkennen lässt, dass es seine Aufmerksamkeit vollauf einem anderen Geschehen als dem Verkehr auf der Strasse zugewandt hat und jederzeit seinen spontanen Neigungen folgend in den Strassenverkehr geraten könnte. Wo jedoch ein Kind auf dem Trottoir ruhig seines Weges geht, da muss der Führer nicht damit rechnen, dass es unvermittelt in die Fahrbahn treten werde. Wollte man anders entscheiden, müssten an das Verhalten des Fahrzeugführers derart hohe Anforderungen gestellt werden, dass der Verkehr vor allem innerorts völlig zum Erliegen käme. Das aber kann nicht der Sinn des
Art. 26 Abs. 2 SVG
sein. | 379 | 319 | 2 | 0 | CH_BGE_006 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_006_BGE-112-IV-87_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=14&from_date=&to_date=&from_year=1986&to_year=1986&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=137&highlight_docid=atf%3A%2F%2F112-IV-87%3Ade&number_of_ranks=378&azaclir=clir | BGE_112_IV_87 |
||||
eda649ba-b8aa-4021-b89c-16e37182a9c3 | 2 | 81 | 1,330,137 | null | 2,024 | fr | Sachverhalt
ab Seite 50
BGE 128 II 49 S. 50
Dans un dancing de Neuchâtel, une bagarre s'est produite entre K. et C. Frappé avec la crosse d'un fusil, ou une batte de base-ball, ce dernier a subi un traumatisme crânien, avec diverses fractures. Le Tribunal de police du district de Neuchâtel a reconnu K. coupable de lésions corporelles simples commises avec un objet dangereux, et l'a condamné à deux mois d'emprisonnement sans sursis. C. a été reconnu coupable, lui, de voies de fait, mais exempté de toute peine en raison de la gravité de ses blessures.
La Caisse nationale suisse d'assurance en cas d'accidents a pris en charge le cas de C., mais elle a décidé de réduire ses prestations de moitié au motif que, en participant à une rixe, l'assuré s'était exposé à un danger extraordinaire. C. a contesté cette décision, sans succès, jusque devant le Tribunal fédéral des assurances. A l'issue des investigations médicales et économiques, l'assurance a constaté une incapacité de gain totale de l'assuré; elle lui a alloué une rente et une indemnité pour atteinte à l'intégrité, dont le montant, également réduit de 50%, a été fixé à 24'300 fr.
C. avait présenté, entre-temps, une demande d'indemnisation à titre de victime de l'infraction commise par K. Statuant le 29 juin 2000, le Département des finances et des affaires sociales du canton de Neuchâtel a refusé toute prestation en raison de la faute commise par le requérant. Il a considéré qu'en raison de sa gravité, cette faute devait entraîner le refus complet d'une réparation morale, sans qu'il fût nécessaire de déterminer si elle était grave au point d'interrompre le rapport de causalité adéquate entre l'infraction et les lésions subies. Quant à la réparation du dommage, la faute justifiait une réduction importante, au moins aussi importante que celle appliquée par l'assurance-accidents, de sorte que la perte de gain - qui constituait le seul dommage allégué - apparaissait suffisamment couverte par les prestations de ladite assurance.
C. a recouru au Tribunal administratif cantonal, qui s'est prononcé par arrêt du 30 mars 2001. Cette juridiction a considéré que le droit fédéral ne permettait pas le refus complet d'une réparation morale en raison de la faute concomitante de la victime, même grave, si cette faute n'était pas lourde au point d'interrompre le rapport de causalité adéquate; elle a toutefois jugé qu'une telle faute était réalisée en l'espèce, et que dans son résultat, la décision attaquée devait être confirmée. Le Tribunal administratif a aussi confirmé l'appréciation relative à la réparation du dommage.
Selon l'arrêt, le déroulement exact des faits comporte de nombreuses incertitudes; le tribunal a néanmoins retenu, en se référant
BGE 128 II 49 S. 51
principalement aux témoignages recueillis dans le cadre du procès pénal, que le recourant avait provoqué, par des agressions verbales, la rixe au cours de laquelle il a été blessé; qu'il avait, de plus, aggravé la tension en allant chercher un fusil - non chargé - afin de l'exhiber à son adversaire; que celui-ci était ivre et que ce fait n'avait "probablement" pas échappé au recourant; que dans ces conditions, ce dernier devait prévoir une réaction violente en raison de la présence de l'arme à feu; enfin, que le coup à l'origine des lésions avait été porté par surprise, en dépit de ce comportement provocateur de la victime.
Le Tribunal fédéral a admis le recours de droit administratif formé par C. contre l'arrêt du 30 mars 2001; il a annulé ce prononcé et a renvoyé la cause au Tribunal administratif pour nouveau jugement. | 1,359 | 662 | Erwägungen
Extrait des considérants:
2.
Aux termes des art. 2 al. 1 et 11 al. 1 de la loi fédérale sur l'aide aux victimes d'infractions (ci-après: la loi fédérale ou LAVI; RS 312.5), celui qui est victime d'une infraction pénale et subit, de ce fait, une atteinte directe à son intégrité corporelle, sexuelle ou psychique, peut demander une indemnisation ou une réparation morale dans le canton où l'infraction a été commise. L'indemnité, qui n'excède en aucun cas 100'000 fr. (
art. 13 al. 3 LAVI
, art. 4 al. 1 de l'ordonnance du 18 novembre 1992 sur l'aide aux victimes d'infractions [OAVI; RS 312.51]), est fixée en fonction du montant du dommage subi et des revenus de la victime; elle peut être réduite lorsque, par un comportement fautif, celle-ci a contribué dans une mesure importante à créer ou à aggraver ce dommage (
art. 13 al. 1 et 2 LAVI
). La réparation morale est due, elle, indépendamment du revenu de la victime, lorsque celle-ci subit une atteinte grave et que des circonstances particulières justifient cette réparation (
art. 12 al. 2 LAVI
).
Dans la présente affaire, la qualité de victime du recourant, au sens de ces dispositions, n'est pas douteuse. L'indemnité et la réparation morale ne sont refusées qu'en raison de la faute concomitante imputée à la victime, faute que le recourant conteste intégralement.
3.
3.1
L'indemnité pour réparation du dommage doit être refusée lorsque la faute propre de la victime est grave au point qu'elle constitue la cause prépondérante de l'atteinte subie et que le comportement de l'auteur de l'infraction n'apparaît donc plus comme la cause juridiquement adéquate de cette atteinte. Dans les autres cas, la faute
BGE 128 II 49 S. 52
ne peut justifier qu'une réduction de l'indemnité, et cela seulement s'il s'agit d'une faute qualifiée, suffisamment grave au regard de l'
art. 13 al. 2 LAVI
. Dans son principe, cette disposition correspond à l'
art. 44 al. 1 CO
, mais elle n'a pas la même portée, en ce sens que la victime échappe à toute réduction si elle n'a commis qu'une faute moyenne ou légère (
ATF 123 II 210
consid. 3b p. 214;
ATF 121 II 369
consid. 3c/aa p. 373 in fine, consid. 4c p. 375).
En l'occurrence, le recourant a provoqué la rixe par des agressions verbales, puis il a aggravé la tension en exhibant une arme à feu; c'est toutefois par surprise que son adversaire a porté le coup à l'origine des blessures, en utilisant un objet massif et, donc, dangereux. Dans ces conditions, la faute concomitante est indéniable, et c'est en vain que le recourant persiste à se prétendre entièrement innocent. On ne peut toutefois pas retenir, contrairement à l'opinion du Tribunal administratif, que cette faute soit grave au point d'interrompre le rapport de causalité adéquate entre l'infraction et le dommage; en effet, le comportement de l'auteur, consistant à frapper par surprise et avec un objet massif, demeure un élément très important dans l'enchaînement des faits, qui n'apparaît pas relégué à l'arrière-plan. Par ailleurs, on ne saurait non plus retenir que le recourant ait commis seulement une faute moyenne ou légère, impropre à entraîner une réduction de l'indemnité selon l'
art. 13 al. 2 LAVI
; au contraire, dans les circonstances de l'espèce, une telle réduction s'impose.
3.2
Lorsque le dommage à réparer consiste dans une perte de gain, comme dans la présente affaire, l'application correcte du droit fédéral nécessite les opérations suivantes, dans cet ordre (arrêt 1A.252/2000 du 8 décembre 2000, consid. 2 et 3, in Zbl 102/2001 p. 486 ss; GOMM/STEIN/ZEHNTER, Kommentar zum Opferhilfegesetz, Berne 1995, n. 19 [exemple 4] ad art. 13, n. 29 et 30 ad
art. 14 LAVI
):
- évaluer l'atteinte à l'avenir économique selon les principes de l'
art. 46 CO
. Il faut évaluer le gain que la victime aurait probablement réalisé sans l'atteinte à l'intégrité corporelle, puis évaluer la capacité de gain restante. Le taux de l'invalidité économique peut différer de celui de l'invalidité médicale; l'autorité peut s'inspirer des éléments retenus par l'assurance-accidents, mais elle n'est pas liée par eux;
- imputer, sur la perte de gain brute, les rentes d'invalidité, en particulier celle de l'assurance-accidents;
- calculer le montant du dommage en capitalisant la perte de gain nette;
BGE 128 II 49 S. 53
- appliquer l'
art. 3 OAVI
, en particulier la formule de l'art. 3 al. 3, pour déterminer le montant de l'indemnité brute d'après le montant du dommage et les revenus de la victime; la rente de l'assurance-accidents fait partie des revenus déterminants (cf. art. 12 al. 1 in fine LAVI) et entre donc en considération aussi à ce stade;
- évaluer et appliquer le taux de réduction consécutif à la faute concomitante, selon l'
art. 13 al. 2 LAVI
(cf. GOMM/STEIN/ZEHNTER, op. cit., n. 34 ad
art. 13 LAVI
);
- enfin, déduire d'éventuelles autres prestations que la victime reçoit pour réparation du dommage, mais pas la rente de l'assurance-accidents, puisque celle-ci a déjà été prise en considération dans le calcul du dommage, puis à titre de revenu déterminant (art. 14 al. 1, 1re et 2e phrase, LAVI).
Le raisonnement suivi par le Tribunal administratif ne respecte pas, même approximativement, ce schéma. En particulier, il est incorrect d'envisager une indemnisation calculée d'après la perte de gain brute, puis réduite en fonction de la faute concomitante, et réduite, encore, des prestations de l'assurance-accidents. En effet, ce procédé peut aboutir, comme en l'espèce, à refuser toute prestation en raison de cette faute, alors que celle-ci, si elle n'est pas lourde au point d'interrompre le rapport de causalité adéquate entre l'infraction et le dommage, ne doit entraîner qu'une réduction. Il convient donc d'admettre le recours, pour violation du droit fédéral, et de renvoyer la cause au Tribunal administratif. Le dossier ne contient que des données fragmentaires sur la situation économique du recourant, tant avant qu'après l'infraction; il incombera à cette juridiction, ou à l'autorité que celle-ci désignera, de constater les faits pertinents et de procéder aux évaluations nécessaires. Il s'agira, notamment, de déterminer le taux de réduction correspondant à la faute.
4.
>
4.1
L'
art. 12 al. 2 LAVI
institue le principe d'une réparation morale, en argent, en faveur de la victime qui a subi une atteinte grave, dans des circonstances particulières; pour le surplus, la loi fédérale ne fixe pas de critères quant à l'estimation de cette indemnité. Selon la jurisprudence, il faut appliquer par analogie les principes correspondant aux
art. 47 et 49 CO
, en tenant compte, cependant, que le système d'indemnisation du dommage et du tort moral prévu par la loi fédérale répond à l'idée d'une prestation d'assistance et non pas à celle d'une responsabilité de l'Etat (
ATF 125 II 554
consid. 2a p. 555/556;
ATF 123 II 425
consid. 4c p. 431).
BGE 128 II 49 S. 54
4.2
En ce qui concerne le rôle de la faute propre de la victime, le Tribunal fédéral a jugé qu'une réduction de la réparation morale peut intervenir non seulement en cas de faute grave, comme la réduction de la réparation du dommage, mais aussi en présence d'une faute légère ou moyenne (
ATF 123 II 210
consid. 3b p. 214; voir aussi
ATF 124 II 8
consid. 5c p. 17;
ATF 121 II 369
consid. 3 et 4 p. 372 et l'arrêt 1A.251/1999 du 30 mars 2000, consid. 3d). Pour le surplus, d'autres principes ont aussi été mis en évidence, qui n'étaient toutefois pas directement en cause dans les affaires concernées. Ainsi, deux arrêts indiquent clairement qu'un refus de toute réparation se justifie en cas de faute interruptive du rapport de causalité adéquate entre l'infraction et le dommage (
ATF 124 II 8
consid. 5c p. 17;
ATF 121 II 369
consid. 4c p. 375). Il ressort aussi nettement des arrêts du Tribunal fédéral qu'une faute certes grave, mais pas au point d'interrompre le rapport de causalité adéquate, ne peut justifier qu'une réduction de la réparation morale et ne suffit pas à motiver un refus (
ATF 124 II 8
consid. 3d/bb p. 14, consid. 5c p. 17/18;
ATF 121 II 369
, loc. cit.); cet élément-ci est aussi mentionné in
ATF 123 II 210
consid. 3b/aa p. 214/215. Sur ce point, le Tribunal fédéral s'est simplement référé aux principes reconnus en matière de responsabilité civile, relatifs aux
art. 47 et 44 CO
(
ATF 123 II 210
, loc. cit.;
ATF 121 II 369
, loc. cit.).
La pratique actuelle, concernant la portée de la faute concomitante par rapport à l'
art. 47 CO
, a son origine dans un arrêt de la Ire Cour civile du 11 décembre 1990 (
ATF 116 II 733
). Le Tribunal fédéral a alors retenu que la réparation morale consécutive à des lésions corporelles ou à une mort d'homme est un cas d'application de l'
art. 49 CO
; que cette disposition-ci, dans sa teneur entrée en vigueur le 1er janvier 1985, ne faisait plus dépendre la réparation morale d'une faute particulièrement grave du responsable; qu'il n'existait donc plus de différence entre l'action en réparation du tort moral et celle en dommages-intérêts, hormis la nature du préjudice subi; que par conséquent, enfin, plus rien ne s'opposait à l'allocation d'une indemnité pour tort moral même en cas de faute prépondérante du lésé (consid. 4f p. 734). La faute de celui-ci ne devait plus être prise en considération, désormais, que dans le cadre de l'
art. 44 al. 1 CO
(consid. 4g p. 735). Cette jurisprudence a été, ensuite, confirmée dans divers arrêts (
ATF 117 II 50
consid. 4a/bb p. 60;
ATF 123 III 306
consid. 9b p. 315/316;
ATF 124 III 182
consid. 4d p. 186).
4.3
Il n'est pas d'emblée certain que ces considérations soient aussi déterminantes pour l'application de l'
art. 12 al. 2 LAVI
. Certes,
BGE 128 II 49 S. 55
le texte de cette disposition est très semblable à ceux des
art. 47 et 49 CO
, mais ces derniers déterminent les prestations à verser par le responsable de l'atteinte, alors que la collectivité publique n'est, comme on l'a rappelé, pas responsable des conséquences d'une infraction; elle a seulement un devoir d'assistance envers la victime. La collectivité n'est donc pas nécessairement tenue à des prestations aussi étendues que celles exigibles, en principe, de l'auteur de l'infraction. Le Tribunal fédéral a déjà souligné, également, que le tort moral ne peut pas être estimé rigoureusement et mathématiquement, comme le dommage matériel, et que la décision d'accorder une réparation morale, de même que l'évaluation de son montant, relèvent surtout de l'équité (
ATF 123 II 210
consid. 3b/cc p. 215/216). Il a même expressément envisagé que le refus de cette réparation puisse se justifier par des considérations d'équité propres au système d'indemnisation de la loi fédérale (
ATF 121 II 369
consid. 4b p. 375 in medio). On peut donc concevoir que la collectivité publique soit exonérée de son devoir d'assistance, en ce qui concerne le tort moral, envers une victime qui, par une faute lourde, a contribué à la survenance de l'atteinte, alors même que cette faute n'est pas assez intense pour entraîner la rupture du lien de causalité adéquate. Il y a ici conflit entre, d'une part, le principe selon lequel il faut tenir compte de la spécificité du régime d'indemnisation par l'Etat (
ATF 125 II 554
consid. 2a p. 555/556;
ATF 123 II 425
consid. 4c p. 431), et, d'autre part, le principe qui requiert d'éviter autant que possible des divergences trop importantes entre le régime d'indemnisation des victimes d'infractions et celui de la responsabilité civile (
ATF 123 II 210
consid. 3b/dd p. 216; voir aussi
ATF 125 II 169
consid. 2b p. 173).
Cette question n'a toutefois pas besoin d'être résolue dans la cause du recourant car, de toute manière, la faute commise par lui ne semble pas suffisamment lourde pour justifier une pareille exonération. A plus forte raison, comme on l'a déjà vu, cette faute n'interrompt pas le lien de causalité adéquate. C'est donc aussi à tort, en violation du droit fédéral, que la juridiction cantonale a refusé d'emblée toute indemnité pour tort moral. Cependant, lorsque la victime reçoit une indemnité pour atteinte à l'intégrité, selon l'art. 24 de la loi fédérale du 20 mars 1981 sur l'assurance-accidents (RS 832.20), l'autorité doit examiner s'il se justifie, au regard de l'ensemble des circonstances, que cette victime reçoive en plus une réparation morale selon l'
art. 12 al. 2 LAVI
(
ATF 125 II 169
). Il incombera donc au Tribunal administratif de procéder à cette évaluation,
BGE 128 II 49 S. 56
compte tenu des handicaps dont le recourant demeure affecté, sur lesquels le dossier ne contient que des renseignements sommaires, et de la faute qu'il a commise; le cas échéant, ce tribunal déterminera le montant à verser. | 4,964 | 2,625 | 2 | 0 | CH_BGE_004 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_004_BGE-128-II-49_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=1&from_date=&to_date=&from_year=2001&to_year=2001&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=7&highlight_docid=atf%3A%2F%2F128-II-49%3Ade&number_of_ranks=284&azaclir=clir | BGE_128_II_49 |
|||
edba7f46-132f-471c-ada7-0871f34d3a15 | 1 | 82 | 1,333,614 | 1,341,792,000,000 | 2,012 | de | Sachverhalt
ab Seite 549
BGE 138 III 548 S. 549
A.
W. bezog ab 1. August 2007, seine Ehefrau S. ab 1. Februar 2008, Ergänzungsleistungen (EL) zur Altersrente der AHV. Mit Verfügung vom 1. Januar 2011 setzte die Ausgleichskasse Schwyz (nachfolgend: Ausgleichskasse) die Ergänzungsleistungen für 2011 auf monatlich Fr. 2'922.- und Fr. 3'121.- fest. Bei der Berechnung des Anspruchs berücksichtigte sie einnahmenseitig u.a. jeweils Fr. 66'663.- "Übriges Vermögen Schenkung". Mit Eingaben vom 13. und 19. Januar 2011 erhob G., der jüngere Sohn der beiden EL-Bezüger, Einsprache und beantragte, die 2007 von seinem Vater erworbene Liegenschaft sei zum Ertragswert (Fr. 216'217.-) und nicht zum Vermögenswert (Fr. 320'507.-) anzurechnen. Im Februar 2011 verstarb W. Mit Verfügung vom 8. März 2011 setzte die Ausgleichskasse die Ergänzungsleistung für S. ab 1. März 2011 neu auf monatlich Fr. 2'894.- fest, dies unter Anrechnung von Fr. 133'326.- "ÜbrigesVermögen Schenkung". Mit Einspracheentscheid vom 14. Juli 2011 bestätigte sie gegenüber der Erbengemeinschaft W. sel. die Verfügung vom 1. Januar 2011.
B.
In teilweiser Gutheissung der Beschwerde der Erbengemeinschaft des W. sel. und von
S.
hob das Verwaltungsgericht des Kantons
BGE 138 III 548 S. 550 | 340 | 222 | Schwyz die Verfügung vom 8. März 2011 auf und wies die Sache an die Ausgleichskasse zurück, damit sie nach Vornahme ergänzender Abklärungen im Sinne der Erwägungen über den EL-Anspruch der Ehefrau des Verstorbenen ab dem 1. März 2011 neu verfüge. Im Übrigen wies es das Rechtsmittel ab (Entscheid vom 27. Oktober 2011).
C.
Die Erbengemeinschaft des W. sel. und S. führen gemeinsam Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, Gerichtsentscheid und Einspracheentscheid seien dahingehend abzuändern, dass überhaupt kein Verzichtsvermögen angerechnet werden dürfe und die Sache sei zur entsprechenden Neufestsetzung der Ergänzungsleistungen für den Verstorbenen und seine Ehefrau, eventualiter zu ergänzenden Abklärungen an die Ausgleichskasse zurückzuweisen.
Das kantonale Gericht und die Ausgleichskasse verzichten auf eine Stellungnahme. Das Bundesamt für Sozialversicherungen hat sich nicht vernehmen lassen.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
7.
Die Vorinstanz ist ohne Weiterungen davon ausgegangen, bei dem vom verstorbenen EL-Bezüger mit Kaufvertrag vom 31. Oktober 2007 entäusserten Grundstück Y., bestehend u.a. aus Wiesland mit Wohnhaus und einem Kleingebäude, Acker, Wiese, Weide, Hoch- und Flachmoor einschliesslich weiterer Parzellen mit Acker-, Wies- und Weidland, handle es sich um ein landwirtschaftliches Gewerbe im Sinne des Bundesgesetzes vom 4. Oktober 1991 über das bäuerliche Bodenrecht (BGBB; SR 211.412.11).
7.1
7.1.1
Nach
Art. 4 BGBB
gelten für Grundstücke, die für sich allein oder zusammen mit andern Grundstücken ein landwirtschaftliches Gewerbe bilden, die besonderen Bestimmungen dieses Gesetzes über die landwirtschaftlichen Gewerbe (Abs. 1). Die Bestimmungen über landwirtschaftliche Gewerbe gelten nicht für landwirtschaftliche Grundstücke, die: a. zu einem landwirtschaftlichen Gewerbe gemäss Artikel 8 gehören; b. (...; Abs. 3). Laut
Art. 8 BGBB
finden die Bestimmungen über die einzelnen landwirtschaftlichen Grundstücke auf ein landwirtschaftliches Gewerbe Anwendung, wenn es: a. seit mehr als sechs Jahren rechtmässig ganz oder weitgehend
BGE 138 III 548 S. 551
parzellenweise verpachtet ist und diese Verpachtung im Sinne von Artikel 31 Absatz 2 Buchstaben e und f des Bundesgesetzes vom 4. Oktober 1985 über die landwirtschaftliche Pacht (LPG; SR 221.213.2) weder vorübergehenden Charakter hat noch aus persönlichen Gründen erfolgt ist; b. unabhängig von seiner Grösse wegen einer ungünstigen Betriebsstruktur nicht mehr erhaltungswürdig ist. Ein Grundstück gilt als landwirtschaftlich, das für die landwirtschaftliche oder gartenbauliche Nutzung geeignet ist (
Art. 6 Abs. 1 BGBB
).
7.1.2
Gemäss
Art. 7 BGBB
gilt als landwirtschaftliches Gewerbe eine Gesamtheit von landwirtschaftlichen Grundstücken, Bauten und Anlagen, die als Grundlage der landwirtschaftlichen Produktion dient und zu deren Bewirtschaftung, wenn sie landesüblich ist, mindestens eine Standardarbeitskraft nötig ist. Der Bundesrat legt die Faktoren und die Werte für die Berechnung einer Standardarbeitskraft in Abstimmung mit dem Landwirtschaftsrecht fest (Abs. 1; vgl.
Art. 2a der Verordnung vom 4. Oktober 1993 über das bäuerliche Bodenrecht [VBB; SR 211.412.110]
). Bei der Beurteilung, ob ein landwirtschaftliches Gewerbe vorliegt, sind diejenigen Grundstücke zu berücksichtigen, die diesem Gesetz unterstellt sind (Art. 2 [Allgemeiner Geltungsbereich]; Abs. 3). Die Verpachtung einzelner Parzellen eines landwirtschaftlichen Gewerbes für sich allein betrachtet ändert nichts an dieser Eigenschaft (EDUARD HOFER, in: Das bäuerliche Bodenrecht, Kommentar zum Bundesgesetz über das bäuerliche Bodenrecht vom 4. Oktober 1991, 2. Aufl. 2011, N. 37f zu
Art. 7 BGBB
; vgl.
BGE 111 II 487
E. 3a S. 492).
Die Kantone können landwirtschaftliche Betriebe, welche die Voraussetzungen nach Artikel 7 hinsichtlich der Standardarbeitskräfte nicht erfüllen, den Bestimmungen über die landwirtschaftlichen Gewerbe unterstellen; die minimale Betriebsgrösse ist dabei in einem Bruchteil einer Standardarbeitskraft festzulegen und darf 0,75 Standardarbeitskräfte nicht unterschreiten (
Art. 5 lit. a BGBB
). Nach § 22 Abs. 2 des schwyzerischen Gesetzes vom 26. November 2003 über die Landwirtschaft (SRSZ 312.100) sind landwirtschaftliche Betriebe im Berggebiet gemäss Art. 1 Abs. 3 der Verordnung vom 7. Dezember 1998 über den landwirtschaftlichen Produktionskataster und die Ausscheidung von Zonen (Landwirtschaftliche Zonen-Verordnung; SR 912.1) den Bestimmungen über die landwirtschaftlichen Gewerbe unterstellt, sofern für ihre Bewirtschaftung mindestens 0,75 Standardarbeitskräfte (SAK) nötig sind (
Art. 5 lit. a BGBB
). Das Berggebiet im Sinne von Art. 1 Abs. 3 der Landwirtschaftliche Zonen-Verordnung umfasst die Bergzonen I-IV.
BGE 138 III 548 S. 552
7.2
Vorliegend fragt sich, ob es sich beim Gegenstand des Kaufvertrages vom 31. Oktober 2007 (Grundstück Y. und sechs weitere Parzellen mit Acker-, Wies- und Weidland) überhaupt um ein landwirtschaftliches Gewerbe im Sinne von
Art. 7 Abs. 1 BGBB
oder um einen vom Kanton gestützt auf
Art. 5 lit. a BGBB
den diesbezüglichen Gesetzesbestimmungen unterstellten landwirtschaftlichen Betrieb nach § 22 Abs. 2 des kantonalen Landwirtschaftsgesetzes handelt, oder ob ein unter
Art. 8 BGBB
fallender Sachverhalt gegeben ist. Davon hängt entscheidend ab, ob im Zusammenhang mit der Veräusserung des gesamten landwirtschaftlichen Grundeigentums des verstorbenen EL-Bezügers (Ziff. 13 des Kaufvertrages vom 31. Oktober 2007) ein Vermögensverzichtstatbestand im Sinne von
Art. 11 Abs. 1 lit. g ELG
(SR 831.30) und
Art. 17 Abs. 5 ELV
(SR 831.301) gegeben ist:
7.2.1
Nach
Art. 42 BGBB
haben, wenn ein landwirtschaftliches Gewerbe veräussert wird, die nachgenannten Verwandten des Veräusserers ein Vorkaufsrecht in folgender Rangordnung, wenn sie es selber bewirtschaften wollen und dafür geeignet erscheinen: 1. jeder Nachkomme; 2. (...; Abs. 1). Wird ein landwirtschaftliches Grundstück veräussert, so hat jeder Nachkomme des Veräusserers ein Vorkaufsrecht daran, wenn er Eigentümer eines landwirtschaftlichen Gewerbes ist oder wirtschaftlich über ein solches verfügt und das Grundstück im ortsüblichen Bewirtschaftungsbereich dieses Gewerbes liegt (Abs. 2). Gemäss
Art. 44 BGBB
können die Berechtigten das Vorkaufsrecht an einem landwirtschaftlichen Gewerbe zum Ertragswert und an einem landwirtschaftlichen Grundstück zum doppelten Ertragswert geltend machen. Ebenfalls hat der Pächter unter bestimmten Bedingungen ein Vorkaufsrecht, wenn ein landwirtschaftliches Gewerbe oder ein landwirtschaftliches Grundstück veräussert wird. Das Vorkaufsrecht der Verwandten geht indessen vor (
Art. 47 BGBB
).
Selbstbewirtschafter ist, wer den Boden selber bearbeitet und, wenn es sich um ein landwirtschaftliches Gewerbe handelt, dieses zudem persönlich leitet. Für die Selbstbewirtschaftung geeignet ist, wer die Fähigkeiten besitzt, die nach landesüblicher Vorstellung notwendig sind, um den landwirtschaftlichen Boden selber zu bearbeiten und ein landwirtschaftliches Gewerbe zu leiten (
Art. 9 Abs. 1 und 2 BGBB
). Den Boden im Sinne dieser Bestimmung selber bearbeiten bedeutet, die im Betrieb anfallenden Arbeiten auf dem Feld, im Stall, auf dem Hof (inkl. Administrativarbeiten) und im Zusammenhang mit der Vermarktung der Produkte zu einem wesentlichen Teil selber verrichten (ZBGR 87/2006 S. 273, 5A.20/2004 E. 3.2;
BGE 115 II 181
BGE 138 III 548 S. 553
E. 2a S. 183 ff.). Die bearbeitete Fläche muss nicht notwendigerweise ein landwirtschaftliches Gewerbe sein (BRUNO BEELER, Bäuerliches Erbrecht gemäss dem Bundesgesetz über das bäuerliche Bodenrecht [BGBB] vom 4. Oktober 1991, 1998, S. 112 f.). Es kann auch ein für die landwirtschaftliche Nutzung geeignetes, landwirtschaftliches Grundstück im Sinne von
Art. 6 Abs. 1 BGBB
sein (PAUL RICHLI, Landwirtschaftliches Gewerbe und Selbstbewirtschaftung - zwei zentrale Begriffe des Bundesgesetzes über das bäuerliche Bodenrecht, AJP 1993 S. 1067). Auch wer eine landwirtschaftliche Tätigkeit als Freizeitbeschäftigung ausübt, kann - entgegen der Ansicht der Vorinstanz - als Selbstbewirtschafter gelten (Urteil 2C_855/2008 vom 11. Dezember 2009 E. 2.1).
7.2.2
Wird ein landwirtschaftliches Gewerbe verpachtet, bleibt das Vorkaufsrecht der Nachkommen bestehen, auch wenn sie es insofern nicht selber bewirtschaften können, als sie den Boden nicht im Sinne von
Art. 9 BGBB
selber bearbeiten können. Sie müssen jedoch dafür geeignet erscheinen. Dies ergibt sich zwingend aus der Rangordnung, wonach das Vorkaufsrecht der Verwandten demjenigen des Pächters vorgeht (
Art. 47 Abs. 3 BGBB
). Andernfalls könnte dieses Privileg durch Verpachtung des landwirtschaftlichen Gewerbes oder landwirtschaftlicher Grundstücke ausgehebelt werden. Umgekehrt wird die Rechtsposition des Pächters dadurch geschützt, dass bei Veräusserung des Pachtgegenstandes der Erwerber in den Pachtvertrag eintritt (
Art. 14 LPG
"Kauf bricht Pacht nicht";
BGE 124 III 37
E. 2 S. 39). Gleiches muss umso mehr gelten, wenn nur ein Teil des landwirtschaftlich nutzbaren Bodens verpachtet ist, der Erwerber den nicht verpachteten Teil selbst bewirtschaftet und er dazu geeignet ist. Auch in einem solchen Fall muss der Nachkomme gestützt auf
Art. 44 BGBB
das Vorkaufsrecht am landwirtschaftlichen Gewerbe zum Ertragswert geltend machen können.
7.2.3
Vorliegend steht fest, dass auf dem vom verstorbenen EL-Bezüger mit Kaufvertrag vom 31. Oktober 2007 u.a. veräusserten Grundstück Y., umfassend eine Fläche von 19'383 m2 (= 1,9383 ha), zwei Pachtverträge lasteten, wobei gemäss Angaben der Beschwerdeführerinnen das seit (...) verpachtete Land 1,8 ha misst. Unter der Annahme, dass das Kaufobjekt ein landwirtschaftliches Gewerbe im Sinne von
Art. 7 Abs. 1 BGBB
oder ein vom Kanton gestützt auf
Art. 5 lit. a BGBB
den diesbezüglichen Gesetzesbestimmungen unterstellter landwirtschaftlicher Betrieb nach § 22 Abs. 2 des kantonalen Landwirtschaftsgesetzes war, hatte der Käufer Anspruch auf
BGE 138 III 548 S. 554
Übernahme zum Ertragswert und damit zu einem tieferen Wert als der Verkehrswert nach
Art. 17 Abs. 5 Satz 2 ELV
. Ist dagegen von einem landwirtschaftlichen Gewerbe auszugehen, auf das nach
Art. 8 BGBB
die Bestimmungen über die einzelnen landwirtschaftlichen Grundstücke anzuwenden sind (HOFER, a.a.O., N. 2 f. zu
Art. 8 BGBB
; Urteil 2C_ 200/2009 vom 14. September 2009 E. 2.1), hatte der Sohn des verstorbenen EL-Bezügers und Erwerber kein gesetzliches Vorkaufsrecht. Ein solches setzte voraus, dass er Eigentümer eines landwirtschaftlichen Gewerbes ist oder wirtschaftlich über ein solches verfügt und das Grundstück im ortsüblichen Bewirtschaftungsbereich dieses Gewerbes liegt (
Art. 42 Abs. 2 BGBB
), was nach Lage der Akten nicht zutrifft. Damit hatte er aber auch keinen Anspruch auf Übernahme zum (doppelten) Ertragswert und damit allenfalls zu einem tieferen Wert als der Verkehrswert nach
Art. 17 Abs. 5 Satz 2 ELV
. Es liegt bzw. läge insoweit eine (gemischte) Schenkung vor, woran der vereinbarte Gewinnanspruch nach
Art. 41 Abs. 1 BGBB
nichts ändert (FELIX SCHÖBI, Bäuerliches Bodenrecht. Eine Annäherung in drei Aufsätzen, 1994, S. 70). Der noch unter dem alten Recht ergangene
BGE 120 V 10
, auf den sich die Beschwerdeführerinnen in diesem Zusammenhang berufen, ist überholt.
7.3
Nach dem Gesagten kann nicht abschliessend beurteilt werden, ob im Zusammenhang mit der Veräusserung des gesamten landwirtschaftlichen Grundeigentums des verstorbenen EL-Bezügers (Ziff. 13 des Kaufvertrages vom 31. Oktober 2007) ein Vermögensverzichtstatbestand im Sinne von
Art. 11 Abs. 1 lit. g ELG
und
Art. 17 Abs. 5 ELV
gegeben ist. Die Ausgleichskasse wird die notwendigen Abklärungen (vorab Qualifizierung des Kaufgegenstandes, allenfalls - in einem zweiten Schritt - des zuweisungsberechtigten Erben) vorzunehmen haben und danach die Ergänzungsleistung neu festsetzen (...). | 2,699 | 2,050 | 2 | 0 | CH_BGE_005 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_005_BGE-138-III-548_2012-07-09 | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=15&from_date=&to_date=&from_year=2012&to_year=2012&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=144&highlight_docid=atf%3A%2F%2F138-III-548%3Ade&number_of_ranks=309&azaclir=clir | BGE_138_III_548 |
|||
edbe6f81-eba3-455b-a422-e5d6f1900005 | 1 | 84 | 1,337,058 | null | 2,024 | de | Sachverhalt
ab Seite 237
BGE 97 V 237 S. 237
A.-
Der 1930 geborene Beschwerdeführer Hans Meyer arbeitet seit 1951 als Schlosser, seit 1969 als Werkmeister in der Sprengstoff-Fabrik AG Dottikon. Am 8. April 1969 wurde er Opfer eines Explosionsunglücks und verlor das linke Bein, das "hoch oben im Hüftgelenk exartikuliert" werden musste (Arztbericht vom 6. März 1970); ferner büsste er mehrere Fingerglieder der linken Hand ein und leidet seit dem Unfall auch an einer Funktionsbehinderung der rechten Hand, des Handgelenks und des Vorderarmes. Die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) versorgte ihn mit einer Prothese, welche nach Angabe des behandelnden Arztes "befriedigend bis gut" sitzt, und gewährte ihm eine Rente von 80 Prozent. Im Februar 1970 nahm Hans Meyer die Arbeit beim bisherigen Arbeitgeber
BGE 97 V 237 S. 238
wieder teilweise auf; er wird vorwiegend im Werkstattbüro mit Kontrollarbeiten und Arbeitsvorbereitung beschäftigt. Mit Beschluss vom 16. November 1970 sprach ihm die Invalidenversicherungs-Kommission, bei welcher er sich im Februar 1970 zum Leistungsbezug gemeldet hatte, eine halbe Invalidenrente ab 1. April 1970 bei Annahme eines Invaliditätsgrades von 50 Prozent zu. Der Beschwerdeführer wohnt in seinem Eigenheim in Uezwil, 9 1/2 Kilometer vom Arbeitsplatz entfernt. Schon vor dem Unfall pflegte er den Arbeitsweg im Auto zurückzulegen, das er 1968 erworben hatte. Im November 1969 gab er diesen Wagen, einen "Opel-Rekord", für ein gleiches, aber mit automatischem Getriebe versehenes Modell an Zahlung, wobei er rund 6000 Franken aufzahlte. Diesen Wagen mit automatischem Getriebe benutzt er nun, um seinen Arbeitsweg zu überwinden.
B.-
Mit Kassenverfügung vom 13. November 1970 übernahm die Invalidenversicherung die Mehrkosten von 1015 Franken für das automatische Getriebe.
Hans Meyer erhob gegen diese Verfügung Beschwerde. Er meinte, er sollte nicht mehr einbüssen müssen, als den mit dem ersten Wagen gefahrenen 6000 Kilometern entspreche, also ungefähr 1800 Franken; demnach müssten ihm mindestens 4200 Franken an den neuen Wagen vergütet werden. Hätte er keinen neuen Wagen gekauft, so könnte er heute noch nicht wieder arbeiten gehen.
Die Invalidenversicherungs-Kommission schloss auf Abweisung der Beschwerde.
Das Obergericht des Kantons Aargau als Rekurskommission schützte mit Entscheid vom 22. Januar 1971 die Verwaltungsverfügung und wies die Beschwerde ab. Nur die Anpassungskosten des Autos an die Behinderung des Beschwerdeführers seien invaliditätsbedingt, nicht aber das Automobil selber; denn ein solches benutze auch ein Gesunder, der einen Arbeitsweg von 9 1/2 Kilometer zurücklegen müsse und - wie hier - keine geeigneten öffentlichen Verkehrsmittel zur Verfügung habe.
C.-
Gegen diesen Entscheid führt Hans Meyer Verwaltungsgerichtsbeschwerde und hält an seinem Rechtsbegehren fest, es müssten ihm "wenigstens Fr. 4200.-- an den neuen Wagen vergütet werden". Er bringt namentlich vor, er sei als Gesunder mindestens 7 Jahre lang mit dem Fahrrad nach Dottikon zur Arbeit gefahren. Das Auto habe er hauptsächlich benötigt, um
BGE 97 V 237 S. 239
am Abend und an Samstagen einem Nebenverdienst nachzugehen.
Die Ausgleichskasse enthält sich eines Antrages, während das Bundesamt für Sozialversicherung Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde in dem Sinne beantragt, dass dem Beschwerdeführer jährliche Amortisations- und Reparaturkostenbeiträge gewährt werden. | 727 | 569 | Erwägungen
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
...
2.
Zu prüfen ist, ob der Beschwerdeführer im Sinne der bundesamtlichen Vernehmlassung Amortisationsbeiträge gemäss
Art. 16bis IVV
zu beanspruchen habe. Laut
Art. 21bis Abs. 1 IVG
und
Art. 16bis Abs. 2 IVV
kann die Versicherung Amortisationsbeiträge ausrichten, wenn der Versicherte ein Hilfsmittel, auf das er Anspruch besitzt, auf eigene Kosten angeschafft hat. Motorfahrzeuge werden - gestützt auf
Art. 21 Abs. 1 IVG
und
Art. 14 Abs. 1 lit. g IVV
- abgegeben, wenn der Versicherte voraussichtlich dauernd eine existenzsichernde Erwerbstätigkeit ausübt und zur Überwindung des Arbeitsweges wegen Invalidität auf ein persönliches Motorfahrzeug angewiesen ist (
Art. 15 Abs. 1 IVV
; vgl.
BGE 96 V 79
und 81, ZAK 1970 S. 410).
3.
Die erste der beiden Voraussetzungen, die Ausübung einer existenzsichernden Erwerbstätigkeit, ist im vorliegenden Fall zweifellos erfüllt. Somit bleibt die Frage zu entscheiden, ob der Beschwerdeführer wegen seiner Invalidität auf ein Motorfahrzeug angewiesen sei, um den Arbeitsweg zurückzulegen, wie dies die zweitgenannte Anspruchsvoraussetzung fordert.
a) Das Bundesamt für Sozialversicherung bejaht diese Frage mit dem Argument, der Beschwerdeführer wäre wegen seiner Invalidität auch dann auf ein Motorfahrzeug angewiesen, wenn er am Arbeitsort Dottikon wohnte; die Länge des Arbeitsweges spiele für die Gewährung von Amortisationsbeiträgen eine untergeordnete Rolle, weil die dadurch allenfalls verursachte vorzeitige Abnützung des Wagens zu Lasten des Versicherten gehe.
b) Das Gesamtgericht, welches sich mit dem grundsätzlichen Aspekt dieses Falles befasste, hat die Frage nach der Massgeblichkeit einer solchen Hypothese verneint. Vielmehr ist auf Grund des tatsächlichen Arbeitsweges im Einzelfall zu beurteilen,
BGE 97 V 237 S. 240
ob der Versicherte nach den gesamten Gegebenheiten wegen seiner Invalidität auf ein Motorfahrzeug angewiesen sei. Das trifft - wie die Rechtsprechung schon bisher zu Recht angenommen hat(nichtveröffentlichtes Urteil vom 26. Mai 1970 in Sachen Thurnheer sowie ZAK 1970 S. 410) - namentlich dann nicht zu, wenn anzunehmen ist, der Versicherte müsste nach den Umständen seinen tatsächlichen Arbeitsweg auch als Gesunder mit einem persönlichen Motorfahrzeug zurücklegen. Die Notwendigkeiteines Fahrzeuges kann sich vor allem ergeben aus beruflichen Gründen (für Vertreter, Taxifahrer usw.) sowie aus der Entfernung des Wohnortes vom Arbeitsort, insbesondere wenn es an öffentlichen Verkehrsmitteln fehlt oder deren Benützung unzumutbar ist. Unmassgeblich ist dagegen, ob jemand als Gesunder tatsächlich ein Motorfahrzeug benutzt hat, um seinen Arbeitsweg zu überwinden, ohne dass er nach den Umständen darauf angewiesen war. Diese Ordnung soll auch der rechtsgleichen Behandlung der Empfänger dieser Leistung der Invalidenversicherung gegenüber andern, nicht anspruchsberechtigten Gehbehinderten einerseits und gegenüber Nichtinvaliden anderseits dienen (nicht veröffentlichtes Urteil vom 2. Februar 1971 in Sachen Rebmann, Erw. 3). Dem entspricht es ferner, wenn im Falle eines Wohnsitz- oder Arbeitsplatzwechsels - auch der Invalide ist in dieser Hinsicht grundsätzlich frei (
BGE 96 V 79
/80) - die diesbezüglichen Voraussetzungen gemäss den veränderten Umständen wieder neu geprüft werden. Daraus erhellt, dass die Anspruchsberechtigung nicht mit der Begründung bejaht werden darf, der Invalide würde wegen seines Gebrechens ein Motorfahrzeug benötigen, wenn er anderswo wohnte oder arbeitete; sonst könnte mit der sinngemäss gleichen Begründung auch ein Anspruch verneint werden, der nach den tatsächlichen Verhältnissen schutzwürdig ist. Das Gesamtgericht hat demzufolge die bisherige Rechtsprechung in diesem Sinne bestätigt.
4.
Im vorliegenden Fall ist nicht zu bestreiten, dass Hans Meyer für die Überwindung seines effektiven Arbeitsweges auf ein Motorfahrzeug angewiesen ist. Jedoch braucht er den Wagen nicht wegen der Invalidität - deswegen benötigt er lediglich ein dem Gebrechen angepasstes, mit Automatik ausgerüstetes Automobil -, sondern wegen der Distanz zum Arbeitsplatz unterden herrschenden Umständen. Die Entfernung von seinem Eigenheim in Uezwil zur Sprengstoff-Fabrik Dottikon beträgt
BGE 97 V 237 S. 241
9 1/2 Kilometer. Eine geeignete Verbindung durch öffentliche Verkehrsmittel besteht nicht. Unter solchen Umständen wird heutzutage die Verwendung eines eigenen Automobils, um täglich an die Arbeit zu gelangen, immer mehr üblich, zumal für einen Werkmeister. Aus den Akten ergibt sich denn auch, dass Hans Meyer schon vor seinem Unfall auf einen Wagen angewiesen war, um den Arbeitsweg zu überwinden; denn dieser ist unabhängig von der Invalidität zu lang, als dass er heute noch zu Fuss oder mit dem Fahrrad zurückgelegt würde. Es mag zwar sein, dass der Beschwerdeführer - wie er in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde behauptet - früher 7 Jahre mit dem Rad zur Arbeit gefahren ist. Er arbeitet aber schon rund 20 Jahre in Dottikon. Unmittelbar vor dem Unfall, jedenfalls seit er Werkmeister war, vermutlich aber schon früher, begab er sich im Automobil zur Arbeit. Nach dem Gesagten gebricht es im vorliegenden Fall an der positiv-rechtlichen Anspruchsvoraussetzung der invaliditätsbedingten Notwendigkeit eines Motorfahrzeuges zur Ausübung der Erwerbstätigkeit. Mithin ist dem vorinstanzlichen Entscheid beizupflichten. | 1,098 | 878 | Dispositiv
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen. | 24 | 14 | CH_BGE_007 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_007_BGE-97-V-237_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=1&from_date=&to_date=&from_year=1971&to_year=1971&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=6&highlight_docid=atf%3A%2F%2F97-V-237%3Ade&number_of_ranks=328&azaclir=clir | BGE_97_V_237 |
||
edc31f75-64cd-4507-8695-3c3ac9468cde | 1 | 83 | 1,333,174 | null | 2,024 | de | Sachverhalt
ab Seite 173
BGE 127 IV 172 S. 173
A.-
Am 12. Juni 1999 führte die Kantonspolizei Nidwalden beim Motorfahrradfahrer X. zwei Atemlufttests (Dräger Alcotest) durch, die einen Blutalkoholgehalt von 1,36 bzw. 1,54 Gewichtspromillen ergaben. Auf die Durchführung einer Blutprobe wurde verzichtet.
Nachdem der Verhörrichter des Kantons Nidwalden X. mit Strafbefehl vom 25. August 1999 wegen Führens eines Motorfahrrades in angetrunkenem Zustand (
Art. 91 Abs. 2 SVG
[SR 741.01]) zu einer Busse von Fr. 300.- verurteilt hatte, sprach das Kantonsgericht des Kantons Nidwalden diesen am 6. September 2000 von der Anklage des Fahrens in angetrunkenem Zustand frei.
Die durch die Staatsanwaltschaft des Kantons Nidwalden gegen dieses Urteil gerichtete Appellation wies das Obergericht des Kantons Nidwalden mit Urteil vom 18. Januar 2001 ab.
B.-
Mit eidgenössischer Nichtigkeitsbeschwerde vom 1./2. Mai 2001 beantragt die Staatsanwaltschaft des Kantons Nidwalden, das Urteil des Obergerichts des Kantons Nidwalden vom 18. Januar 2001 vollumfänglich aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut. | 291 | 192 | Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung im Sinne von
Art. 249 BStP
(SR 312.0). Diese erblickt sie darin, dass die Vorinstanzen den Freispruch damit begründeten, weder die durchgeführten Atemlufttests
BGE 127 IV 172 S. 174
noch die Aussagen der Polizeibeamten (Feststellung von Alkoholgeruch im Atem des Beschuldigten) dürften als Beweismittel verwertet werden, weil keine Blutprobe durchgeführt worden sei, wie dies Art. 138 der Verordnung vom 27. Oktober 1976 über die Zulassung von Personen und Fahrzeugen zum Strassenverkehr (VZV; SR 741.51) in jedem Fall vorschreibe, und damit der gesetzlich verlangte Beweis nicht erhoben sei.
a)
Art. 249 BStP
bestimmt, dass die entscheidende kantonale Behörde in Bundesstrafsachen die Beweise frei würdigen soll und nicht an gesetzliche Beweisregeln gebunden ist. Die Bestimmung will sicherstellen, dass die Organe der Strafrechtspflege frei von Beweisregeln und nur nach ihrer persönlichen Ansicht aufgrund gewissenhafter Prüfung darüber entscheiden, ob sie eine Tatsache für bewiesen halten. Daraus folgt, dass die Bestimmung dem Richter bloss verbietet, bei der Erhebung von Beweisen und der Würdigung erhobener Beweise gesetzlichen Regeln - z.B. Verwertungsverboten - zu folgen, die die eigene Prüfung und Bewertung der Überzeugungskraft von Beweismitteln ausschliessen. Eine Verletzung von
Art. 249 BStP
liegt mithin nur vor, wenn bestimmten Beweismitteln von vornherein in allgemeiner Weise die Beweiseignung abgesprochen wird oder wenn der Richter im konkreten Fall bei der Würdigung der Beweise im Ergebnis nicht seiner eigenen Überzeugung folgt (
BGE 127 IV 46
E. 1c). Dagegen steht der Grundsatz der freien Beweiswürdigung nicht Beweisbeschränkungen entgegen, die sich daraus ergeben, dass das Gesetz den Richter anhält, sich bei Feststellung einer Tatsache gewisser Beweismittel zu bedienen; dann darf er die Feststellung nicht treffen, ohne den gesetzlich verlangten Beweis zu erheben und seine Beweiskraft zu prüfen; unterlässt er es, verletzt er die Vorschrift, die ihn zur Erhebung des Beweises verpflichtet (
BGE 103 IV 299
E. 1a).
b) Gemäss
Art. 55 Abs. 2 SVG
sind Fahrzeugführer, bei denen Anzeichen von Angetrunkenheit vorliegen, geeigneten Untersuchungen zu unterziehen. Die Blutprobe kann angeordnet werden. Nach
Art. 55 Abs. 4 SVG
erlässt der Bundesrat Vorschriften über das Vorgehen bei der Blutentnahme und über die technische Auswertung der Blutprobe sowie über die zusätzliche ärztliche Untersuchung des der Angetrunkenheit Verdächtigten.
Nach
Art. 138 Abs. 1 VZV
ist die Blutprobe die geeignete Untersuchungsmassnahme, der sich Fahrzeugführer zur Feststellung der Angetrunkenheit nach
Art. 55 SVG
zu unterziehen haben. Die Blutprobe ist vorzunehmen, wenn Anzeichen von Angetrunkenheit
BGE 127 IV 172 S. 175
bestehen oder wenn jemand sie an sich selbst zu seiner Entlastung verlangt (Abs. 2). Zur Vorprobe kann ein Atemprüfgerät verwendet werden. Von den weiteren Untersuchungen wird abgesehen, wenn die Atemprobe einen Alkoholgehalt von weniger als 0,6 Gewichtspromillen ergibt (Abs. 3). Wenn wichtige Gründe vorliegen, kann die Blutprobe gegen den Widerstand des Verdächtigten durchgeführt werden (Abs. 5). Vorbehalten bleiben weitergehende Bestimmungen des kantonalen Prozessrechts, ferner die Feststellung der Angetrunkenheit aufgrund von Zustand und Verhalten des Verdächtigten oder durch Ermittlung über den Alkoholkonsum und dergleichen, namentlich wenn die Blutprobe nicht vorgenommen werden kann (Abs. 6).
c) Die Vorinstanz vertritt im angefochtenen Entscheid die Auffassung, aus dieser Regelung ergebe sich, dass die Blutprobe bei Anzeichen von Angetrunkenheit zwingend vorzunehmen sei. Wenn dies - obwohl möglich - nicht geschehe, sei der gesetzlich verlangte Beweis nicht erbracht und das Gericht dürfe die Feststellung der Angetrunkenheit nicht treffen. Insbesondere dürfe zur Feststellung der Angetrunkenheit das Ergebnis einer Atemprobe nur berücksichtigt werden, wenn diese als Vorprobe genommen worden sei und die Umrechnung der Atemalkoholkonzentration auf die Blutalkoholkonzentration ein eindeutiges Ergebnis ergeben habe, jedoch keine Blutprobe habe durchgeführt oder diese nicht habe analysiert werden können. Sie beruft sich dazu auf
BGE 116 IV 76
(E. 4b) und
BGE 123 II 105
(E. 3c/bb). Mit dem Verzicht auf die Blutprobe sei im vorliegenden Fall die Beweisregel von
Art. 138 Abs. 2 VZV
verletzt worden, welche die Erhebung einer solchen vorschreibe. Die Ergebnisse der beiden Atemlufttests dürften somit nicht berücksichtigt werden; dasselbe gelte damit für die Aussagen der als Zeugen befragten Polizisten.
d) Die geeignete Untersuchungsmassnahme zur Feststellung der Angetrunkenheit ist die Blutprobe, wie
Art. 138 Abs. 1 VZV
ausdrücklich festhält. Wird sie nicht angeordnet und durchgeführt, besteht die Gefahr von Beweisschwierigkeiten. Die Untersuchungsbehörden sind deshalb gehalten, eine Blutprobe, soweit möglich, durchzuführen. Daraus folgt jedoch nicht, dass dort, wo - obwohl dies möglich gewesen wäre - keine Blutprobe abgenommen wurde, der Beweis der Angetrunkenheit nicht mit anderen Mitteln geführt werden dürfte.
Art. 138 Abs. 6 VZV
behält denn auch ausdrücklich die Ermittlung der Angetrunkenheit auf andere Weise vor (unveröffentlichtes Urteil des Bundesgerichts vom 8. August 1989 i.S.
BGE 127 IV 172 S. 176
S. gegen Rekurskommission des Kantons Bern für Massnahmen gegenüber Fahrzeugführern, E. 3a: in diesem Fall wurde die Anerkennung des Atemlufttestes von 0,9 Gewichtspromillen und der Fahrunfähigkeit durch den Beschuldigten im Rahmen der Beweiswürdigung als ausreichender Beweis anerkannt). Dies ergibt sich schon aus dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung gemäss
Art. 249 BStP
. Der Bundesrat hätte deshalb gestützt auf
Art. 55 SVG
gar nicht die Kompetenz, auf dem Wege der Verordnung die Blutprobe als alleiniges Beweismittel festzulegen und damit eine Verurteilung gestützt auf andere Beweismittel auszuschliessen (unveröffentl. Urteil des Bundesgerichts vom 7. Juni 1994 i.S. M. gegen Ö., E. 2d; vgl. auch JÖRG REHBERG, Neuere Gerichtsentscheide zum Thema "Alkohol am Steuer", in: recht 1996 S. 81). Der Beweis der Fahruntauglichkeit durch Alkoholeinwirkung ist somit auch auf anderem Wege als über die Bestimmung des Blutalkoholgehaltes möglich.
Auch das Ergebnis der Atemprobe kann daher ein Indiz bzw. Beweismittel für Angetrunkenheit bilden. Dies gilt umso mehr, als die neueren Atemalkoholmessgeräte in Bezug auf die Atemalkoholkonzentration (AAK) recht genaue Ergebnisse liefern, wenn sie nach Vorschrift bedient werden. Auch eine falsche Atemtechnik verfälscht das Resultat in der Regel nicht mehr, da moderne Geräte nur eine Luftprobe der Messeinheit zuführen, wenn der Atemstoss korrekt erfolgt. Zudem sind die luftführenden Geräteteile thermostatisiert, womit geräteintern den Auswirkungen der unterschiedlichen Temperaturen der Atemluft begegnet wird. Die gängigen Geräte zeigen aber als Messergebnis nicht die AAK an, sondern rechnen diesen Wert mittels eines Durchschnittsfaktors in die Blutalkoholkonzentration (BAK) um. Die so ermittelte BAK muss folglich nicht mit der BAK als Ergebnis einer Blutprobe übereinstimmen. Zudem können die Ergebnisse des Atemtests und der Blutprobe je nach Zeitpunkt der Testvornahme voneinander abweichen. Die Ursache für diese Abweichungen liegt im Wesentlichen in den Lungen des Probanden, namentlich in Unregelmässigkeiten der Lungendurchblutung und des Gasaustauschs. Weitere Faktoren, die unterschiedliche Resultate bewirken können, sind der Zeitpunkt des Atemtests, die Körpertemperatur sowie Alter, Geschlecht und Konstitution des Probanden. Alle Faktoren zusammen können dazu führen, dass das Ergebnis des Alcotests bis zu etwa 20% über oder unter der mittels Blutprobe festgestellten BAK liegt (
BGE 119 IV 255
E. 2a). Die Atemalkoholanalytik stellt damit - trotz der damit verbundenen
BGE 127 IV 172 S. 177
Unsicherheiten (vgl. dazu auch THOMAS SIGRIST, Zum Nachweis der Fahrunfähigkeit wegen Angetrunkenheit - Atemtest versus Blutalkoholbestimmung, in: AJP 1996 S. 1111 ff.) - ein in sich geschlossenes und widerspruchsfreies Verfahren zur Beurteilung des Alkoholisierungsgrades eines Probanden dar. Es besteht daher kein sachlicher Grund dafür, die Verurteilung eines Fahrzeuglenkers zwar etwa gestützt auf Zeugenaussagen über dessen Zustand bzw. den Alkoholkonsum (vgl.
Art. 138 Abs. 6 VZV
), nicht hingegen aufgrund des Ergebnisses eines Atemlufttests zuzulassen. Denn der Verordnungsgeber misst dem Atemlufttest als Beweismittel gegenüber der zuverlässigeren Blutprobe lediglich weniger Bedeutung zu (unveröffentlichtes Urteil des Bundesgerichts vom 6. Mai 1992 i.S. S. gegen Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen, E. 2). Das Bundesgericht erkannte in diesem Urteil, wegen der mit dem Atemlufttest verbundenen Ungenauigkeiten (es verwies dabei auf die für die Anordnung der Blutprobe festgelegte Grenze eines Atemlufttestergebnisses von 0,6 Gewichtspromillen, bei welcher eben eine Blutalkoholkonzentration von mindestens 0,8 Gewichtspromillen noch möglich sei) könne ein Atemlufttestergebnis von 0,87 bzw. 0,90 Gewichtspromillen von Bundesrechts wegen nicht eine ausreichende Grundlage für die Feststellung einer Blutalkoholkonzentration von mindestens 0,8 Gewichtspromillen bilden; ob ein Atemlufttestergebnis von 1,0 oder erst 1,2 Gewichtspromillen oder gar ein noch höheres Ergebnis dazu ausreiche, wurde offen gelassen (E. 2). Dem eindeutigen Ergebnis eines Atemlufttests indessen von vornherein jeglichen Beweiswert abzusprechen, widerspricht nicht nur
Art. 138 Abs. 6 VZV
, sondern auch dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung (vgl.
BGE 123 II 97
E. 3c/bb).
Auch wenn die Polizei daher im vorliegenden Fall entgegen
Art. 138 Abs. 2 VZV
keine Blutprobe vorgenommen hat, obschon dies möglich gewesen wäre, war es dem Verhörrichter bundesrechtlich nicht verwehrt, die Angetrunkenheit gestützt auf das Beweismittel des eindeutigen Atemlufttests - mit zwei Messungen von 1,36 und 1,54 Gewichtspromillen und damit ausgehend vom tieferen Wert nach Abzug der möglichen Abweichung von 20% immer noch über 1,08 Gewichtspromillen - festzustellen (vgl. unveröffentlichtes Urteil des Bundesgerichts vom 7. Juni 1994 i.S. M. gegen Öffentliches Amt des Kantons Wallis, E. 2d). Dies gilt erst recht für die Zeugenaussagen der befragten Polizisten.
e) Es kommt hinzu, dass es dem Beschuldigten frei steht, in Kenntnis des Ergebnisses des Atemlufttests, welches ihm unverzüglich
BGE 127 IV 172 S. 178
bekannt gegeben wird, auf der Durchführung einer Blutuntersuchung zu bestehen, auf welche er gemäss
Art. 138 Abs. 2 VZV
zu seiner Entlastung grundsätzlich Anspruch hat. Das hat der Beschuldigte nicht getan.
f) Indem die Vorinstanzen
Art. 138 VZV
dahingehend auslegen, diese Bestimmung schliesse von vornherein den Nachweis der Angetrunkenheit mittels anderer Beweismittel wie Atemlufttest und Zeugenbefragung aus, wenn keine Blutprobe abgenommen worden sei, obwohl dies ohne weiteres möglich gewesen wäre, verletzten sie nach dem oben ausgeführten Bundesrecht, d.h.
Art. 138 VZV
und
Art. 249 BStP
. | 2,429 | 1,849 | 2 | 0 | CH_BGE_006 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_006_BGE-127-IV-172_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=14&from_date=&to_date=&from_year=2001&to_year=2001&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=132&highlight_docid=atf%3A%2F%2F127-IV-172%3Ade&number_of_ranks=284&azaclir=clir | BGE_127_IV_172 |
|||
edc8eb0c-485b-4ebd-9be8-6d9858197dee | 2 | 84 | 1,337,808 | null | 2,024 | fr | Sachverhalt
ab Seite 354
BGE 134 V 353 S. 354
A.
La société X. (ci-après: la société) a été affiliée en qualité d'employeur auprès de la Caisse de compensation Hotela (ci-après: la caisse) à partir du 1
er
février 1993. B. en a été administrateur avec signature individuelle dès le 26 mars 1996. La société a été déclarée en faillite le 9 mai 2001. Par lettre du 28 mai 2004, l'office des faillites Y. a informé les créanciers admis à l'état de collocation, dont la caisse, que ce dernier avait été déposé le 4 février 2004 et que le dividende probable s'élevait à 100 % en première classe et à environ 20 % en deuxième classe. La créance en faveur de la caisse admise à l'état de collocation concernait l'année 2000 et s'élevait à 372'227 fr. 05.
Par décision du 24 août 2004, la caisse a réclamé à B. le versement d'un montant de 245'505 fr. 30 à titre de réparation du dommage résultant du non-paiement des cotisations sociales par la société pour la période du 1
er
janvier au 14 novembre 2000. Saisie d'une opposition formée par B. contre sa décision, la caisse l'a rejetée le 28 février 2005, tout en réduisant ses prétentions à 167'628 fr. 90.
B.
B. a recouru contre cette décision devant le Tribunal administratif du canton de Neuchâtel. Il a conclu à l'annulation de la décision sur opposition du 28 février 2005 et a soulevé l'exception de prescription.
BGE 134 V 353 S. 355
Par jugement du 28 septembre 2007, le tribunal cantonal a rejeté le recours.
C.
B. interjette un recours en matière de droit public contre ce jugement, en concluant principalement à l'annulation de celui-ci, sous suite de frais et dépens. Il soulève à nouveau l'exception de prescription.
La caisse conclut au rejet du recours, tandis que l'Office fédéral des assurances sociales a renoncé à se déterminer. | 682 | 357 | Erwägungen
Considérant en droit:
1.
1.1
Le litige porte sur la responsabilité du recourant pour le dommage subi par la caisse ensuite du non-paiement de cotisations sociales fédérales pour l'année 2000, en particulier sur le point de savoir si la créance de la caisse est ou non frappée de prescription.
1.2
Il est établi et non contesté en l'espèce que la caisse aurait eu connaissance du dommage à la fin du mois de mars 2002, soit à la suite de la première assemblée des créanciers (cf.
ATF 126 V 450
consid. 3b p. 454 s.), si elle avait fait preuve de l'attention exigible.
2.
2.1
Selon la juridiction cantonale, la créance en réparation du dommage de la caisse n'étant pas périmée au 1
er
janvier 2003, le délai de prescription de deux ans de l'
art. 52 al. 3 LAVS
devait s'appliquer. Or, ce délai ayant commencé à courir le 1
er
janvier 2003, la décision en réparation du dommage rendue par la caisse le 24 août 2004 n'était par conséquent pas tardive.
2.2
Pour le recourant, il y a lieu d'appliquer en l'espèce l'ancien
art. 82 al. 1 RAVS
(RS 831.101) exclusivement, de sorte qu'en ayant eu connaissance du dommage lors de la première assemblée des créanciers du 6 mars 2002, la caisse avait jusqu'au 6 mars 2003 pour rendre sa décision en réparation du dommage.
3.
3.1
D'après l'ancien
art. 82 al. 1 RAVS
, en vigueur jusqu'au 31 décembre 2002, le droit de demander la réparation du dommage se prescrit lorsque la caisse de compensation ne le fait pas valoir par une décision de réparation dans l'année après qu'elle a eu connaissance du dommage et, en tout cas, à l'expiration d'un délai de cinq ans à compter du fait dommageable. En tant qu'il s'agit de délais de
BGE 134 V 353 S. 356
péremption, la caisse de compensation est déchue du droit d'exiger la réparation du dommage si elle n'a pas agi dans les délais requis (cf.
ATF 128 V 10
consid. 5a p. 12,
ATF 128 V 15
consid. 2a p. 17;
ATF 126 V 450
consid. 2a p. 451; cf. également ANDREA BRACONI, Prescription et péremption dans l'assurance sociale, in Droit privé et assurances sociales, Fribourg 1990, p. 223 et 227 ss). En revanche, si elle a rendu une décision de réparation du dommage dans ces délais et, en cas d'opposition, ouvert une action dans les 30 jours à compter du moment où elle a eu connaissance de l'opposition (ancien
art. 81 al. 3 RAVS
), ses droits sont sauvegardés pour toute la durée de la procédure, jusqu'à ce que la décision entre en force ou qu'un jugement définitif soit rendu (cf. consid. 5.1.1 de l'arrêt du Tribunal fédéral des assurances H 96/03 du 30 novembre 2004, publié in SVR 2005 AHV n° 15 p. 48; RCC 1991 p. 136, consid. 2c, H 116/85).
Avec l'entrée en vigueur de la LPGA (RS 830.1), au 1
er
janvier 2003, l'
art. 82 RAVS
a été abrogé. Depuis lors, le nouvel
art. 52 LAVS
(introduit par le ch. 7 de l'annexe à la LPGA) prévoit à son al. 3 que le droit à réparation est prescrit deux ans après que la caisse de compensation compétente a eu connaissance du dommage et, dans tous les cas, cinq ans après la survenance du dommage. Ces délais peuvent être interrompus et l'employeur peut renoncer à s'en prévaloir. Il s'agit de délais de prescription, non de péremption, comme cela ressort du texte légal et des travaux préparatoires de la LPGA (cf. arrêt H 96/03 déjà cité consid. 5.1.2; FF 1994 V 965, 1999 p. 4422).
3.2
Ni la LAVS ni la LPGA ne contiennent une disposition de droit transitoire relative aux délais de péremption et de prescription prévus par l'ancien
art. 82 RAVS
et l'
art. 52 al. 3 LAVS
. Selon la doctrine (ATTILIO GADOLA, Verjährung und Verwirkung im öffentlichen Recht, in AJP 1995 p. 58; ANDRÉ GRISEL, Traité de droit administratif, p. 150) et la jurisprudence (
ATF 102 V 207
consid. 2 p. 208;
ATF 111 II 186
consid. 7 p. 193;
ATF 107 Ib 198
consid. 7b/aa p. 203 s.), il est admissible de soumettre à de nouveaux délais de prescription des créances nées et devenues exigibles sous l'empire de l'ancien droit et qui ne sont pas prescrites ou périmées au moment de l'entrée en vigueur du nouveau droit; la protection des droits acquis exige que lorsque l'ancien droit ne prévoyait pas de délai de prescription ou de péremption, les délais prévus par le nouveau droit ne commencent toutefois à courir qu'à partir de son entrée en vigueur (cf.
ATF 102 V 207
consid. 2 p. 208;
ATF 87 I 411
consid. 2 p. 413;
ATF 82 I 53
BGE 134 V 353 S. 357
consid. 3 p. 57 s.; voir aussi PAUL MUTZNER, Kommentar zum Schweizerischen Zivilgesetzbuch [Commentaire bernois], Schlusstitel: Anwendungs- und Einführungsbestimmungen, Art. 1-50, 2
e
éd., Berne 1926, n. 7 ad art. 49 Titre final du code civil [p. 261]; GADOLA, ibidem). A l'
ATF 131 V 425
, le Tribunal fédéral des assurances a jugé que les prétentions en dommages-intérêts qui n'étaient pas encore périmées au 1
er
janvier 2003, étaient assujetties aux règles de prescription de l'
art. 52 al. 3 LAVS
entrées en vigueur à ce moment-là (cf. consid. 5.2 et 5.3). Il a cependant laissé ouverte la question de savoir si la période écoulée sous l'ancien droit devait être portée en compte dans le délai de prescription de deux ans de l'
art. 52 al. 3 LAVS
.
4.
4.1
Dans la mesure où la caisse a eu connaissance du dommage au plus tard à la fin du mois de mars 2002 (cf. consid. 1.2 supra), le délai pour rendre la décision en réparation du dommage n'était pas périmé au sens de l'ancien
art. 82 al. 1 RAVS
au 1
er
janvier 2003, de sorte qu'il a été soumis dès cette date aux règles de prescription de l'
art. 52 al. 3 LAVS
et correspondait à une durée de deux ans (cf. consid. 3.2 supra). Par ailleurs, le délai de prescription relatif prévu par l'
art. 52 al. 3 LAVS
ne commence à courir, selon le texte même de cette disposition - qui n'a apporté aucun changement sur le fond en ce qui concerne le début du délai par rapport à la solution prévue par l'ancien
art. 82 al. 1 RAVS
(cf. FF 1994 V 965) -, qu'à partir du moment où la caisse a eu connaissance du dommage. Le point de départ du délai de prescription se situe donc sous l'empire de l'ancien droit. Tant le respect du début de la prescription que le respect de sa durée plaident en faveur d'une solution de droit transitoire qui consiste à imputer au délai de prescription de deux ans le temps écoulé sous l'ancien droit. Cette règle est à la fois conforme au principe de la légalité qui exige que, sauf motif particulier, les lois entrent en vigueur sans retard et ne contrevient pas au principe de la protection de la bonne foi. En effet, loin d'être désavantagée par l'application du nouveau droit, la caisse se trouve favorisée non seulement par l'introduction d'un délai plus long pour agir en réparation du dommage, mais aussi par la possibilité, nouvelle, d'interrompre la prescription dès le 1
er
janvier 2003, ce qui a pour effet de prolonger considérablement le temps à disposition pour faire valoir ses droits.
BGE 134 V 353 S. 358
Rien ne justifie en revanche un régime de droit transitoire - qui est là pour faciliter le passage d'un régime juridique à un autre - qui fasse bénéficier la caisse de droits encore plus étendus que ceux prévus par le nouveau droit. Or, en n'imputant pas le temps écoulé sous l'ancien droit dans le délai de prescription de deux ans, la solution des premiers juges favorise indûment la caisse par rapport à sa situation prévalant sous l'ancien droit car elle entraîne un cumul du délai écoulé sous l'empire de l'ancien
art. 82 al. 1 RAVS
- in casu neuf mois - ainsi que du délai de deux ans prévu par l'
art. 52 al. 3 LAVS
. Cette situation, qui correspond en fait à repousser au 1
er
janvier 2003 la date à laquelle la caisse a eu connaissance du dommage au cours de l'année 2002, n'est cependant permise ni par l'ancien
art. 82 al. 1 RAVS
, ni par l'
art. 52 al. 3 LAVS
. Il y a lieu de réserver cependant les situations comme celle examinée dans l'arrêt H 96/03, où une action en réparation du dommage non périmée selon l'ancien droit avait été introduite avant le 1
er
janvier 2003 et où se posait la question nouvelle de la prescription en cours d'instance inconnue selon l'ancien droit; dans cette hypothèse, le Tribunal fédéral des assurances a considéré que ce nouveau délai n'avait pu commencer à courir avant le 1
er
janvier 2003.
4.2
En l'espèce, la connaissance du dommage doit être fixée à la fin du mois de mars 2002. Par ailleurs, il est constant qu'aucun acte interruptif au sens de l'
art. 135 CO
n'a été effectué avant que la caisse ne rende sa décision en réparation du dommage le 24 août 2004. Aussi, le droit de demander la réparation du dommage était-il prescrit à cette date. Le recours est par conséquent bien fondé.
5.
Compte tenu de l'issue du litige, les frais de justice doivent en principe être supportés par la caisse intimée qui succombe (art. 66 al. 1 première phrase LTF en relation avec l'
art. 65 al. 3 let. b LTF
). Le recourant, qui obtient gain de cause, a droit à une indemnité de dépens pour l'instance fédérale (
art. 68 al. 1 LTF
). | 3,513 | 1,971 | 2 | 0 | CH_BGE_007 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_007_BGE-134-V-353_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=11&from_date=&to_date=&from_year=2008&to_year=2008&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=103&highlight_docid=atf%3A%2F%2F134-V-353%3Ade&number_of_ranks=277&azaclir=clir | BGE_134_V_353 |
|||
edcd03d0-1ad8-47a2-ba5c-9f3d21368aed | 1 | 82 | 1,350,297 | null | 2,024 | de | Sachverhalt
ab Seite 468
BGE 131 III 467 S. 468
Mit Arbeitsvertrag vom 20. April 2000 stellte die A. AG X. als Vertriebsdirektor an. Nachdem der Arbeitnehmer die Stelle vereinbarungsgemäss am 15. Mai 2000 angetreten hatte, fertigten die Parteien am 19. Juni 2000 einen detaillierten Arbeitsvertrag aus. Dieser sah insbesondere Folgendes vor:
Am 17. August 2000 kündigte die Arbeitgeberin den Arbeitsvertrag auf den 24. August 2000, stellte den Arbeitnehmer vom 21. August 2000 an frei und forderte ihn auf, am 24. August 2000 zur Übergabe sämtlicher Unterlagen bei ihr zu erscheinen.
Mit Schreiben vom 21. August 2000 teilte der Arbeitnehmer der Arbeitgeberin mit, dass ihm die Kündigung nach Ablauf der Probezeit zugegangen sei und das Arbeitsverhältnis deshalb erst auf den 28. Februar 2001 aufgelöst werden könne. Trotz sofortiger Freistellung stünden ihm grundsätzlich sämtliche Lohnansprüche bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu. Nachdem die Arbeitgeberin zuerst an der Kündigung auf den 24. August 2000 festgehalten hatte, forderte sie den Arbeitnehmer am 5. September 2000 schriftlich auf, die Arbeit am übernächsten Tag wieder aufzunehmen, und verwies für den Säumnisfall auf
Art. 337d OR
. Als der Arbeitnehmer nicht zur Arbeit erschien, sprach die Arbeitgeberin am 8. September 2000 die fristlose Kündigung aus.
X. (nachfolgend: Kläger 1), der nach der fristlosen Kündigung arbeitslos war, erhielt von der öffentlichen Arbeitslosenkasse des Kantons Aargau (nachfolgend: Klägerin 2) im September 2000 Fr. 525.10, im Oktober 2000 Fr. 5'776.10, im November 2000 Fr. 5'776.10 und im Dezember 2000 Fr. 5'513.55 ausbezahlt.
Am 19. Januar 2001 reichten X. und die Arbeitslosenkasse gegen die A. AG Klage ein mit den Rechtsbegehren, die Beklagte zur Zahlung von Fr. 95'543.- brutto nebst 5 % Zins seit 8. September 2000 zu verpflichten unter gleichzeitiger Verpflichtung von X. zur Herausgabe des Geschäftsfahrzeugs. Die Beklagte beantragte die Abweisung der Klage und erhob Widerklage auf Herausgabe des Geschäftsfahrzeugs und Zahlung von Schadenersatz wegen Vorenthaltens des Fahrzeugs. Das Fahrzeug wurde im Laufe des Verfahrens zurückgegeben.
BGE 131 III 467 S. 469
Mit Urteil vom 2. Dezember 2002 verpflichtete der Einzelrichter des Bezirksgerichts March die Beklagte zur Zahlung von Fr. 12'421.05 netto an den Kläger 1 und von Fr. 525.10 netto an die Klägerin 2. Die Widerklage wurde abgewiesen.
Auf Berufung der Kläger und Anschlussberufung der Beklagten verpflichtete das Kantonsgericht Schwyz die Beklagte mit Urteil vom 31. August 2004 zur Zahlung von Fr. 15'209.80 netto nebst 5 % Zins auf Fr. 2'463.70 seit 8. September 2000, auf Fr. 8'996.10 seit 1. Oktober 2000 und auf Fr. 3'750.- seit 1. Januar 2001 an den Kläger 1 sowie zur Weiterleitung der entsprechenden Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge an die zuständigen Sozialversicherungskassen und zur Zahlung von Fr. 525.10 netto nebst 5 % Zins seit 1. Oktober 2000 an die Klägerin 2.
Die Kläger haben das Urteil des Kantonsgerichts mit Berufung angefochten. Das Bundesgericht weist die Berufung ab. | 699 | 512 | Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Vor Bundesgericht ist einzig noch die Frage streitig, ob für die am 17. August 2000 ausgesprochene Kündigung die einmonatige Kündigungsfrist gemäss der gesetzlichen Regel von
Art. 335c Abs. 1 OR
gilt, wie das Kantonsgericht annimmt, oder die sechsmonatige Kündigungsfrist, wie sie vertraglich für die Zeit ab 1. September 2000 vereinbart worden ist. Letzteres wird von den Klägern in den Verfahren vor dem Bundesgericht vertreten. Nicht mehr streitig ist dagegen, dass die am 8. September 2000 von der Beklagten ausgesprochene fristlose Entlassung ungültig ist, weil kein wichtiger Grund im Sinne von
Art. 337 OR
gegeben war.
1.1
Der Inhalt eines Vertrages bestimmt sich in erster Linie durch subjektive Auslegung, das heisst nach dem übereinstimmenden wirklichen Parteiwillen (
Art. 18 Abs. 1 OR
). Nur wenn eine tatsächliche Willensübereinstimmung unbewiesen bleibt, sind zur Ermittlung des mutmasslichen Parteiwillens die Erklärungen der Parteien aufgrund des Vertrauensprinzips so auszulegen, wie sie nach ihrem Wortlaut und Zusammenhang sowie den gesamten Umständen verstanden werden durften und mussten. Während das Bundesgericht die objektivierte Vertragsauslegung als Rechtsfrage prüfen kann, beruht die subjektive Vertragsauslegung auf Beweiswürdigung, die vorbehaltlich der Ausnahmen von
Art. 63 Abs. 2 und
Art. 64 OG
der bundesgerichtlichen Überprüfung im
BGE 131 III 467 S. 470
Berufungsverfahren entzogen ist. Der Vorrang der subjektiven vor der objektivierten Vertragsauslegung ergibt sich aus
Art. 18 OR
als Auslegungsregel. Die Verletzung dieses Grundsatzes kann deshalb mit der Berufung gerügt werden (
BGE 121 III 118
E. 4b/aa S. 123 mit Hinweisen).
1.2
Im vorliegenden Fall besteht die Besonderheit, dass der Wille der Parteien zwar klar, aber insoweit gesetzeswidrig ist, als vertraglich eine mehr als drei Monate dauernde Probezeit vereinbart wurde. Es ist deshalb danach zu fragen, ob die Parteien für diesen Fall einen subsidiären Parteiwillen hatten oder ob an die Stelle des gewollten, aber nicht zulässigen Vertragsinhaltes die subsidiäre gesetzliche Regelung tritt. Auch diese Frage ist grundsätzlich nach dem Vertrauensprinzip zu beantworten, indem der mutmassliche bzw. hypothetische Parteiwille ermittelt wird, sofern nicht ein diesbezüglicher tatsächlicher Parteiwille nachgewiesen werden kann.
1.3
Das Kantonsgericht ist nach der geschilderten Methode vorgegangen. Dabei ist es zum Ergebnis gelangt, dass die Parteien mutmasslich für die Zeit zwischen Mitte und Ende August 2000 die gesetzliche Kündigungsfrist gewollt haben und nicht die für die Zeit ab September vereinbarte längere Frist. Dafür kann sich das Kantonsgericht auf die Überlegung stützen, dass die Parteien bis Ende August offenbar eine sehr kurze Kündigungsfrist haben wollten. Es ist folglich nicht anzunehmen, dass sie für den Fall, dass sich die Vereinbarung einer kürzeren als der gesetzlichen Kündigungsfrist von einem Monat als rechtswidrig erweist, eine längere, nämlich die für die Zeit nach August 2000 vereinbarte Kündigungsfrist von sechs Monaten wollten. Diese Überlegung entspricht auch der Wertung, die
Art. 20 Abs. 2 OR
zugrunde liegt. Erweist sich eine vertragliche Vereinbarung nur teilweise als rechtlich unzulässig, ist nur der entsprechende Teil des Vertrages nichtig, sofern nicht anzunehmen ist, dass die Parteien den Vertrag ohne den nichtigen Teil nicht geschlossen hätten. Es ist somit von einer blossen Teilnichtigkeit auszugehen und der Vertrag ist in abgeänderter Form so nahe am Willen der Parteien aufrecht zu erhalten wie möglich. Lehre und Rechtsprechung gehen deshalb davon aus, dass eine von den Parteien für mehr als drei Monate vereinbarte Probezeit auf das erlaubte Mass zu reduzieren ist (
BGE 129 III 124
E. 3.1; REHBINDER, Berner Kommentar, N. 2 zu
Art. 335b OR
; STREIFF/VON KAENEL, Leitfaden zum
BGE 131 III 467 S. 471
Arbeitsvertragsrecht, 5. Aufl., Zürich 1992, N. 5 zu
Art. 335b OR
; BRÜHWILER, Kommentar zum Einzelarbeitsvertrag, 2. Aufl., Bern 1996, N. 5a zu
Art. 335b OR
).
Wenn die Parteien für die Zeit bis Ende August 2000 eine möglichst kurze Kündigungsfrist wollten und sich die von ihnen vereinbarte als unzulässig erweist, liegt es auf der Hand, die etwas längere gesetzliche anzuwenden und nicht die noch längere, die für die Zeit danach vereinbart worden ist. Der hier zu beurteilende Fall lässt sich nicht mit jenem vergleichen, welchen das Bundesgericht in
BGE 109 II 449
ff. entschieden hat. Dort ging es um einen befristeten Arbeitsvertrag mit einer Probezeit. Nach deren Ablauf lag ein befristeter Arbeitsvertrag vor. Die Teilnichtigkeit hatte deshalb zur Folge, dass der Vertrag nicht mehr kündbar war. Die Anwendung einer gesetzlichen Kündigungsfrist anstelle der vertraglich vereinbarten festen Vertragsdauer stand nicht zur Diskussion. Im vorliegend zu beurteilenden Fall liegt demgegenüber ein unbefristetes Arbeitsverhältnis vor, bei dem die subsidiäre gesetzliche Kündigungsfrist die ungültige Vereinbarung ersetzen kann. Aus diesen Gründen erweist sich die Vertragsauslegung der Vorinstanz als bundesrechtskonform.
2.
Nicht geprüft hat das Kantonsgericht allerdings die Frage, ab wann die Kündigungsfrist zu laufen begann. Diese Frage ist rechtlich erheblich, weil gemäss der vertraglichen Vereinbarung ab dem 1. September 2000 die Kündigungsfrist sechs Monate betrug und bei Anwendung der Regel von
Art. 335c Abs. 1 OR
die im August ausgesprochene Kündigung erst auf Ende September 2000 wirksam wurde.
Gelten je nach Dauer des Arbeitsverhältnisses unterschiedliche Kündigungsfristen, kommt jene zur Anwendung, die im Zeitpunkt des Beginns der Kündigungsfrist gilt. Es ist nicht darauf abzustellen, wann diese endet (Arbeitsgericht Zürich, Urteil vom 12. Oktober 1984, publ. in: Jahrbuch des Schweizerischen Arbeitsrechts [JAR] 1985 S. 226 f.).
2.1
Fraglich erscheint aber, ob die Kündigungsfrist mit dem Zugang der Erklärung zu laufen beginnt oder die Frist vom Zeitpunkt an zurückzurechnen ist, auf den die Erklärung das Arbeitsverhältnis beenden soll (FAVRE/MUNOZ/TOBLER, Le contrat de travail, Lausanne 2001, N. 2.4 ff. zu
Art. 336c OR
). Diese beiden Zeitpunkte unterscheiden sich erheblich, wenn die Kündigung während eines
BGE 131 III 467 S. 472
laufenden Monats ausgesprochen wird, aber bloss auf Ende eines Monats das Arbeitsverhältnis beenden kann. Wäre die Kündigungsfrist vom Endtermin rückwärts zu berechnen, hätte sie im vorliegenden Fall erst am 1. September 2000 zu laufen begonnen und würde zeitlich in den Bereich fallen, für den vertraglich eine sechsmonatige Kündigungsfrist vereinbart worden ist. Begänne die Frist dagegen bereits mit der Zustellung der Kündigungserklärung zu laufen und würde das Arbeitsverhältnis bloss wegen des Endtermins der Kündigung bis zum Ende des Monats verlängert, hätte sie im vorliegenden Fall Mitte August 2000 zu laufen begonnen und wäre Ende September 2000 unbeeinflusst von der Vereinbarung der Parteien betreffend sechsmonatiger Kündigungsfrist abgelaufen.
Soweit ersichtlich hat das Bundesgericht bis jetzt noch nie ausdrücklich zu dieser Frage Stellung genommen. In Bezug auf Kündigungen in der Probezeit stellt sie sich in der Regel nicht, weil nach
Art. 335b Abs. 1 OR
die Kündigung auf jeden beliebigen Zeitpunkt möglich ist. Demgegenüber spielt die Frage beim zeitlichen Kündigungsschutz eine Rolle, weil dort die Regel gilt, dass eine Arbeitsunfähigkeit die Kündigung nur dann nichtig macht bzw. die Kündigungsfrist verlängert, wenn sie in die Kündigungsfrist fällt (
BGE 109 II 330
ff.;
BGE 121 III 107
E. 2;
BGE 124 III 474
E. 2 mit Literaturzitaten). Diese Rechtsprechung wurde zwar im Zusammenhang mit der Verlängerung der Kündigungsfrist nach einer Sperrfrist entwickelt. Es sind indessen keine Gründe ersichtlich, weshalb sie nicht allgemein für die Berechnung der Kündigungsfrist gelten soll. Daraus folgt, dass die Kündigungsfrist stets mit der Zustellung der Kündigung bzw. am darauf folgenden Tag zu laufen beginnt und am entsprechenden Tag des der Dauer der Frist entsprechenden Monats endet. Das Arbeitsverhältnis verlängert sich indessen wegen des Kündigungstermins über die Dauer der Kündigungsfrist hinaus bis zum Ende des Monats. Arbeitsverhinderungen, die in die Zeit zwischen der Zustellung der Kündigungserklärung und dem Beginn des darauf folgenden Monats fallen, sind somit beim zeitlichen Kündigungsschutz zu berücksichtigen (a.M. HANS-PETER EGLI, in: Kren Kostkiewicz/Bertschinger/ Breitschmied/Schwander [Hrsg.], Handkommentar OR, Zürich 2002, N. 14 zu Art. 336c in Verb. mit N. 1 zu
Art. 335a OR
). Arbeitsverhinderungen, die in die Zeit der blossen Verlängerung des Arbeitsverhältnisses fallen, bleiben dagegen ausser Betracht.
BGE 131 III 467 S. 473
2.2
Die Anwendung dieser Regeln auf den vorliegenden Fall führt zum Ergebnis, dass die Kündigungsfrist am 17. bzw. 18. August 2000 zu laufen begonnen hat und einen Monat später unbeeinflusst von der vertraglichen Vereinbarung der Parteien betreffend sechsmonatige Kündigungsfrist abgelaufen ist. Da die Kündigung auf Ende September 2000 terminiert war, endete das Arbeitsverhältnis in diesem Zeitpunkt. Das angefochtene Urteil, das zum gleichen Ergebnis gelangt ist, verletzt demnach kein Bundesrecht. | 1,972 | 1,579 | 2 | 0 | CH_BGE_005 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_005_BGE-131-III-467_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=21&from_date=&to_date=&from_year=2005&to_year=2005&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=208&highlight_docid=atf%3A%2F%2F131-III-467%3Ade&number_of_ranks=281&azaclir=clir | BGE_131_III_467 |
|||
edd018f1-06cf-49ff-adee-c04439606b42 | 1 | 84 | 1,355,523 | 1,630,454,400,000 | 2,021 | de | Sachverhalt
ab Seite 442
BGE 147 V 441 S. 442
A.
A.a
Der 1993 geborene A.A. leidet an einer schweren Sehbehinderung. Seit 1. November 2011 bezieht er Ergänzungsleistungen (EL) zu einer Hilflosenentschädigung der Invalidenversicherung (IV).
A.b
Nach der Heirat am 11. Juni 2018 und der Geburt seiner Tochter A.B. am 6. Juli 2019 berechnete die Sozialversicherungsanstalt des Kantons Aargau (SVA) die Ergänzungsleistungen des A.A. neu. Sie setzte den Anspruch rückwirkend ab September 2018 und ab Juli 2019 neu fest (Verfügungen vom 18. Juli 2019 und 7. Februar 2020), wobei sie darauf hinwies, dass die Tochter in der Berechnung unberücksichtigt bleibe, weil sie keinen Anspruch auf eine Kinderrente habe. Daran hielt die SVA auf die von A.A. dagegen erhobenen Einsprachen hin fest (Entscheid vom 14. Mai 2020).
B.
Beschwerdeweise liess A.A. beantragen, der Einspracheentscheid sei aufzuheben und die Verwaltung zu verpflichten, bei der Berechnung der Ergänzungsleistungen ab Juli 2019 als Ausgabe die geleisteten familienrechtlichen Unterhaltsbeiträge im Sinne von
Art. 10 Abs. 3 lit. e ELG
(SR 831.30) gemäss der in Rz. 3272.04 der Wegleitung über die Ergänzungsleistungen (WEL) festgelegten Berechnungsweise zu berücksichtigen. Die Ergänzungsleistungen seien ab 1. Juli 2019 in der Höhe anzupassen und auszurichten. Mit Urteil vom 16. November 2020 wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau die Beschwerde ab.
BGE 147 V 441 S. 443
C.
A.A. lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen, die Aufhebung des Urteils vom 16. November 2020 beantragen und das im kantonalen Verfahren gestellte Rechtsbegehren erneuern.
Die SVA schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) stellt den Antrag, die Beschwerde sei dahingehend gutzuheissen, als festzustellen sei, dass Rz. 3272.04 WEL der Bestimmung des
Art. 9 Abs. 2 ELG
nicht widerspreche und
Art. 10 Abs. 3 lit. e ELG
eine ausreichende gesetzliche Grundlage für die genannte Weisungsbestimmung biete.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut. | 883 | 378 | Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
3.1
Anspruch auf Ergänzungsleistungen haben unter anderem Personen mit Wohnsitz und gewöhnlichem Aufenthalt in der Schweiz, die Anspruch auf eine Rente oder eine Hilflosenentschädigung der IV haben oder ununterbrochen während mindestens sechs Monaten ein Taggeld der IV beziehen (
Art. 4 Abs. 1 lit. c ELG
). Die jährliche Ergänzungsleistung entspricht dabei grundsätzlich dem Betrag, um den die anerkannten Ausgaben die anrechenbaren Einnahmen übersteigen (
Art. 9 Abs. 1 ELG
).
3.2
Die anerkannten Ausgaben sowie die anrechenbaren Einnahmen von Ehegatten und Personen mit rentenberechtigten Waisen oder mit Kindern, die einen Anspruch auf eine Kinderrente der AHV oder IV begründen, werden zusammengerechnet; dies gilt auch für rentenberechtigte Waisen, die im selben Haushalt leben (
Art. 9 Abs. 2 ELG
). Kinder, welche diese Voraussetzung nicht erfüllen, fallen bei der Anspruchsberechnung ausser Betracht (
Art. 8 Abs. 1 ELV
[SR 831.301]).
Die Bestimmung des
Art. 9 Abs. 2 ELG
sieht bei der EL-Berechnung einen Einbezug lediglich der rentenberechtigten oder an der Rente beteiligten, d.h. einen Anspruch auf eine Kinderrente begründenden Kinder vor. Bei Personen, die ihre EL-Anspruchsberechtigung gemäss
Art. 4 Abs. 1 lit. c ELG
nicht aus einer Rente, sondern aus einem Taggeld der IV ableiten und deren Kinder deshalb keinen Anspruch auf eine Kinderrente haben (und in der Regel auch nicht waisenrentenberechtigt sind), ist nach der Rechtsprechung, die von einem qualifizierten Schweigen des Gesetzgebers ausgeht, eine
BGE 147 V 441 S. 444
gemeinsame EL-Berechnung im Sinne dieser Bestimmung ausgeschlossen (
BGE 139 V 307
mit Hinweis auf
BGE 119 V 189
). Gleiches muss für die Personen gelten, die eine Hilflosenentschädigung der IV beziehen, weil auch ihre Kinder keinen Anspruch auf eine Kinderrente begründen (vgl. zum Ganzen auch JÖHL/USINGER-EGGER, Ergänzungsleistungen zur AHV/IV, in: Soziale Sicherheit, SBVR Bd. XIV, 3. Aufl. 2016, S. 1740 f. Rz. 45 f.; MICHEL VALTERIO, Commentaire de la loi fédérale sur les prestations complémentaires à l'AVS et à l'AI, 2015, S. 60 f. und 63 Rz. 16; URS MÜLLER, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum ELG, 3. Aufl. 2015, N. 92 zu
Art. 9 ELG
). Eine gemeinsame EL-Berechnung mit Einbezug der Einnahmen und Ausgaben der Kinder findet mithin bei diesen beiden Versichertenkategorien nicht statt.
3.3
Die anerkannten Ausgaben werden in
Art. 10 ELG
einzeln aufgezählt und abschliessend geregelt (Urteil 9C_69/2013 vom 9. August 2013 E. 6 in fine; JÖHL/USINGER-EGGER, a.a.O., S. 1777 f. Rz. 93). Dazu gehören unter anderem geleistete familienrechtliche Unterhaltsbeiträge (Abs. 3 lit. e).
3.3.1
Nach der Rechtsprechung ist für die Berücksichtigung einer Ausgabe als familienrechtliche Unterhaltszahlung im Sinne von
Art. 10 Abs. 3 lit. e ELG
vorausgesetzt, dass sie richterlich, behördlich oder vertraglich festgesetzt und betraglich konkretisiert worden ist. Mit anderen Worten muss die Auseinandersetzung über den Bestand und die Höhe der konkreten familienrechtlichen Unterhaltspflicht der versicherten Person abgeschlossen sein (Urteil 9C_160/2018 vom 9. August 2018 E. 4.1, in: SVR 2018 EL Nr. 19 S. 49; Urteil P 38/06 vom 11. Oktober 2007 E. 4.2.2 mit Hinweisen [zu Art. 3b Abs. 3 lit. e aELG]; vgl. auch MÜLLER, a.a.O., N. 256 zu
Art. 10 ELG
; CARIGIET/KOCH, Ergänzungsleistungen zur AHV/IV, 2. Aufl. 2009, S. 144). Bei einer richterlich genehmigten Konvention oder vom Gericht festgelegten Unterhaltsbeiträgen sind die Organe der Sozialversicherung an den entsprechenden zivilrechtlichen Entscheid gebunden und nicht befugt, über die rechtskräftig entschiedene Frage selbständig zu befinden (Urteil 9C_396/2018 vom 20. Dezember 2018 E. 5.1, in: SVR 2019 EL Nr. 6 S. 11; Urteil 9C_740/2014 vom 9. März 2015 E. 4.1; JÖHL/USINGER-EGGER, a.a.O., S. 1795 Rz. 113; CARIGIET/KOCH, a.a.O., S. 145 f.).
3.3.2
Weiter sind nach der zu
Art. 10 Abs. 3 lit. e ELG
ergangenen Rechtsprechung nur die tatsächlich erbrachten Unterhaltsbeiträge als
BGE 147 V 441 S. 445
abzugsfähige Ausgaben anerkannt (Urteil P 12/04 vom 14. September 2005 E. 4.3, in: SVR 2007 EL Nr. 2 S. 3; Urteil P 53/03 vom 2. März 2004 E. 2 und 3 [zu Art. 3b Abs. 3 lit. e aELG], in: AHI 2004 S. 148; JÖHL/USINGER-EGGER, a.a.O., S. 1792 f. Rz. 111; VALTERIO, a.a.O., S. 112 Rz. 65; CARIGIET/KOCH, a.a.O., S. 147).
4.
Zur gemeinsamen EL-Berechnung nach
Art. 9 Abs. 2 ELG
und zur ausgabenseitigen Berücksichtigung familienrechtlicher Unterhaltsbeiträge gemäss
Art. 10 Abs. 3 lit. e ELG
äussert sich auch die WEL (gültig ab 1. April 2011; Stand 1. Januar 2019). Auf deren Rz. 3272.04 stützt sich der Beschwerdeführer hinsichtlich der Unterhaltspflicht gegenüber seiner minderjährigen Tochter. Die Vorinstanz hält die Wegleitungsbestimmung für gesetzwidrig.
4.1
Gemäss Rz. 3124.04 WEL fallen minderjährige Kinder, die weder Anspruch auf eine Waisenrente haben noch Anspruch auf eine Kinderrente begründen, mit ihren vom Gesetz anerkannten Ausgaben und anrechenbaren Einnahmen sowie dem Vermögen bei der Berechnung der EL der Eltern ausser Betracht (Satz 1). Unterhaltsleistungen der Eltern an diese Kinder werden jedoch bei der Bemessung der den Eltern zustehenden jährlichen EL als Ausgabe berücksichtigt (Satz 2, wobei an dieser Stelle in Klammer auf Kapitel 3.2.7 verwiesen wird).
Im (in Rz. 3124.04 WEL am Ende erwähnten) Kapitel 3.2.7 der WEL, welches die familienrechtlichen Unterhaltsbeiträge betrifft, wurden mit Wirkung auf 1. Januar 2017 verschiedene Änderungen vorgenommen, welche durch das gleichzeitig in Kraft getretene neue Kindesunterhaltsrecht (
Art. 276 ff. ZGB
) geprägt sind (vgl. Vorwort zum Nachtrag 6 der WEL). Im Zuge dieser Neuerungen wurden sämtliche Randziffern des bisherigen Kapitels 3.2.7 (d.h. die bisherigen Rz. 3270.01 bis 3270.06 WEL) aufgehoben. Das Kapitel ist neu in die Unterkapitel 3.2.7.1 "behördlich oder gerichtlich genehmigte oder festgelegte Unterhaltsleistungen" (Rz. 3271.01 bis 3271.05 WEL) und 3.2.7.2 "nicht behördlich oder gerichtlich genehmigte oder festgelegte Unterhaltsleistungen" (Rz. 3272.01 bis 3272.05 WEL) gegliedert.
Sowohl die Rz. 3272.04 WEL, auf welche sich der Beschwerdeführer für die von ihm geltend gemachte Anrechnung eines familienrechtlichen Unterhaltsbeitrages stützt, als auch Rz. 3272.01 WEL, die damit im Zusammenhang steht, befinden sich in diesem zweiten, die nicht behördlich oder gerichtlich genehmigten oder
BGE 147 V 441 S. 446
festgelegten Unterhaltsleistungen betreffenden Unterkapitel. Als Grundsatz hält Rz. 3272.01 WEL fest, dass geschuldete und tatsächlich geleistete familienrechtliche Unterhaltsleistungen an Kinder, die nach Rz. 3124.04 WEL ausser Rechnung fallen (ebenso wie an getrennt lebende Ehegatten oder geschiedene Ex-Ehegatten, auf welche hier allerdings nicht weiter einzugehen ist), auch dann als Ausgaben berücksichtigt werden, wenn sie nicht durch eine Behörde oder ein Gericht genehmigt oder festgelegt wurden (Satz 1). Rz. 3272.03 ist zu beachten (Satz 2). Weiter sieht Rz. 3272.04 WEL vor, dass bei Personen, die ihre EL gestützt auf eine Hilflosenentschädigung oder ein Taggeld der IV erhalten, für minderjährige Kinder und für volljährige Kinder in Ausbildung, die das 25. Altersjahr noch nicht vollendet haben, immer ein familienrechtlicher Unterhaltsbeitrag als Ausgabe zu berücksichtigen ist. Wenn die Kinder im selben Haushalt leben, entspricht dessen Höhe der Differenz zwischen dem tatsächlich ausgerichteten EL-Betrag und dem EL-Betrag, den eine gemeinsame EL-Berechnung mit dem Kind gemäss Rz. 3133.02 ergeben würde.
4.2
Verwaltungsweisungen wie hier die WEL richten sich zwar grundsätzlich nur an die Durchführungsstellen und haben keine Verbindlichkeit für die Gerichte. Indessen weicht die Rechtsprechung von einer verwaltungsinternen Weisung nicht ohne triftigen Grund ab, wenn sie eine dem Einzelfall angepasste und gerecht werdende Auslegung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen zulässt und eine überzeugende Konkretisierung der rechtlichen Vorgaben enthält, wodurch dem Bestreben der Verwaltung Rechnung getragen wird, durch interne Weisungen eine rechtsgleiche Gesetzesanwendung zu gewährleisten (
BGE 147 V 79
E. 7.3.2;
BGE 140 V 543
E. 3.2.2.1; je mit Hinweisen).
4.3
Es stellt sich mithin die Frage, ob Rz. 3272.01 und 3272.04 WEL die anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen - insbesondere auch mit Blick auf die in E. 3.2, 3.3.1 und 3.3.2 dargelegte Rechtsprechung - überzeugend auslegen. Zu prüfen ist dabei angesichts des hier zu beurteilenden Sachverhalts einzig der Fall von Unterhaltsleistungen an minderjährige Kinder, die mit dem EL-Ansprecher im selben Haushalt leben (vgl. zu den in Rz. 3272.04 WEL ebenfalls erwähnten volljährigen, noch in Ausbildung stehenden Kindern: Urteil 9C_396/2018 vom 20. Dezember 2018 E. 5.2, in: SVR 2019 EL Nr. 6 S. 11; MÜLLER, a.a.O., N. 260 zu
Art. 10 ELG
; vgl. auch Botschaft vom 29. November 2013 zu einer Änderung
BGE 147 V 441 S. 447
des Schweizerischen Zivilgesetzbuches [Kindesunterhalt], BBl 2014 574 f. Ziff. 2.1.2).
4.3.1
Vorab ist klarzustellen, dass im Fall des Beschwerdeführers einzig die ausgabenseitige Anrechnung geleisteter familienrechtlicher Unterhaltsbeiträge gestützt auf
Art. 10 Abs. 3 lit. e ELG
und nicht etwa eine gemeinsame Anspruchsberechnung im Sinne von
Art. 9 Abs. 2 ELG
in Frage steht. Denn Letztere fällt nach der in E. 3.2 dargelegten Rechtsprechung ausser Betracht, weil die Tochter des Beschwerdeführers, der eine Hilflosenentschädigung der IV (und keine Rente) bezieht, weder Anspruch auf eine Waisen- noch auf eine Kinderrente hat (vgl. dazu auch Rz. 3124.04 Satz 1 WEL). Wie das BSV vernehmlassungsweise zutreffend vorbringt, stützt sich die angerufene Rz. 3272.04 WEL denn auch nicht auf
Art. 9 Abs. 2 ELG
, sondern auf
Art. 10 Abs. 3 lit. e ELG
.
4.3.2
Werden nun aber die Kinder von Rentnern gemäss
Art. 9 Abs. 2 ELG
in die EL-Berechnung der Eltern einbezogen, während dies bei den Kindern von Bezügern einer Hilflosenentschädigung oder eines Taggeldes der IV nicht der Fall ist, führt dies zu einer unterschiedlichen Ermittlung des Existenzbedarfs bei diesen beiden Versichertenkategorien: Den Bezügern einer Hilflosenentschädigung oder eines Taggeldes der IV wird dabei ein geringerer Existenzbedarf zugestanden als den Rentnern, obwohl bei ihnen hinsichtlich der Unterhaltspflicht gegenüber den Kindern identische Verhältnisse vorliegen (vgl. auch JÖHL/USINGER-EGGER, a.a.O., S. 1741). Dieser durch nichts gerechtfertigte Ungleichbehandlung wirkt Rz. 3272.04 WEL entgegen, wonach auch in der EL-Berechnung der Bezüger einer Hilflosenentschädigung oder eines Taggeldes der IV ausgabenseitig ein entsprechender Unterhaltsbeitrag für Kinder zu berücksichtigen ist, dies in Konkretisierung der gesetzlichen Bestimmung des
Art. 10 Abs. 3 lit. e ELG
.
4.3.3
Es lassen sich weitere Argumente für die in Rz. 3272.01 in Verbindung mit Rz. 3272.04 WEL getroffene Lösung anführen: In der Lehre wird als nicht nachvollziehbare Konsequenz der in E. 3.2 wiedergegebenen Rechtsprechung kritisiert, dass der Bezüger einer Hilflosenentschädigung oder eines Taggeldes der IV seinen in natura geleisteten Unterhalt nicht in der Form einer Erhöhung des massgebenden Lebensbedarfs gemäss Art. 10 Abs. 1 lit. a Ziff. 3 ELG (die auf 1. Januar 2021 in Kraft getretenen Änderungen bei dieser Bestimmung spielen im vorliegenden Zusammenhang keine Rolle) in die Berechnung einbeziehen, aber den seinen Kindern in Geld
BGE 147 V 441 S. 448
geleisteten Unterhalt gemäss
Art. 11 Abs. 1 lit. h ELG
zum Abzug bringen kann; damit werde der EL-Ansprecher, der nicht mit seinen Kindern zusammenlebe, ungerechtfertigterweise bessergestellt (JÖHL/USINGER-EGGER, a.a.O., S. 1741). Diese Kritik ist insbesondere auch mit Blick auf das Kindesunterhaltsrecht (vgl.
Art. 276 Abs. 1 ZGB
), auf welches der Beschwerdeführer hinweist, begründet, denn dieses sieht eine Gleichwertigkeit des in natura (Naturalunterhalt) und des in Form von Geldleistungen (Geldunterhalt bzw. Bar- und Betreuungsunterhalt) erbrachten Unterhalts vor (Urteil 5A_727/2018 vom 22. August 2019 E. 4.3.1 [in: FamPra.ch 2019 S. 1215] mit Hinweis auf
BGE 135 III 66
E. 4 und
BGE 114 II 26
E. 5b).
Eine Privilegierung des nicht mit seinem Kind zusammenlebenden EL-Ansprechers ergibt sich weiter auch daraus, dass die in E. 3.3.1 wiedergegebene Rechtsprechung als Ausgaben im Sinne von
Art. 10 Abs. 3 lit. e ELG
nur die Unterhaltsleistungen anerkennt, welche in Bestand und Höhe rechtsverbindlich, d.h. richterlich, behördlich oder vertraglich festgesetzt worden sind. Über einen solchen Titel verfügt der EL-Ansprecher, der mit seinem Kind im selben Haushalt lebt und sowohl in natura als auch in Form von Geldleistungen für den Kindesunterhalt aufkommt, zumeist nicht, dies im Unterschied zum EL-Ansprecher, der von seinem Kind getrennt lebt und dessen Unterhaltspflicht in der Regel behördlich oder gerichtlich (oder allenfalls vertraglich) geregelt ist. Eine Benachteiligung des im selben Haushalt mit dem Kind lebenden EL-Ansprechers, dessen Unterhaltsleistungen (in natura und in Form von Geldleistungen) im Übrigen regelmässig höher ausfallen dürften als diejenigen des nicht im selben Haushalt lebenden EL-Ansprechers, lässt sich nicht rechtfertigen. Im Sinne einer Gleichbehandlung der beiden Versichertenkategorien ist es vielmehr angezeigt, seine Unterhaltsleistungen auch ohne rechtsverbindliche Festsetzung (bzw. ohne behördliche oder gerichtliche Genehmigung oder Festlegung, wie es in Rz. 3272.01 Satz 1 WEL heisst) als Ausgabe anzurechnen.
Bei dieser Sachlage bestehen hinsichtlich der ausgabenseitigen Berücksichtigung von Unterhaltsleistungen, welche die Bezüger einer Hilflosenentschädigung oder eines Taggeldes der IV an ihre Kinder erbringen, gute Gründe für eine Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung. Die dafür erforderlichen Voraussetzungen - die neue Lösung muss besserer Erkenntnis des Gesetzeszwecks, veränderten äusseren Verhältnissen oder gewandelten Rechtsanschauen entsprechen (
BGE 146 I 105
E. 5.2.2;
BGE 145 V 50
E. 4.3.1;
BGE 141 II 297
E. 5.5.1;
BGE 140 V 538
E. 4.5 mit Hinweisen) - sind erfüllt: Die Bestimmung
BGE 147 V 441 S. 449
des
Art. 10 Abs. 3 lit. e ELG
hat zum Zweck, einen aufgrund von Unterhaltspflichten erhöhten Existenzbedarf auszugleichen. Soll sie diesen auch bei Bezügern einer Hilflosenentschädigung oder eines Taggeldes der IV erfüllen, deren Kinder nach
Art. 9 Abs. 2 ELG
ausser Rechnung fallen, darf bei ihnen an dem von der Rechtsprechung aufgestellten Erfordernis der rechtsverbindlichen Festlegung der Unterhaltsbeiträge nicht länger festgehalten werden. Es kann den EL-Ansprechern, die eine Hilflosenentschädigung oder ein Taggeld der IV beziehen und mit ausser Rechnung fallenden Kindern im gemeinsamen Haushalt leben, nicht zugemutet werden, die Unterhaltsbeiträge für die Kinder einzig deshalb rechtsverbindlich festsetzen zu lassen, damit diese im Rahmen der EL-Berechnung berücksichtigt werden können. Dies widerspräche im Übrigen auch dem seit 1. Januar 2017 in Kraft stehenden neuen Kindesunterhaltsrecht, welches den Unterhaltsanspruch des Kindes unter anderem durch die Förderung einvernehmlicher Lösungen stärken (vgl. BBl 2014 529 ff., 584 Ziff. 2.5) und allen minderjährigen unterhaltsberechtigten Kindern unabhängig vom Schicksal der Beziehung der Eltern Anspruch auf dieselben Leistungen verleihen will (BBl 2014 550 Ziff. 1.5.1, 574 Ziff. 2.1.2). Vor diesem Hintergrund und mit Blick auf den Grundsatz der Rechtsgleichheit ist es deshalb angezeigt, die entsprechenden Unterhaltsleistungen an minderjährige Kinder bei Bezügern einer Hilflosenentschädigung oder eines Taggeldes der IV in jedem Fall ausgabenseitig einzubeziehen, mithin ohne Rücksicht darauf, ob die Unterhaltsleistungen rechtsverbindlich (gerichtlich, behördlich oder vertraglich) festgelegt worden sind. Auf dieser Linie liegt die in Rz. 3272.01 WEL getroffene (und in Rz. 3272. 04 WEL konkretisierte [dazu E. 4.3.4]) Regelung.
4.3.4
In welcher Höhe einem EL-Ansprecher, der eine Hilflosenentschädigung oder ein Taggeld der IV bezieht, gestützt auf
Art. 10 Abs. 3 lit. e ELG
Unterhaltsleistungen an gemäss
Art. 9 Abs. 2 ELG
ausser Rechnung fallende, mit ihm im selben Haushalt lebende minderjährige Kinder anzurechnen sind, regelt Rz. 3272.04 WEL. Die darin vorgesehene Berechnungsweise - es ist die Differenz zu ermitteln zwischen dem tatsächlich ausgerichteten EL-Betrag und dem EL-Betrag, den eine gemeinsame EL-Berechnung mit dem Kind gemäss Rz. 3133.02 WEL ergeben würde - korrigiert die in E. 4.3.2 und 4.3.3 aufgezeigte, durch nichts gerechtfertigte Benachteiligung der Bezüger von Hilflosenentschädigungen und Taggeldleistungen der IV. Sie hält damit eine dem Einzelfall gerecht werdende Auslegung
BGE 147 V 441 S. 450
der Bestimmung des
Art. 10 Abs. 3 lit. e ELG
bereit, gegen welche sich nichts einwenden lässt. Zu beachten bleibt, dass der Betrag praxisgemäss maximal den tatsächlich geleisteten Unterhaltsbeiträgen entsprechen darf (vgl. E. 3.3.2 hiervor), welche Grenze in Rz. 3272.04 WEL zwar nicht ausdrücklich erwähnt wird, aber auch nach dem Verständnis des BSV, wie es in der Vernehmlassung zum Ausdruck kommt, Geltung beansprucht.
4.4
Zusammenfassend ergibt sich, dass bei Personen, die ihre EL aufgrund einer Hilflosenentschädigung oder eines Taggeldes der IV erhalten, gestützt auf
Art. 10 Abs. 3 lit. e ELG
und Rz. 3272.04 WEL für im selben Haushalt lebende minderjährige Kinder auch ohne rechtsverbindliche Festlegung und damit abweichend von der bisherigen Rechtsprechung (E. 3.3.1) ein familienrechtlicher Unterhaltsbeitrag als Ausgabe zu berücksichtigen ist. Seine Höhe entspricht der Differenz zwischen dem tatsächlich ausgerichteten EL-Betrag und dem EL-Betrag, den eine gemeinsame EL-Berechnung mit dem Kind nach
Art. 9 Abs. 2 ELG
ergeben würde, wobei die tatsächlich geleisteten Unterhaltsbeiträge nicht überschritten werden dürfen. | 7,746 | 3,320 | 2 | 0 | CH_BGE_007 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_007_BGE-147-V-441_2021-09-01 | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=4&from_date=&to_date=&from_year=2021&to_year=2021&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=32&highlight_docid=atf%3A%2F%2F147-V-441%3Ade&number_of_ranks=181&azaclir=clir | BGE_147_V_441 |
|||
edd3111e-5726-4412-94bb-89148b7c4cb1 | 1 | 81 | 1,350,265 | null | 2,024 | de | Sachverhalt
ab Seite 427
BGE 95 II 426 S. 427
A.-
Die Erbengemeinschaft des am 2. Mai 1954 verstorbenen Kaspar Odermatt schloss am 26. April 1957 einen "Abtretungsvertrag" ab, kraft dessen die Liegenschaft "Brustried", Grundbuch Nr. 157, Parz. Nr. 284, in Hergiswil, zum Preise von Fr. 16 385.53 in das Alleineigentum der Miterbin Frau Flury-Odermatt übergehen sollte. Der Erwerbspreis war durch Übernahme der auf der Liegenschaft haftenden Grundpfandschulden von Fr. 13 885.53 sowie durch Zahlung bei Vertragsabschluss von je Fr. 500.-- an die fünf Miterben zu begleichen. Der Eigentumsübergang wurde am 7. Mai 1957 im Grundbuch eingetragen.
Mit öffentlich beurkundetem Vertrag vom 28. April 1965 veräusserte die Eigentümerin dem Josef Achermann von der Liegenschaft "Brustried" die neu ausgemarchte Parzelle Nr. 918 von 7119 m2 als Bauland zum Preis von Fr. 28 000.--. In Ziff. 6 des Vertrages räumte sie Achermann auf die Dauer von zwei Jahren seit Abschluss des Vertrages ein Kaufsrecht ein für die auf der Parzelle Nr. 284 verbleibenden 11 224 m2 zum Preis von Fr. 5.- pro m2, der bei der Ausübung des Kaufrechtes der Verkäuferin in bar zu bezahlen war.
Am 9. Juni 1965 wurde Frau Flury-Odermatt vom Gemeinderat Hergiswil/NW bevormundet. Dieser Entscheid wurde am 27. Dezember 1965 vom Bundesgericht letztinstanzlich bestätigt.
Die Landwirtschafts- und Forstdirektion Nidwalden verweigerte am 21. Juli und 30. Dezember 1965 die Genehmigung des Kauf- und Kaufrechtsvertrages vom 28. April 1965, weil nach ihrer Ansicht die bei der Veräusserung von landwirtschaftlichen Grundstücken geltende Sperrfrist von zehn Jahren nach
Art. 218 OR
noch nicht abgelaufen war. Gleichzeitig lehnte sie auch das Gesuch um Aufhebung der Sperrfrist im Sinne von
Art. 218 bis OR
mangels wichtigen Gründen ab.
Das Grundbuchamt Nidwalden lehnte am 10. Januar 1966 die Eintragung des Eigentumsüberganges und Kaufsrechtes ab. Gestützt auf Ziff. 6 des Vertrages vom 28. April 1965 erklärte Achermann je mit Zuschriften vom 24. April 1967 an den Vormund der Eigentümerin und an das Grundbuchamt Nidwalden die Ausübung des Kaufsrechtes an der Parzelle Nr. 284 und bezahlte gleichzeitig den Kaufpreis von Fr. 56 120.-- bei der Nidwaldner Kantonalbank zu Handen des Vormundes. Er stellte sich auf den Standpunkt, der Vertrag vom 28. April 1965 falle
BGE 95 II 426 S. 428
nicht unter die Art. 218-218 quinquies, da die Liegenschaft "Brustried" nicht landwirtschaftlichen Charakter aufweise und ausserdem die zehnjährige Sperrfrist längst vor Abschluss des Vertrages abgelaufen sei.
B.-
Am 13. September 1967 reichte Achermann beim Kantonsgericht Nidwalden gegen Frau Flury-Odermatt Klage ein mit folgenden Rechtsbegehren:
"I. Es sei festzustellen, dass
1. mit Vertrag vom 28. April 1965 die Beklagte dem Kläger
a) ab ihrer Liegenschaft Brustried, GB Nr. 157, Parzelle Nr. 284, die neu ausgemarchte Baulandparzelle Nr. 918 mit 7119 qm Fläche verkauft und
b) auf die Dauer von zwei Jahren das Kaufsrecht für die restliche Parzelle Nr. 284 (GB Nr. 157) im Ausmasse von 11 224 qm eingeräumt hat;
2. der Kläger die ihm aus dem genannten Vertrage erwachsenen Verpflichtungen, insbesondere die zur Bezahlung des Kaufpreises, erfüllt hat.
II. 1. Der Grundbuchführer des Kantons Nidwalden sei anzuweisen, den Handwechsel an der Parzelle Nr. 284, GB Nr. 157, Liegenschaft Brustried, von der Beklagten auf den Kläger im Grundbuch einzutragen.
2. (Kosten)."
Das Kantonsgericht Nidwalden wies am 10. Juli 1968 die Klage ab.
Das Obergericht des Kantons Unterwalden nid dem Wald bestätigte am 16. Januar 1969 auf Berufung des Klägers den erstinstanzlichen Entscheid.
C.-
Der Kläger beantragt mit der Berufung, das oberinstanzliche Urteil aufzuheben und die Klage gutzuheissen; eventuell sei die Sache zu neuem Entscheid an das Obergericht zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt, die Berufung abzuweisen und das angefochtene Urteil zu bestätigen.
Der Beklagten wurde für das Berufungsverfahren die unentgeltliche Rechtspflege gewährt. | 987 | 701 | Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Der Streit der Parteien darüber, ob die Beklagte zur Erfüllung des mit dem Kläger am 28. April 1965 abgeschlossenen Vertrages verpflichtet sei, ist eine Zivilrechtsstreitigkeit und daher ihrer Natur nach berufungsfähig.
Art. 218 quater OR
erklärt zwar die Verwaltungsgerichtsbeschwerde als zulässig
BGE 95 II 426 S. 429
"gegen letztinstanzliche kantonale Entscheide über die Anwendung der Art. 218, 218 bis und 218 ter", die für die Veräusserung landwirtschaftlicher Grundstücke besondere Vorschriften aufstellen. Diese Bestimmung bezieht sich jedoch, wie in
BGE 94 I 412
f. ausführlich dargelegt wurde, nur auf Entscheide kantonaler Verwaltungsbehörden, dagegen nicht auf gerichtliche Urteile in Zivilstreitigkeiten, in denen die Gültigkeit von Rechtsgeschäften über landwirtschaftliche Grundstücke unter dem Gesichtspunkt der hiefür im OR aufgestellten Sondervorschriften zu beurteilen war (vgl. auch
BGE 94 II 107
/08).
2.
Nach
Art. 218 Abs. 1 OR
dürfen landwirtschaftliche Grundstücke während zehn Jahren, vom Eigentumserwerb an gerechnet, weder als Ganzes noch in Stücken veräussert werden. Dieses Verbot ist jedoch nach
Art. 218 Abs. 2 OR
nicht anwendbar auf Bauland, auf Grundstücke in vormundschaftlicher Verwaltung und im Falle der Zwangsverwertung. Überdies kann nach
Art. 218 bis OR
aus wichtigen Gründen die Veräusserung vor Ablauf der Sperrfrist gestattet werden. Nach
Art. 218 ter OR
sind Geschäfte, die diesen Vorschriften zuwiderlaufen oder ihre Umgehung bezwecken, nichtig und geben kein Recht auf Eintragung in das Grundbuch.
Der Kläger behauptet, die Vorinstanz habe zu Unrecht den landwirtschaftlichen Charakter der streitigen Parzellen angenommen, da diese einer Familie keine ausreichende Existenz bieten.
a) Die Vorinstanz stellt fest, dass die Parteien nach Abschluss des Vertrages vom 28. April 1965 die kantonale Landwirtschafts- und Forstkommission ersuchten, die Sperrfrist des
Art. 218 OR
auf die streitigen Parzellen nicht anzuwenden. Die Behörde lehnte jedoch das Gesuch am 21./26. Juli und 30. Dezember 1965 ab. Sie war der Auffassung - ohne es in den fraglichen Entscheiden ausdrücklich zu erwähnen -, dass die beiden Parzellen landwirtschaftliche Grundstücke seien; andernfalls hätte sie auf das Gesuch ja nicht eintreten dürfen. Diese Auffassung ist für den Zivilrichter nicht verbindlich (vgl. Erw. 1).
b) Der Kläger verkennt, dass
Art. 218 OR
von "landwirtschaftlichen Grundstücken" schlechthin spricht und nicht ein "landwirtschaftliches Gewerbe" voraussetzt, das eine wirtschaftliche Einheit bildet und eine ausreichende landwirtschaftliche Existenz bietet, wie dies
Art. 620 ZGB
für die ungeteilte Zuweisung an einen Miterben verlangt. Daraus folgt, dass für
BGE 95 II 426 S. 430
die Anwendung des Veräusserungsverbotes nach
Art. 218 OR
weder die Grösse, der Wert noch der Ertragswert, sondern einzig die Benutzungsart des Bodens den Ausschlag gibt (vgl. JENNY, Die Sperrfrist im Verkehr mit landwirtschaftlichen Grundstücken in ZBGR 18 [1937] S. 167/68). Art. 1 Abs. 2 der Verordnung über die Verhütung der Überschuldung landwirtschaftlicher Liegenschaften umschreibt daher zutreffend als landwirtschaftliche Liegenschaft jede Bodenfläche, die durch Bewirtschaftung und Ausnützung der natürlichen Kräfte des Bodens den ihr eigenen Wert erhält oder zu einem Betrieb gehört, der in der Hauptsache der Gewinnung und Verwertung organischer Stoffe des Bodens dient. Nach Abs. 2 dieser Vorschrift gelten als landwirtschaftliche Liegenschaften namentlich Grundstücke, die dem Acker-, Wiesen-, Wein-, Mais-, Tabak-, Obst-, Feldgemüse- und Saatgutbau oder der Alpwirtschaft dienen.
aa) Das Obergericht stellt fest, die Liegenschaft "Brustried" sei eine 182 a grosse Bergliegenschaft, die relativ gut bewirtschaftet werden könne und einen guten Boden mit Graswuchs aufweise. Der Kläger behauptet nicht, diese Feststellung sei unter Verletzung bundesrechtlicher Beweisvorschriften zustande gekommen oder beruhe offensichtlich auf Versehen. Sie bindet somit das Bundesgericht. Demnach ist davon auszugehen, dass die streitigen Parzellen landwirtschaftlichen Charakter aufweisen. Ob die darauf befindlichen Gebäulichkeiten baufällig sind und sich die Kosten der Instandstellung für das kleine Heimwesen nicht lohnen, wie der Kläger behauptet, ist nach dem Gesagten für die Anwendung der Schutzvorschriften der Art. 218 f. OR unerheblich.
bb) Der landwirtschaftliche Charakter eines Grundstückes schliesst seine Eigenschaft als Bauland im Sinne von
Art. 218 Abs. 2 OR
nicht ohne weiteres aus.
Für die Bestimmung des Baulandcharakters kommt es nicht auf die Absichten des Eigentümers oder Erwerbers an; denn sonst hätte es jeder Kaufinteressent in der Hand, mit der blossen Erklärung, er wolle auf dem Grundstück bauen oder es für die Überbauung erschliessen, die Sperrfrist zu umgehen. Massgebend ist einzig, ob das Grundstück nach den objektiven Verhältnissen sofort überbaut werden kann. Diese Voraussetzung ist auch für landwirtschaftliche Grundstücke erfüllt, wenn die für die Erteilung der Baubewilligung zuständige Behörde feststellt, dass der sofortigen Überbauung nichts im Wege stehe.
BGE 95 II 426 S. 431
Daraus folgt, dass ein Grundstück sogar dann als Bauland von der Sperrfrist ausgenommen werden muss, wenn es nicht in einer Bauzone liegt, für die der Kanton gestützt auf
Art. 3 des Bundesgesetzes über die Erhaltung des bäuerlichen Grundbesitzes (EGG)
die Anwendung dieses Gesetzes ausgeschlossen hat (vgl.
BGE 92 I 338
/39 Erw. 4). Für den Baulandcharakter ist daher nicht entscheidend, ob das Grundstück an einer Kanalisation angeschlossen ist, sondern ob der Eigentümer Anspruch auf eine Baubewilligung hat. Allerdings kann das Fehlen einer Kanalisation ein Grund sein, dass die zuständige Behörde die Baubewilligung zunächst verweigert (vgl.
BGE 93 I 604
).
Die Vorinstanz stellt nicht fest, dass die Voraussetzungen für eine sofortige Überbauung der streitigen Parzellen bestünden. Das behauptet denn auch der Kläger nicht, noch macht er geltend, die zuständige Behörde würde ihm die Bewilligung erteilen, wenn er sie verlangte.
3.
Ob am 2. Mai 1954 beim Ableben des Kaspar Odermatt eine Sperrfrist im Sinne des
Art. 218 OR
im Gange war und, wenn ja, ob sie nach dem Tode des Erblassers weiterlief oder ob mit der Eröffnung des Erbganges eine neue zehnjährige Frist begann (vgl. dazu
BGE 88 I 202
) kann dahingestellt bleiben, denn auch diese wäre beim Abschluss des Kauf- und Kaufrechtsvertrages vom 28. April 1965 abgelaufen gewesen. Dagegen fragt es sich, ob der "Abtretungsvertrag" vom 26. April 1957 - entgegen der Auffassung des Klägers - zu einem Eigentumserwerb führte und damit eine neue zehnjährige Frist in Gang setzte.
a) Dieser Vertrag hat die Natur eines Erbteilungsvertrages oder muss jedenfalls beim Entscheid der gestellten Frage einem solchen gleichgesetzt werden (JENNY, a.a.O., S. 170).
Dass der Erbe, dem ein Grundstück in einer Erbteilung zugewiesen wird, im Sinne der erwähnten Bestimmung Eigentum erwerbe, nehmen KAUFMANN, Das ländliche neue Bodenrecht der Schweiz, S. 217, und GLOOR, Beschränkungen im rechtsgeschäftlichen Verkehr mit landwirtschaftlichen Grundstücken, S. 74, an. Diese Auffassung scheint der Rechtsprechung zu widersprechen, wonach die Erbteilung nicht als "Eigentumsübertragung" im Sinne des
Art. 657 ZGB
gilt (
BGE 83 II 369
/70).
Art. 218 OR
erfasst jedoch nicht nur die "Eigentumsübertragung" im Sinne des
Art. 657 ZGB
, sondern bezieht sich grundsätzlich auf jeden Eigentumserwerb (vgl. die in den
BGE 95 II 426 S. 432
Art. 656-662 ZGB
erwähnten Arten des Eigentumserwerbes). Die Erbteilung bezweckt die Überführung des Gesamteigentums in das Alleineigentum der einzelnen Erben (TUOR/SCHNYDER, ZGB, 8. Aufl., S. 419; ESCHER, Einleitung zu
Art. 602-640 ZGB
N. 1). Sie verändert die Eigentumsverhältnisse und damit auch die Verfügungsmacht durch wechselseitige Aufgabe von Gesamtrechten mit nachfolgender Anwachsung (vgl. MEIER/HAYOZ, N. 51 c zu
Art. 652 ZGB
; JOST, Der Erbteilungsprozess im schweizerischen Recht, S. 4). Es besteht daher die Möglichkeit, dass sich der Erbe ein im Nachlass befindliches Grundstück gerade im Hinblick auf eine spekulative Weiterveräusserung zuweisen lässt, was dem Zweckgedanken der Sperrfrist widerspricht. Demnach rechtfertigt es sich, die Erbteilung als Eigentumserwerb im Sinne des
Art. 218 OR
zu betrachten.
b) Zu prüfen ist, ob die durch die Erbteilung ausgelöste Sperrfrist schon vom Abschluss des Teilungsvertrages an läuft oder erst vom Tage an, an dem die neuen Eigentumsverhältnisse in das Grundbuch eingetragen werden. Für die zweite Lösung spricht zunächst die Überlegung, dass der Teilungsvertrag nur den Erwerbsgrund bildet, der Erbe aber erst mit der Eintragung im Grundbuch Eigentümer wird (vgl. Art. 18 GBVO;
BGE 86 II 353
Erw. 3 b; TUOR/PICENONI, N. 20 zu
Art. 654 ZGB
; ESCHER, N. 5 zu
Art. 634 ZGB
, MEIER/HAYOZ, N. 78 zu
Art. 656 ZGB
; JOST, a.a.O., S. 7; HOMBERGER, N. 24 zu
Art. 963 ZGB
). Ferner ist zu berücksichtigen, dass sich der Tag des Grundbucheintrages immer feststellen lässt, während der Tag des Teilungsvertrages unter Umständen unsicher ist, da die Erbteilung nur der Schriftform bedarf (
Art. 634 Abs. 2 ZGB
) und diese Datierung nicht verlangt (
Art. 13 OR
; unveröffentlichtes Urteil der I. Zivilabteilung vom 21. Januar 1965 i.S. Interporostom AG gegen Spannplattenwerk Fideris AG) oder das Datum auf einem solchen Vertrag von den Erben versehentlich oder zur Täuschung Dritter unrichtig angegeben sein kann.
c) Ist nach dem Gesagten die Eintragung im Grundbuch für den "Eigentumserwerb" im Sinne von
Art. 218 OR
massgebend, so ist die Sperrfrist am 7. Mai 1967 abgelaufen. Der Kaufvertrag über die Parzelle Nr. 918 wurde am 28. April 1965, somit zwei Jahre vor Ablauf der Sperrfrist abgeschlossen; das Kaufsrecht über die Parzelle 284 wurde ebenfalls am 28. April 1965 vereinbart und seine Ausübung war auf den 28. April 1967 befristet; es wurde indessen am 24. April 1967, also auch vor Ablauf
BGE 95 II 426 S. 433
der Sperrfrist ausgeübt. Demnach sind beide Rechtsgeschäfte nichtig (vgl.
BGE 94 II 110
Erw. 2 b). Unter diesen Umständen ist die vom Obergericht geprüfte und bejahte Frage nicht zu entscheiden, ob im Sinne von
Art. 20 Abs. 2 OR
die Nichtigkeit des Kaufvertrages auch jene des Kaufsrechtes nach sich ziehe. | 2,366 | 1,885 | Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Obergerichts des Kantons Unterwalden nid dem Wald vom 16. Januar 1969 bestätigt. | 38 | 29 | CH_BGE_004 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_004_BGE-95-II-426_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=8&from_date=&to_date=&from_year=1969&to_year=1969&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=75&highlight_docid=atf%3A%2F%2F95-II-426%3Ade&number_of_ranks=235&azaclir=clir | BGE_95_II_426 |
||
ede8e5f9-f488-4d56-be55-081bbe35f3ab | 3 | 80 | 1,345,914 | 126,230,400,000 | 1,974 | it | Sachverhalt
ab Seite 201
BGE 100 Ib 200 S. 201
Riassunto dei fatti:
La Società cooperativa DOMUS, a Chiasso, i cui soci sono funzionari ò impiegati delle amministrazioni federali, comprava nel 1949 un fondo di circa 5000 mq al prezzo di Fr. 16.- il mq, sul quale costruiva tre stabili, ognuno di sei piani e di 12 appartamenti. La costruzione costava, incluso il prezzo per il terreno, circa Fr. 1 420 000.--; la cooperativa riceveva all'uopo sussidi comunali, cantonali e federali per Fr. 378 000.-- complessivi, nonchè un mutuo della Confederazione a condizioni particolarmente favorevoli per l'importo di oltre un milione di franchi.
Il 10 agosto 1967 la DOMUS notificava al Presidente della Commissione federale di stima del 13o circondario pretese di indennità nei confronti delle Ferrovie Federali Svizzere per l'importo di Fr. 200 000.-- (elevato successivamente a Fr. 250 000.--). Faceva valere che, a dipendenza dei lavori di
BGE 100 Ib 200 S. 202
ampliamento della stazione internazionale di smistamento di Chiasso, il fascio binari era ormai situato, nel punto più vicino, a meno di 50 m dagli stabili. Lamentava che l'esercizio notturno e diurno della stazione, inaugurata ufficialmente l'11 luglio 1967, era fonte di immissioni intollerabili comportanti una svalutazione degli stabili.
La Commissione federale di stima respingeva le pretese della DOMUS, osservando che dei tre presupposti per l'indennizzabilità di pregiudizi provenienti da immissioni da opere pubbliche era soltanto adempiuto quello della specialità, non invece quello dell'imprevedibilità e della gravità.
La DOMUS ha impugnato tale decisione con ricorso di diritto amministrativo dinnanzi al Tribunale federale, che lo ha respinto. | 614 | 298 | Erwägungen
Considerando in diritto:
1.
Nel ricorso di diritto amministrativo e nella risposta la questione della tempestività della notificazione del lo agosto 1967 non è più evocata. Trattandosi di un problema di diritto, inerente alla perenzione, il Tribunale federale deve occuparsene d'ufficio. Atal proposito, valgono le considerazioni seguenti:
a) La decisione preliminare sull'ammissibilità (tempestività di opposizioni e di domande di indennità presentate dopo trascorso il termine per le notificazioni spetta al Presidente della CFS (
art. 39, cpv. 2,
art. 41 cpv. 2 LEspr
; art. 19 Reg. CFS). La sua decisione può essere impugnata con ricorso di diritto amministrativo al Tribunale federale nel termine ordinario (art. 19 cpv. 2 Reg. CFS).
Nel caso in esame, la decisione sull'ammissibilità non è stata presa preliminarmente dal Presidente, bensì dalla Commissione nel giudizio di merito. Simile irregolarità non ha pregiudicato tuttavia i diritti delle parti; non v,è neanche ragione di ritenere che il Presidente della Commissione abbia avuto. opinione divergente da quella dei membri. Non v'è quindi motivo perchè il Tribunale federale intervenga (cfr. RU 64 I 230/231, consid. 1).
b) Con riferimento a RU 88 I 197, consid. 4a e a RU 92 I 178, la Commissione ha ritenuto inapplicabile nella fattispecie l'
art. 41 LEspr
, la DOMUS non avendo avuto nell'ambito
BGE 100 Ib 200 S. 203
delle pregresse procedure espropriative per l'ampliamento della stazione di Chiasso la qualità di espropriata.
Dalle citate sentenze non può però trarsi la conclusione, cui è giunta la CFS.
In RU 88 I 198 il Tribunale federale, appoggiandosi alla giurisprudenza del Consiglio federale (Giurisprudenza delle autorità amministrative della Confederazione 1948/50, N. 180), ha rilevato che l'applicazione dell'
art. 41 LEspr
- e quindi dei termini di perenzione ch'esso comporta - presuppone che un procedimento espropriativo abbia avuto luogo. Esso ha semplicemente lasciato aperta la questione di sapere se una perenzione a'sensi dell'
art. 41 cpv. 2 LEspr
(testo anteriore alla riforma entrata in vigore il 10 agosto 1972) possa verificarsi anche nel caso in cui, un procedimento d'espropriazione avendo avuto luogo, nessun termine per le notifiche sia stato reso noto a coloro che, posteriormente, chiedono risarcimento dei pregiudizi derivanti dall'esecuzione (o dall'esercizio) dell'opera di interesse pubblico.
Poi, in RU 92 I 178, il Tribunale federale ha precisato che ciò non può darsi: la perenzione per tardività della notifica può verificarsi soltanto se nel Comune stesso in cui è situato il fondo ha avuto luogo una pubblicazione dei piani a'sensi dell'
art. 30 LEspr
, oppure se all'interessato è stato intimato un avviso personale a'sensi degli
art. 33 e 34 LEspr
. Nel caso concreto, l'esistenza delle premesse fu negata, perchè la pubblicazione intervenuta nel Comune era stata quella dei piani esecutivi a'sensi dell'
art. 26 LSN
, mentre l'acquisizione dei fondi necessari alla costruzione dell'autostrada era avvenuta nelle vie del raggruppamento dei terreni, e non per espropriazione. Contrariamente a quanto ritiene la CFS, il Tribunale federale non ha però detto, nelle menzionate sentenze, che, accanto all'una o all'altra delle alternative premesse sopra specificate, occorra ancora, per l'applicazione dell'
art. 41 LEspr
, che nella pregressa procedura espropriativa l'interessato abbia avuto qualità formale di espropriato, cioè sia stato incluso nelle tabelle d'espropriazione. Una simile condizione svuoterebbe d'ogni senso la procedura di avviso pubblico prevista dall'
art. 30 LEspr
, e creerebbe due categorie di danneggiati, che per la notifica delle loro ulteriori pretese soggiacerebbero, quanto all'applicabilità dei termini perentori, a due diversi regimi giuridici. Da un lato coloro che, nella pregressa
BGE 100 Ib 200 S. 204
procedura, sono stati espropriati, e che sarebbero tenuti, pena la decadenza dei loro diritti, a notificare ulteriori pretese, posteriormente sorte, nei termini perentori dell'
art. 41 LEspr
; dall'altro, tutti gli altri proprietari che, non essendo stati coinvolti nella pregressa procedura, non sarebbero neppur soggetti ad alcun termine per la notifica di pretese ulteriormente nate.
Si deve quindi concludere che, allorquando il pubblico deposito dei piani ha avuto luogo, la comminatoria dell'
art. 41 LEspr
in caso di tardività delle notifiche vale per tutti i proprietari del comprensorio comunale; nel caso in cui, invece, siasi fatto luogo alla procedura abbreviata, essa ha effetto soltanto per coloro che hanno ricevuto l'avviso personale.
c) Nel caso concreto, risulta che per l'acquisto dei fondi necessari all'ingrandimento della stazione nel Comune di Chiasso, le FFS hanno fatto capo all'espropriazione, e che la procedura seguita è stata quella ordinaria, con pubblico avviso e deposito pubblico dei piani.
L'
art. 41 LEspr
è quindi applicabile alla notificazione della DOMUS, contrariamente all'opinione della CFS, anche se, non avendo dovuto cedere terreno, essa non fu considerata formalmente espropriata nella pregressa procedura.
d) Come rettamente ha giudicato - in via abbondanziale - la CFS, la notificazione del 10 agosto 1967 devesi però considerare tempestiva. È vero che i lamentati disturbi già si verificavano da alcuni anni. Tuttavia, i lavori di ampliamento della stazione non erano ancora terminati e, soprattutto, l'esercizio del traffico non aveva ancora assunto il suo assetto definitivo. Sulla scorta delle informazioni, fornitele dalle stesse FFS, la DOMUS poteva legittimamente sperare che gli inconvenienti, terminati i lavori e instaurato l'esercizio definitivo, si sarebbero attenuati. Le esproprianti infatti, nella lettera del 5 ottobre 1964 al patrono della ricorrente, avevano esposto che "... i disturbi lamentati ... dovrebbero diminuire sensibilmente tosto che la testata nord del fascio doganale sarà collegata col gruppo d'entrata della stazione merci e le manovre dei treni potranno svolgersi prevalentemente nella parte ovest del settore doganale, verso Balerna". Come la giurisprudenza ha rilevato (RU 64 I 233 ss.), il termine di 30 giorni previsto dall'
art. 41 cpv. 2 LEspr
(nella versione anteriore alla riforma del 18 marzo 1971) comincia a decorrere soltanto dal momento
BGE 100 Ib 200 S. 205
in cui l'interessato possegga tutti gli elementi necessari per appurare l'esistenza e procedere alla valutazione del danno. Solo al momento in cui la stazione fu ufficialmente inaugurata (11 luglio 1967) la DOMUS doveva e poteva, nelle concrete circostanze, aver la certezza che la situazione da lei lamentata era ormai irreversibile e definitiva; comunque, le FFS non hanno recato la prova del contrario.
2.
Per giudicare se le immissioni, provenienti dall'esercizio ferroviario, siano eccessive a'sensi dell'
art. 684 CC
, e quindi comportino, essendo inevitabili ed inerenti ad un normale uso degli impianti, il pagamento di un'indennità sostitutiva dell'improponibile azione civile di cessazione della turbativa (RU 93 I 302 consid. 4;
94 I 297
;
96 II 348
consid. 6), la Commissione federale di stima si è fondata sui criteri (specialità, imprevedibilità, gravità del danno) che la giurisprudenza del Tribunale federale ha elaborato a proposito delle immissioni provenienti da strade pubbliche, segnatamente da autostrade (RU 94 I 299 ss;
95 I 494
consid. 6;
98 Ib 331
). La ricorrente non impugna questa giurisprudenza nè l'estensione di essa alle immissioni causate dalle ferrovie, già sancita dal Tribunale federale nella recente sentenza Knecht dell'8 maggio 1974.
3.
La CFS ha ammesso la ricorrenza del requisito della specialità, negato invece quella dei requisiti dell'imprevedibilità e della gravità del danno.
a) Come il Tribunale federale ha ammesso nel già ricordato caso Knecht, devesi riconoscere con la CFS che le immissioni provenienti da una stazione di smistamento e manovra quale quella di Chiasso sono, rispetto alle immissioni provenienti da una linea ferroviaria usuale, speciali. Questa specialità risiede nella stocasticità delle immissioni, cioè nel carattere meramente aleatorio del loro insorgere e delle variazioni della qualità e del livello sonoro, che comportano particolare difficoltà di assuefazione o addirittura la escludono (cfr. la citata sentenza Knecht, e le risultanze generali delle perizie in quel caso allestite, che coincidono con le risultanze della perizia EMPA negli atti di causa).
b) Se a ragione la Commissione ha ammesso la specialità, pure a ragione essa ha però negato l'esistenza del requisito della imprevedibilità.
È vero che dagli atti prodotti dalla ricorrente sembra dedursi
BGE 100 Ib 200 S. 206
che, al momento in cui la DOMUS, nel 1949, preferì acquistare il terreno al Pizzicone, piuttosto che quello al Lavazzee, uno degli elementi che determinarono la scelta fosse "la posizione... ideale" del fondo "per quanto concerne la quiete", mentre il fondo al Lavazzee entrava "nella zona di sviluppo industriale, e perciò poco tranquilla", ed era prevista sullo stesso "la costruzione della camionale che, adiacente all'abitato, attraverserebbe l'appezzamento da sud a nord, svalutandolo e creando irreparabili inconvenienti, quale pericolo, rumore e polvere". Ma, dagli stessi atti, risulta altresi che la scelta del Pizzicone fu influenzata, in modo determinante, dal prezzo più favorevole e dalla migliore qualità del terreno per le fondazioni.
Si deve concedere anche alla ricorrente che, come dimostrano le fotografie relative alle espropriazioni di Chiasso, al momento della loro costruzione le tre case sorgevano in periferia, attorniate da prati. Tuttavia solo una fascia di particelle prative, della larghezza di meno di cento metri, le separava dagli allora già esistenti binari dello scalo merci, sui quali venivano già allora effettuate le manovre. Agli organi della ricorrente - composti di persone oltretutto cognite dei problemi ferroviari - non doveva nè poteva sfuggire che, in caso di potenziamento di quegli impianti, sarebbe naturalmente entrato in considerazione un ampliamento in direzione del loro fondo, poichè solo su quel lato esistevano i necessari terreni liberi. Contrariamente a quanto sostiene la ricorrente, una simile ipotesi non aveva affatto un carattere meramente congetturale: dalla fine della guerra, infatti, l'aumento del traffico ferroviario internazionale aveva reso il problema del-l'ampliamento d'attualità, e lo stesso Municipio di Chiasso - come rilevano le FFS nella loro risposta - era intervenuto sin dal 1947 presso la Direzione del II Circondario, sollecitando provvedimenti.
Legittimamente la CFS ha tratto da questi elementi la conclusione che la condizione dell'imprevedibilità fa, in casu, difetto.
c) Infine, la relazione dei periti del Tribunale federale conferma che, come ha ritenuto la CFS, fa difetto il requisito della gravità del danno.
Certo, si deve concedere alla ricorrente che la circostanza per cui - fatta eccezione di un solo caso - gli inquilini degli
BGE 100 Ib 200 S. 207
stabili non sono partiti, nonostante gli inconvenienti dovuti ai rumori, può anche non esser determinante. Infatti gli inquilini coincidono, a quanto sembra, con i soci della cooperativa, per cui, dal punto di vista economico, essi possono esser equiparati a comproprietari degli stabili, che loro servono d'abitazione. Del pari, si potrebbe prescindere dal considerare, nella ricerca di un'eventuale svalutazione degli immobili, la modestia degli affitti che la ricorrente esige dai propri inquilini, vuoi in ossequio allo scopo statutario, vuoi grazie alle condizioni favorevoli del finanziamento, ottenuto dalla stessa Confederazione.
Ma anche prescindendo da codesti elementi, la ricorrente non ha dimostrato che, se gli stabili fossero gestiti con criteri meramente commerciali, i denunciati inconvenienti comporterebbero nelle concrete circostanze vigenti in Chiasso un'effettiva e rilevante diminuzione del loro valore venale. I periti federali, il cui reperto scevro di errori e di lacune vincola il Tribunale federale (RU 87 I 90;
94 I 291
), hanno concluso che i lamentati inconvenienti non incidono in grado suscettibile di misurazione sul predetto valore venale: dal loro referto il Tribunale federale non ha motivo di scostarsi. | 4,468 | 2,205 | 2 | 0 | CH_BGE_003 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_003_BGE-100-Ib-200_1974 | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=17&from_date=&to_date=&from_year=1974&to_year=1974&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=169&highlight_docid=atf%3A%2F%2F100-IB-200%3Ade&number_of_ranks=355&azaclir=clir | BGE_100_Ib_200 |
|||
edeaf363-84d4-4c38-8682-ade390b1cf27 | 1 | 84 | 1,329,516 | null | 2,024 | de | Sachverhalt
ab Seite 452
BGE 133 V 450 S. 452
A.
Der 1984 geborene G. leidet an Geburtsgebrechen (frühkindliche Hirnschädigung mit motorischen Störungen, schwerer psychointellektueller und motorischer Entwicklungsrückstand, Epilepsie). Im Jahre 1985 wurde er bei der Invalidenversicherung angemeldet, worauf ihm diese diverse medizinische, pädagogisch-therapeutische und sonderschulische Massnahmen zusprach. Mit Verfügung vom 16. Februar 2001 sprach ihm die IV-Stelle des Kantons St. Gallen vom 13. August 2001 bis 15. Juli 2003 berufliche Massnahmen (erstmalige berufliche Ausbildung in allgemeiner Industriearbeit bei der Bildungsstätte Y.; Schlussbericht vom 8. Juli 2003) zu. Am 3. Juli 2002 wurde der Versicherte durch die Vormundschaftsbehörde der Gemeinde nach
Art. 369 ZGB
entmündigt und gemäss
Art. 385 Abs. 3 ZGB
unter die elterliche Sorge gestellt. Mit Verfügung vom 13. Juni 2003 verneinte die IV-Stelle den Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung. Mit Verfügung vom 6. Oktober 2003 sprach sie dem Versicherten ab 1. Juli 2003 eine ausserordentliche Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von 90 % zu. Am 11. Februar 2004 meldete er sich erneut zum Bezug einer Hilflosenentschädigung an. Die IV-Stelle zog diverse Arztberichte sowie einen Bericht betreffend Abklärung für eine Hilflosenentschädigung für Erwachsene aufgrund lebenspraktischer Begleitung, der gestützt auf eine Abklärung an Ort und Stelle am 24. März 2004 erstattet wurde, bei. Mit Verfügung vom 21. April 2004 verneinte die IV-Stelle den Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung, da es dem Versicherten nicht möglich sei, selbstständig zu wohnen. Verschiedene Verrichtungen müssten durch Dritte erledigt werden. Er wohne zu Hause bei den Eltern. Ein Versuch für selbstständiges Wohnen habe aufgegeben werden müssen, da es ihm nicht möglich gewesen sei, die Wohnung trotz Anleitung selber zu bewirtschaften. Die dagegen erhobene Einsprache wies die IV-Stelle ab. Zur Begründung führte sie aus, der
BGE 133 V 450 S. 453
Versicherte lebe zu Hause bei seinen Eltern und werde von diesen betreut. Weil er in einer kollektiven Wohnform lebe, sei ein Bedarf an lebenspraktischer Begleitung von vornherein nicht gegeben (Entscheid vom 2. Juli 2004).
B.
In Gutheissung der hiegegen eingereichten Beschwerde sprach das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen dem Versicherten ab 1. Januar 2004 eine Entschädigung bei einer Hilflosigkeit leichten Grades zu (Entscheid vom 17. Februar 2005).
C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die IV-Stelle die Aufhebung des kantonalen Entscheides.
Das kantonale Gericht und der Versicherte schliessen auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Letzterer verlangt zusätzlich eventuell die Rückweisung der Sache zur ergänzenden Abklärung an die IV-Stelle. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Das Bundesgericht heisst die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gut. | 631 | 463 | Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
1.1
Am 1. Januar 2007 ist das Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (BGG; SR 173.110) in Kraft getreten (AS 2006 S. 1205, 1243). Damit wurden das Eidg. Versicherungsgericht und das Bundesgericht in Lausanne zu einem einheitlichen Bundesgericht (an zwei Standorten) zusammengefügt (SEILER/VON WERDT/ GÜNGERICH, Bundesgerichtsgesetz [BGG], Bern 2007, S. 10 Rz. 75) und es wurden die Organisation und das Verfahren des obersten Gerichts umfassend neu geregelt. Dieses Gesetz ist auf die nach seinem Inkrafttreten eingeleiteten Verfahren des Bundesgerichts anwendbar, auf ein Beschwerdeverfahren jedoch nur dann, wenn auch der angefochtene Entscheid nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes ergangen ist (
Art. 132 Abs. 1 BGG
). Da der kantonale Gerichtsentscheid am 17. Februar 2005 und somit vor dem 1. Januar 2007 ergangen war, richtet sich das Verfahren nach dem bis 31. Dezember 2006 in Kraft gestandenen Bundesgesetz vom 16. Dezember 1943 über die Organisation der Bundesrechtspflege (OG [BS 3 S. 531]; vgl.
BGE 132 V 393
E. 1.2 S. 395).
1.2
Der angefochtene Entscheid betrifft Leistungen der Invalidenversicherung. Nach
Art. 132 Abs. 1 OG
in der Fassung gemäss Ziff. III des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 über die
BGE 133 V 450 S. 454
Änderung des IVG (in Kraft seit 1. Juli 2006) kann in Verfahren um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen in Abweichung von den
Art. 104 und 105 OG
auch die Unangemessenheit der angefochtenen Verfügung beurteilt werden, wobei das Gericht an die vorinstanzliche Feststellung des Sachverhalts nicht gebunden ist. Gemäss
Art. 132 Abs. 2 OG
gelten diese Abweichungen nicht, wenn der angefochtene Entscheid Leistungen der Invalidenversicherung betrifft. Nach Ziff. II lit. c des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 gilt indessen bisheriges Recht für die im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Änderung beim Eidg. Versicherungsgericht hängigen Beschwerden. Da die hier zu beurteilende Beschwerde am 1. Juli 2006 beim Eidg. Versicherungsgericht hängig war, richtet sich die Kognition des nunmehr urteilenden Bundesgerichts nach der bis Ende Juni 2006 gültigen Fassung von
Art. 132 OG
, welche dem neuen Abs. 1 entspricht.
2.
2.1
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen über den Anspruch auf Hilflosenentschädigung bei Angewiesenheit auf dauernde lebenspraktische Begleitung zur Ermöglichung des selbstständigen Wohnens (Art. 37 Abs. 3 lit. e in Verbindung mit
Art. 38 Abs. 1 lit. a IVV
in der seit 1. Januar 2004 geltenden Fassung) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.
2.2
2.2.1
Zu ergänzen ist, dass als hilflos eine Person gilt, die wegen der Beeinträchtigung der Gesundheit für alltägliche Lebensverrichtungen dauernd der Hilfe Dritter oder der persönlichen Überwachung bedarf (
Art. 9 ATSG
). Der Gesetzgeber hat mit
Art. 9 ATSG
die bisherige Definition der Hilflosigkeit nach aArt. 42 Abs. 2 IVG (in der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung) übernommen (vgl. BBl 1991 II 249;
BGE 133 V 42
E. 3.4 S. 45 mit Hinweisen), weshalb die hiezu ergangene Rechtsprechung weiterhin anwendbar ist.
2.2.2
Nach
Art. 42 IVG
(in der seit 1. Januar 2004 geltenden Fassung) haben Versicherte mit Wohnsitz und gewöhnlichem Aufenthalt (
Art. 13 ATSG
) in der Schweiz, die hilflos (
Art. 9 ATSG
) sind, Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung. Vorbehalten bleibt Art. 42
bis
(Abs. 1). Es ist zu unterscheiden zwischen schwerer, mittelschwerer und leichter Hilflosigkeit (Abs. 2). Als hilflos gilt ebenfalls eine Person, welche zu Hause lebt und wegen der
BGE 133 V 450 S. 455
Beeinträchtigung der Gesundheit dauernd auf lebenspraktische Begleitung angewiesen ist. Ist nur die psychische Gesundheit beeinträchtigt, so muss für die Annahme einer Hilflosigkeit mindestens ein Anspruch auf eine Viertelsrente gegeben sein. Ist eine Person lediglich dauernd auf lebenspraktische Begleitung angewiesen, so liegt immer eine leichte Hilflosigkeit vor. Vorbehalten bleibt Art. 42
bis
Abs. 5 (Abs. 3).
2.2.3
Nach
Art. 38 Abs. 1 IVV
liegt ein Bedarf an lebenspraktischer Begleitung im Sinne von
Art. 42 Abs. 3 IVG
auch vor, wenn eine volljährige, versicherte Person ausserhalb eines Heimes lebt und infolge Beeinträchtigung der Gesundheit für Verrichtungen und Kontakte ausserhalb der Wohnung auf Begleitung einer Drittperson angewiesen ist (lit. b) oder ernsthaft gefährdet ist, sich dauernd von der Aussenwelt zu isolieren (lit. c).
Ist lediglich die psychische Gesundheit beeinträchtigt, so muss für die Annahme einer Hilflosigkeit gleichzeitig ein Anspruch auf mindestens eine Viertelsrente bestehen (
Art. 38 Abs. 2 IVV
).
Zu berücksichtigen ist nur diejenige lebenspraktische Begleitung, die regelmässig und im Zusammenhang mit den in Abs. 1 erwähnten Situationen erforderlich ist. Nicht darunter fallen insbesondere Vertretungs- und Verwaltungstätigkeiten im Rahmen vormundschaftlicher Massnahmen nach Art. 398-419 des Zivilgesetzbuches (
Art. 38 Abs. 3 IVV
).
Der Anspruch auf lebenspraktische Begleitung ist nicht auf Menschen mit Beeinträchtigung der psychischen oder geistigen Gesundheit beschränkt. Es ist durchaus möglich, dass auch andere Behinderte einen Bedarf an lebenspraktischer Begleitung geltend machen können. Zu denken ist insbesondere an hirnverletzte Menschen (vgl. Rz. 8042 des vom BSV herausgegebenen Kreisschreibens über Invalidität und Hilflosigkeit in der Invalidenversicherung [KSIH] in der seit 1. Januar 2004 gültigen Fassung; zu
Art. 38 IVV
: vgl. die Erläuterungen des BSV in: AHI 2003 S. 327 f.).
2.2.4
Verwaltungsweisungen richten sich an die Durchführungsstellen und sind für das Sozialversicherungsgericht nicht verbindlich. Dieses soll sie bei seiner Entscheidung aber berücksichtigen, sofern sie eine dem Einzelfall angepasste und gerecht werdende Auslegung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen zulassen. Das Gericht weicht also nicht ohne triftigen Grund von Verwaltungsweisungen ab, wenn diese eine überzeugende Konkretisierung der rechtlichen Vorgaben darstellen. Insofern wird dem Bestreben
BGE 133 V 450 S. 456
der Verwaltung, durch interne Weisungen eine rechtsgleiche Gesetzesanwendung zu gewährleisten, Rechnung getragen (
BGE 132 V 121
E. 4.4 S. 125 mit Hinweisen).
3.
3.1
Streitig und zu prüfen ist, ob der Versicherte dauernd auf lebenspraktische Begleitung angewiesen ist (
Art. 42 Abs. 3 IVG
in Verbindung mit
Art. 37 Abs. 3 lit. e sowie
Art. 38 IVV
in der seit 1. Januar 2004 geltenden Fassung).
Vorab ist festzuhalten, dass die in
Art. 42 Abs. 3 Satz 2 IVG
und
Art. 38 Abs. 2 IVV
statuierte Voraussetzung eines Rentenanspruchs erfüllt ist, da der Versicherte seit 1. Juli 2003 eine ganze Invalidenrente bezieht.
3.2
Die IV-Stelle trat auf die Neuanmeldung des Versicherten vom 11. Februar 2004 ein und wies den Anspruch ab, da eine lebenspraktische Begleitung nicht erforderlich sei. Die Vorinstanz hat erwogen, die IV-Stelle sei auf die Neuanmeldung zu Recht eingetreten.
Die Eintretensfrage steht vorliegend nicht mehr zur Beurteilung (vgl.
BGE 109 V 108
E. 2b S. 114; Urteile des Eidg. Versicherungsgerichts I 117/05 vom 28. Juli 2005, E. 3, und I 359/04 vom 12. Oktober 2004, E. 1.2.2).
4.
4.1
Die Vorinstanz hat im angefochtenen Entscheid im Wesentlichen erwogen, die lebenspraktische Begleitung solle nicht das allein Wohnen, sondern der behinderten Person ermöglichen, den Alltag so weit zu bewältigen (z.B. durch eine Hilfe bei der Tagesstrukturierung, Unterstützung bei der Bewältigung der Alltagsprobleme oder durch die Anleitung zur Erledigung des Haushalts), dass sie zu Hause wohnen könne und nicht in einem Behindertenheim untergebracht werden müsse. Laut den Ausführungen des BSV im IV-Rundschreiben Nr. 201 vom 19. Mai 2004 solle der Anspruch auf Hilflosenentschädigung nicht mehr auf jene Personen beschränkt sein, die - meist als Folge eines körperlichen Gebrechens - auf eine Hilfe bei den alltäglichen Lebensverrichtungen angewiesen seien. Die Situation der psychisch und geistig Behinderten solle verbessert werden, also die Situation derjenigen, die grundsätzlich in der Lage seien, mit ihrem Lebensalltag in erheblichem Umfang selbst fertig zu werden, wenn sie dabei begleitet würden. Auch diesen Personen solle es ermöglicht werden, zu Hause zu wohnen und
BGE 133 V 450 S. 457
die dadurch entstandenen Kosten für die Begleitung zu decken. Der Zweck der Schaffung eines neuen Tatbestandes der Hilflosigkeit zeige, dass der Begriff des selbstständigen Wohnens nicht die Fähigkeit, dank einer lebenspraktischen Begleitung allein wohnen zu können, sondern nur die Fähigkeit, nicht in einem Heim wohnen zu müssen, beinhalte. Der Versicherte sei dank der lebenspraktischen Begleitung seiner Eltern in der Lage, zu Hause zu wohnen. Ohne diese wäre er gezwungen, in einem Behindertenheim zu leben. Er erfülle somit die Voraussetzungen einer Hilflosenentschädigung gemäss
Art. 37 Abs. 3 lit. e IVV
.
4.2
Die IV-Stelle wendet letztinstanzlich ein, sie anerkenne, dass der Versicherte nicht in einem Heim lebe und somit ein Anspruch auf lebenspraktische Begleitung grundsätzlich möglich wäre. Ebenfalls anerkenne sie, das Erfordernis des selbstständigen Wohnens bedeute lediglich, dass einem Versicherten so geholfen werde, damit er nicht in ein Heim eintreten müsse. Die Vorinstanz habe indessen nicht geprüft, ob das Erfordernis der Regelmässigkeit gemäss
Art. 38 Abs. 3 Satz 1 IVV
erfüllt sei. Die Regelmässigkeit sei gegeben, wenn die lebenspraktische Begleitung über eine Periode von drei Monaten im Durchschnitt mindestens zwei Stunden pro Woche benötigt werde (Rz. 8053 KSIH). Relevant für die geforderten zwei Stunden wöchentlich könnten nur Tätigkeiten Dritter sein, die sich als (indirekte) Hilfe in Form einer Anleitung oder einer Art Hilfe zur Selbsthilfe definieren liessen. Jede Form (direkter) Hilfe, wo die eigentliche Tätigkeit durch eine Drittperson erledigt werde, könne nicht berücksichtigt werden. Gemäss der Abklärung an Ort und Stelle vom 24. März 2004 sei der Versicherte bei der Tagesstrukturierung selbstständig, soweit nicht Ungewohntes dazwischen komme. Die Anrechnung eines Zeitbedarfs für die lebenspraktische Begleitung komme demnach diesbezüglich nicht in Frage. Kochen könne der Versicherte nicht alleine, da dies zu gefährlich sei; dies übernehme die Drittperson, weshalb eine Anrechnung ebenfalls nicht in Frage komme. Für einfache administrative Angelegenheiten werde er einmal monatlich von einem Elternteil zur Bank begleitet, was einen Aufwand von einer Stunde ausmache. Lediglich einmal pro Jahr erfolge noch eine Begleitung bei einem Behördengang, was ca. 1 Stunde dauere. Haushaltarbeiten (Bett frisch anziehen, Zimmer aufräumen, Wäsche, kochen) würden praktisch gänzlich durch Dritte erledigt, weswegen keine Anrechnung erfolgen könne. Einkäufe erledige der Versicherte nicht selbst, zum Coiffeur gehe er allein und
BGE 133 V 450 S. 458
zum Hausarzt werde er viermal jährlich während ca. 90 Minuten sowie ins Kinderspital dreimal jährlich während 4 Stunden 45 Minuten begleitet. Zu diversen Anlässen werde er mitgenommen. Dort könne keine Anrechnung geschehen, da die Eltern offenbar ohnehin dorthin gingen und ihren Sohn einfach mitnähmen. Die Fahrdienste für das Schwimmen und Turnen würden mit anderen Eltern aufgeteilt; offenbar benötige er diesen Fahrdienst nicht, sondern man habe sich mit anderen Eltern aus praktischen Gründen organisiert. Insgesamt fielen jährlich rund 35 Stunden an lebenspraktischer Begleitung an, was weit entfernt von der Schwelle von 2 Stunden wöchentlich sei. Da das Erfordernis der Regelmässigkeit nicht gegeben sei, könne offen bleiben, auf Grund welcher der drei in
Art. 38 Abs. 1 IVV
vorgesehenen Konstellationen die lebenspraktische Begleitung letztendlich zu bejahen wäre.
4.3
Die Vorinstanz legt letztinstanzlich dar, gemäss IV-Stelle seien als lebenspraktische Begleitung nur jene Tätigkeiten der Drittpersonen zu betrachten, die sich als "indirekte" Dritthilfe in Form einer Anleitung oder einer Art Hilfe zur Selbsthilfe definieren liessen; die Eltern des Versicherten leisteten laut IV-Stelle praktisch nur "direkte" Hilfe (z.B. Kochen, Aufräumen des Zimmers, Besorgen der Wäsche). Die IV-Stelle wolle nur die für die indirekte Hilfe verwendete Zeit berücksichtigen, also nicht diejenige, die nötig wäre, um den Versicherten beim Kochen, Wäsche Besorgen etc. anzuleiten und zu überwachen. Mit der Aufforderung an den Versicherten, eine bestimmte Tätigkeit im Haushalt vorzunehmen, wäre es aber nicht getan. Der Versicherte müsste dabei auch überwacht werden, was nach der Auffassung der IV-Stelle ebenfalls als indirekte Dritthilfe zu definieren wäre. Die Grenze von zwei Stunden wöchentlich wäre damit ohne Weiteres überschritten. Schon deshalb sei die Argumentation der IV-Stelle nicht stichhaltig; denn zumindest die Zeit, die für die Anleitung und Überwachung nötig wäre, wenn die Hilfe nicht direkt erbracht würde, müsse Berücksichtigung finden. Die IV-Stelle könne ihre Auffassung, wonach zwischen direkter und indirekter Hilfe zu unterscheiden und nur letztere zu berücksichtigen sei, nicht begründen oder belegen. Diese Unterscheidung hätte zur Folge, dass nur diejenigen behinderten Personen ein relevantes Bedürfnis nach lebenspraktischer Begleitung hätten, die noch recht weitgehend selbstständig seien, da sie nur angewiesen werden müssten, eine bestimmte Arbeit zu erledigen, und diese dann selbstständig ausführten. Allerdings benötigten derartige Anweisungen nur
BGE 133 V 450 S. 459
wenig Zeit, so dass die Grenze von zwei Stunden wöchentlich kaum je überschritten würde. Die Auffassung der IV-Stelle würde mithin den Kreis der Leistungsberechtigten sehr eng halten. Es bestehe jedoch kein Grund, jene behinderten Personen von der Leistungsberechtigung auszuschliessen, die nicht nur eine Anweisung zu einer bestimmten Arbeit benötigten, sondern die auch noch bei der Ausführung überwacht werden müssten. Ob die Drittperson die Arbeit überwacht oder sie die Arbeit gleich selber ausführt, weil das auch nicht mehr Zeit erfordere, sei dann nicht von Belang. Es sei aber auch kein Grund ersichtlich für den Ausschluss jener Personen von der Leistungsberechtigung, die alltägliche Arbeit selbst dann nicht ausführen könnten, wenn sie angeleitet und überwacht würden, denn für sie, die "schweren" Fälle, werde es ebenfalls erst durch die Dritthilfe möglich, selbstständig zu wohnen. Die Unterscheidung zwischen indirekter und direkter Dritthilfe erweise sich im Zusammenhang mit der Interpretation des Begriffs der lebenspraktischen Begleitung nach
Art. 38 Abs. 1 lit. a IVV
als untauglich. Massgebend sei nicht die Art der Dritthilfe, sondern ausschliesslich die durch die Dritthilfe zu erreichende Selbstständigkeit des Wohnens. Die dem Versicherten erbrachte Dritthilfe erlaube es ihm, selbstständig zu wohnen, weshalb er Anspruch auf eine Entschädigung für Hilflosigkeit leichten Grades habe.
4.4
Der Versicherte bringt letztinstanzlich vor, mit der engen Auslegung der IV-Stelle könne das Ziel der IV-Revision, behinderten Menschen mit Assistenzbedürfnissen vermehrte Autonomie und Selbstbestimmung zu ermöglichen, nicht erreicht werden. Wäre nur die indirekte Hilfe (Anleitung, Überwachung usw.) anrechenbar, so könnten Menschen mit psychischen und leichten geistigen Behinderungen in den meisten Fällen die Anspruchsvoraussetzungen für eine Hilflosenentschädigung auch nach neuem Recht nach wie vor nicht erfüllen. Die Auslegung der IV-Stelle könne weder dem Gesetz noch der Verordnung entnommen werden und widerspreche dem Grundgedanken der Gesetzesrevision, mit der die oben erwähnte Gruppe behinderter Menschen, zu denen auch der Versicherte gehöre, bessergestellt werden sollte. Bei Hilflosigkeit werde grundsätzlich sowohl die direkte als auch indirekte Hilfe berücksichtigt. Eine Ausnahme nur für Menschen, die auf lebenspraktische Begleitung angewiesen seien, sei nicht sachgerecht. Das Gesetz sehe nicht vor, dass lebenspraktische Begleitung nur jenen Versicherten entschädigt werde, die völlig selbstständig wohnen könnten. Dies
BGE 133 V 450 S. 460
würde zum Ergebnis führen, dass leicht behinderte Personen eher in den Genuss einer Hilflosenentschädigung gelangen würden als Personen mit einer schwereren Behinderung. Eine derartige Interpretation von
Art. 42 Abs. 3 IVG
könne nicht dem gesetzgeberischen Willen entsprechen. Denn es sei gerade Ziel der Gesetzesrevision gewesen, dass auch geistig Behinderte mit direkter und indirekter Unterstützung selbstständig wohnen könnten und nicht in ein Heim eintreten müssten. Vorliegend komme hinzu, dass der Versicherte neben der direkten Hilfe (z.B. beim Wäsche Waschen) mehr als zwei Stunden pro Woche auf indirekte Hilfe angewiesen sei. Dies betreffe die Küchenarbeit (Kochen nur unter Aufsicht der Eltern, mehrmals monatlich Kuchen backen unter Anleitung), die Reinigungsarbeiten (Aufräumen, Staubsaugen, Betten neu beziehen), die Tagesstruktur usw. Grundsätzlich könnte er unter Beaufsichtigung und Anleitung auch die Wäsche selber sortieren, die Maschine selber bedienen sowie die Wäsche aufhängen und verräumen. Dies tue er gelegentlich zusammen mit seiner Mutter auch. Diese indirekte Hilfe im Bereich Waschen sei aber zeitaufwendiger für die Eltern als die direkte Hilfe. Um die Selbstständigkeit des Versicherten zu fördern, leisteten sie jedoch in vielen anderen Bereichen (Küchenarbeit, Zimmer aufräumen) die aufwendigere indirekte Dritthilfe regelmässig in erheblichem Umfang (deutlich mehr als 2 Stunden wöchentlich). Da der Versicherte antriebsarm sei, werde er von den Eltern zur Mitarbeit aufgefordert sowie angeleitet und überwacht. So beim Besorgen der Tiere (Füttern, Kaninchenstall ausmisten), Rasenmähen, Einkaufen usw. Zu beachten sei auch, dass er, um Isolation zu vermeiden, von den Eltern ein- bis zweimal wöchentlich zu Anlässen begleitet werde (Restaurantbesuch, Konzerte, Theater, Kino usw.). Sollte das Gericht zum Schluss kommen, dass die Unterscheidung in direkte und indirekte Hilfe massgeblich und der Anspruch des Versicherten auf Grund der Akten noch nicht ausgewiesen sei, werde eine neue Abklärung beantragt, da der Abklärungsbericht an Ort und Stelle sehr ungenau sei. So werde in den Bereichen "einfache administrative Tätigkeiten..." und "Reinigungsarbeiten" sowohl "Erledigung durch Dritthilfe" als auch gleichzeitig "Anleitung genügt" vermerkt. Weiter werde der zeitliche Aufwand für die Kontrolle und Anleitung, Begleitung, Aufsicht sowie die direkte Hilfe nicht in allen Punkten aufgeführt.
5.
Die Vorinstanz hat richtig erwogen, dass das Wohnen des Versicherten bei seinen Eltern den Anspruch auf lebenspraktische
BGE 133 V 450 S. 461
Begleitung nicht ausschliesst. Massgebend ist einzig, dass sich die versicherte Person nicht in einem Heim aufhält (Botschaft vom 21. Februar 2001 über die 4. Revision des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung [nachfolgend Botschaft], BBl 2001 S. 3289). Für die ständerätliche Kommission hielt Ständerätin Forster-Vannini fest, Ziel der lebenspraktischen Begleitung sei es, den Eintritt in eine stationäre Einrichtung nach Möglichkeit hinauszuschieben oder zu verhindern (AB 2002 S 757). Das BSV führt denn auch im IV-Rundschreiben Nr. 201 vom 19. Mai 2004 S. 2 Ziff. 2 aus, es sei unerheblich, in welcher Umgebung sich die versicherte Person - abgesehen davon, dass sie ausserhalb eines Heims wohnen müsse - aufhalte und ob sie auf die Hilfe des Ehegatten, der Kinder oder Eltern zählen könne. Die versicherte Person müsse nicht alleine wohnen. Diese Auffassung wird von der IV-Stelle nunmehr anerkannt und entspricht der bisherigen, auch hier anwendbaren Rechtsprechung, wonach es objektiv, nach dem Zustand des Versicherten, zu beurteilen ist, ob die entsprechende Hilfsbedürftigkeit besteht. Grundsätzlich unerheblich ist die Umgebung, in welcher sich der Versicherte aufhält (
BGE 98 V 23
E. 2 S. 25 mit Hinweisen; Urteile des Eidg. Versicherungsgerichts H 163/04 vom 7. Juni 2005, E. 4, und I 104/01 vom 15. Dezember 2003, E. 4.1.2), im Rahmen der lebenspraktischen Begleitung allerdings vorbehältlich eines Heimaufenthalts.
6.
6.1
Gemäss den Erläuterungen des BSV zu den Änderungen der IVV vom 21. Mai 2003 (Anpassung an die 4. IV-Revision) sind weitere Kriterien auf Weisungsebene zu regeln, damit der Anspruch auf Hilflosenentschädigung auf Grund lebenspraktischer Begleitung zuverlässig und möglichst rechtsgleich ermittelt werden kann. So sind z.B. Hauptanwendungs-/Modellfälle zu umschreiben, ein zeitliches Mindestmass der lebenspraktischen Begleitung in Stunden festzulegen, die "Regelmässigkeit" und die "Dauerhaftigkeit" zu definieren, die Grundsätze für die Ermittlung der Wartefrist und die Häufigkeit von Revisionen festzulegen etc. (vgl. AHI 2003 S. 329).
6.2
In Rz. 8053 KSIH hat das BSV festgelegt, dass die lebenspraktische Begleitung im Sinne von
Art. 38 Abs. 3 Satz 1 IVV
regelmässig ist, wenn sie über eine Periode von drei Monaten gerechnet im Durchschnitt mindestens 2 Stunden pro Woche benötigt wird.
Die zeitliche Vergleichsbasis von drei Monaten erscheint im Hinblick auf die praktische Durchführung als zweckmässig und
BGE 133 V 450 S. 462
sinnvoll. Mit der Quantifizierung der lebenspraktischen Begleitung von 2 Stunden pro Woche wird eine minimale durchschnittliche Intensität an lebenspraktischer Begleitung normiert. Dies korreliert mit der Wertung des Gesetzgebers, dass der Anspruch auf Hilflosenentschädigung nicht bereits bei jeder Form und Dauer der Inanspruchnahme lebenspraktischer Begleitung gegeben sein soll, sondern vielmehr einen bestimmten minimalen Schweregrad der Hilflosigkeit voraussetzt, damit eine entsprechende Entschädigung durch die Invalidenversicherung gerechtfertigt ist. Diese Wertvorstellung des Gesetzgebers kommt auch darin zum Ausdruck, dass für die Annahme einer Hilflosigkeit mindestens ein Anspruch auf eine Viertelsrente gegeben sein muss, wenn nur die psychische Gesundheit beeinträchtigt ist (
Art. 42 Abs. 3 IVG
; vgl. auch Botschaft, BBl 2001 S. 3289).
Rz. 8053 KSIH erweist sich als vernünftig und durch Sinn und Zweck der Verordnungsbestimmung abgedeckt. Es wird damit eine Erheblichkeitsgrenze statuiert, die den durch Gesetz und Verordnung vorgegebenen Rahmen nicht sprengt, sondern vielmehr eine praktische Abgrenzung zwischen anspruchsbegründendem und -ausschliessendem Schweregrad an Hilflosigkeit beim Bedarf an lebenspraktischer Begleitung statuiert und insofern die vorgegebene Norm konkretisiert. In diesem Sinne erweist sich die in Rz. 8053 KSIH enthaltene Definition der Regelmässigkeit als sachlich gerechtfertigt und damit als gesetzes- und verordnungskonform.
In
BGE 133 V 472
hat das Bundesgericht in E. 5.3.1 zudem festgestellt, dass Rz. 8053 KSIH keine Verletzung des Gebots der rechtsgleichen Behandlung (
Art. 8 Abs. 1 BV
), des Diskriminierungsverbots (
Art. 8 Abs. 2 BV
), des Willkürverbots (
Art. 9 BV
) oder des Bundesgesetzes vom 13. Dezember 2002 über die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen (BehiG; SR 151.3) beinhaltet (vgl. die dazu ergangene Rechtsprechung:
BGE 131 V 9
ff.;
BGE 130 I 352
ff.).
7.
7.1
Die IV-Stelle vertritt die Auffassung, im Rahmen der lebenspraktischen Begleitung sei nur indirekte Hilfe der Drittperson (Anleitung, Hilfe zur Selbsthilfe) anrechenbar, nicht aber direkte Hilfe, bei der die Tätigkeit durch die Drittperson selber erledigt werde.
7.2
Die Verwaltung knüpft bei ihrer Argumentation an die Rechtsprechung an, die zwischen direkter und indirekter Dritthilfe
BGE 133 V 450 S. 463
differenziert, welche sich - anders als die in
Art. 37 IVV
verwendeten Begriffe "Pflege" und "Überwachung" - auf die sechs massgeblichen alltäglichen Lebensverrichtungen (Ankleiden, Auskleiden; Aufstehen, Absitzen, Abliegen; Essen; Körperpflege; Verrichtung der Notdurft; Fortbewegung [im oder ausser Haus], Kontaktaufnahme) beziehen (
Art. 9 ATSG
;
BGE 127 V 94
E. 3c S. 97 mit Hinweisen; Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 678/03 vom 12. Februar 2004, E. 1). Danach kann die benötigte Hilfe nicht nur in direkter Dritthilfe, sondern auch bloss in Form einer Überwachung der versicherten Person bei Vornahme der relevanten Lebensverrichtungen bestehen, indem etwa die Drittperson sie auffordert, eine Lebensverrichtung vorzunehmen, die sie wegen ihres psychischen Zustandes ohne besondere Aufforderung nicht vornehmen würde (indirekte Dritthilfe;
BGE 121 V 88
E. 3c S. 91;
BGE 107 V 145
E. 1c S. 149 und 136 E. 1b S. 139;
BGE 106 V 157
f.;
BGE 105 V 52
E. 4a S. 56; Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 296/05 vom 29. Dezember 2005, E. 2.2.2).
Die IV-Stelle will im Rahmen der vom Gesetzgeber seit 1. Januar 2004 neu eingeführten lebenspraktischen Begleitung eine direkte Dritthilfe nicht berücksichtigen.
8.
8.1
Das Gesetz ist in erster Linie nach seinem Wortlaut auszulegen. Ist der Text unklar oder lässt er verschiedene Deutungen zu, so muss unter Berücksichtigung aller Auslegungselemente (insbesondere Entstehungsgeschichte, Systematik sowie Zweck der Bestimmung) nach der wahren Tragweite der auszulegenden Norm gesucht werden. Dabei hat sich die höchstrichterliche Rechtsprechung bei der Auslegung von Erlassen stets von einem pragmatischen Methodenpluralismus leiten lassen und es abgelehnt, die einzelnen Auslegungselemente einer Prioritätsordnung zu unterstellen (zum Ganzen
BGE 131 III 33
E. 2 S. 35;
BGE 130 V 229
E. 2.2 S. 232; Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts U 129/05 vom 7. Juni 2006, E. 5.1).
8.2
8.2.1
Der Bundesrat führte in der Botschaft aus, Menschen mit psychischen oder leichten geistigen Behinderungen seien auf Hilfe und Assistenz im persönlichen Leben angewiesen. Um auch ihnen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, solle die Assistenzentschädigung auch für sie eingeführt werden. In der Regel benötigten psychisch und leicht geistig Behinderte hauptsächlich
BGE 133 V 450 S. 464
lebenspraktische Begleitung. Da das geltende System in erster Linie auf die Beeinträchtigung körperlicher Funktionen abstelle, erhielten heute psychisch und leicht geistig Behinderte oftmals keine Hilflosenentschädigung. Weil auch bei diesen Personen ein Assistenzbedarf vorliegen könne, werde vorgeschlagen, eine Assistenzentschädigung für lebenspraktische Begleitung einzuführen. Die Anspruchsvoraussetzungen seien in der Verordnung klar zu umschreiben. So dürfte ein Anspruch beispielsweise dann gegeben sein, wenn eine behinderte Person auf Grund ihrer psychischen Erkrankung ohne Begleitung nicht selbstständig wohnen könne, oder wenn sie nicht in der Lage sei, das Haus zum Einkaufen oder zum Kontakt mit Ämtern oder Medizinalpersonen zu verlassen, oder wenn auf Grund ihrer psychischen Erkrankung die Gefahr bestehe, dass sie sich dauernd isoliere. Massgebend könne zudem nur diejenige Hilfe sein, die nicht bereits durch einen Vormund, Beirat oder Beistand erbracht werde. Auch die Tatsache, dass der Gesundheitszustand von Menschen mit psychischen Behinderungen in der Regel grösseren Schwankungen unterliege, sei Rechnung zu tragen (BBl 2001 S. 3245 f. Ziff. 2.3.1.5.2.3). Die lebenspraktische Begleitung stelle weder eine Hilfe bei den alltäglichen Lebensverrichtungen noch eine Überwachung dar und müsse deshalb speziell erwähnt werden. Der Begriff "Begleitung" meine Begleitung und Beratung, die zur Bewältigung des praktischen Alltags diene (BBl 2001 S. 3289).
8.2.2
Im Rahmen der parlamentarischen Beratungen führte Ständerat Wicki am 25. September 2002 aus, es sei eine Klärung des Begriffs der "lebenspraktischen Beratung" nötig. Er sei dankbar, wenn man hier im Rat sagen könne, was er bedeute, denn nachher - vor allem in der Praxis - brauche es entsprechende Materialien. Die Geheimnisse der Kommission genügten nicht. Für die Kommission führte Ständerätin Forster-Vannini aus, sie versuche, diese Frage in dem Sinne zu beantworten, wie sie darüber in der Kommission gesprochen hätten. Heute hätten psychisch Behinderte zwar einen Anspruch auf Hilflosenentschädigung, doch seien die Anspruchsvoraussetzungen sehr eng formuliert. Die Abgrenzung zwischen psychischer und geistiger Behinderung sei in der Praxis schwierig durchzuführen, und die Grenzen seien oft fliessend. Auf der anderen Seite dürfe gemäss
Art. 8 Abs. 2 BV
kein Mensch "wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung" diskriminiert werden. Weil die Hilflosenentschädigung auf die körperlichen Lebensfunktionen in den Bereichen Anziehen, Ausziehen,
BGE 133 V 450 S. 465
Essen usw. zugeschnitten sei, sei sie für psychisch und geistig Behinderte nicht von Relevanz, weil sich bei ihnen andere Probleme stellten. Deshalb müsse der Anspruch auf lebenspraktische Begleitung auch für psychisch Behinderte eingeführt werden, und zwar aus den Gründen, die sie zu erklären versucht habe. Es gehe also um das Einkaufen oder andere Tätigkeiten, die von solchen Personen nicht allein, sondern nur mit Begleitung getätigt werden könnten. ... Sie wisse nicht, ob sie die Frage erschöpfend beantwortet habe. Vielleicht könne Frau Bundesrätin Dreifuss noch etwas nachhelfen. Diese legte dar, in Ziff. 2.3.1.5.2.3 der Botschaft finde man die bundesrätliche Umschreibung der lebenspraktischen Begleitung. Die geltende Gesetzgebung, die den Akzent auf die Hilfsmittel, die materielle, physische Hilfe, setze, berücksichtige ungenügend das Risiko der Verschlechterung des Zustandes von Invaliden, die in Situationen grösster Invalidität fallen könnten, wenn sie zum Beispiel nicht den Besuch einer psychiatrischen Krankenpflegerin erhielten, die dafür sorge, dass sie aufstünden oder rausgingen, oder die sie zum Arzt begleite. Dies sei beabsichtigt und auch in der Botschaft umschrieben. Es sei Sache der Verordnung, die Voraussetzungen der Gewährung der Begleitung zu umschreiben. Es sei beabsichtigt, die Leistungen, die sich aus diesem Bedürfnis nach Begleitung ergäben, durch Verordnung und Weisungen sehr strikt zu definieren. Sie sei völlig damit einverstanden, dass die Sache klar geregelt sein müsse, um nicht falsche Hoffnungen zu wecken, aber sie erinnere daran, dass im System der Sozialversicherung zahlreiche Leistungsdefinitionen auf Verordnungs- und nicht auf Gesetzesebene bestünden. Es liege in der Logik des Gesetzes, dass eine Delegationskompetenz an die IV-Durchführungsorgane zur Leistungsdefinition bestehe (vgl. AB 2002 S 759 f.).
8.2.3
Rz. 8050 KSIH betrifft die lebenspraktische Begleitung im Rahmen der Ermöglichung des selbstständigen Wohnens (vgl.
Art. 38 Abs. 1 lit. a IVV
). Sie ist notwendig, damit der Alltag selbstständig bewältigt werden kann, und liegt vor, wenn die betroffene Person auf Hilfe bei mindestens einer der folgenden Tätigkeiten angewiesen ist:
- Hilfe bei der Tagesstrukturierung;
- Unterstützung bei der Bewältigung von Alltagssituationen (z.B. nachbarschaftliche Probleme, Fragen der Gesundheit, Ernährung und Hygiene, einfache administrative Tätigkeiten etc.);
BGE 133 V 450 S. 466
- Anleitung zur Erledigung des Haushalts sowie Überwachung/ Kontrolle.
Nach Rz. 8051 KSIH ist bei ausserhäuslichen Verrichtungen (vgl.
Art. 38 Abs. 1 lit. b IVV
) die lebenspraktische Begleitung notwendig, damit die versicherte Person in der Lage ist, das Haus für bestimmte notwendige Verrichtungen und Kontakte zu verlassen (Einkaufen, Freizeitaktivitäten, Kontakte mit Amtsstellen oder Medizinalpersonen, Coiffeurbesuch etc.). Es muss sich um eine tatsächliche Begleitung handeln.
Gemäss Rz. 8052 KSIH ist die lebenspraktische Begleitung notwendig, um der Gefahr vorzubeugen, dass sich die versicherte Person dauernd von sozialen Kontakten isoliert (vgl.
Art. 38 Abs. 1 lit. c IVV
) und sich dadurch ihr Gesundheitszustand erheblich verschlechtert. Die rein hypothetische Gefahr einer Isolation von der Aussenwelt genügt nicht; vielmehr müssen sich die Isolation und die damit verbundene Verschlechterung des Gesundheitszustandes bei der versicherten Person bereits manifestiert haben. Die notwendige lebenspraktische Begleitung besteht in beratenden Gesprächen und der Motivation zur Kontaktaufnahme (z.B. Mitnehmen zu Anlässen).
9.
Nach dem Gesagten entspricht es der gesetzlichen Konzeption, dass die "lebenspraktische Begleitung" weder die (direkte oder indirekte) "Dritthilfe bei den sechs alltäglichen Lebensverrichtungen" noch die "Pflege" noch die "Überwachung" beinhaltet (vgl. E. 7.2 hievor). Sie stellt vielmehr ein zusätzliches und eigenständiges Institut der Hilfe dar (vgl. E. 8.2.1 f. hievor).
Die vom BSV vorgenommene Konkretisierung der Anwendungsfälle der lebenspraktischen Begleitung (Rz. 8050-8052 KSIH) erweist sich grundsätzlich als sachlich gerechtfertigt und damit als gesetzes- und verordnungskonform. Beizupflichten ist der Verwaltung insbesondere auch darin, dass sich die Begleitung zur Ermöglichung des selbstständigen Wohnens (
Art. 38 Abs. 1 lit. a IVV
) auf die Haushaltsarbeiten erstreckt, zumal diese nicht zu den alltäglichen Lebensverrichtungen nach
Art. 9 ATSG
in Verbindung mit
Art. 37 IVV
gehören (ZAK 1971 S. 35 E. 3b, H 35/70; weitere Urteile des Eidg. Versicherungsgerichts H 299/03 vom 7. Juni 2004, E. 3.4, und H 128/03 vom 4. Februar 2004, E. 3.2).
10.
Die Verwaltung vertritt die Auffassung, eine direkte Dritthilfe könne bei der lebenspraktischen Begleitung nicht berücksichtigt
BGE 133 V 450 S. 467
werden (E. 7 hievor), was sich unter anderem darin manifestiert, dass sie im Rahmen von
Art. 38 Abs. 1 lit. a IVV
bei der Erledigung des Haushalts nur die Anleitung sowie Überwachung/Kontrolle durch den Dritten als relevant erachtet (vgl. Rz. 8050 KSIH). Dem kann aus folgenden Gründen nicht gefolgt werden.
10.1
Der Wortlaut "lebenspraktische Begleitung" impliziert für sich allein nicht, dass eine direkte Hilfe der Drittperson nicht berücksichtigt werden darf.
In der bundesrätlichen Botschaft und in der parlamentarischen Beratung wurde die lebenspraktische Begleitung in erster Linie von der Hilfe bei den sechs alltäglichen Lebensverrichtungen und von der persönlichen Überwachung (vgl. E. 7.2 und 9 hievor) abgegrenzt. Aus der Formulierung in der Botschaft, es gehe um Begleitung und Beratung, die zur Bewältigung des praktischen Alltags diene (BBl 2001 S. 3289), kann nicht geschlossen werden, direkte Dritthilfe sei unbeachtlich, zumal an anderer Stelle gesagt wurde, die Menschen mit psychischen oder leichten geistigen Behinderungen seien auf Hilfe und Assistenz im persönlichen Leben angewiesen (BBl 2001 S. 3245 Ziff. 2.3.1.5.2.3). Zur Problematik direkte/indirekte Dritthilfe enthalten die Materialien keinerlei Ausführungen.
10.2
Die Vorinstanz und der Versicherte haben einlässlich und zutreffend dargelegt, dass es gerechtfertigt ist, im Rahmen der lebenspraktischen Begleitung nach
Art. 38 Abs. 1 lit. a IVV
neben der indirekten auch die direkte Dritthilfe zu berücksichtigen. Demnach kann die Begleitperson die notwendigerweise anfallenden Tätigkeiten auch selber ausführen, wenn die versicherte Person dazu gesundheitsbedingt trotz Anleitung oder Überwachung/Kontrolle nicht in der Lage ist. Auf die überzeugenden Ausführungen der Vorinstanz und des Versicherten kann verwiesen werden (E. 4.3 f. hievor).
Zu ergänzen ist, dass der Bundesrat in der Botschaft zu Recht darauf hingewiesen hat, der Gesundheitszustand von Menschen mit psychischen Behinderungen unterliege in der Regel grösseren Schwankungen (BBl 2001 S. 3246 Ziff. 2.3.1.5.2.3). Dies kann dazu führen, dass sie die gleiche Tätigkeit in besseren psychischen Phasen unter blosser Anleitung oder Kontrolle/Überwachung selber vornehmen können, in schlechteren Phasen aber auf direkte Dritthilfe angewiesen sind. Es ist auch deshalb nicht sachgerecht und kaum praktikabel, im Rahmen der lebenspraktischen Begleitung
BGE 133 V 450 S. 468
zwischen indirekter und direkter Dritthilfe zu differenzieren und letztere nicht zu berücksichtigen.
11.
11.1
11.1.1
Bei der Erarbeitung der Grundlagen für die Bemessung der Hilflosigkeit ist eine enge, sich ergänzende Zusammenarbeit zwischen Arzt und Verwaltung erforderlich. Ersterer hat anzugeben, inwiefern die versicherte Person in ihren körperlichen bzw. geistigen Funktionen durch das Leiden eingeschränkt ist. Der Versicherungsträger kann an Ort und Stelle weitere Abklärungen vornehmen. Bei Unklarheiten über physische oder psychische bzw. geistige Störungen oder deren Auswirkungen auf alltägliche Lebensverrichtungen sind Rückfragen an die medizinischen Fachpersonen nicht nur zulässig, sondern notwendig. Weiter sind die Angaben der Hilfe leistenden Personen zu berücksichtigen, wobei divergierende Meinungen der Beteiligten im Bericht aufzuzeigen sind. Der Berichtstext schliesslich muss plausibel, begründet und detailliert bezüglich der einzelnen alltäglichen Lebensverrichtungen sowie der tatbestandsmässigen Erfordernisse der dauernden persönlichen Überwachung und der Pflege sein. Schliesslich hat er in Übereinstimmung mit den an Ort und Stelle erhobenen Angaben zu stehen. Das Gericht greift, sofern der Bericht eine zuverlässige Entscheidungsgrundlage im eben umschriebenen Sinne darstellt, in das Ermessen der die Abklärung tätigenden Person nur ein, wenn klar feststellbare Fehleinschätzungen vorliegen. Das gebietet insbesondere der Umstand, dass die fachlich kompetente Abklärungsperson näher am konkreten Sachverhalt ist als das im Beschwerdefall zuständige Gericht (
BGE 130 V 61
ff.; erwähntes Urteil I 296/05, E. 2.2.3).
Im Falle einer Beeinträchtigung der geistigen Gesundheit stellt der Abklärungsbericht im Haushalt ein geeignetes Beweismittel für die Bemessung der Invalidität der betroffenen Personen dar. Stimmen jedoch die Ergebnisse der Haushaltabklärung nicht mit den ärztlichen Feststellungen der Behinderungen im gewohnten Tätigkeitsbereich überein, so haben Letztere in der Regel mehr Gewicht als die im Haushalt durchgeführte Abklärung (vgl. SVR 2005 IV Nr. 21 S. 81, E. 5.1.1, I 249/04; AHI 2004 S. 137, I 311/03).
Diese Rechtsprechung gilt entsprechend auch für die Abklärung der Hilflosigkeit unter dem Gesichtspunkt der lebenspraktischen Begleitung.
BGE 133 V 450 S. 469
11.1.2
Gemäss Rz. 8144 KSIH (vgl. auch AHI 2003 S. 329) hat zusätzlich der regionale ärztliche Dienst (RAD) die Angaben des Berichts über die Abklärung an Ort und Stelle zu visieren. Falls sich bereits ein spezialisierter Dienst (z.B. sozialpsychiatrischer Dienst oder Beratungsstelle) mit der versicherten Person befasst hat, hat die IV-Stelle einen Bericht dieses Dienstes einzuholen.
11.1.3
Hinsichtlich des Beweiswerts eines Arztberichts ist entscheidend, ob er für die streitigen Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben worden ist, in der Beurteilung der medizinischen Zusammenhänge und der medizinischen Situation einleuchtet und ob die Schlussfolgerungen des Experten begründet und nachvollziehbar sind (
BGE 125 V 351
E. 3a S. 352; SVR 2006 IV Nr. 27 S. 92, E. 3.2.4, I 3/05, je mit Hinweisen).
11.2
11.2.1
Die IV-Stelle stützte sich bei der Prüfung des Anspruchs auf den Bericht über die Abklärung an Ort und Stelle vom 24. März 2004, dessen Ergebnis umstritten ist.
11.2.2
In medizinischer Hinsicht liegen als aktuellste Unterlagen die EEG-Berichte des Spitals X. vom 27. Januar 2004 und 21. Oktober 2003 sowie der Bericht des Dr. med. A., Kinder- und Jugendmedizin FMH, vom 29. September 2002 bei den Akten. Dr. med. A. diagnostizierte eine komplex-partielle Epilepsie sowie eine geistige Behinderung mit autistischen Zügen. Im Bericht vom 21. Oktober 2003 wurde unter dem Titel "Klinische Angaben" ausgeführt, der Versicherte leide an komplex-partieller Epilepsie, behandelt zwischen 1989 und 1992 sowie ab 1999, anfallsfrei seit Juni 1999. Es bestehe eine geistige Behinderung mit Beschäftigung in beschützender Werkstätte. Der Versicherte sei anfallsfrei auch unter zwischenzeitlicher vorsichtiger Reduktion der Medikation. Am 27. Januar 2004 wurde unter der Rubrik "Klinische Angaben" zusätzlich dargelegt, nach zwischenzeitlicher Einstellung der Medikation seien am 10. Oktober 2003 und im Dezember 2003 Anfallsrezidive aufgetreten. Die Medikation sei in angepasster Dosierung wieder aufgenommen worden.
Diese drei ärztlichen Berichte enthalten keinerlei Angaben zur Frage, inwiefern der Versicherte durch das Leiden im Hinblick auf die Frage der lebenspraktischen Begleitung in seinen psychischen oder
BGE 133 V 450 S. 470
geistigen Funktionen eingeschränkt ist. Beispielsweise fehlen aktuelle ärztliche Angaben zu der vom Versicherten geltend gemachten Antriebsarmut (E. 4.4 hievor).
Bezüglich des erforderlichen RAD-Visums (vgl. Rz. 8144 KSIH) ist Folgendes festzuhalten: Die Akten enthalten ein Feststellungsblatt vom 13. April 2004, worin unter Verweis auf den Abklärungsbericht vor Ort vom 24. März 2004 die Abweisung der lebenspraktischen Beratung beantragt wird. Weiter befindet sich bei den Akten ein Blatt mit der Überschrift "Stellungnahme zum Feststellungsblatt/IV-Word durch RAD", worin unter Verweis auf das Feststellungsblatt vom 13. April 2004 unter der Rubrik "Beschluss/IV-Word i.O." die Abkürzung "i.O." vermerkt ist. Auf diesem Blatt steht zuunterst computerschriftlich der Passus "Datum/Name oder Kurzzeichen: 20.4.04/Z.". Eine Unterschrift oder ein handschriftliches Visum figuriert auf diesem Blatt jedoch nicht, was nicht rechtskonform ist. Arztberichte sind handschriftlich zu unterzeichnen oder zu visieren, damit darauf abgestellt werden kann.
Im medizinischen Punkt ist das Vorgehen der IV-Stelle mithin nicht rechtsgenüglich.
11.2.3
Weiter ist zu beachten, dass der Versicherte in der Anmeldung für eine Hilflosenentschädigung vom 11. Februar 2004 die Frage bejahte, ob sich ein spezialisierter Dienst mit ihm befasst habe, und diesbezüglich die Institution L. angab. Ein Bericht dieser Institution liegt jedoch entgegen Rz. 8144 KSIH nicht bei den Akten.
11.3
Nach dem Gesagten genügen die von der IV-Stelle durchgeführten Abklärungen nicht, um die Hilflosigkeit und die Notwendigkeit einer lebenspraktischen Begleitung rechtsgenüglich zu beurteilen. Auf den Bericht über die Abklärung an Ort und Stelle vom 24. März 2004 kann für sich allein nicht abgestellt werden, zumal er in den vom Versicherten angeführten Punkten (vgl. E. 4.4 hievor am Ende) ungenau ist. Die Sache ist demnach an die IV-Stelle zurückzuweisen, damit sie zusätzliche Berichte des behandelnden Arztes sowie der Institution L. einhole und erforderlichenfalls eine weitere medizinische Abklärung, insbesondere psychiatrischer Richtung, vornehme. Sie wird weiter zu entscheiden haben, ob eine neue Abklärung an Ort und Stelle durchgeführt werden soll oder aber der Bericht vom 24. März 2004 unter Beizug eines Arztes daraufhin zu überprüfen ist, inwieweit er den medizinisch festgestellten
BGE 133 V 450 S. 471
Beeinträchtigungen hinreichend Rechnung trägt (vgl. auch erwähntes Urteil I 296/05, E. 5.2, und Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 728/03 vom 3. Februar 2004, E. 2.2). Zudem ist der Bericht an Ort und Stelle vom RAD nachvollziehbar und folglich handschriftlich visieren zu lassen. Danach wird die IV-Stelle über das Leistungsbegehren neu befinden. Gestützt auf die ergänzende medizinische Abklärung wird sie zum Beginn eines allfälligen Leistungsanspruchs im Lichte von Art. 42 Abs. 4 Satz 2 in Verbindung mit
Art. 29 Abs. 1 IVG
Stellung zu nehmen haben (vgl. hiezu auch Rz. 8096 ff. KSIH).
Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass die Vertretungs- und Verwaltungstätigkeiten, welche die Eltern in ihrer Vormundfunktion nach
Art. 398-419 ZGB
zu erledigen haben, nicht zu berücksichtigen sind (
Art. 38 Abs. 3 Satz 2 IVV
; vgl. auch Rz. 8054 KSIH).
12.
Die Vorinstanz hat im Ergebnis zu Recht erkannt, dass ein allfälliger Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung leichten Grades wegen Angewiesenheit auf dauernde lebenspraktische Begleitung in übergangsrechtlicher Hinsicht frühestens ab 1. Januar 2004 entstehen kann und kein vor dieses Datum zurück reichender Nachzahlungsanspruch besteht. Dies ist denn auch unbestritten und entspricht dem Grundsatz der Nichtrückwirkung gesetzlicher Bestimmungen; Streitfragen sollen nicht nach einem Recht beurteilt werden, das zur Zeit ihrer Entstehung noch nicht in Geltung stand (
BGE 132 V 93
E. 2.3 S. 97; Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 807/04 vom 10. Juli 2006, E. 1.2).
13.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben (
Art. 134 OG
in der bis Ende Juni 2006 gültig gewesenen Fassung; vgl. E. 1.2 hievor). Die Voraussetzungen für die Zusprechung einer Parteientschädigung für das letztinstanzliche Verfahren sind nicht erfüllt (Art. 159 in Verbindung mit
Art. 135 OG
). Die Rückweisung gilt praxisgemäss (
BGE 132 V 215
E. 6.1 S. 235 mit Hinweisen) für die Frage der Parteientschädigung als volles Obsiegen, unabhängig davon, ob sie überhaupt beantragt oder ob das entsprechende Begehren im Haupt- oder im Eventualantrag gestellt wird. Entsprechend dem Ausgang des Verfahrens steht demzufolge dem Beschwerdegegner als unterliegender Partei keine Entschädigung zu (
Art. 159 Abs. 1 OG
). Der obsiegenden IV-Stelle wird gestützt auf Art. 159 Abs. 2 Teilsatz 2 OG sodann keine Parteientschädigung zugesprochen, zumal die Voraussetzungen für eine ausnahmsweise Zusprechung
BGE 133 V 450 S. 472
einer Entschädigung nicht gegeben sind (
BGE 128 V 124
E. 5b S. 133;
BGE 123 V 290
E. 10 S. 309, je mit Hinweisen).
Für das vorinstanzliche Verfahren hat das kantonale Gericht dem Versicherten eine Parteientschädigung zugesprochen. Diese ist trotz des letztinstanzlichen Prozessausgangs zu bestätigen, denn unter dem Gesichtspunkt des bundesrechtlichen Anspruchs auf eine Parteientschädigung gilt es im Streit um eine Sozialversicherungsleistung praxisgemäss wiederum bereits als Obsiegen, wenn die versicherte Person ihre Rechtsstellung im Vergleich zu derjenigen nach Abschluss des Administrativverfahrens insoweit verbessert, als sie die Aufhebung eines ablehnenden Einspracheentscheides und die Rückweisung der Sache an die Verwaltung zur ergänzenden Abklärung und neuen Beurteilung erreicht (
BGE 132 V 215
E. 6.2 S. 235). | 9,983 | 7,817 | 2 | 0 | CH_BGE_007 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_007_BGE-133-V-450_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=14&from_date=&to_date=&from_year=2007&to_year=2007&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=135&highlight_docid=atf%3A%2F%2F133-V-450%3Ade&number_of_ranks=307&azaclir=clir | BGE_133_V_450 |
|||
edf24e0e-9c78-4ad6-8624-b5b53a3f7635 | 3 | 79 | 1,343,524 | 126,230,400,000 | 1,974 | it | Sachverhalt
ab Seite 344
BGE 100 Ia 343 S. 344
A.-
Nel 1971 i ricorrenti hanno sopraelevato di un piano uno stabile adibito a lavanderia e ripostiglio sul mappale No 271 di Pazzallo, alla forca di S. Martino, senza esser in possesso dell'autorizzazione cantonale di costruire. Questa venne negata con decisione 6 marzo 1972 del Dipartimento delle pubbliche costruzioni, che ritenne il progetto deturpante per il paesaggio. Un ricorso interposto contro il rifiuto della licenza fu respinto dal Tribunale amministrativo con sentenza del 21 maggio 1973 cresciuta in giudicato.
B.-
Con decisione 9 novembre 1973 il Consiglio di Stato del Cantone Ticino ha ordinato ai ricorrenti di demolire la parte superiore della costruzione abusiva (disp. 1), ha fissato un termine per l'esecuzione dei lavori al 31 marzo 1974 (disp. 2), ha riservato la rimozione d'ufficio a spese dei proprietari in caso d'inadempimento e l'azione penale di cui all'art. 292 CPS (disp. 3). I coniugi Cimiotti hanno impugnato questa decisione con nuovo ricorso al Tribunale amministrativo, che, con decisione del 31 luglio 1974, l'ha respinto. Esso ha confermato la decisione governativa ed invitato il Consiglio di Stato a assegnare un nuovo termine per l'esecuzione.
C.-
I coniugi Cimiotti impugnano questa sentenza con tempestivo ricorso di diritto pubblico, fondato sulla violazione degli
art. 4 e 22
ter CF e dell'autonomia comunale. Essi chiedono che il Tribunale federale l'annulli insieme con la decisione del Consiglio di Stato. | 332 | 280 | Erwägungen
Considerando in diritto:
3.
a) I ricorrenti sembrano sostenere che l'autorità amministrativa può ordinare solo in virtù di una espressa disposizione legale la demolizione di una costruzione eretta in dispregio di norme sostanziali del diritto edilizio.
BGE 100 Ia 343 S. 345
La censura, non motivata come prescrive l'
art. 90 OG
, è irricevibile. Essa sarebbe d'altronde infondata. La facoltà di impedire l'erezione di un edificio in contrasto con il diritto edilizio vigente comprende, in virtù dei principi generali del diritto amministrativo, anche quella di esigere che l'obbligato ripristini una situazione conforme al diritto oggettivo, e quindi di richiedere la demolizione di costruzioni abusive (IMBODEN, Schweiz. Verwaltungsrechtsprechung, III ed., N 361 e 364 e giurisprudenza citata). Diversa è la situazione, invece, per le misure di carattere repressivo, cioè le sanzioni amministrative, come le multe; ma nel caso in esame, nessuna multa è stata inflitta ai ricorrenti. La giurisprudenza del Tribunale federale ha anche ammesso (cfr. ZBl vol. 56, p. 189 e 59, p. 561) che una base legale espressa non è necessaria per abilitare l'amministrazione ad eseguire o far eseguire essa stessa la prestazione a spese dell'obbligato (esecuzione d'ufficio, Ersatzvornahme), ciò che è controverso in dottrina (cfr. GRISEL, Droit adm. suisse, p. 337). Non è necessario, comunque, esaminare oltre questa questione. Infatti, ai ricorrenti è sfuggito che una base legale sufficiente è contenuta nell'art. 34 della Legge ticinese sulla procedura per le cause amministrative del 19 aprile 1966 (Pamm), applicabile, in virtù dell'art. 1 stessa legge, a tutti i procedimenti amministrativi definibili mediante decisione di qualsiasi autorità cantonale. In esso è espressamente previsto che l'autorità amministrativa esegue le proprie decisioni, che l'esecuzione delle decisioni dell'autorità di ricorso è devoluta alla istanza che ha preso il provvedimento impugnato, e sono precisati i vari modi di esecuzione, ivi compresa l'esecuzione d'ufficio a spese dell'obbligato.
b) Secondo i ricorrenti, però, il Consiglio di Stato sarebbe stato incompetente ad emanare l'ordine di demolizione, una simile facoltà spettando semmai al Municipio di Pazzallo. Omettendo di rilevarlo, il Tribunale amministrativo avrebbe commesso arbitrio e nel contempo violato l'autonomia comunale. La censura di violazione dell'autonomia comunale, desunta da disposizioni del livello legislativo, può essere esaminata dal Tribunale federale sotto il solo profilo dell'arbitrio (RU 98 Ia 434 consid. 4; 470 consid. 2 e rif.). Essa si confonde quindi con quella di violazione dell'art. 4 CF. Il problema della ricevibilità di tale censura può rimanere aperto, perchè questa è manifestamente infondata.
BGE 100 Ia 343 S. 346
Innanzitutto va rilevato che, chiamato a pronunciarsi sulla legittimità di un provvedimento preso dal Consiglio di Stato il 9 novembre 1973, il Tribunale amministrativo non è certamente caduto nell'arbitrio se, per giudicare della competenza del Consiglio di Stato, esso si è fondato sulla situazione legislativa esistente al momento in cui il Governo cantonale aveva adottato la decisione. A quel momento erano in vigore il Decreto legislativo sulla protezione delle bellezze naturali e del paesaggio del 16 gennaio 1940 (DLBN) e il relativo regolamento d'applicazione del 5 novembre 1963 (RBN), nonchè la legge edilizia cantonale del 15 gennaio 1940 (LE 1940). Secondo le disposizioni del DLBN, l'applicazione della legislazione cantonale spetta al Consiglio di Stato, mentre i comuni sono chiamati unicamente a cooperare; al Consiglio di Stato spetta di emanare le norme esecutive e di designare il Dipartimento competente per la loro applicazione (art. 8). Con il RBN il Consiglio di Stato ha designato il Dipartimento delle pubbliche costruzioni (art. 1 RBN), competente, fra l'altro, a rilasciare - come i ricorrenti non contestano - le licenze edilizie cantonali (art. 13 RBN). Per quanto si è detto sopra (consid. 3a), detto dipartimento dovrebbe, in linea di principio, esser parimenti competente per l'adozione di quelle misure coercitive che l'esecuzione delle sue decisioni comporta. Ma, verosimilmente per l'importanza degli interessi in gioco, il Consiglio di Stato ha riservato a sè il giudizio circa la demolizione di opere abusive (art. 20 RBN). Nel ciò fare, esso non ha evidentemente oltrepassato i limiti della delegazione conferitagli dal legislatore, nè, d'altronde, i ricorrenti lamentano che la decisione sia stata presa dal Consiglio di Stato, anzichè dal Dipartimento. Da queste disposizioni non è affatto arbitrario inferire la competenza esclusiva del Consiglio di Stato di ordinare demolizioni fondate sulla violazione di disposizioni del DLBN. Comunque, il richiamo che i ricorrenti fanno dell'art. 24 LE 1940 è affatto inconferente: questa disposizione obbliga infatti i Comuni a inserire nei loro regolamenti edilizi sanzioni (cioè penalità) per la violazione del regolamento stesso, e non ha tratto alla questione della demolizione di stabili, edificati in dispregio del diritto, e tantomeno del diritto cantonale. Quanto all'art. 40 LE, che affida ai Municipi l'applicazione della legge, dei regolamenti edilizi e dei piani regolatori (riservando, d'altronde, al Consiglio di Stato la facoltà d'intervenire
BGE 100 Ia 343 S. 347
d'ufficio), esso si riferisce - come si può senz'arbitrio alcuno desumere dal testo - all'osservanza delle disposizioni della legge edilizia stessa, ma non affida al Municipio l'applicazione di leggi speciali cantonali.
4.
Infine i ricorrenti muovono al Consiglio di Stato ed al Tribunale amministrativo il rimprovero di aver violato il principio costituzionale della proporzionalità, e pertanto l'art. 22ter CF.
Il Tribunale federale esamina liberamente la censura relativa alla pretesa violazione del principio della proporzionalità, ove essa sia invocata in relazione con l'applicazione di una norma di livello costituzionale, mentre limita la propria cognizione al profilo dell'arbitrio ove si tratti dell'applicazione di una norma di livello legislativo (RU 96 I 383; cfr. 99 Ia 66/67). Anche nel procedere con libero esame, esso s'impone riserbo qualora, per soppesare i contrapposti interessi, occorre valutare situazioni di fatto, e qualora si pongono tipiche questioni d'apprezzamento (RU 94 I 59, in materia di garanzia di proprietà
;
87 I 517
, in materia di protezione del paesaggio
;
97 I 52
e 844 consid. 6, 98 Ia 424, in materia di libertà personale).
a) Chi si prevale del principio della proporzionalità, dev'essere in buona fede (RU 98 Ia 280/81 consid. 5). Nel caso dei ricorrenti, la presenza di questa premessa è discutibile. Infatti, essi hanno intrapreso la costruzione abusiva senza curarsi di attendere il rilascio della necessaria autorizzazione. È vero ch'essi adducono d'aver riposto un'eccessiva fiducia nel preavviso municipale, che era favorevole. Ma, d'altra parte, essi non potevano ignorare, per aver dovuto già nel 1968 chiedere il permesso per la lavanderia-ripostiglio, che l'autorizzazione dipartimentale era indispensabile, e non veniva concessa automaticamente. La questione può tuttavia esser lasciata aperta, perchè, in ogni caso, l'autorità cantonale non ha violato il principio della proporzionalità.
b) Infatti, la trasgressione del diritto oggettivo appare particolarmente grave, checchè ne dicano i ricorrenti. La costruzione censurata non viola in misura quasi insignificante disposizioni circa le dimensioni ammissibili di un edificio: l'intero piano costituente la sopraelevazione è illecito, come è stato assodato da sentenza passata in giudicato. Anche il pregiudizio estetico non è trascurabile, e l'autorità cantonale non ha valicato i limiti dell'apprezzamento che le compete, ritenendo che
BGE 100 Ia 343 S. 348
la località ha un particolare pregio paesistico, che merita una tutela severa. Infine, vi è un palese interesse pubblico a che opere chiaramente abusive come quella eretta dai ricorrenti non vengano tollerate: ammettere il contrario, significherebbe premiare l'inosservanza delle leggi, incitare i terzi alla loro violazione e far nascere nei cittadini l'impressione che l'autorità non sia in grado o non voglia esigerne il rispetto, cosi come il Tribunale federale ha già rilevato nella sentenza pubblicata in RU 91 I 97, il cui richiamo, pertanto, non giova ai ricorrenti. | 1,803 | 1,527 | Dispositiv
Il Tribunale federale pronuncia:
In quanto è ricevibile il ricorso è respinto. | 21 | 17 | CH_BGE_002 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_002_BGE-100-Ia-343_1974 | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=5&from_date=&to_date=&from_year=1974&to_year=1974&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=44&highlight_docid=atf%3A%2F%2F100-IA-343%3Ade&number_of_ranks=355&azaclir=clir | BGE_100_Ia_343 |
||
ee0369a7-eb09-490d-a852-363f75dc1a2c | 1 | 82 | 1,408,639 | 1,656,633,600,000 | 2,022 | de | Sachverhalt
ab Seite 385
BGE 148 III 384 S. 385
A.
A.a
B.A. (geb. v) ist Schweizer Bürgerin (von T./AG) und georgische Staatsangehörige. Ihr Ehemann A.F. (geb. y) ist Schweizer Bürger (von T./AG). Er trägt seit dem 7. Juli 2020 durch Namensänderung den Familiennamen der Ehefrau. Beide haben Wohnsitz in U./AG.
A.b
Am 1. Oktober 2018 vereinbarte das Ehepaar mit einem Reproduktionszentrum in Tiflis/Georgien bestimmte medizinische Leistungen ("Agreement on Medical Services to Surrogacy and Egg donation"). Am 4. November 2018 schloss das Ehepaar in Georgien einen Leihmutterschaftsvertrag ("Vertrag über Eizellenspende und Leihmutterschaft") mit der nicht verheirateten D.D. als Leihmutter und mit E.E. als Eizellenspenderin. Am ww.ww.2019 gebar D.D. in Tiflis das Mädchen C. Genetischer Vater ist A.F. Das Amt für Zivile Registrierung, Tiflis, stellte am 19. Juli 2019 die Geburtsurkunde aus. Darin wird C. nebst Geburtsdatum und -ort (einzig) mit dem Familiennamen A., der Staatsangehörigkeit Georgien, A.F. als Vater und B.A. als Mutter aufgeführt.
A.c
A.F. und B.A. meldeten die Geburt von C. dem Regionalen Zivilstandsamt T., welches das Begehren um Eintragung in das Personenstandsregister und Nachbeurkundung am 30. Juli 2019 an das Departement Volkswirtschaft und Inneres (DVI) des Kantons Aargau, Abteilung Register und Personenstand, weiterleitete. Mit Verfügung vom 9. April 2020 wies das DVI das Gesuch um Anerkennung und Eintragung des Kindesverhältnisses von A.F. und
BGE 148 III 384 S. 386
B.A. als Vater bzw. Mutter von C. ab. Das Zivilstandsamt wurde angewiesen, C. als leibliches Kind von D.D. mit dem Familiennamen D. sowie der Staatsangehörigkeit "ungeklärt" bzw. bei entsprechendem Nachweis mit der georgischen Staatsangehörigkeit sowie mit Zusatzangabe der Leihmutter einzutragen, was zur Eintragung wie folgt führt:
"Familienname:
D.
Vorname:
C.
Geburtsdatum:
ww.ww.2019
Geburtsort:
Tiflis (Georgien)
Staatsangehörigkeit:
ungeklärt/bei Nachweis: Georgien
Name Vater:
-/-
Name Mutter:
D.D.
durch Geburt vom ww.ww.2019
Zusatzangaben:
Eizellenspenderin: E.E."
A.d
Gegen die Eintragungsverfügung erhoben A.F., B.A., C. sowie D.D. am 13. Mai 2020 Beschwerde beim Obergericht des Kantons Aargau. Sie verlangten die vollumfängliche Anerkennung der georgischen Geburtsurkunde betreffend C. in Bezug auf die Vaterschaft von A.F., die Mutterschaft von B.A., die Nichtelternschaft von D.D. und den Familiennamen A. Das Zivilstandsamt sei anzuweisen, C.A. mit den Eltern A.F. und B.A. in das Personenstandsregister einzutragen.
B.
Mit Entscheid vom 16. November 2020 hiess das Obergericht die Beschwerde teilweise gut. Es hiess das Gesuch um Anerkennung des Kindesverhältnisses von A.A. (vormals A.F.) zu C.A. und die entsprechende Eintragung als Vater im Personenstandsregister gut. Das Gesuch um Anerkennung und Eintragung des Kindesverhältnisses betreffend B.A. (als Mutter) wurde abgewiesen. Das Zivilstandsamt wurde angewiesen, C. mit dem Vater A.A. und dem Familiennamen A. sowie der schweizerischen Staatsangehörigkeit einzutragen. Unter den Zusatzangaben seien D.D. als Leihmutter und E.E. als Eizellenspenderin zu erwähnen.
Im Übrigen (d.h. mit Bezug auf die Anerkennung und Nachbeurkundung von B.A. als Mutter) wurde die Beschwerde abgewiesen. Insoweit ordnete das Obergericht folgende Eintragung an:
BGE 148 III 384 S. 387
"Familienname:
A.
Vorname:
C.
Geburtsdatum:
ww.ww.2019
Geburtsort:
Tiflis (Georgien)
Staatsangehörigkeit:
Schweiz (T./AG)
Name Vater:
A.A.
Name Mutter:
-/-
Zusatzangaben:
Leihmutter: D.D.; Eizellenspenderin: E.E."
C.
Das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD), handelnd durch das Bundesamt für Justiz (BJ), hat mit Eingabe vom 11. Januar 2021 Beschwerde in Zivilsachen erhoben. Das BJ verlangt die Aufhebung des obergerichtlichen Entscheides und die Bestätigung der Verfügung des DVI vom 9. April 2020, d.h. die Abweisung des Gesuchs um Anerkennung des Kindesverhältnisses von A.A. und B.A. Die Verfügung des DVI sei mit der Angabe der Staatsangehörigkeit Georgien und den Zusatzangaben betreffend die Leihmutter und den Vater als Samenspender zu ergänzen:
"Familienname:
D.
Vorname:
C.
Geburtsdatum:
ww.ww.2019
Geburtsort:
Tiflis (Georgien)
Staatsangehörigkeit:
Georgien
Name Vater:
-/-
Name Mutter:
D.D.
Beziehungsart
durch Geburt vom ww.ww.2019
Zusatzangaben:
Leihmutterschaft. Leihmutter: D.D., geb. xx.xx. xxxx,
in Tiflis (Georgien), Staatsangehörigkeit: Georgien,
ledig, wohnhaft in Tiflis; Samenspender
(DNA-Test): A.A., geb. yy.yy.yyyy (Wunschvater);
Eizellenspenderin: E.E. (georg. Pers. Nr. zzz)"
(...)
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
(Auszug) | 1,249 | 857 | Erwägungen
BGE 148 III 384 S. 388
Aus den Erwägungen:
4.
Umstritten sind zunächst die Regeln zur Eintragung der georgischen Geburtsurkunde im Zusammenhang mit der Abstammung und Leihmutterschaft.
4.1
Gemäss
Art. 32 IPRG
(SR 291) wird eine ausländische Entscheidung oder Urkunde über den Zivilstand aufgrund einer Verfügung der kantonalen Aufsichtsbehörde in die Zivilstandsregister eingetragen (Abs. 1). Die Eintragung wird bewilligt, wenn die Voraussetzungen der Artikel 25-27 IPRG erfüllt sind (Abs. 2).
4.1.1
Geht es um die Aufnahme der Geburt im Ausland, so wird mit der Nachbeurkundung der Geburt die betroffene Person in das Personenstandsregister aufgenommen. Gleichzeitig werden mit der Nachbeurkundung auch die gemäss dem anwendbaren Recht bei der Geburt von Gesetzes wegen entstandenen oder durch Rechtsakt begründeten Kindesverhältnisse beurkundet (
BGE 148 III 245
E. 4.2).
4.1.2
Die Vorinstanz hat erwogen, dass im konkreten Fall keine "Entscheidung" betreffend die Feststellung des Kindesverhältnisses vorliege, sondern "lediglich eine Geburtsurkunde". Was die georgische Geburtsurkunde wiedergibt, hat das Obergericht ebenfalls in der Sache geprüft: Es ist zum Ergebnis gelangt, dass nach georgischem Recht bei Leihmutterschaft das Kindesverhältnis der Wunscheltern zum Leihmutterschaftskind von Gesetzes wegen entsteht. Insoweit sind die Erwägungen der Vorinstanz nicht zu beanstanden. Das Bundesgericht hat im erwähnten Urteil bestätigt, dass mit einer georgischen Geburtsurkunde im Falle der Leihmutterschaft das gemäss Art. 143 Abs. 2 des georgischen Gesetzes vom 10. Dezember 1997 über den Gesundheitsschutz (Law of Georgia on Health Care,
www.matsne.gov.ge
)
ex lege
entstandene Kindesverhältnis zu den Wunscheltern beurkundet wird (
BGE 148 III 245
E. 5).
4.1.3
Der Schluss der Vorinstanz, dass mit der Geburtsurkunde trotzdem eine Entscheidung im Sinne von
Art. 70 IPRG
vorliege, geht hingegen fehl. Das Bundesgericht hat im zitierten Urteil klargestellt, dass ohne relevante behördliche Mitwirkung eine gerichtliche oder behördliche Entscheidung in Abstammungssachen nicht angenommen werden kann. Wird die fehlende Elternschaft der Leihmutter nicht durch Gerichts- oder Behördenentscheidung festgestellt, sondern - wie in Georgien - durch Gesetz angeordnet, so richtet sich die Abstammung des Kindes von der Leihmutter nicht nach
BGE 148 III 384 S. 389
Art. 70 IPRG
(
BGE 148 III 245
E. 5). Zutreffend ist zwar, wenn das Obergericht festgehalten hat, dass bei Anwendbarkeit ausländischen Rechts die Eintragung gemäss einer ausländischen Geburtsurkunde von den schweizerischen Behörden als grundsätzlich richtig zu bewerten sei. Die Frage ist jedoch, ob hier georgisches Recht oder ein anderes Recht in der Sache anwendbar ist. Diese Prüfung erfolgt nach Art. 68 f. IPRG, womit das anwendbare Recht für durch Gesetz entstandene Kindesverhältnisse bezeichnet wird.
4.2
Nach dem Dargelegten ist die Kritik des BJ, die Vorinstanz habe zu Unrecht eine Entscheidung gemäss
Art. 70 IPRG
angenommen, begründet.
5.
Das Obergericht hat nicht näher erörtert, welches das nach
Art. 68 IPRG
anwendbare Recht ist, welches für die Entstehung des Kindesverhältnisses durch Abstammung massgebend ist. Bleibt zu prüfen, ob die (vom BJ beantragte) weitere rechtliche Beurteilung aufgrund der vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen möglich und richtig ist.
5.1
Gemäss
Art. 68 Abs. 1 IPRG
unterstehen die Entstehung des Kindesverhältnisses sowie dessen Feststellung oder Anfechtung dem Recht am gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes. Wie die Vorinstanz zutreffend festgehalten hat, ist als gewöhnlicher Aufenthalt (
Art. 20 Abs. 1 lit. b IPRG
) im Rahmen von
Art. 68 Abs. 1 IPRG
- im Sinne des entsprechenden Anknüpfungsbegriffes gemäss Haager Konventionen - der Schwerpunkt der Lebensbeziehungen zu verstehen. Meistens fällt der gewöhnliche Aufenthalt eines Kindes im massgeblichen Zeitpunkt mit dem Lebensmittelpunkt zumindest eines Elternteils zusammen. Bei Neugeborenen sind naturgemäss die familiären Bindungen zum betreuenden Elternteil als Indiz des gewöhnlichen Aufenthalts entscheidend; die Bindungen der Mutter an ein Land erfassen regelmässig auch das Kind (
BGE 129 III 288
E. 4.1). Für die Bestimmung des anwendbaren Rechts ist der Zeitpunkt der Geburt massgebend (
Art. 69 Abs. 1 IPRG
). Zweck der einzigen Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt ist die Anknüpfung an jene Rechts- und Sozialsphäre, in der das Kind und die Eltern tatsächlich leben (Botschaft vom 10. November 1982 zum Bundesgesetz über das internationale Privatrecht [IPR-Gesetz], BBl 1983 I 367 Ziff. 242.2), was auch für das Leihmutterschaftskind und die betreuenden Wunscheltern gilt (
BGE 148 III 245
E. 6.1 und 6.3.1).
BGE 148 III 384 S. 390
5.2
Nach den Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz liegt der unstrittige Lebensmittelpunkt der Wunschmutter seit mehreren Jahren in der Schweiz und hatten die Wunscheltern weder vor, während oder nach der Schwangerschaft (d.h. nach der Geburt von C. am ww.ww.2019) der Leihmutter einen längeren Aufenthalt in Georgien; sie hatten dort weder ihren Lebensmittelpunkt gehabt noch geplant, dorthin zu ziehen. Zudem hatten die Wunscheltern offenbar nach ihrer Rückkehr in die Schweiz das Gesuch um Nachbeurkundung beim Zivilstandsamt in T. (also spätestens am 30. Juli oder Anfang August 2019) gestellt, wie sich aus dem Sachverhalt und aktenkundigen Schreiben mit den Behörden ergibt. Die gesamten Umstände lassen die Annahme zu, dass der Aufenthalt der Wunscheltern in Georgien einige Tage, höchstens ganz wenige Wochen dauerte. Ein derartiger Aufenthalt in Georgien kann lediglich als vorübergehender Natur (schlichter Aufenthalt) bezeichnet werden und ist nicht ausschlaggebend, zumal erst ein mehrmonatiger, nach einer Faustregel eher sechsmonatiger Aufenthalt, dessen gewöhnliche Natur annehmen lässt (Urteil 5A_889/2011 vom 23. April 2012 E. 4.1.2). Sorgen die Wunscheltern - wie hier - praktisch ab Geburt für das Kind und haben sie geplant, in nächster Zeit in den Staat ihres eigenen Lebensmittelpunkts zurückzukehren, liegt dort der gewöhnliche Aufenthalt des neugeborenen Leihmutterschaftskindes (vgl.
BGE 148 III 245
E. 6.2). Somit kann nicht ersatzweise (infolge Fehlens eines gewöhnlichen Aufenthaltes) auf einen schlichten Aufenthalt abgestellt werden. Die konkreten Umstände lassen - wie das BJ zutreffend festhält - ohne Weiteres den Schluss zu, dass der gewöhnliche Aufenthalt von C. im Zeitpunkt der Geburt in der Schweiz liegt und daher das schweizerische Abstammungsrecht massgebend ist.
5.3
Anhaltspunkte, welche zur Anknüpfung an das georgische Heimatrecht führen könnten, bestehen nicht. Zwar ist die subsidiäre Anknüpfung gemäss
Art. 68 Abs. 2 IPRG
(unter bestimmten Aufenthaltsumständen) an das gemeinsame Heimatrecht der Eltern und des Kindes möglich. Allerdings fehlt es hier bereits an der georgischen Staatsangehörigkeit des (Wunsch-)Vaters, d.h. am gemeinsamen Heimatrecht, um die Bestimmung zur Anwendung zu bringen. Eine Anwendung von
Art. 69 Abs. 2 IPRG
fällt ausser Betracht, da bereits im Zeitpunkt der Geburt des Kindes schweizerisches Aufenthaltsrecht massgebend ist und sich mit Blick auf den in Abs. 2 ("gerichtliche Feststellung oder Anfechtung") genannten
BGE 148 III 384 S. 391
Zeitpunkt kein anderes Aufenthaltsrecht ableiten lässt. Nach den Sachverhaltsfeststellungen bestehen ausser der Staatsangehörigkeit und dem Geburtsort des Kindes keine weiteren wesentlichen Berührungspunkte zu Georgien. Offensichtliche Umstände, dass der gesamte konkrete Sachverhalt mit dem schweizerischen Aufenthaltsrecht nur schwach verbunden sei und mit einem anderen (georgischen) Recht in viel engerem Zusammenhang stehe (vgl.
Art. 15 IPRG
), liegen nicht vor.
5.4
Ist wie vorliegend gestützt auf
Art. 68 Abs. 1 IPRG
das schweizerische Recht anwendbar, gilt der Grundsatz
mater semper certa est
und in Anwendung von
Art. 252 Abs. 1 ZGB
die gebärende Frau (Leihmutter) als rechtliche Mutter (
BGE 148 III 245
E. 6.4), wie das BJ mit Recht festgehalten hat. Auf die Vereinbarkeit der Elternschaft der Wunscheltern mit dem schweizerischen Ordre public kommt es bei dieser Fallgestaltung nicht an, denn es ist schweizerisches Recht massgebend, währenddem
Art. 17 IPRG
die Anwendbarkeit des ausländischen Rechts voraussetzt. Eine Berufung auf den schweizerischen Ordre public findet nicht statt. Entgegen dem Ergebnis der Vorinstanz ist zutreffend, wenn das DVI als Erstinstanz in Anwendung des schweizerischen Rechts von Gesetzes wegen die Aufnahme der gebärenden (Leih-)Mutter als rechtliche Mutter von C. in das Personenstandsregister angeordnet hat. Ebenso hat das DVI zutreffend angenommen, dass von Gesetzes wegen kein Kindesverhältnis zum Vater entsteht, zumal die Leihmutter als rechtliche Mutter nicht verheiratet ist.
6.
Das Obergericht hat im Weiteren die Anwendbarkeit von
Art. 73 IPRG
betreffend die Anerkennung einer ausländischen Kindesanerkennung nicht näher erörtert. Das BJ bekräftigt die Auffassung des DVI (als Erstinstanz), welche das Vorliegen einer im Ausland erfolgten anerkennbaren Kindesanerkennung verneint hat (währenddem die Beschwerdegegner 1-4 vor der Vorinstanz noch das Gegenteil vorbrachten). Der Hinweis auf
Art. 73 IPRG
vermag am dargelegten Ergebnis nichts zu ändern. Die Vorinstanz brauchte keine entsprechenden Ausführungen zu machen, wie sich aus dem Folgenden ergibt.
6.1
Gemäss
Art. 73 Abs. 1 IPRG
wird die im Ausland erfolgte Anerkennung eines Kindes in der Schweiz anerkannt, wenn sie nach dem Recht am gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes, nach dessen Heimatrecht, nach dem Recht am Wohnsitz oder nach dem
BGE 148 III 384 S. 392
Heimatrecht der Mutter oder des Vaters gültig ist.
Art. 73 IPRG
regelt die Anerkennung einer im Ausland erfolgten Anerkennung eines Kindes und bezeichnet die in
Art. 72 Abs. 1 IPRG
genannten Rechtsordnungen, nach welcher die Anerkennung gültig sein muss. Die Behörde in der Schweiz überprüft, ob die Kindesanerkennung nach dem in Frage stehenden Recht eines Staates einschliesslich seines IPR gültig war, d.h. den materiellen und formellen Anforderungen entspricht, und ihr daher in der Schweiz Wirkung verliehen werden kann (Urteil 5A_545/2020 vom 7. Februar 2022 E. 7.1, nicht publ. in:
BGE 148 III 245
).
6.2
C. ist georgische Staatsangehörige, wie dies von Georgien bestimmt wird (vgl.
Art. 22 IPRG
) und aus den Sachverhaltsfeststellungen und der georgischen Geburtsurkunde (sowie der aktenkundigen georgischen Identitätskarte) hervorgeht. Nach georgischem Recht werden die Wunscheltern (wie dargelegt) von Gesetzes wegen zu rechtlichen Eltern erklärt und deswegen als solche vom dortigen Zivilstandsamt registriert, wie die Vorinstanz zutreffend festgehalten hat (E. 4.1.2). Das georgische Recht (Art. 143 des Gesetzes über den Gesundheitsschutz) ordnet bei Leihmutterschaft automatisch die kindesrechtlichen Verhältnisse zwischen den Wunscheltern, der Leihmutter und dem Leihmutterschaftskind. Es liegt nicht eine blosse "Kombination" von zwei Anerkennungen eines Kindes seitens einer Frau bzw. eines Mannes und einer Nicht-Anerkennung des Kindes seitens der gebärenden Frau vor. Die statusrechtliche Zuordnung des Kindes gründet auf einer spezifisch auf die Leihmutterschaft zugeschnittenen Bestimmung, wonach Wunscheltern mit der Geburt des durch diese Verfahrensweise hervorzubringenden Kindes als rechtliche Eltern gelten. Zutreffend hält das BJ fest, dass nach georgischem Recht gar keine Möglichkeit der eigentlichen Kindesanerkennung besteht, weil für den Vorgang der Leihmutterschaft eine besondere Regelung besteht und die Statusverhältnisse bereits
ex lege
entstehen. In Georgien nach georgischem Recht erfolgte Kindesanerkennungen liegen nicht vor.
6.3
Bleibt zu erörtern, ob im Ausland erfolgte Kindesanerkennungen vorliegen, die nach dem Recht der Schweiz - dem Staat, in welchem C. ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat - als gültig erachtet werden können.
6.3.1
Eine in Georgien erfolgte, nach schweizerischem Recht gültige Anerkennung des Kindes durch die Wunschmutter fällt ausser
BGE 148 III 384 S. 393
Betracht. In Anwendung des nach
Art. 68 Abs. 1 IPRG
massgebenden schweizerischen Rechts besteht hier bereits ein rechtliches Kindesverhältnis zur Leihmutter nach dem Grundsatz
mater semper certa est
. Die Auffassung, dass das (nach schweizerischem Recht) bestehende Kindesverhältnis durch eine dem schweizerischen Recht unbekannte Kindesanerkennung der Wunschmutter übergangen werden soll, findet selbst bei genetischer Verbindung
de lege lata
keine hinreichende Grundlage (zit. Urteil 5A_545/2020 E. 7.4.1, nicht publ. in:
BGE 148 III 245
; vgl. GAURON-CARLIN, La gestation pour autrui [...], SJ 2019 S. 91 Rz. 94; a.M. MEIER/STETTLER, Droit de filiation, 6. Aufl. 2019, Rz. 284; vgl. SCHWENZER/COTTIER, in: Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch, Bd. I, 6. Aufl. 2018, N. 9, 11 zu
Art. 252 ZGB
). Dass es bei (wie hier) fehlender genetischer Verwandtschaft der Wunschmutter anders sei, ist nicht ersichtlich.
6.3.2
Ob eine in Georgien erfolgte, nach schweizerischem Recht gültige Anerkennung des Kindes durch den Wunschvater vorliege, welche dem Leihmutterschaftsvertrag zu entnehmen sei, blieb im zit. Urteil 5A_545/2020 (E. 7.3, nicht publ. in:
BGE 148 III 245
) offen. Die Frage ist hier zu verneinen. Nach den Regeln des ZGB ist die Anerkennung (
Art. 260 ZGB
) höchstpersönlich bzw. vertretungsfeindlich; sie kann jederzeit zu Lebzeiten des Kindes erfolgen, aber auch vor der Geburt, jedoch nicht vor der Zeugung (SCHWENZER/COTTIER, a.a.O., N. 1, 4 f. zu
Art. 260 ZGB
). Verträge über die Reproduktion (mit einem Reproduktionsinstitut) und Leihmutterschaft (mit der Leihmutter und Eizellenspenderin) regeln allgemein das Zusammenwirken (Rechte und Pflichten) aller Beteiligten in Hinsicht auf die - erst vorzunehmende - Fertilisation und Hervorbringung des Kindes. Der im Urteil erwähnte und zudem aktenkundige Vertrag mit dem Reproduktionszentrum (vom 1. Oktober 2018) und der ohnehin durch eine Vertreterin unterzeichnete Leihmutterschaftsvertrag (vom 4. November 2018) kann daher von vornherein keine gültige Kindesanerkennung darstellen. Insoweit gibt es keine Anhaltspunkte, dass in Georgien eine nach schweizerischem Recht gültige Vaterschaftsanerkennung abgegeben worden wäre. Ob eine derartige im Ausland vorgenommene rechtsgeschäftliche Erklärung des Wunschvaters in einem Reproduktions- und Leihmutterschaftsvertrag, welcher einzig zur Umgehung des hiesigen Leihmutterschaftsverbotes abgeschlossen wird, überhaupt als Vaterschaftsanerkennung gewertet werden kann, die mit dem Ordre public vereinbar wäre, muss nicht erörtert werden.
BGE 148 III 384 S. 394
6.4
Für die Entgegennahme der Kindesanerkennung in der Schweiz sind die schweizerischen Behörden u.a. am Wohnsitz des (hier: in der Schweiz domizilierten) Vaters zuständig (
Art. 71 Abs. 1 IPRG
). Die Kindesanerkennung in der Schweiz (
Art. 260 Abs. 3 ZGB
) kann u.a. ebenfalls nach dem Recht am Wohnsitz des Vaters (hier: nach schweizerischem Recht) erfolgen (
Art. 72 Abs. 1 IPRG
). Die Form untersteht schweizerischem Recht (
Art. 72 Abs. 2 IPRG
; Art. 11 der Zivilstandsverordnung vom 28. April 2004 [ZStV; SR 211.112.2]), d.h. die Erklärung erfolgt grundsätzlich persönlich vor dem schweizerischen Zivilstandsbeamten (
Art. 11 Abs. 5 ZStV
). Vorliegend ist nicht ersichtlich, dass der Wunschvater das Kind in der Schweiz nach
Art. 260 Abs. 3 ZGB
anerkannt hat; nach Erlass des vorinstanzlichen Urteils bestand dazu weder Anlass noch Notwendigkeit.
6.5
Somit ist festzuhalten, dass - wie das BJ ausgeführt hat - die Vorinstanz richtigerweise die Eintragung des Kindesverhältnisses zur Leihmutter durch Geburt hätte anordnen müssen, und dass zum Wunschvater - entgegen der Ansicht der Vorinstanz - noch kein Kindesverhältnis hergestellt worden ist, das einzutragen wäre.
7.
Schliesslich wendet sich das BJ gegen die Auffassung des Obergerichts, wonach es unter
Art. 8 EMRK
unzulässig sei, die Anerkennung und Eintragung eines Kindesverhältnisses mit genetischem Bezug zwischen Leihmutterschaftskind und Elternteil (hier: Wunschvater) zu verweigern. Nur bei nicht genetischem Bezug (hier: zur Wunschmutter) - so die Vorinstanz - genüge der Weg der Adoption zur Herstellung des Kindesverhältnisses.
7.1
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat festgehalten (vgl. Urteil 5A_545/2020 vom 7. Februar 2022 E. 8.1, nicht publ. in:
BGE 148 III 245
), dass das Recht auf Achtung des Privatlebens des Kindes (
Art. 8 EMRK
) bedinge, dass die Wunschmutter eine Möglichkeit habe, die rechtliche Elternschaft zu erlangen, sofern das Kind mit dem Sperma des Wunschvaters und mit Eizellen einer Spenderin gezeugt und von einer Leihmutter ausgetragen worden sei. Nicht erforderlich sei indessen, dass die Wunschmutter
ab initio
auch als rechtliche Mutter angesehen werde; es genüge, wenn sie wie der genetisch verwandte Wunschvater diese Stellung nachträglich durch andere Mittel, wie die Adoption des Kindes, erlangen könne, sofern das Kindeswohl gewahrt und das Verfahren effektiv und zügig ("effectivité et célérité") sei
BGE 148 III 384 S. 395
(EGMR-Avis consultatif vom 10. April 2019, Nr. P16-2018-001, § 35 ff., 47 ff., 52, 55; bestätigt in den Urteilen des EGMR
D. gegen Frankreich
vom 16. Juli 2020, Nr. 11288/18, § 50 f., 58 f., 64, sowie
C. und E. gegen Frankreich
vom 19. November 2019, Nr. 1462/18 und 17348/18, § 37 ff.). Nicht anders sei zu entscheiden, was die Anerkennung des Eltern-Kind-Verhältnisses zwischen dem Kind und seiner Wunschmutter als genetischer Mutter angeht (Urteil
D.
, § 59; kritisch u.a. BÜCHLER/SCHMUCKI, Das Abstammungsrecht in rechtsvergleichender Sicht, FamPra.ch 2020 S. 20, 23; BOILLET, in: Commentaire romand, Constitution fédérale, 2021, N. 53 zu
Art. 119 BV
).
7.2
Soweit das Obergericht seine Auffassung, dass ein Kindesverhältnis mit genetischem Bezug zwischen Leihmutterschaftskind und Elternteil (hier: Wunschvater) in allgemeiner Form aus der Praxis des Bundesgerichts (
BGE 141 III 312
, 328) abgeleitet hat, geht es fehl. Die zitierten Urteile haben die Anerkennung ausländischer Urteile zum Gegenstand, welche vorfrageweise im Falle der Nachbeurkundung der Geburtsurkunde zu prüfen waren (vgl. Urteil 5A_545/2020 vom 7. Februar 2022 E. 8.2, nicht publ. in:
BGE 148 III 245
). Nach der Rechtsprechung wurde im Rahmen kalifornischer Leihmutterschaftsurteile im Falle genetischer Verbindung zwischen einem Elternteil (Wunschvater) und dem Leihmutterschaftskind mit Blick auf die Rechtsprechung des EGMR der Einsatz des schweizerischen Ordre public zur Anerkennungsverweigerung (
Art. 27 Abs. 1 IPRG
) begrenzt: Das ausländische Urteil wurde insoweit mit den hiesigen Wertvorstellungen nicht als schlechthin unvereinbar erachtet; die im Ausland durch Gerichtsurteil geschaffene Rechtslage wurde trotz Rechtsumgehung als
fait accompli
hingenommen. Im Unterschied dazu wird hier - wie dargelegt - eine Geburtsurkunde vorgelegt und sind die massgebenden Fragen nach anwendbarem schweizerischem Recht zu beurteilen, wie das BJ zutreffend festhält.
7.3
Weiter geht das Obergericht fehl, wenn es festgehalten hat, dass es den Schweizer Behörden mit Blick auf die EMRK verwehrt sei, die Leihmutter ohne weiteres als rechtliche Mutter zu betrachten. Es verkennt, dass vorliegend das anwendbare materielle Recht bzw. die im ZGB vorgesehene Regel
mater semper certa est
unmittelbar zur Herstellung des Kindesverhältnisses zur Leihmutter führt. Dass der Grundsatz
mater semper certa est
als solcher nicht EMRK-widrig ist, steht fest (Urteile des EGMR
Fjölnisdóttir und andere gegen Island
BGE 148 III 384 S. 396
vom 18. Mai 2021 Nr. 71552/17, § 64/65 mit Hinweisen). Schliesslich liegt keine Diskriminierung vor, wenn das Bundesrecht nur eine Kindesanerkennung durch den Vater kennt und das rechtliche Kindesverhältnis
ex lege
der gebärenden Mutter zuordnet (Urteil 5A_545/2020 vom 7. Februar 2022 E. 7.4, nicht publ. in:
BGE 148 III 245
).
7.4
Nach zutreffender Auffassung des Obergerichts ist eine Herstellung des Kindesverhältnisses zur Wunschmutter nach schweizerischem Recht mit der EMRK vereinbar (Urteil 5A_545/2020 vom 7. Februar 2022 E. 8.5, nicht publ. in:
BGE 148 III 245
). Das gilt - wie das BJ vorbringt - auch dann, wenn das Kindesverhältnis nicht nur zur Wunschmutter, sondern auch (wie hier) zum Wunschvater herzustellen ist.
7.4.1
Im konkreten Fall kann mit Bezug auf den Wunschvater die Kindesanerkennung - wie dargelegt (E. 6.4) - vor den schweizerischen Behörden erklärt werden, was effektiv und unverzüglich ein Kindesverhältnis bewirkt oder längst hätte bewirken können. Aktenkundig ist übrigens, dass das DVI den Wunschvater bereits am 16. Januar 2020 und am 27. März 2020 (im Verlauf des Eintragungsverfahrens) auf diese Möglichkeit hingewiesen hat.
7.4.2
Mit Bezug auf die Wunschmutter ist eine Stiefkindadoption möglich. Das Obergericht hat nicht übersehen, dass die (seit 2011 verheirateten) Wunscheltern zwar seit mehr als drei Jahren einen gemeinsamen Haushalt führen (
Art. 264c Abs. 2 ZGB
), eine nachgeburtliche Zustimmung der Leihmutter vorliegt (vgl.
Art. 265a ZGB
), jedoch zur (Stiefkind-)Adoption mindestens ein Jahr der Pflege und Erziehung verlangt wird (
Art. 264 Abs. 1 ZGB
); diese Voraussetzungen seien grundsätzlich erfüllt. Die EGMR-Rechtsprechung setzt keine Mindestdauer fest, weil in erster Linie den einzelstaatlichen Behörden zusteht, in Würdigung der Umstände des Einzelfalls zu beurteilen, "ob und wann sich ein Kindesverhältnis konkretisiert hat" (EGMR-Avis consultatif, a.a.O., § 52). Das Bundesgericht hat darauf hingewiesen (Urteil 5A_545/2020 vom 7. Februar 2022 E. 8.5, nicht publ. in:
BGE 148 III 245
), dass die Adoptionsbehörde zur Priorisierung und raschen Entscheidung verpflichtet ist, mithin eine grosszügige und pragmatische Auslegung der adoptionsrechtlichen Voraussetzungen angezeigt ist, um der Vorgabe des EGMR gerecht zu werden (vgl. a.M. BUCHER, La résidence habituelle [...], in: La procédure en droit de la famille, Fountoulakis/
BGE 148 III 384 S. 397
Jungo [Hrsg.], 2020, S. 89 Rz. 116, S. 90 Rz. 119, EMRK-Konformität verneint). Die Dauer eines Adoptionsverfahrens ist stark vom Einzelfall abhängig. Anhaltspunkte, dass im konkreten Fall die Stiefkindadoption nicht bereits hätte durchgeführt werden können, oder dass sie nicht durchführbar wäre, sind nicht ersichtlich.
7.4.3
Das Obergericht hat weiter festgehalten (E. 6.2), dass C. die georgische Staatsangehörigkeit hat. Für den Erwerb der schweizerischen Staatsangehörigkeit genügt bereits, dass der Wunschvater die Kindesanerkennung vornimmt (vgl.
Art. 1 Abs. 2 des Bundesgesetzes vom 20. Juni 2014 über das Schweizer Bürgerrecht [Bürgerrechtsgesetz, BüG; SR 141.0]
). Sodann steht fest, dass das Kindnicht ohne Registrierung ist, weil es bereits im georgischen Geburtsregister eingetragen worden ist. Gemäss der Verfügung des DVI kann die Geburt von C. zudem im schweizerischen Personenstandsregister eingetragen werden, bevor die Kindesverhältnisse zu den Wunscheltern (als Schweizer Bürger, mit Domizil in der Schweiz) hergestellt sind. Die bloss ausländische Staatsangehörigkeit des Leihmutterschaftskindes und seine Geburt im Ausland schliessen den genügenden Bezug zum schweizerischen Register nicht aus, wie das DVI zu Recht erkannt hat (unter Hinweis auf
Art. 15a Abs. 2 ZStV
, Aufnahme "spätestens" beim bzw. im Hinblick auf das Zivilstandsereignis). Die vorsorgliche Aufnahme einer im Ausland geborenen Person mit ausländischer Staatsangehörigkeit ist bereits bei Begründung des Wohnsitzes in der Schweiz registerrechtlich zulässig (SIEGENTHALER, Das Personenstandsregister, 2013, Rz. 86, 89). Das Vorgehen ist im Hinblick auf die Herstellung der Kindesverhältnisse zu den Wunscheltern zweckmässig und geboten, wie dies vom BJ mit Hinweis auf die Zusatzangaben (wie Eizellenspenderin) zu Recht beantragt wird. Allfällige Zweifel des BJ zum Eintragungszeitpunkt sind unbegründet.
7.4.4
Gestützt auf eine Kindesanerkennung kann der (Wunsch-) Vater die elterliche Sorge ausüben, wobei ihm die Wunschmutter (Ehefrau) beistehen und ihn vertreten kann (
Art. 278, 299 ZGB
; kritisch BOILLET/DE LUZE, Les effets de la gestation pour autrui [...], in: La gestation pour autrui, Boillet/Roca i Escoda/de Luze [Hrsg.], 2018, S. 165 Rz. 48). Für die Regelung der elterlichen Sorge nach der Vaterschaftsanerkennung besteht eine Zuständigkeit der schweizerischen Behörden (
Art. 85 IPRG
;
Art. 298a ff. ZGB
); solange keine rechtliche Mutterschaft zur Wunschmutter hergestellt worden
BGE 148 III 384 S. 398
ist, hat der Vater das alleinige Sorgerecht, auch wenn hierfür gegebenenfalls die Kindesschutzbehörde anzurufen ist (
Art. 298b ZGB
). Selbst vor oder bei unterbleibender Vaterschaftsanerkennung kann die zuständige Behörde Anordnungen über die elterliche Sorge treffen, wenn die rechtlichen Eltern dazu ausserstande sind (wie im Falle der Leihmutter als rechtliche Mutter), worauf das BJ zutreffend hinweist (vgl.
Art. 310 ZGB
). Dass C. vorerst mit dem Namen ihrer rechtlichen Mutter (D.) einzutragen ist, ergibt sich sodann aus dem Recht ihres Aufenthaltsstaates (
Art. 37 IPRG
;
Art. 270a Abs. 1 und 3 ZGB
). Auch vor abschliessender Regelung der statusrechtlichen Verhältnisse wäre die Entfernung des Kindes aus seinem faktischen familiären Umfeld nur im Falle einer Gefährdung gerechtfertigt (vgl.
BGE 141 III 312
E. 6.4.1; ferner Urteil des EGMR
Paradiso und Campanelli gegen Italien
vom 24. Januar 2017, Nr. 25358/12, § 215). Der Verbleib des Kindes in der Schweiz steht nicht in Zweifel (vgl.
BGE 141 III 328
E. 7.6). Der rechtliche Status von C. gewährleistet demnach das Kindeswohl (
Art. 11 BV
, Art. 3 des Übereinkommens vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes [nachfolgend: UN-KRK]) sowie die Rechte nach Art. 7 UN-KRK (Name, Staatsangehörigkeit, Registrierung) in hinreichender Weise. Mit Blick auf Georgien als Heimatstaat entsteht zwar (für eine gewisse Zeit) ein hinkendes Rechtsverhältnis, was eine Rechtsunsicherheit darstellen kann (
BGE 141 III 312
E. 6.4.3). Im konkreten Fall sind die aus
Art. 8 Abs. 1 EMRK
fliessenden Rechte indes nicht übermässig beeinträchtigt.
7.5
Auf die weiteren Ausführungen des BJ zum Leihmutterschaftsverbot bzw. -tourismus ist nicht einzugehen. Das Bundesgericht hat die Kompetenz und Aufgabe des Parlaments zur Neugestaltung im Bereich des Abstammungsrechts (vgl.
BGE 144 III 1
E. 4.4.1, 4.4.3; Urteil 5A_545/2020 vom 7. Februar 2022 E. 8.7, nicht publ. in:
BGE 148 III 245
) und die Bedeutung der entsprechenden Arbeiten im Rahmen der Haager Konferenz für internationales Privatrecht bereits unterstrichen (vgl.
BGE 141 III 312
E. 4.5).
8.
Nach dem Dargelegten stellt es eine Rechtsverletzung dar, wenn das Obergericht angeordnet hat, das Kindesverhältnis von C. zum Wunschvater einzutragen und das Kindesverhältnis zur Leihmutter nicht einzutragen. Die Beschwerde des BJ ist entsprechend gutzuheissen. In der Sache ist (wie vom BJ beantragt) die Eintragungsverfügung des DVI vom 9. April 2020 zu bestätigen und die
BGE 148 III 384 S. 399
Eintragung einschliesslich der ergänzenden Zusatzangaben betreffend die an der Durchführung der Leihmutterschaft beteiligten Personen vorzunehmen, soweit diese nicht bereits vom Obergericht angeordnet wurde. | 6,417 | 4,847 | 2 | 0 | CH_BGE_005 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_005_BGE-148-III-384_2022-07-01 | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=1&from_date=&to_date=&from_year=2022&to_year=2022&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=10&highlight_docid=atf%3A%2F%2F148-III-384%3Ade&number_of_ranks=103&azaclir=clir | BGE_148_III_384 |
|||
ee05714a-949a-4f65-af74-8989186d4179 | 1 | 84 | 1,355,709 | null | 2,024 | de | Sachverhalt
ab Seite 176
BGE 127 V 176 S. 176
A.-
F., geboren 1969, hatte am 20. Januar 1993 eine Luxation der linken Schulter erlitten, für deren Folgen die Zürich Versicherungs-Gesellschaft (nachfolgend: Zürich) aufkam. In den Monaten März und April 1993 traumatisierte er diese Schulter erneut, ohne indessen der Zürich eine Unfallmeldung einzureichen.
Am 28. März 1994 stürzte er beim Fussballspielen, wobei er sich wiederum eine Schulterluxation links zuzog. In der Folge wurde er am 10. Oktober 1994 an der Schulter operiert. Da er nunmehr über seinen damaligen Arbeitgeber bei der Swica Versicherungen AG (nachstehend: Swica) obligatorisch unfallversichert war, teilte diese der Zürich mit Schreiben vom 1. Dezember 1994 mit, sie
BGE 127 V 176 S. 177
werde die Leistungen für diese Operation im Sinne eines Rückfalles übernehmen; jedoch sei sie der Ansicht, dass sich die Zürich im Rahmen von 75% an den Kosten zu beteiligen habe, wofür ihr nach Abschluss des Falles Rechnung gestellt werde. Mit Schreiben vom 13. Dezember 1994 lehnte die Zürich diese Forderung ab.
Die Swica erliess am 23. Juni 1995 eine Verfügung, mit welcher sie von der Zürich die Rückerstattung der gesamten Operationskosten forderte, da die massive Instabilität der Schulter bereits vor dem bei ihr versicherten Ereignis vom 28. März 1994 bestanden habe und auch ohne diesen erneuten Unfall früher oder später eine Operation notwendig geworden wäre. Der Status quo ante sei am 6. April 1994 erreicht worden und die ab 27. September 1994 durchgeführte Behandlung stehe mit überwiegender Wahrscheinlichkeit in einem kausalen Zusammenhang mit bei der Zürich versicherten Ereignissen. Die von der Zürich dagegen erhobene Einsprache wies die Swica mit Einspracheentscheid vom 10. Juli 1995 ab.
Am 11. August 1995 hob die Swica ihre Verfügung vom 23. Juni 1995 auf und gelangte mit Eingabe vom 25. August 1995 an das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) mit dem Ersuchen, die Zürich mittels Verfügung zu verpflichten, die unfallkausalen Kosten zu übernehmen. Dieses trat mit Verfügung vom 6. Mai 1996 auf das Gesuch der Swica nicht ein. Entsprechend der Rechtsmittelbelehrung reichte die Swica dagegen beim Eidg. Versicherungsgericht Verwaltungsgerichtsbeschwerde ein. Dieses hat erwogen, dass mit Bezug auf die Verfügung des BSV bundesrechtlich weder direkt die Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Eidg. Versicherungsgericht noch die Beschwerde an eine Rekurskommission vorgesehen sei; der Rechtsweg richte sich daher nach den allgemeinen Bestimmungen der Bundesverwaltungsrechtspflege, womit die Streitsache in die Zuständigkeit des Eidg. Departements des Innern (EDI) falle. Mit Urteil vom 25. Mai 1998 (publiziert in RKUV 1998 Nr. U 312 S. 470) trat es auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde nicht ein und überwies die Akten zuständigkeitshalber dem EDI.
B.-
Das EDI trat auf die Beschwerde der Swica ebenfalls nicht ein und überwies die Akten dem Versicherungsgericht des Kantons Wallis (Beschwerdeentscheid vom 24. August 1999).
C.-
Die Swica führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid des EDI sei aufzuheben, und das BSV sei zu verpflichten, auf die Sache einzutreten und nach Durchführung der notwendigen Abklärungen materiell zu entscheiden.
BGE 127 V 176 S. 178
Das EDI und das BSV schliessen auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Die Zürich und F. verzichten auf eine Vernehmlassung. | 731 | 576 | Erwägungen
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Ausgangspunkt des vorliegenden Verfahrens ist der Antrag der Swica vom 25. August 1995, mit welchem diese das BSV ersuchte, eine Verfügung zu erlassen, welche die Zürich verpflichtet, die unfallkausalen Kosten zu übernehmen. Mit der Begründung, es liege ein negativer Kompetenzkonflikt zwischen zwei Versicherern bezüglich ihrer Leistungspflicht vor, in welchem entweder die Swica oder die Zürich zum Erlass einer Verfügung gegenüber dem Versicherten verpflichtet sei, trat das BSV auf das Gesuch der Swica mit Verfügung vom 6. Mai 1996 nicht ein.
2.
a) Das EDI stellt sich auf den Standpunkt, das BSV könne nur in jenen Fällen eine Verfügung erlassen, in denen der Versicherer keine Verfügungskompetenz besitze. Bei einem Kompetenzkonflikt bezüglich der Leistungspflicht habe der Versicherer - auch wenn er sich für unzuständig erachte - gegenüber dem Versicherten zu verfügen und, falls Einsprache erhoben werde, einen Einspracheentscheid zu fällen. Gegen diesen könne nicht nur der Versicherte, sondern auch der zweite Versicherer als Betroffener Beschwerde an das kantonale Versicherungsgericht erheben. Da der Versicherte zur Zeit der Beschwerdeeinreichung in Z. Wohnsitz gehabt habe, sei das Versicherungsgericht des Kantons Wallis für die Beurteilung zuständig. Das EDI trat daher auf die Beschwerde nicht ein und überwies die Akten dem Versicherungsgericht des Kantons Wallis.
b) Die Swica führt demgegenüber aus, auf Grund der von ihr getroffenen medizinischen Abklärungen sei entweder die Zürich für den Unfall alleine oder alternativ mit ihr zusammen zuständig, wobei ihr gegebenenfalls eine Teilrückgriffsberechtigung gegenüber der Zürich zustehe. Weil sie es als wahrscheinlicher betrachte, dass die Zürich vollumfänglich leistungspflichtig sei, habe sie beim BSV die verfügungsweise Festlegung der Kostenpflicht der Zürich beantragt. Eine andere prozessuale Möglichkeit, die Zürich zur Zahlung zu verpflichten, bestehe nicht. Zudem erweise sich die angestrebte Lösung als versichertenfreundlich, da auf einen Direktprozess gegenüber dem Versicherten verzichtet werden könne. Beim vom EDI vorgeschlagenen Verfahren wäre nur die Leistungspflicht der Swica gegenüber dem Versicherten Gegenstand des Verfahrens.
BGE 127 V 176 S. 179
3.
a) Nach
Art. 77 Abs. 3 lit. b UVG
ordnet der Bundesrat die Leistungspflicht und das Zusammenwirken der Versicherer bei einem erneuten Unfall (...). Gestützt darauf hat der Bundesrat
Art. 100 UVV
(Leistungspflicht bei erneutem Unfall) erlassen: Wenn der Versicherte erneut verunfallt, während er wegen eines versicherten Unfalles noch behandlungsbedürftig, arbeitsunfähig und versichert ist, so muss der bisher leistungspflichtige Versicherer auch die Leistungen für den neuen Unfall erbringen (Abs. 1). Verunfallt der Versicherte während der Heilungsdauer eines oder mehrerer Unfälle, aber nach der Wiederaufnahme einer versicherten Tätigkeit, erneut und löst der neue Unfall Anspruch auf Taggeld aus, so erbringt der für den neuen Unfall leistungspflichtige Versicherer auch die Leistungen für die früheren Unfälle. Die anderen beteiligten Versicherer vergüten ihm diese Leistungen, ohne Teuerungszulagen, nach Massgabe der Verursachung; damit ist ihre Leistungspflicht abgegolten. Die beteiligten Versicherer können untereinander von dieser Regelung abweichende Vereinbarungen treffen, namentlich wenn der neue Unfall wesentlich geringere Folgen hat als der frühere (Abs. 2). Erleidet ein aus einem früheren Unfall Rentenberechtigter einen neuen Unfall und führt dieser zu einer Änderung des Invaliditätsgrades, so muss der für den zweiten Unfall leistungspflichtige Versicherer sämtliche Leistungen ausrichten. Der für den ersten Unfall leistungspflichtige Versicherer vergütet dem anderen Versicherer den Betrag, der dem Barwert des Rentenanteils, ohne Teuerungszulagen, aus dem ersten Unfall entspricht. Damit ist seine Leistungspflicht abgegolten (Abs. 3).
Gemäss
Art. 11 UVV
werden die Versicherungsleistungen auch für Rückfälle und Spätfolgen gewährt, für Bezüger von Invalidenrenten jedoch nur unter den Voraussetzungen von Artikel 21 des Gesetzes.
b) Die Swica erbrachte gegenüber dem Versicherten für die nach dem Unfall vom 28. März 1994 erfolgte Behandlung, einschliesslich der Schulteroperation vom 10. Oktober 1994, Leistungen in Form von Heilungskosten und Taggeld im Gesamtbetrag von Fr. 9449.15. Mit der Begründung, die Schulter sei bereits stark vorgeschädigt gewesen, macht die Swica nunmehr geltend, die Zürich sei gestützt auf
Art. 11 UVV
vollumfänglich oder zumindest gestützt auf
Art. 100 Abs. 2 UVV
teilweise leistungspflichtig, da die Heilungsphase im Zeitpunkt des durch die Swica versicherten Ereignisses noch angedauert habe.
Steht fest, dass zumindest einer der in Frage kommenden Versicherer leistungspflichtig ist, fällt die Möglichkeit weg, die
BGE 127 V 176 S. 180
Rückforderung - mittels Verfügung gemäss
Art. 99 UVG
in Verbindung mit
Art. 124 lit. c UVV
- gegenüber dem Versicherten geltend zu machen. Ist ein Unfallversicherer beispielsweise gemäss
Art. 100 Abs. 2 Satz 1 UVV
gegenüber dem Versicherten leistungspflichtig, besteht der auf
Art. 100 Abs. 2 Satz 2 UVV
basierende Vergütungsanspruch nicht gegenüber dem Versicherten und er kann daher auch nicht mit Aussicht auf Erfolg diesem gegenüber mittels Verfügung geltend gemacht werden. Es steht hier auch nicht ein Fall zur Diskussion - wie er
BGE 125 V 324
zu Grunde lag -, in welchem der Unfallversicherer gegenüber dem Ansprecher seine Leistungspflicht mit Verfügung und Einspracheentscheid ablehnt und dies mit der seiner Auffassung nach fehlenden Zuständigkeit begründet. Der Versicherte ist im vorliegenden Verfahren denn auch nicht Partei. Nach
Art. 67 Abs. 2 UVV
wird die Rückforderung gegenüber dem Versicherten nicht geltend gemacht, wenn ein anderer Versicherer für die Leistung einzustehen hat; der Rückforderungsanspruch richtet sich dann gegen den anderen Versicherer. Unabhängig davon, unter welchem Titel (Art. 11 oder
Art. 100 UVV
) die Swica ihren Anspruch gegenüber der Zürich begründet, geht es um eine geldwerte Streitigkeit zwischen Versicherern und nicht um Ansprüche gegenüber dem Versicherten, die auf dem Verfügungsweg geltend zu machen sind.
4.
a) Streitig ist, in welcher Form dieser Forderungsanspruch gegenüber einem anderen (Unfall-)Versicherer geltend zu machen ist. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass nach der Rechtsprechung des Eidg. Versicherungsgerichts (
BGE 125 V 327
Erw. 1b,
BGE 120 V 491
Erw. 1a; RKUV 1991 Nr. U 134 S. 316 Erw. 3b) ein Unfallversicherer gegenüber einem anderen Unfallversicherer keine Weisungsbefugnis besitzt. Ein Unfallversicherer ist demnach nicht befugt, gegenüber einem andern die Zuständigkeitsfrage hoheitlich zu entscheiden. In
BGE 120 V 492
Erw. 1a hat das Gericht die Verfügung eines Unfallversicherers, mit welcher dieser einen anderen Versicherer verpflichten wollte, ihm Leistungen, welche er gegenüber dem Versicherten erbracht hatte, zurückzuerstatten, als nichtig bezeichnet. In diesem Urteil hat des Eidg. Versicherungsgericht zudem mögliche Rechtswege bei negativen Kompetenzkonflikten diskutiert und als entweder für die versicherte Person unbefriedigend oder verfahrensrechtlich problematisch bezeichnet, wobei es die auf Anfang 1994 in Kraft getretene Gesetzesrevision ausdrücklich vorbehalten hat (
BGE 120 V 493
Erw. 1d).
BGE 127 V 176 S. 181
b) In der Literatur wurde die Regelung, die den Versicherten zur Wahrung seiner Ansprüche zu einem Prozess über die Zuständigkeit zwingt, wenn zwei oder mehr Versicherer ihre Zuständigkeit für den gleichen Fall verneinen, als unbefriedigend und änderungsbedürftig betrachtet (MAURER, Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, Ergänzungsband, Bern 1989, S. 8 ff. mit Hinweis auf
BGE 114 V 51
und RKUV 1989 Nr. U 68 S. 171; vgl. auch GHÉLEW/RAMELET/RITTER, Commentaire de la loi sur l'assurance-accidents [LAA], S. 228). Als Lösung "de lege ferenda" schlug MAURER vor, dass ein Versicherer, der sich als unzuständig betrachte, nicht eine Verfügung erlassen, sondern an das BSV gelangen sollte, welches in einer Verfügung den zuständigen Versicherer zu bestimmen habe (MAURER, a.a.O., S. 9 f.; vgl. auch ROGER PETER, Das [Verwaltungs-]Verfahren bei Zuständigkeitsstreitigkeiten im Leistungsrecht der obligatorischen Unfallversicherung, in: SZS 2000 S. 117 ff.).
c) Gestützt auf Ziff. 1 Abs. 3 lit. b der Schlussbestimmungen zur Änderung des Bundesrechtspflegegesetzes vom 4. Oktober 1991 in Verbindung mit Ziff. 21 des Anhangs zur Verordnung über die Vorinstanzen des Bundesgerichts und des Eidg. Versicherungsgerichts vom 3. Februar 1993 wurde auf den 1. Januar 1994
Art. 110 Abs. 2 UVG
aufgehoben und
Art. 78a UVG
in Kraft gesetzt. Gemäss
Art. 78a UVG
erlässt das BSV bei geldwerten Streitigkeiten zwischen Versicherern eine Verfügung. Unter geldwerten Streitigkeiten zwischen Versicherern im Sinne des bis Ende 1993 in Kraft gewesenen
Art. 110 Abs. 2 UVG
waren gemäss Botschaft zum Bundesgesetz über die Unfallversicherung vom 18. August 1976 Streitigkeiten zwischen Versicherungsträgern, die auf die Durchführung der obligatorischen Unfallversicherung zurückzuführen sind und sich auf Geldbeträge beziehen, zu verstehen. Als Beispiele wurden Streitigkeiten beim Wechsel des Versicherungsträgers nach
Art. 69 und
Art. 76 UVG
erwähnt (BBl 1976 III 226). In der Literatur werden zudem Streitigkeiten aus Zusammenarbeitsverträgen zwischen anerkannten Krankenkassen, die die obligatorische Unfallversicherung durchführen, und Versicherern, die die Langfristleistungen erbringen, Beitragsstreitigkeiten zwischen der Ersatzkasse und Versicherern (
Art. 72 Abs. 2 UVG
) sowie Streitigkeiten über den Rückerstattungsanspruch des vorleistungspflichtigen Sozialversicherers (Art. 18a alt Vo III zum KUVG) erwähnt (MAURER, Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, S. 57, 66 und 542).
d) Die bundesamtliche Verfügungszuständigkeit nach
Art. 78a UVG
kommt somit in all jenen geldwerten Streitigkeiten zum
BGE 127 V 176 S. 182
Tragen, in denen ein Unfallversicherer, der gegenüber dem anderen Unfallversicherer keine Weisungsbefugnis besitzt, das BSV anruft, damit dieses über die streitige Zuständigkeit entscheide (vgl.
BGE 125 V 327
Erw. 1b). Dieser Rechtsweg steht namentlich dann offen, wenn ein negativer Kompetenzkonflikt zwischen zwei Versicherern über die Leistungspflicht bezüglich eines Schadensereignisses vorliegt oder wenn ein Versicherer von einem anderen Versicherer Rückerstattung von gegenüber dem Versicherten erbrachten Leistungen verlangt (JEAN-MAURICE FRÉSARD, L'assurance-accidents obligatoire, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Soziale Sicherheit, Rz 266). Ruft ein Unfallversicherer in diesem Sinne das BSV an, hat dieses den Streit durch Verfügung zu entscheiden (
Art. 78a UVG
). Dieses ist somit auf das Gesuch der Swica vom 25. August 1995 zu Unrecht nicht eingetreten. Die Sache ist daher an das BSV zurückzuweisen, damit es darüber befinde, welcher Versicherer - allenfalls zu welchem Anteil - nach den materiellrechtlichen Vorschriften leistungspflichtig ist.
5.
(Gerichtskosten und Parteientschädigung) | 2,410 | 1,863 | 2 | 0 | CH_BGE_007 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_007_BGE-127-V-176_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=14&from_date=&to_date=&from_year=2001&to_year=2001&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=138&highlight_docid=atf%3A%2F%2F127-V-176%3Ade&number_of_ranks=284&azaclir=clir | BGE_127_V_176 |
|||
ee0bc331-e4b7-479c-b1e4-e7eecdd310a3 | 1 | 80 | 1,339,219 | 504,921,600,000 | 1,986 | de | Ein Begehren um Übernahme der Strafverfolgung durch den ersuchenden Staat ist nicht erforderlich, wenn dieser wegen des im Drogenstrafrecht massgebenden Universalitätsprinzips ohnehin für die Beurteilung des gesamten Sachverhalts, auch soweit er sich in der Schweiz abgespielt hat, zuständig ist (E. 5d).
Sachverhalt
ab Seite 149
BGE 112 Ib 149 S. 149
Die Bezirksanwaltschaft Zürich eröffnete gegen den kolumbianischen Staatsangehörigen F. ein Verfahren wegen Finanzierung unerlaubten Betäubungsmittel-Handels. In der Folge ergab sich, dass in den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) ein umfangreiches
BGE 112 Ib 149 S. 150
Verfahren gegen eine grössere Gruppe von Personen hängig ist, die des Drogenhandels in dieser oder jener Form beschuldigt werden und zu denen auch F. gehören soll. Am 12. November 1985 ersuchten die USA die Schweiz um Auslieferung von F. wegen Mitwirkung beim Drogenhandel. Das Bundesamt für Polizeiwesen bewilligte mit Verfügung vom 7. Januar 1986 die Auslieferung. Gegen diesen Entscheid erhob F. Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesgericht weist sie ab. | 454 | 180 | Erwägungen
Aus den Erwägungen:
5.
a) Der Beschwerdeführer macht weiter geltend, für die im Auslieferungsgesuch genannten Tatbestände werde bereits in Zürich eine Strafuntersuchung geführt.
Es ist richtig, dass die Bezirksanwaltschaft Zürich gegen den Beschwerdeführer ein Strafverfahren wegen Finanzierens des Drogenhandels eröffnet hatte. Dass dies unzulässig gewesen wäre, behauptet der Beschwerdeführer zu Recht selbst nicht: Nachdem die genannte Behörde aufgrund eines Rechtshilfeersuchens der USA ein Bankkonto im Hinblick auf den Verdacht, es enthalte Erlös aus Drogenhandel, gesperrt hatte, lag der Verdacht auf der Hand, derjenige, der dieses Geld abhebe, sei ein Drogenhändler oder stehe mit Drogenhändlern in Verbindung. Unhaltbar ist aber der Standpunkt des Beschwerdeführers, die Eröffnung dieser Untersuchung habe gewissermassen zu einer endgültigen Festlegung des international massgebenden Gerichtsstandes für die gesamte, ihm zur Last gelegte strafbare Tätigkeit geführt. Eine solche perpetuatio fori ist dem internationalen Strafrecht nicht bekannt. Es ergab sich im Laufe der in der Schweiz geführten Untersuchung, dass in den USA schon früher ein Verfahren gegen den Beschwerdeführer hängig war und dass dort der Schwerpunkt des ihm zur Last gelegten strafbaren Verhaltens liegt. Zwar wäre es denkbar, dass der Verfolgte auch für die in den Vereinigten Staaten begangenen Delikte in der Schweiz verfolgt werden könnte, doch sieht das Gesetz dieses Vorgehen nur für den Fall vor, dass der Betreffende - etwa wegen schweizerischer Staatsangehörigkeit - nicht ausgeliefert wird (
Art. 19 Ziff. 4 BetmG
). Im übrigen hat das Bundesgericht im Urteil
BGE 108 Ib 537
darauf hingewiesen, dass das New Yorker Einheits-Übereinkommen vom 30. März 1961 (SR 0.812.121.0, AS 1970, 802), dem sowohl die Schweiz als auch die Vereinigten Staaten angehören, die Auslieferung in Fällen von Betäubungsmitteldelikten
BGE 112 Ib 149 S. 151
als wünschenswert bezeichnet (Art. 36 Ziff. 2 lit. b). Daraus zu folgern, dass soweit möglich durch Auslieferung eine Gesamtbeurteilung des Verfolgten am Schwerpunkt des deliktischen Verhaltens erfolgen solle, drängt sich geradezu auf.
Zum selben Ergebnis führt
Art. 36 IRSG
, das ergänzend neben dem massgebenden Staatsvertrag heranzuziehen ist, soweit dieser keine Bestimmungen enthält. Die Vorschrift sieht vor, dass es in Ausnahmefällen zulässig ist, einen Angeschuldigten auszuliefern, obschon er auch in der Schweiz verfolgt werden könnte, und zwar dann, wenn besondere Umstände, namentlich die Möglichkeit einer besseren sozialen Wiedereingliederung, dies rechtfertigen. Im vorliegenden Fall ist über die persönlichen Verhältnisse des Beschwerdeführers zu wenig bekannt, als dass sich darüber, wo eine Wiedereingliederung am ehesten denkbar ist, etwas Schlüssiges aussagen liesse. Fest steht immerhin, dass er zu den Vereinigten Staaten von Amerika ungleich engere Beziehungen besitzt als zur Schweiz, wo er sich nur für die Durchführung seiner finanziellen Transaktionen während jeweils kürzerer Zeit aufgehalten hat. Das Bundesgericht hat in einem Fall ähnlicher Art (der allerdings nicht die USA, sondern Italien betraf) auch die Tatsache als besonderen Umstand anerkannt, dass der Schwerpunkt einer gewerbs- und bandenmässigen Tätigkeit im Ausland lag und dass dort ein umfassendes Strafverfahren gegen sämtliche Beteiligten im Gange war (nicht veröffentlichtes Urteil in Sachen C. vom 30. August 1985). Diese Voraussetzungen sind auch im vorliegenden Fall gegeben. Der Umstand, dass vermutlich auch die Schweiz zur Verfolgung der fraglichen Deliktstatbestände befugt wäre, steht demnach der Auslieferung nicht entgegen (vgl. dazu auch
BGE 105 Ib 294
ff.).
b) Der Beschwerdeführer macht sodann geltend, er habe im zürcherischen Verfahren Anspruch auf Anklageerhebung oder Sistierung. Dem ist beizupflichten, doch steht diese Frage mit derjenigen der Auslieferung nicht in einem unmittelbaren Zusammenhang. Es leuchtet ein, dass die Bezirksanwaltschaft Zürich das Verfahren nicht einstellen konnte, bevor über die Auslieferung Klarheit bestand, und es ist nicht daran zu zweifeln, dass sie nach Ausfertigung des vorliegenden Urteils eine entsprechende Verfügung erlassen wird. Die Beschlagnahme von Vermögenswerten wird hiervon allerdings nicht berührt werden.
c) Weiter wird eingewendet, die Untersuchung in Zürich sei von Anfang an nur eröffnet worden im Hinblick darauf, ein späteres Auslieferungsverfahren zu ermöglichen. Dieses Vorgehen verletze
BGE 112 Ib 149 S. 152
Art. 2 Ziff. 1 lit. a des Staatsvertrages mit den USA über gegenseitige Rechtshilfe in Strafsachen und bedeute eine missbräuchliche Gesetzesumgehung.
Der Einwand ist offensichtlich unbegründet. Am Anfang des schweizerischen Verfahrens stand zwar ein Rechtshilfebegehren der USA; doch bezog sich dieses nicht auf die Festnahme des Beschwerdeführers, so dass nicht zu sehen ist, inwiefern der Rechtshilfevertrag verletzt worden sein könnte. Die Verhaftung des Beschwerdeführers erfolgte nicht aufgrund eines Begehrens der USA, sondern in eigener Zuständigkeit der Bezirksanwaltschaft Zürich. Dass dazu Anlass bestand, ist bereits dargelegt worden. Es ist eine häufige Erscheinung, das jemand zunächst wegen Verdachts einer im Inland strafbaren Handlung in Untersuchung gezogen wird und sich daran erst später ein Auslieferungsverfahren anschliesst; denn es ist im Bereich der internationalen Kriminalität selten möglich, die Frage, welcher Staat die Aburteilung des Verfolgten zu übernehmen hat, auf den ersten Blick zu beantworten. Von einer missbräuchlichen Gesetzesumgehung kann daher keine Rede sein. Vertretbar ist der Standpunkt des Beschwerdeführers einzig insoweit, als sich die vor dem Eingang des provisorischen Auslieferungsersuchens der USA erstandene Untersuchungshaft rückblickend gleich wie die Auslieferungshaft auswirkt. Indessen ändert dies nichts daran, dass es sich um von der Bezirksanwaltschaft Zürich in eigener Zuständigkeit verhängte Untersuchungshaft handelte, die mit den hiefür vorgesehenen Rechtsmitteln (allenfalls auch mit staatsrechtlicher Beschwerde an das Bundesgericht) hätte angefochten werden können. Von dieser Möglichkeit hat der Beschwerdeführer keinen Gebrauch gemacht. Der Entscheid darüber, ob diese Haft analog zur eigentlichen Auslieferungshaft an die Dauer einer in den USA allenfalls auszufällenden Strafe anzurechnen sei, wird von der zuständigen amerikanischen Gerichtsbehörde zu treffen sein.
d) Ebenfalls in diesen Zusammenhang gehört die Rüge des Beschwerdeführers, die Bezirksanwaltschaft Zürich habe ein Verfahren betreffend Übernahme der Strafuntersuchung durch die USA eingeleitet. Zum Entscheid über ein solches Begehren wäre das BAP zuständig. Da ein entsprechender Entscheid nie eröffnet worden sei, liege eine Verweigerung des rechtlichen Gehörs vor.
In dieser Frage scheint ein Missverständnis vorzuliegen, und zwar auch auf seiten der Bezirksanwaltschaft Zürich. Die Übernahme der Strafverfolgung durch einen ausländischen Staat ist
BGE 112 Ib 149 S. 153
nicht Voraussetzung der Auslieferung. Sie ist vielmehr ein selbständiges, in einem anderen Abschnitt des IRSG geregeltes Rechtsinstitut, das unter Umständen - nämlich dann, wenn dem ersuchenden Staat nicht ohnehin die Gerichtsbarkeit hinsichtlich sämtlicher zu verfolgender Handlungen des Auszuliefernden zusteht - auch neben die Auslieferung treten kann (Art. 88 lit. b in Verbindung mit
Art. 36 IRSG
). Ist, wie sich aus den vorstehenden Ausführungen ergibt, die Gerichtsbarkeit des ersuchenden Staates wegen des im Drogenstrafrecht massgebenden Universalitätsprinzips ohnehin für den gesamten Sachverhalt gegeben, auch soweit er sich in der Schweiz abgespielt hat, so bedarf es neben dem Entscheid über die Auslieferung nicht noch eines solchen betreffend die Übertragung der Strafverfolgung. Es kann in diesem Zusammenhang auch auf das bei den Untersuchungsakten der Bezirksanwaltschaft befindliche und deshalb dem Beschwerdeführer zugängliche Merkblatt des BAP vom 19. September 1985 hingewiesen werden, wonach das Strafübernahmebegehren nicht als Mittel zur internationalen Gerichtsstandsregelung vorgesehen ist. Bedurfte es somit hier entgegen der Auffassung der Bezirksanwaltschaft Zürich keiner Verfügung betreffend Übertragung des Strafverfahrens, so kann dem Beschwerdeführer diesbezüglich auch das rechtliche Gehör nicht verweigert worden sein. | 3,567 | 1,320 | 2 | 0 | CH_BGE_003 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_003_BGE-112-Ib-149_1986 | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=25&from_date=&to_date=&from_year=1986&to_year=1986&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=246&highlight_docid=atf%3A%2F%2F112-IB-149%3Ade&number_of_ranks=378&azaclir=clir | BGE_112_Ib_149 |
|||
ee1bb4ec-4667-4820-9c9a-a131304d1178 | 1 | 82 | 1,408,760 | 1,641,945,600,000 | 2,022 | de | 2 | 0 | Erwägungen des angefochtenen Entscheides (E. 3). Beschwerdevorbringen (E. 4). Ausführungen, weshalb eine alleinige Passivlegitimation des bevorschussenden Gemeinwesens oder eine Passivlegitimation gemeinsam mit dem Kind prozessual nicht möglich ist (E. 5). Zusammenfassung der in
BGE 148 III 270
dargestellten materiellen Rechtslage (E. 6).
Sachverhalt
ab Seite 297
BGE 148 III 296 S. 297
A.
Die Parteien sind die unverheirateten Eltern von zwei Kindern mit Jahrgängen 2006 und 2008. Mit Unterhaltsverträgen aus den Jahren 2007 bzw. 2008 verpflichtete sich der Vater zu monatlichen Unterhaltsbeiträgen pro Kind von Fr. 600.- bis zum vollendeten 6. Altersjahr, von Fr. 650.- bis zum vollendeten 12. Altersjahr und von Fr. 700.- bis zur Volljährigkeit bzw. dem Abschluss der Ausbildung.
B.
Mit Schlichtungsgesuch vom 21. Oktober 2015 und Klage vom 7. März 2016 verlangte der Vater eine angemessene Reduktion der Unterhaltsbeiträge.
Gestützt auf ein Gesuch der Mutter wurden diese ab dem 1. Mai 2016 durch den Sozialdienst Oberes Emmental bevorschusst.
In der Folge beschränkte das Regionalgericht Emmental-Oberaargau das Verfahren mit Verfügung vom 20. November 2018 auf die Frage der Passivlegitimation und mit Entscheid vom 25. Juni 2019 traf es die Feststellung, dass die Passivlegitimation für den Zeitraum vom 1. November 2015 bis 30. April 2016 gegeben sei (Ziff. 1) und für den Zeitraum ab dem 1. Mai 2016 fehle (Ziff. 2).
In Bezug auf Ziff. 2 reichte der Vater eine Berufung ein. In teilweiser Gutheissung modifizierte das Obergericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 18. Dezember 2019 den erstinstanzlichen Entscheid dahingehend, dass es die Klage nicht generell ab dem 1. Mai 2016, sondern nur für den Zeitraum vom 1. Mai 2016 bis zum obergerichtlichen Entscheid mangels Passivlegitimation abwies und die Sache für die sich daran anschliessende Zeit zur materiellen Beurteilung an das Regionalgericht zurückwies.
C.
Dagegen hat der Vater am 27. Januar 2020 beim Bundesgericht eine Beschwerde in Zivilsachen eingereicht mit dem Begehren, das Regionalgericht Emmental-Oberaargau sei anzuweisen, den Sozialdienst Oberes Emmental für die Zeit ab dem 1. Mai 2016 nebst ihm und der Mutter von Amtes wegen als Partei am Verfahren zu beteiligen, wobei die Verfahrensrollen von Amtes wegen zu bezeichnen seien, und dem Eventualbegehren, es sei festzustellen, dass die Passivlegitimation der Mutter auch für den Zeitraum vom 1. Mai 2016 bis 18. Dezember 2019 (Datum Berufungsentscheid) gegeben sei. Ferner verlangt er die unentgeltliche Rechtspflege.
BGE 148 III 296 S. 298
Der im Rubrum der Beschwerde aufgeführte und deshalb ebenfalls zu einer Vernehmlassung eingeladene Sozialdienst hält mit Schreiben vom 18. Februar 2020 fest, sich nicht vernehmen lassen zu können, da er nie in das obergerichtliche Verfahren einbezogen worden und durch die Komplexität der Streitsache überfordert sei; er fühle sich als Spielball der Parteien und müsse die Unterhaltsbeiträge wohl oder übel bevorschussen, solange ein gültiger und vollstreckbarer Titel vorliege.
Mit Vernehmlassung vom 5. März 2020 schliesst die Mutter auf Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei.
(Zusammenfassung)
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
(...)
Gegenstand der Beschwerde bildet die Frage der Passivlegitimation bei einer vom Unterhaltsschuldner eingeleiteten Abänderungsklage, wenn während des hängigen Prozesses neu eine Bevorschussung der Unterhaltsbeiträge einsetzt. Das Obergericht hat die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Passivlegitimation des bevorschussenden Gemeinwesens (dazu nicht publ. E. 2) bedauert, diese aber strikt umgesetzt und sich als Folge schwergewichtig zur (fehlenden) Möglichkeit eines wie auch immer gearteten Einbezuges des Gemeinwesens in das bereits hängige Abänderungsverfahren geäussert (dazu E. 3). Der Beschwerdeführer versucht im Hauptstandpunkt, prozessuale Möglichkeiten für einen Parteiwechsel oder eine Einbindung des Gemeinwesens aufzuzeigen, und macht im Eventualstandpunkt geltend, dass das Kind im Abänderungsverfahren auch nach der Aufnahme der Bevorschussung allein passivlegitimiert bleibe (dazu E. 4). Der Hauptstandpunkt des Beschwerdeführers lässt sich nicht umsetzen (dazu E. 5). Indes hat das Bundesgericht heute in
BGE 148 III 270
) eine Änderung der Rechtsprechung vorgenommen und entsprechend kann das Eventualbegehren gutgeheissen werden (dazu E. 6).
(...)
3.
Das Obergericht befolgte im angefochtenen Entscheid strikt die in der nicht publ. E. 2 dargestellte bundesgerichtliche Rechtsprechung zur "gemeinsamen" Passivlegitimation von Kind und bevorschussendem Gemeinwesen ab dem Zeitpunkt der Bevorschussung - obwohl fraglich sei, inwiefern das Gemeinwesen ein praktisches
BGE 148 III 296 S. 299
Interesse an einem Eintritt in das Abänderungsverfahren habe, zumal das betroffene Kind bzw. dessen Vertreter in einem deutlich engeren Bezug zum Streitgegenstand stehe und bei der praktischen Umsetzung zahlreiche Unklarheiten und Schwierigkeiten bestünden, auf welche auch die Lehre hinweise - und verneinte in der Folge die vom Beschwerdeführer geltend gemachte Verletzung von
Art. 286 Abs. 2 ZGB
und
Art. 169 OR
sowie von
Art. 49 BV
.
Es warf aber die Frage auf, ob Anlass bestehe, auch für die Zeit nach Eintritt der Rechtskraft des obergerichtlichen Urteils weiterhin von einer "gemeinsamen" Passivlegitimation von Kind und bevorschussendem Gemeinwesen auszugehen, was das Bundesgericht soweit ersichtlich bislang nicht geklärt habe. Es verneinte einen entsprechenden Bedarf und hiess die Berufung deshalb teilweise gut, unter diesbezüglicher Rückweisung der Sache zur materiellen Beurteilung.
Hingegen schützte das Obergericht die Klageabweisung für die Zeit ab der Bevorschussung bis zur Rechtskraft des obergerichtlichen Urteils, indem es wie gesagt die in der nicht publ. E. 2 dargestellte bundesgerichtliche Rechtsprechung befolgte und in prozessualer Hinsicht die Möglichkeit verneinte, das Gemeinwesen ab dem Zeitpunkt der Bevorschussung in das Verfahren einzubeziehen. Es hielt fest, dass für einen Parteiwechsel nach
Art. 83 Abs. 1 ZPO
zwingend die Zustimmung des Erwerbers erforderlich wäre und der Sozialdienst als bevorschussendes Gemeinwesen es ausdrücklich abgelehnt habe, in den Prozess einzutreten. Abgesehen davon trete beim Parteiwechsel nach
Art. 83 Abs. 1 ZPO
der Erwerber nach dem expliziten Wortlaut der Norm "an die Stelle" des Veräusserers; dies verhalte sich aber vorliegend gerade nicht so, weil gemäss
BGE 143 III 177
E. 6.3.3 und 6.3.6 das Kind selbst bei vollständiger Bevorschussung weiterhin neben dem Gemeinwesen passivlegitimiert bleibe. Sodann kenne die Zivilprozessordnung das Instrument der Beiladung nicht; möglich wäre einzig eine Anfrage nach
Art. 56 ZPO
zur Teilnahme am Prozess, was aber der Sozialdienst wie gesagt klar abgelehnt habe. Ferner hat das Obergericht die Argumentation des Beschwerdeführers verworfen, wonach das Gemeinwesen als notwendiger Streitgenosse nicht unbedingt am Prozess teilnehmen müsse, weil im Sinn von
Art. 70 Abs. 2 ZPO
die Handlungen des Kindes auch für das säumige Gemeinwesen wirken würden, indem es das Vorliegen einer notwendigen Streitgenossenschaft verneint hat. Frage sei vielmehr, ob dem Sozialdienst überhaupt
BGE 148 III 296 S. 300
Parteistellung zukommen könne, wenn er damit nicht einverstanden sei. Eine gesetzliche Grundlage für eine Prozessstandschaft fehle aber und eine gewillkürte Prozessstandschaft sei dem schweizerischen Recht fremd.
4.
Vorab macht der Beschwerdeführer eine Verletzung von
Art. 52 ZPO
bzw.
Art. 29 BV
geltend mit der Begründung, es sei ihm nicht zuzumuten, seine Klage für die Zeit ab der Bevorschussung zurückzuziehen und eine neue Klage einzureichen, die sich nur in der zusätzlichen Nennung des Gemeinwesens auf der beklagtischen Seite unterscheide. Umso mehr wäre dies stossend, als der Sozialdienst ausdrücklich erklärt habe, am Prozess nicht interessiert zu sein. All dies würde nicht der Verwirklichung des materiellen Rechts dienen, sondern wäre reiner Selbstzweck. Das Obergericht halte denn auch selbst fest, dass es unbefriedigend sei, wenn dem Kind die alleinige Passivlegitimation fehle.
Indes besteht der Beschwerdeführer in der Folge nicht darauf, dass die bundesgerichtliche Rechtsprechung zu ändern sei, weil er diese als gefestigt betrachtet, sondern er versucht, mit verschiedenen Begründungslinien zum Ergebnis zu gelangen, dass die erst während des bereits hängigen Abänderungsprozesses aufgenommene Bevorschussung zu einem Übergang der Passivlegitimation auf das Gemeinwesen und einem automatischen Parteiwechsel führen müsse.
Im Einzelnen macht der Beschwerdeführer diesbezüglich geltend, im angefochtenen Entscheid werde nicht dargelegt, inwiefern zu "allen Rechten" im Sinn von
Art. 289 Abs. 2 ZGB
bzw. zu den "Nebenrechten" im Sinn von
Art. 170 Abs. 1 OR
nicht auch die Prozessführungsbefugnis bzw. Prozessführungslast gehöre und wieso das Gemeinwesen gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung, auf welche das Obergericht verweise, lediglich an der Passivlegitimation des Kindes "teilhaben" und dieses nicht als beklagte Partei ersetzen soll. Bei Renten werde zwischen dem nicht abtretbaren Stammrecht und den Einzelforderungen unterschieden. Mit der Bevorschussung dieser Einzelforderungen müsse als Nebenrecht auch die Passivlegitimation bzw. die prozessuale Stellung auf das Gemeinwesen übergehen, und es müsse zu einem automatischen Parteiwechsel kommen, denn die Forderung gehe in dem Zustand über, in welchem sie sich im Zeitpunkt der Legalzession befinde, und das Prozessführungsrecht sei in diesem Zeitpunkt bereits betätigt gewesen. Insofern müsse es aufgrund der materiellen Rechtslage ohne Zutun der Parteien auch zum Parteiwechsel im Abänderungsverfahren kommen.
BGE 148 III 296 S. 301
Was sodann
Art. 83 ZPO
anbelange, werde dieser in erster Linie im Kontext des gewillkürten Parteiwechsels diskutiert. Dort gehe es um die (freiwillige) Veräusserung, während es hier um eine Legalzession gehe und folglich der Parteiwechsel in Bezug auf die bevorschussten Einzelforderungen ipso iure eintreten müsse. Rein praktisch müsse es dem Gemeinwesen aber trotzdem freistehen, ob es überhaupt am Prozess teilnehmen oder sich im Sinn einer uneigentlichen Prozessstandschaft vom Unterhaltsberechtigten vertreten lassen wolle. Insofern sei der in der Berufungsschrift erfolgte Hinweis auf
Art. 70 Abs. 2 ZPO
berechtigt gewesen, zumal dem erstinstanzlichen Urteil habe entgegengesetzt werden müssen, dass bei nachträglicher Bevorschussung gerade keine aktive Beteiligung des Gemeinwesens am Verfahren erforderlich sei, damit dieses seinen Fortgang nehmen könne. Jedenfalls dürfe das Zivilverfahren nicht einfach ins Leere laufen, wenn das Gemeinwesen nachträglich bevorschusse, aber am Abänderungsverfahren nicht teilnehmen wolle.
Zur Begründung des Eventualstandpunktes macht der Beschwerdeführer geltend, dass die zivilprozessrechtliche Passivlegitimation keine formelle Eigenschaft sei, die beispielsweise mit einer Veräusserung untergehe; ausschlaggebend sei vielmehr die materielle Rechtslage. Solange der Erwerber nicht in den Prozess eintrete, behalte die veräussernde Partei das Prozessführungsrecht. Vorliegend würden die verfallenen Einzelforderungen den Gegenstand der Subrogation bilden. Sei in diesem Zeitpunkt ein Abänderungsverfahren hängig, sei die Höhe der zedierten Forderung noch offen, weil sich die Höhe der Unterhaltspflicht während der Dauer des Verfahrens in der Schwebe befinde. Im Übrigen könne der Schuldner gegenüber dem Erwerber sämtliche Einreden und Einwendungen geltend machen, die schon bestanden hätten, als er von der Abtretung Kenntnis erhalten habe. Das Gemeinwesen erwerbe demnach eine Forderung, deren Höhe noch in der Schwebe sei. Deshalb verliere der Unterhaltsberechtigte die Sachlegitimation im Herabsetzungsverfahren nicht, zumal er dem Gemeinwesen gemäss
Art. 171 Abs. 1 OR
für den Bestand der Forderung hafte und gemäss Art. 10 Abs. 3 des Gesetzes des Kantons Bern vom 6. Februar 1980 über Inkassohilfe und Bevorschussung von Unterhaltsbeiträgen (BSG 213.22) für zu viel Empfangenes rückerstattungspflichtig wäre. Insofern bestehe nach wie vor ein rechtlich geschütztes Interesse an der Beurteilung des Herabsetzungsbegehrens zwischen dem Unterhaltsschuldner und dem Unterhaltsberechtigten. Dafür könne auch die bundesgerichtliche Formel sprechen,
BGE 148 III 296 S. 302
wonach das Gemeinwesen an der Passivlegitimation des Unterhaltsberechtigten bloss "teilhabe". Verbleibe dem Unterhaltsberechtigten das Prozessführungsrecht, bleibe seine Passivlegitimation bestehen, zumal er dem Gemeinwesen das herabsetzende Urteil aus einem bereits hängigen Abänderungsprozess entgegensetzen können müsse.
5.
Der Hauptstandpunkt des Beschwerdeführers, wonach - unter der Hypothese, dass die bisherige bundesgerichtliche Rechtsprechung befolgt und somit von einer (wie auch immer) geteilten Passivlegitimation von Kind und Gemeinwesen bei der vom Unterhaltsschuldner eingeleiteten Abänderungsklage ausgegangen wird - der Einbezug des erst während des hängigen Abänderungsverfahrens die Bevorschussung aufnehmenden Gemeinwesens nicht an prozessualen Hürden scheitern darf, ist nachvollziehbar, lässt sich aber rechtlich nicht umsetzen; keine der beschwerdeweise vorgetragenen Möglichkeiten, wie das Gemeinwesen einbezogen werden könnte, lässt die verneinenden Erwägungen des angefochtenen Entscheides als rechtsverletzend erscheinen:
Ein Parteiwechsel nach
Art. 83 ZPO
scheitert an der in
BGE 143 III 177
geäusserten Vorgabe, dass das Kind und das Gemeinwesen "gemeinsam" passivlegitimiert seien, und vorliegend insbesondere auch an der Weigerung des Sozialdienstes, am Verfahren teilzunehmen; eine entsprechende Erklärung ist für einen Parteiwechsel unabdingbar (statt vieler: GROSS/ZUBER, in: Berner Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, Bd. I, 2012, N. 9, 16 und 18 zu
Art. 83 ZPO
).
Die Annahme einer notwendigen Streitgenossenschaft im Sinn von
Art. 70 ZPO
setzt nach der Legaldefinition voraus, dass mehrere Personen an einem Rechtsverhältnis beteiligt sind, über das nur mit Wirkung für alle entschieden werden kann, was sich in der Regel aus dem materiellen Recht ergibt und typischerweise bei einem Gesamthandverhältnis der Fall ist (statt vieler: GROSS/ZUBER, a.a.O., N. 7 zu
Art. 70 ZPO
). Bei der Zession geht indes die Forderung vom Zedenten auf den Zessionar über; nicht nur vor der Abtretung, sondern auch nach dem Forderungsübergang hat immer bloss eine Person Gläubigerstellung und damit die Sachlegitimation. Mithin scheitert auch der Erklärungsversuch des Beschwerdeführers, das Kind könnte im Sinn von
Art. 70 Abs. 2 ZPO
den Prozess als Prozessstandschafter weiterführen, wenn das Gemeinwesen wie vorliegend keine Lust an der Prozessführung habe und am Verfahren nicht teilnehmen wolle.
BGE 148 III 296 S. 303
Weiter hat das Obergericht zutreffend erwähnt, dass der schweizerischen Zivilprozessordnung die "Beiladung" fremd ist (vgl. RUGGLE, in: Basler Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, 3. Aufl. 2017, N. 25 zu
Art. 70 ZPO
; DOMEJ, in: ZPO, Kurzkommentar, Oberhammer und andere [Hrsg.], 3. Aufl. 2021, N. 14 zu
Art. 70 ZPO
; SCHWANDER, in: Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO], 3. Aufl. 2016, N. 13 zu
Art. 83 ZPO
), was im Kontext mit der Passivlegitimation bei der Abänderungsklage auch das Bundesgericht festgehalten hat (
BGE 143 III 177
E. 6.1 und 6.3.5; Urteile 5A_634/2013 vom 12. März 2014 E. 4.2; 5A_694/2019 vom 24. Februar 2020 E. 4.2).
Vertiefende Erörterungen zur prozessualen Umsetzung der bisherigen Rechtsprechung erübrigen sich jedoch insofern, als mit dem bereits erwähnten
BGE 148 III 270
eine Änderung der Rechtsprechung in Bezug auf den Gegenstand der Subrogation vorgenommen worden ist, aus welcher sich zwangsläufig ergibt, dass bei der vom Unterhaltsschuldner angehobenen Abänderungsklage einzig das Kind bzw. dessen gesetzlicher Vertreter passivlegitimiert ist (dazu E. 6).
6.
BGE 148 III 270
lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass der Unterhaltsprozess grundsätzlich ein zivilprozessuales Zweiparteienverfahren zwischen dem Unterhaltsschuldner und dem Kind (bzw. seinem Vertreter) ist und sich der Unterhaltsanspruch des Kindes unmittelbar aus dem Kindesverhältnis ergibt (
Art. 276 ZGB
). Soweit das Gemeinwesen Unterhaltsbeiträge bevorschusst, subrogiert es in diese (
Art. 289 Abs. 2 ZGB
). Dabei geht nicht das Stammrecht über, sondern die daraus abgeleiteten, tatsächlich bevorschussten einzelnen Unterhaltsbeiträge. Gegenstand der Abänderungsklage ist indes die neue Quantifizierung des Stammrechtes und entsprechend liegt die Passivlegitimation unabhängig von einer allfälligen Bevorschussung immer beim Kind oder dessen Vertreter. Wird auch während des Abänderungsverfahrens weiter bevorschusst (oder wie vorliegend die Bevorschussung überhaupt erst aufgenommen), ist die Höhe der einzelnen Unterhaltsbeiträge bis zur definitiven Quantifizierung des Stammrechtes im neuen Titel in Schwebe. Wird darin der Unterhalt herabgesetzt oder die Unterhaltspflicht sogar ganz aufgehoben, entfällt rückwirkend ab dem Zeitpunkt der Klageeinleitung im betreffenden Umfang die materielle Grundlage bzw. der Gegenstand der Subrogation. Die Folgen der "Überbevorschussung" richten sich nach dem kantonalen öffentlichen Recht. Für Einzelheiten kann auf
BGE 148 III 270
E. 6 verwiesen werden.
BGE 148 III 296 S. 304
Für das vorliegende Verfahren bedeutet dies, dass der Beschwerdeführer, welcher seine Abänderungsklage gegen das Kind richtete, nicht nur bei der Klageeinleitung den richtigen Passivlegitimierten ins Recht gefasst hat, sondern dass das Kind auch während des ganzen Verfahrens passivlegitimiert blieb. Demnach ist der angefochtene Entscheid in dahingehender Gutheissung des Eventualbegehrens aufzuheben, soweit die Klage abgewiesen worden ist, und die Angelegenheit zusätzlich auch für die Zeit ab der Aufnahme der Bevorschussung bis zum Vorliegen des obergerichtlichen Entscheides zur materiellen Beurteilung an das Regionalgericht zurückzuweisen.
Ferner ist die Sache in Bezug auf die Regelung der Kosten des Berufungsverfahrens entsprechend dem neuen Ausgang des Verfahrens an das Obergericht zurückzuweisen (
Art. 68 Abs. 5 BGG
). | 3,999 | 2,955 | 2 | 0 | CH_BGE_005 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_005_BGE-148-III-296_2022-01-12 | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=10&from_date=&to_date=&from_year=2022&to_year=2022&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=94&highlight_docid=atf%3A%2F%2F148-III-296%3Ade&number_of_ranks=103&azaclir=clir | BGE_148_III_296 |
||||
ee1ccba3-56b0-4869-bab5-461e53233ae0 | 1 | 84 | 1,329,642 | 915,148,800,000 | 1,999 | de | Sachverhalt
ab Seite 32
BGE 125 V 32 S. 32
A.-
S. (geb. 1958) erlitt am 15. November 1992 einen Verkehrsunfall. Die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), bei der er obligatorisch gegen Unfall und Berufskrankheit versichert
BGE 125 V 32 S. 33
war, erbrachte zunächst die gesetzlichen Leistungen. Mit Verfügung vom 28. Januar 1994 stellte sie die Taggeld- und Heilkostenleistungen auf den 13. Dezember 1993 bzw. auf Ende Januar 1994 ein. Zudem lehnte sie die Ausrichtung einer Invalidenrente ab. Dagegen sprach die SUVA dem Versicherten mit Verfügung vom 1. Februar 1994 eine Integritätsentschädigung von 15% zu.
Auf Einsprache hin hob die SUVA die Verfügungen insoweit auf, als weitere Versicherungsleistungen für die Folgen des bestehenden psychischen Beschwerdebildes abgelehnt worden waren, und übernahm die Kosten der psychotherapeutischen Behandlung des Versicherten. Für das Einspracheverfahren wurde die unentgeltliche Verbeiständung durch Rechtsanwalt P. gewährt (Entscheid vom 5. August 1994).
Am 8. Dezember 1994 liess S. beantragen, es seien ihm rückwirkend ab 13. Dezember 1993 und weiterhin volle Taggelder zu bezahlen, eventuell sei ihm eine volle Rente zuzusprechen, sowie Rechtsanwalt P. sei als unentgeltlicher Rechtsvertreter einzusetzen und zu entschädigen. Nachdem die Kreisagentur R. am 19. Dezember 1994 einen Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung verneint hatte, trat die Sektion Einsprachen der SUVA mit Verfügung vom 4. Januar 1995 auf ein gleich lautendes Gesuch nicht ein.
B.-
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 27. Mai 1997 unter Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung für das kantonale Verfahren ab.
C.-
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt S. beantragen, in Aufhebung des kantonalen Entscheides und der Verfügung vom 4. Januar 1995 sei die SUVA zu verpflichten, ihm die unentgeltliche Verbeiständung für die Zeit nach dem Einspracheentscheid vom 5. August 1994 bis zur Erledigung des Rentenverfahrens zu gewähren.
Die SUVA schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung lässt sich nicht vernehmen. | 470 | 344 | Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
a) Streitig und zu prüfen ist, ob der Beschwerdeführer für das an den Einspracheentscheid anschliessende Verwaltungsverfahren der Unfallversicherung Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung hat.
BGE 125 V 32 S. 34
b) Da es sich beim angefochtenen Entscheid nicht um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen handelt, hat das Eidg. Versicherungsgericht nur zu prüfen, ob der vorinstanzliche Richter Bundesrecht verletzt hat, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie
Art. 105 Abs. 2 OG
).
2.
Nach der Rechtsprechung besteht im Einspracheverfahren gemäss
Art. 105 Abs. 1 UVG
, welches wie das Anhörungsverfahren der Invalidenversicherung Elemente eines streitigen Verfahrens aufweist, ein unmittelbar aus
Art. 4 BV
fliessender Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung. Dabei ist bei der Prüfung der sachlichen Voraussetzungen (Bedürftigkeit, fehlende Aussichtslosigkeit, erhebliche Tragweite der Sache, Schwierigkeit der aufgeworfenen Fragen, mangelnde Rechtskenntnisse des Versicherten) ein strenger Massstab anzulegen. Hohe Anforderungen sind insbesondere an die Notwendigkeit der Verbeiständung zu stellen. Eine anwaltliche Mitwirkung drängt sich nur in Ausnahmefällen auf, wenn schwierige rechtliche oder tatsächliche Fragen dies als notwendig erscheinen lassen und eine Verbeiständung durch Verbandsvertreter, Fürsorger oder andere Fach- und Vertrauensleute sozialer Institutionen nicht in Betracht fällt (
BGE 117 V 408
Erw. 5a,
BGE 114 V 235
Erw. 5b).
Zusätzlich zu diesen engen sachlichen Voraussetzungen ist der Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung auch zeitlich begrenzt. Bei Eingang des Leistungsgesuches bzw. bei Beginn des Verwaltungsverfahrens ist in der Regel noch völlig ungewiss, welche Leistungen überhaupt in Betracht fallen. Es können somit in diesem Verfahrensstadium regelmässig noch keine Verfahrensaussichten festgestellt werden (
BGE 114 V 236
Erw. 5b). Beachtet werden diese zeitlichen Schranken, wenn der Anspruch frühestens ab Beginn des Einspracheverfahrens geltend gemacht wird (
BGE 117 V 410
Erw. 5b).
4.
a) Seit
BGE 112 Ia 14
anerkennt das Schweizerische Bundesgericht einen unmittelbar aus
Art. 4 BV
fliessenden Anspruch der bedürftigen Partei auf unentgeltliche Rechtspflege im Verfahren der Verwaltungsbeschwerde und Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Unter Hinweis auf
BGE 114 V 228
hat es diesen Rechtsschutz auf das nichtstreitige Verwaltungsverfahren
BGE 125 V 32 S. 35
ausgedehnt, zunächst auf das Verfahren um strafrechtliche Rückversetzung in den Massnahmenvollzug (
BGE 117 Ia 277
), sodann auf Verfahren des Zwangsvollstreckungsrechts wie das Konkursbegehren des Schuldners durch Insolvenzerklärung (
BGE 118 III 27
) oder jenes des vorschusspflichtigen Gläubigers (
BGE 118 III 33
). Gemäss
BGE 119 Ia 265
Erw. 3a und seither ständiger Rechtsprechung besteht der Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege unabhängig von der Rechtsnatur der Entscheidungsgrundlagen für jedes staatliche Verfahren, in welches der Gesuchsteller einbezogen wird oder dessen er zur Wahrung seiner Rechte bedarf (
BGE 123 I 146
Erw. 2b/aa;
BGE 122 I 271
Erw. 2a
;
121 I 62
Erw. 2a/bb, 315 Erw. 2b;
BGE 119 Ia 265
Erw. 3a, je mit Hinweisen). Unter dem Gesichtspunkt von
Art. 4 BV
ist das Armenrecht nicht von vornherein für bestimmte Verfahrensarten generell ausgeschlossen (
BGE 121 I 315
Erw. 2b; KÖLZ/HÄNER, Verwaltungsverfahren und Verwaltungsrechtspflege des Bundes, 2. Aufl., Zürich 1998, S. 134 Rz. 373; RHINOW/KOLLER/KISS, Öffentliches Prozessrecht und Justizverfassungsrecht des Bundes, Basel/Frankfurt am Main 1996, S. 54 N. 254; BÜHLER, Die neuere Rechtsprechung im Bereich der unentgeltlichen Rechtspflege, in: SJZ 94/1998 S. 226; KLEY-STRULLER, Der Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege: Die aktuelle Rechtsprechung des Bundesgerichts zu
Art. 4 Abs. 1 BV
und der Organe der Europäischen Menschenrechtskonvention zu
Art. 6 EMRK
, in: AJP 1995 S. 179 ff., insbesondere S. 186 f.; FORSTER, Der Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung in der neueren bundesgerichtlichen Rechtsprechung, in: ZBl 93/1992 S. 463 ff.; vgl. dagegen MEYER-BLASER, Die Bedeutung von
Art. 4 BV
für das Sozialversicherungsrecht, in: ZSR 111/1992, II. Halbband, S. 439 ff.).
b) Der verfassungsmässige Anspruch auf unentgeltliche anwaltliche Verbeiständung besteht jedoch nicht voraussetzungslos. Verlangt ist in jedem Falle Bedürftigkeit des Rechtsuchenden und Nichtaussichtslosigkeit des verfolgten Verfahrensziels. Entscheidend ist darüber hinaus die sachliche Gebotenheit der unentgeltlichen Rechtsverbeiständung im konkreten Fall (
BGE 119 Ia 265
Erw. 3b, 117 V 408 Erw. 5a, 114 V 235 Erw. 5 b). Es sind die Umstände des Einzelfalls, die Eigenheiten der anwendbaren Verfahrensvorschriften sowie die Besonderheiten des jeweiligen Verfahrens zu berücksichtigen. Dabei fallen neben der Komplexität der Rechtsfragen und der Unübersichtlichkeit des Sachverhalts auch in der Person des Betroffenen liegende Gründe in Betracht, wie etwa seine Fähigkeit, sich im Verfahren zurechtzufinden (SCHWANDER,
BGE 125 V 32 S. 36
Anmerkung zu
BGE 122 I 8
, in: AJP 1996 S. 495). Falls ein besonders starker Eingriff in die Rechtsstellung des Bedürftigen droht, ist die Verbeiständung grundsätzlich geboten, andernfalls bloss, wenn zur relativen Schwere des Falls besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten hinzukommen, denen der Gesuchsteller auf sich alleine gestellt nicht gewachsen ist (
BGE 119 Ia 265
Erw. 3b,
BGE 117 Ia 281
Erw. 5b; BÜHLER, a.a.O., S. 226).
Die sachliche Notwendigkeit wird nicht allein dadurch ausgeschlossen, dass das in Frage stehende Verfahren von der Offizialmaxime oder dem Untersuchungsgrundsatz beherrscht wird, die Behörde also gehalten ist, an der Ermittlung des rechtserheblichen Sachverhaltes mitzuwirken (
BGE 119 Ia 266
Erw. 3b,
BGE 117 Ia 281
Erw. 5b/bb; SCHWANDER, a.a.O., S. 495). Die Offizialmaxime rechtfertigt es jedoch, an die Voraussetzungen, unter denen eine Verbeiständung durch einen Rechtsanwalt sachlich geboten ist, einen strengen Massstab anzulegen (
BGE 122 I 10
Erw. 2c mit Hinweisen,
BGE 114 V 235
Erw. 5b).
c) Im Lichte der seit
BGE 114 V 228
und
BGE 117 V 408
ergangenen Rechtsprechung kann die Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung nicht entscheidend davon abhängen, ob ein Verfahren streitige Elemente aufweist (MOOR, Droit administratif, Bd. II, 1991, S. 195 f.). Der Anspruch lässt sich auch nicht unter Berücksichtigung der jeweils anwendbaren Verfahrensordnung generell zeitlich beschränken (KNAPP, Précis de droit administratif, 4. Aufl., S. 158 Nr. 721; KIESER, Unentgeltliche Rechtsverbeiständung und Parteientschädigung, in: Verfahrensfragen in der Sozialversicherung, St. Gallen 1996, S. 216 f.).
Aus dem Gesagten ergibt sich, dass ein aus
Art. 4 Abs. 1 BV
abgeleiteter Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung auch für das an den Einspracheentscheid anschliessende Verwaltungsverfahren der Unfallversicherung grundsätzlich zu bejahen ist. Die Kernfunktion der unentgeltlichen Verbeiständung verlangt, dem bedürftigen Gesuchsteller die zweckdienliche Wahrung seiner Ansprüche auch im Verwaltungsverfahren der Sozialversicherung unter den durch die Rechtsprechung geschaffenen, vorstehend umschriebenen Voraussetzungen zu ermöglichen. | 1,776 | 1,328 | 2 | 0 | CH_BGE_007 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_007_BGE-125-V-32_1999 | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=30&from_date=&to_date=&from_year=1999&to_year=1999&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=295&highlight_docid=atf%3A%2F%2F125-V-32%3Ade&number_of_ranks=295&azaclir=clir | BGE_125_V_32 |
|||
ee20ba16-d5d3-4964-92b1-becc534ea76b | 1 | 84 | 1,356,178 | 1,434,499,200,000 | 2,015 | de | Sachverhalt
ab Seite 447
BGE 141 V 446 S. 447
A.
A. erbrachte als freiberufliche Pflegefachfrau zwischen dem 8. und dem 13. März 2013 auf ärztliche Verordnung hin (Bedarfsmeldung vom 8./12. März 2013) bei B. Wochenbett- und Beratungsleistungen (5,75 Stunden Abklärung und Beratung, 35 Minuten Untersuchung und Behandlung). Am 12. März 2013 unterzeichnete B. eine Abtretungserklärung zu Gunsten von A. betreffend die "mir zustehenden Restfinanzierungsbeiträge der Gemeinde C.". Am 14. März 2013 ersuchte A. (in einem nicht aktenkundigen Schreiben) um Kostengutsprache für die Pflege-Restfinanzierung. Die Gemeinde C. als Wohnsitzgemeinde von B. erteilte A. daraufhin telefonisch die Auskunft, bei Mutterschaft werde der Restfinanzierungsbeitrag nicht übernommen und bekräftigte dies am 18. März 2013 schriftlich. Am 26. März 2013 stellte A. der Krankenversicherung von B. eine Rechnung "Pflege nach KLV 7" über Fr. 497.- (5,75 Stunden Abklärung und Beratung à Fr. 79.80/h; 35 Minuten Untersuchung und Beratung à Fr. 65.40/h). Vom gleichen Tag datiert auch eine Leistungsabrechnung, auf welcher unter der Rubrik "Gemeindebeitrag" Restkosten von Fr. 171.60 aufgeführt sind. Am 7. Mai 2013 teilte die Gemeinde C. A. mit, die geltend gemachten 5,75 Stunden Abklärung und Beratung entsprächen der Zeit für die Stillberatung bei einer gesunden Wöchnerin. Die Restfinanzierung einer solchen Leistung sei von den Gemeinden nicht zu übernehmen, weshalb das Gesuch abgewiesen werde. Hiegegen liess A. Einsprache erheben. Am 20. August 2013 wies der Gemeinderat C. die Einsprache ab.
B.
Die dagegen von A. erhobene Beschwerde wies das Kantonsgericht Luzern mit Entscheid vom 10. Juli 2014 ab.
C.
A. lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und unter Aufhebung des angefochtenen Entscheides beantragen, die Gemeinde C. sei zu verpflichten, ihr Restfinanzierungsbeiträge auszurichten.
Die Gemeinde C. verzichtet auf Vernehmlassung.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut. | 873 | 349 | Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Umstritten ist die Restfinanzierungspflicht der Beschwerdegegnerin für die von der Beschwerdeführerin im Rahmen einer
BGE 141 V 446 S. 448
(komplikationslosen) Mutterschaft im März 2013 erbrachten Leistungen. Der Auseinandersetzung liegt die Frage zu Grunde, ob die Pflegefinanzierung auch Wochenbettpflege umfasst. Massgebend ist die im März 2013 gültig gewesene Rechtslage (
BGE 140 V 41
E. 6.3.1 S. 44 f.).
2.1
Die Vorinstanz stellte fest, die Wochenbettpflegeleistungen der Beschwerdeführerin seien im Rahmen einer gesunden Mutterschaft erbracht worden. Sie erwog unter Berufung auf
BGE 126 V 111
E. 3 und 4 S. 113 ff., die entsprechenden Kosten seien nicht als Leistungen bei Krankheit zu qualifizieren und unterlägen folglich keiner Kostenbeteiligung der Versicherten. Daran ändere nichts, dass es sich bei der Beschwerdeführerin um eine Pflegefachperson und nicht um eine Hebamme handle. Gestützt auf
Art. 29 KVG
in Verbindung mit
Art. 64 Abs. 7 KVG
in der hier einschlägigen, bis Ende Februar 2014 gültig gewesenen Fassung, seien sämtliche Kosten vollumfänglich von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung zu tragen. Damit fehle es an ungedeckten Pflegekosten, weshalb sich eine Prüfung der Voraussetzungen für einen Restfinanzierungsanspruch erübrige.
2.2
Die Beschwerdeführerin rügt einen Verstoss gegen
Art. 25a KVG
. Sie habe als Pflegefachfrau auf ärztliche Anordnung hin Leistungen erbracht, welche zum einen viel mehr umfasst hätten als blosse Stillberatung und zum andern die Voraussetzungen von
Art. 7 der Verordnung des EDI vom 29. September 1995 über Leistungen in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (Krankenpflege-Leistungsverordnung, KLV; SR 832.112.31)
vollumfänglich erfüllten. Leistungen bei Mutterschaft seien denjenigen bei Krankheit gleichgestellt und gingen sogar darüber hinaus; für eine von den Krankheitskosten abweichende Finanzierungsordnung fänden sich keine Hinweise. aArt. 64 Abs. 7 KVG regle die von den Krankenkassen zu vergütende Taxe nicht, sondern verbiete den Kassen nur, eine Kostenbeteiligung zu erheben. Dies bedeute aber nicht, dass die Kasse sämtliche Kosten bei Mutterschaft vollumfänglich zu übernehmen habe; eine solche Lösung wäre mit
Art. 25a Abs. 5 KVG
unvereinbar. Auch gesetzessystematische Überlegungen sprächen für eine Beteiligung der Kantone bei der Finanzierung der Wochenbettpflege. So habe sich der Kanton gemäss
Art. 49a KVG
an den Kosten von komplikationslosen stationären oder in Geburtshäusern erfolgenden Geburten zu beteiligen, weshalb es systemfremd wäre, wenn dies bei ambulanter Wochenbettpflege nicht gälte. Ziel des
BGE 141 V 446 S. 449
Gesetzgebers sei es, die Versicherten bei Mutterschaft möglichst von Belastungen zu befreien. Eine fehlende Restfinanzierung der öffentlichen Hand würde zur Einführung einer Kostenbeteiligung oder dazu führen, dass Wochenbettpflegeleistungen nicht mehr kostendeckend respektive gewinnbringend angeboten werden könnten, was eine deutliche Schlechterstellung von Müttern bewirkte, die einen Teil des Wochenbettes zu Hause absolvierten. Schliesslich würden für Hebammenleistungen offenbar Restfinanzierungsbeiträge ausgerichtet, was Pflegefachpersonen diskriminiere.
3.
3.1
Das Gesetz unterscheidet zwischen Krankheit (
Art. 3 ATSG
[SR830.1])und Mutterschaft (
Art. 5 ATSG
;
Art. 1a Abs. 2 lit. a und c KVG
). Die obligatorische Krankenpflegeversicherung übernimmt bei einer Mutterschaft die Kosten für die gleichen Leistungen wie bei Krankheit und zusätzlich die Kosten der besonderen Mutterschaftsleistungen (
Art. 29 KVG
) sowie - unter dem Titel "Allgemeine Leistungen bei Krankheit" - die Kosten für den Aufenthalt bei Entbindung in einem Geburtshaus (Art. 25 Abs. 2 lit. f
bis
KVG). Nach
Art. 29 Abs. 2 KVG
umfassen die spezifischen Leistungen bei Mutterschaft namentlich die von Ärzten und Ärztinnen oder von Hebammen durchgeführten oder ärztlich angeordneten Kontrolluntersuchungen während und nach der Schwangerschaft (lit. a), die Entbindung zu Hause, in einem Spital oder einer Einrichtung der teilstationären Krankenpflege sowie die Geburtshilfe durch Ärzte und Ärztinnen oder Hebammen (lit. b) und die notwendige Stillberatung (lit. c). Die besonderen Mutterschaftsleistungen werden in
Art. 13-16 KLV
, gestützt auf die Delegation in
Art. 29 Abs. 2 lit. a und c KVG
und
Art. 33 lit. d KVV
(SR 832.102), näher präzisiert.
3.2
Das Bundesgericht differenzierte in Anwendung des bis Ende Februar 2014 gültig gewesenen
Art. 64 Abs. 7 KVG
zwischen Behandlungskosten für Schwangerschaftskomplikationen und Kosten einer normal verlaufenden Schwangerschaft. Nur die erstgenannten qualifizierte es als Krankheitskosten, die einer Kostenbeteiligungspflicht der Versicherten unterlagen (
BGE 127 V 268
). Seit dem 1. März 2014 sind sämtliche Leistungen nach den
Art. 25 und 25a KVG
, die ab der 13. Schwangerschaftswoche, während der Niederkunft und bis acht Wochen nach der Niederkunft erbracht werden, gegenüber dem Versicherer von der Kostenbeteiligung befreit (
Art. 64 Abs. 7 KVG
in der aktuellen Fassung;
Art. 104 Abs. 2 lit. c und
Art. 105 KVV
). Diese Gesetzesänderung spielt hier insofern keine Rolle, als die streitigen Leistungen im Rahmen einer
BGE 141 V 446 S. 450
komplikationslosen Mutterschaft erbracht wurden, und somit bereits bisher nicht als der Kostenbeteiligung unterliegende Krankheitsbehandlung galten (auch dann nicht, wenn sie von einer Hebamme erbracht worden waren;
BGE 126 V 111
E. 3 und 4 S. 113 ff. [betreffend ambulante, durch eine Hebamme erbrachte Wochenbettpflegeleistungen bis zehn Tage nach der Geburt]; vgl.
Art. 16 Abs. 3 KLV
).
4.
4.1
Zugelassene freiberufliche Pflegefachleute (
Art. 49 KVV
) können im Rahmen der Wochenbettpflege grundsätzlich (vgl. für die Stillberatung
Art. 15 Abs. 1 KLV
) sowohl besondere Leistungen bei Mutterschaft wie auch allgemeine Pflegeleistungen erbringen. Fraglich ist, ob diese Leistungen, die bei Krankheit ohne weiteres der Restkostenfinanzierungspflicht gemäss
Art. 25a Abs. 5 KVG
unterliegen, auch dann von der öffentlichen Hand (Kanton oder Gemeinden) mitzufinanzieren sind, wenn sie am Wochenbett erbracht werden.
4.2
Die Beschwerdegegnerin führte in ihrem Schreiben vom 7. Mai 2013 aus, das die Restfinanzierung regelnde Gesetz des Kantons Luzern vom 13. September 2010 über die Finanzierung der Pflegeleistungen der Krankenversicherung (Pflegefinanzierungsgesetz; SRL 867) beziehe sich nur auf Pflegeleistungen gemäss
Art. 7 KLV
, nicht auf Leistungen bei Mutterschaft im Sinne von
Art. 29 KVG
, zu welchen auch die zu Hause erbrachten Wochenbettpflegeleistungen gehörten. Für diese hätten die Gemeinden keine Restfinanzierungskosten zu übernehmen. Das kantonale Gericht ging ebenfalls davon aus, die von der Beschwerdeführerin erbrachten fünf Wochenbettpflegeeinsätze (über deren Einzelheiten sich den Akten nichts entnehmen lässt, die aber nach den letztinstanzlich verbindlichen Feststellungen des kantonalen Gerichts mehr umfassten als blosse Stillberatung) seien keine Leistungen für Krankheitsbehandlung, sondern besondere Leistungen bei Mutterschaft. Demgegenüber macht die Beschwerdeführerin geltend, ihre Leistungen seien deutlich über die Stillberatung hinausgegangen und somit als von einer Pflegefachfrau erbrachte Leistungen nach
Art. 7 KLV
zu qualifizieren.
5.
5.1
Die Neuordnung der Pflegefinanzierung löste per 1. Januar 2011 das im Jahr 1998 als zeitlich befristete Massnahme eingeführte System mit Rahmentarifen auf Verordnungsebene ab (vgl. Botschaft vom 16. Februar 2005 zum Bundesgesetz über die Neuordnung der
BGE 141 V 446 S. 451
Pflegefinanzierung, BBl 2005 2033 ff., 2034, Übersicht). In Anwendung der Rahmentarife erreichten die Leistungen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung keinen ausreichenden Kostendeckungsgrad; schätzungsweise betrug er 55-60 % (Votum Ständerätin Forster-Vanini, AB 2006 S 642). Mit der Neuordnung, welche nach dem Willen des Gesetzgebers unter Wahrung der Kostenneutralität für die Krankenversicherer eingeführt werden sollte, bezweckte der Gesetzgeber eine Umverteilung der Kostentragung, um die namentlich aus demographischen Gründen zunehmende Belastung der obligatorischen Krankenpflegeversicherung im Bereich altersbedingter Pflegeleistungen zu begrenzen. Die neue Finanzierungsordnung gilt indes altersunabhängig für alle pflegebedürftigen grundversicherten Personen (GEBHARD EUGSTER, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum KVG, 2010, N. 1 zu
Art. 25a KVG
; vgl. auch Votum Ständerätin Fetz, AB 2006 S 644). Im Einzelnen leistet die obligatorische Krankenpflegeversicherung (OKP) einen Beitrag an die Pflegeleistungen, welche aufgrund einer ärztlichen Anordnung und eines ausgewiesenen Pflegebedarfs u.a. ambulant erbracht werden (
Art. 25a Abs. 1 KVG
). Darüber hinaus haben sich sowohl die Versicherten als auch die öffentliche Hand an den Pflegekosten zu beteiligen. Die Modalitäten der Restfinanzierung der Pflegekosten regeln die Kantone (
Art. 25a Abs. 5 Satz 2 KVG
), wobei diese kantonale Zuständigkeit nichts daran ändert, dass der grundsätzliche Anspruch auf Übernahme der ungedeckten Pflegekosten durch die öffentliche Hand (Kanton oder Gemeinden) bundesrechtlicher Natur ist (
BGE 140 V 58
E. 4.1 S. 62). Ebenfalls allein Sache der Bundesgesetzgebung ist die abschliessende Normierung der Leistungen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (
Art. 24 KVG
).
5.2
Die Neuordnung der Pflegefinanzierung stellt den bis Ende 2010 gültig gewesenen Leistungsumfang nicht in Frage, sondern regelt im dargelegten Sinn (vorangehende E. 5.1) die Aufteilung der Pflegekosten auf verschiedene Kostenträger. Unverändert blieb insbesondere der Begriff der Pflegeleistungen (
Art. 25a Abs. 3 KVG
; EUGSTER, a.a.O., N. 7 zu Art. 25a). Der Bundesrat übertrug (unter anderem) die Bezeichnung des in
Art. 25a Abs. 1 und 4 KVG
vorgesehenen Beitrags der Kassen an die von anerkannten Pflegefachpersonen erbrachten Pflegeleistungen in
Art. 33 lit. i KVV
dem Eidgenössischen Departement des Innern (EDI). Dieses legte die von der sozialen Krankenpflegeversicherung zu übernehmenden Leistungen in
Art. 7 KLV
und deren Kostenbeiträge für die von Pflegefachleuten
BGE 141 V 446 S. 452
erbrachten Leistungen in
Art. 7a Abs. 1 KLV
fest. Die Ansätze der von den Kassen zu übernehmenden Beiträge belaufen sich auf Fr. 79.80/h für Massnahmen der Abklärung, Beratung und Koordination und auf Fr. 65.40/h für Massnahmen der Untersuchung und Behandlung (Abs. 1 lit. a und b). Für Leistungen bei Mutterschaft enthält die Verordnung keinen speziellen Tarif, weshalb in der Praxis die freiberuflichen Pflegefachleute, soweit ersichtlich und auch im konkreten Fall, die in der Wochenbettpflege erbrachten Leistungen ebenfalls nach
Art. 7a KLV
abrechnen.
6.
Entgegen der Annahme des kantonalen Gerichts kann aus der fehlenden Kostenbeteiligungspflicht der Versicherten bei Mutterschaft gemäss
Art. 64 Abs. 7 KVG
in der bis Ende Februar 2014 gültig gewesenen sowie in der aktuellen Fassung jedenfalls nicht ohne weiteres geschlossen werden, es resultierten keine ungedeckten Kosten. Diese Kostenbefreiung privilegiert ausschliesslich die versicherten Mütter. Demgegenüber richten sich die von den Versicherungen zu vergütenden Beiträge nach den in
Art. 7a Abs. 1 KLV
festgelegten Ansätzen, die - wie dargelegt - auch für die Abrechnung von Wochenbettpflegeleistungen der Pflegefachleute angewendet werden (vorangehende E. 5.2). Es trifft somit nicht zu, wie die Vorinstanz annimmt, dass die fehlende Kostenbeteiligung der Mütter automatisch zu einer "vollumfänglichen" Leistungspflicht der Kassen führt, umso weniger als die neue Pflegefinanzierung für die Kassen keine Mehrkosten nach sich ziehen sollte (E. 5.1 hievor). Wie die Berechnung der Beschwerdeführerin zeigt, vermögen die Beiträge gemäss
Art. 7a Abs. 1 lit. a und b KLV
- unabhängig davon, ob eine Kostenbeteiligung nach Art. 25a Abs. 5 Satz 1 berücksichtigt wird oder nicht - ihre Vollkosten nicht zu decken. Bei einem unangefochten gebliebenen Stundenansatz von Fr. 120.-/h für Abklärung und Beratung und von Fr. 100.-/h für Untersuchung und Behandlung bezifferte sie ihren Anspruch auf gesamthaft Fr. 748.35 (für 5,75 Stunden Abklärung und Beratung sowie 35 Minuten Untersuchung und Behandlung). Abzüglich des Kassenbeitrages gemäss den Ansätzen von
Art. 7a Abs. 1 lit. a und b KLV
in Höhe von Fr. 497.- (bestehend aus Fr. 458.85 für 5,75 Stunden Abklärung und Beratung sowie Fr. 38.15 für 35 Minuten Untersuchung und Behandlung) resultierte eine Restsumme von Fr. 251.35. Hievon brachte die Beschwerdeführerin den "Beitrag der vers. Person" von (maximal) Fr. 15.95 pro Tag, total Fr. 79.75, in Abzug. Es verblieben ungedeckte Kosten von Fr. 171.60.
BGE 141 V 446 S. 453
7.
Die damit zu klärende Frage, ob die Leistungen der ambulanten Wochenbettpflege einer anerkannten Pflegefachperson von der Restfinanzierungspflicht der Kantone und Gemeinden umfasst sind, beantwortet das Gesetz nicht eindeutig. Sie bereitet auch deshalb Schwierigkeiten, weil nach der gesetzlichen Konzeption Krankheit und Mutterschaft zu unterscheiden sind (vorangehende E. 3.1).
7.1
Der Gesetzgeber setzte sich zuletzt im Rahmen der Neufassung des seit 1. März 2014 gültigen
Art. 64 Abs. 7 KVG
mit der Abgrenzung von Krankheits- und eigentlichen Mutterschaftsleistungen auseinander. Dabei erachtete er eine Differenzierung zwischen Schwangerschaftskomplikationen im eigentlichen Sinn und anderen Leistungen im Rahmen der Mutterschaft mit Blick auf den engen Zusammenhang als "nicht praktikabel und problematisch" (z.B. Votum Nationalrätin Gilli, AB 2013 N 740; Bericht vom 11. Februar 2013 der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Ständerates [SGKS] zur Parlamentarischen Initiative Kostenbeteiligung bei Mutterschaft. Gleichbehandlung [BBl 2013 2459 ff., 2460]). Auch um diesbezügliche Abgrenzungsfragen zu vermeiden, wurden nebst den "Leistungen nach Art. 29 Abs. 2" (lit. a) nunmehr auch "Leistungen nach den Artikeln 25 und 25a" (lit. b) von der Kostenbeteiligungspflicht gegenüber den Versicherern ausgenommen.
7.2
Die gleichen - unpraktikablen - Abgrenzungen wären indes auch mit Bezug auf den Umfang der kantonalen Restfinanzierungspflicht vorzunehmen, wollte man (wie dies im Kanton Luzern offenbar der Praxis entspricht) Leistungen bei Mutterschaft, anders als allgemeine Pflegeleistungen, von der Restfinanzierungspflicht der öffentlichen Hand ausklammern. Es wäre aber nicht nur gleichermassen unpraktikabel, sondern darüber hinaus auch widersprüchlich, im Rahmen der Finanzierungsordnung eine Abgrenzung zu verlangen und vorzunehmen, welche sich bei der Befreiung von der Kostenbeteiligung als nicht durchführbar erwies. Dass die Neufassung von
Art. 64 Abs. 7 KVG
erst am 1. März 2014 in Kraft getreten ist, während die streitigen Leistungen bereits im März 2013 erbracht worden waren, bleibt für die grundsätzliche Abgrenzungsproblematik ohne Belang.
7.3
Darüber hinaus zählen nach dem klaren Gesetzeswortlaut Leistungen während des Aufenthaltes bei Entbindung in einem Geburtshaus ohne weiteres zu den allgemeinen Leistungen bei Krankheit (Art. 25 Abs. 2 lit. f
bis
KVG; E. 3.1 hievor). Offensichtlich ging der
BGE 141 V 446 S. 454
Gesetzgeber vorbehaltlos davon aus, die in diesem Rahmen erbrachten (stationären) Wochenbettleistungen seien nicht anders zu behandeln als die allgemeinen Kosten, die bei der Diagnose oder Behandlung einer Krankheit und ihrer Folgen anfallen (
Art. 25 Abs. 1 KVG
). Es ist nicht ersichtlich, weshalb es dem gesetzgeberischen Willen hätte entsprechen sollen, die Wochenbettpflege durch anerkannte Pflegefachleute zwar nicht hinsichtlich der Leistungspflicht der Sozialversicherung (
Art. 25 KVG
), wohl aber mit Blick auf die Restfinanzierung der Kantone (
Art. 25a Abs. 5 KVG
) gesondert zu behandeln und sie von Letzterer ausnehmen zu wollen (vgl. auch nachfolgende E. 7.4). Wenn die Mutterschaftsleistungen bei der Neuordnung der Pflegefinanzierung nicht explizit der Restfinanzierung der Kantone unterstellt wurden, ist dies am ehesten darauf zurückzuführen, dass im Gesetzgebungsprozess die demographische Entwicklung, der daraus resultierende steigende Pflegebedarf und die schwierige Situation der hauptbetroffenen älteren Menschen im Fokus standen (ohne dass die Neuordnung auf die älteren Versicherten beschränkt wäre; E. 5.1 hievor).
7.4
Zu beachten gilt es darüber hinaus Folgendes: Wären die Pflegeleistungen, welche nicht bei Krankheit, sondern im Wochenbett durch als Leistungserbringer anerkannte Pflegefachleute erbracht werden, von der Restfinanzierungspflicht der öffentlichen Hand ausgenommen, hätte dies zur Folge, dass jedenfalls in Kantonen, welche die Kostenbeteiligung der Versicherten nicht zu den ungedeckten Pflegekosten rechnen (wobei auf die diesbezügliche, kantonal unterschiedlich geregelte Praxis hier nicht näher einzugehen ist), lediglich der Beitrag der Sozialversicherung entschädigt würde, der in aller Regel nicht kostendeckend sein dürfte (vgl. vorangehende E. 5). Eine solche Praxis widerspräche klar den Intentionen des Gesetzgebers. Eine nicht kostendeckende Entschädigung der freiberuflichen Pflegefachleute würde einem Versorgungsengpass in der ambulanten Wochenbettbetreuung Vorschub leisten und damit die gesetzgeberisch verfolgte (allgemeine) Strategie "ambulant vor stationär" gefährden. Sodann entspricht es einem - unlängst mit der Neufassung von
Art. 64 Abs. 7 KVG
erneut bekräftigten - gesetzgeberischen Ziel, Leistungen bei Mutterschaft aus gesellschafts- und sozialpolitischen Gründen auszubauen (vgl. z.B. den in E. 7.1 hievor zitierten Bericht der SGKS [BBl, a.a.O., 2464 Ziff. 4.1]). Die zu befürchtende Abwanderung qualifizierter freiberuflicher Pflegefachleute aus der ambulanten Wochenbettpflege bei einer Unterbezahlung führte aber zu einer entsprechend schlechteren Versorgungslage der
BGE 141 V 446 S. 455
Mütter, was umso problematischer ist, als sich in den letzten Jahren generell eine Leistungsverlagerung in den ambulanten Bereich der medizinischen Versorgung abzeichnet.
7.5
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Wochenbettpflegeleistungen der Beschwerdeführerin der Restfinanzierungspflicht gemäss
Art. 25a Abs. 5 KVG
unterliegen. Die Beschwerdegegnerin hat somit für die entsprechenden ungedeckten Kosten aufzukommen (
Art. 25a Abs. 5 KVG
). Die Beschwerde ist gutzuheissen und der angefochtene Entscheid aufzuheben. Die Sache ist an das kantonale Gericht zurückzuweisen, damit es über die Höhe des offenen Restbetrages befinde. | 7,896 | 3,170 | 2 | 0 | CH_BGE_007 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_007_BGE-141-V-446_2015-06-17 | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=16&from_date=&to_date=&from_year=2015&to_year=2015&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=152&highlight_docid=atf%3A%2F%2F141-V-446%3Ade&number_of_ranks=280&azaclir=clir | BGE_141_V_446 |
|||
ee25b9e8-4461-43b6-96a2-2e2c71b41d8f | 1 | 81 | 1,340,836 | 820,454,400,000 | 1,996 | de | Sachverhalt
ab Seite 300
BGE 122 II 299 S. 300
Der nach eigenen Angaben aus dem Libanon stammende Palästinenser X. (geb. 3. September 1978) reiste anfangs Juli 1995 illegal in die Schweiz ein. Am 20. November 1995 wies das Bundesamt für Flüchtlinge ein von ihm eingereichtes Asylgesuch ab, verfügte seine Wegweisung und forderte ihn auf, das Land bis zum 31. Januar 1996 zu verlassen. Auf Beschwerde hin
BGE 122 II 299 S. 301
bestätigte die Schweizerische Asylrekurskommission am 18. Januar 1996 den Wegweisungsentscheid.
Während der Dauer der verschiedenen Verfahren wurde X. wiederholt im Zusammenhang mit Ladendiebstählen (Deliktsumme von insgesamt rund Fr. 2'500.--) angehalten bzw. bestraft. Anfangs Februar 1996 verschwand er aus dem Durchgangsheim, in dem er sich bisher aufgehalten hatte. Am 26. April 1996 wurde er von der Kantonspolizei Zürich festgenommen, worauf ihn die Fremdenpolizei des Kantons Zürich am nächsten Tag in Ausschaffungshaft setzte, die der Haftrichter am Bezirksgericht Zürich (im weitern: Haftrichter) am 29. April 1996 prüfte und bis zum 26. Juli 1996 bestätigte.
Mit Urteil vom 24. Juni 1996 hiess das Bundesgericht eine hiergegen eingereichte Verwaltungsgerichtsbeschwerde teilweise gut, hob den angefochtenen Entscheid auf und wies die Sache an die Vorinstanz zurück: Die Zürcher Behörden hätten X. keine Möglichkeit gegeben, seinen Rechtsvertreter zu kontaktieren, weshalb er vor dem Haftrichter nicht vertreten gewesen sei, was seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt habe. Da er den Haftgrund der Untertauchensgefahr aber offensichtlich erfülle, von ihm eine gewisse Gefahr für die öffentliche Ordnung ausgehe und die weiteren Voraussetzungen der Haftanordnung nicht in Frage gestellt seien, rechtfertige sich die sofortige Haftentlassung nicht. Der Haftrichter habe innerhalb von 96 Stunden ab Zustellung des vollständig motivierten bundesgerichtlichen Urteils die Verhandlung zu wiederholen, dem Vertreter des Beschwerdeführers die Teilnahme daran zu ermöglichen und hernach neu über die Genehmigung der Ausschaffungshaft zu entscheiden.
Dieser Aufforderung kam der Haftrichter am 28. Juni 1996 nach. Im Ergebnis bestätigte er die Ausschaffungshaft erneut bis zum 26. Juli 1996.
Gegen diesen Entscheid hat X. am 19. Juli 1996 beim Bundesgericht wiederum Verwaltungsgerichtsbeschwerde eingereicht. Er beantragt, die angefochtene Verfügung aufzuheben und ihn unverzüglich aus der Haft zu entlassen. Zur Begründung beruft er sich im wesentlichen darauf, die Haftbedingungen im Flughafengefängnis 1 Zürich-Kloten, in welchem er einsitze, entsprächen nicht den menschenrechtlichen, verfassungsmässigen und gesetzlichen Anforderungen an die Ausgestaltung von Ausschaffungshaft.
Die Fremdenpolizei des Kantons Zürich beantragt in erster Linie, die Beschwerde abzuweisen; sollten einzelne Aspekte des Vollzugs der
BGE 122 II 299 S. 302
Ausschaffungshaft den massgeblichen Bestimmungen widersprechen, sei dem Kanton Zürich, unter Androhung der Haftentlassung des Beschwerdeführers, eine angemessene Frist zu deren Korrektur anzusetzen. Der Haftrichter und das Bundesamt für Ausländerfragen (für das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement) haben auf eine Vernehmlassung verzichtet.
X. hat am 29. Juli 1996 an seinen Ausführungen festgehalten.
Am 12. August 1996 führte eine Delegation des Bundesgerichts zusammen mit den Parteien eine Instruktionsverhandlung mit Augenschein im Flughafengefängnis 1 in Zürich-Kloten durch. | 1,430 | 557 | Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
a) Nach
Art. 13d Abs. 2 ANAG
ist die ausländerrechtliche Administrativhaft in geeigneten Räumlichkeiten zu vollziehen, wobei die Zusammenlegung mit Personen in Untersuchungshaft oder im Strafvollzug vermieden werden soll. Soweit möglich, ist den Inhaftierten zudem geeignete Beschäftigung anzubieten (Art. 13d Abs. 2 dritter Satz ANAG). Das Bundesgericht hat diese bundesrechtlichen Anforderungen an den Haftvollzug gestützt auf die Ausführungen in der Botschaft des Bundesrats (BBl 1994 I 305ff.), die parlamentarischen Beratungen, die Rechtsprechung bezüglich der Grundrechtsbeschränkungen anderer Häftlingskategorien sowie die europäischen und internationalen Mindestgrundsätze für die Behandlung von Gefangenen in mehreren Entscheiden inzwischen konkretisiert (
BGE 122 II 49
E. 5a S. 52 ff.; Urteil Messaoudi vom 23. August 1995, veröffentlicht in EuGRZ 1995, S. 609 ff.; Urteil vom 12. Juli 1996 betreffend Änderungen verschiedener Bestimmungen der Zürcher Verordnung vom 25. Juni 1975 über die kantonalen Polizeigefängnisse).
Im wesentlichen geht es darum, eine menschenwürdige Unterbringung zu garantieren. Allerdings bringt Ausschaffungshaft als Zwangsmassnahme unausweichlich Einschränkungen der persönlichen Freiheit und allenfalls weiterer Grundrechte mit sich. Diese beruhen - aufgrund der Regelung der Zwangsmassnahmen in einem Bundesgesetz - klarerweise auf einer gesetzlichen Grundlage, sind aber nur zulässig, soweit sie sich aus dem Haftzweck ergeben und als verhältnismässig erweisen. Die bundesgerichtliche Rechtsprechung definiert lediglich den Mindeststandard, der - in der Regel bezogen auf den konkret zu entscheidenden Fall - einzuhalten ist. Das schliesst eine grosszügigere Behandlung nicht aus, wo dies von den äusseren
BGE 122 II 299 S. 303
Gegebenheiten her möglich ist; so könnte ausländerrechtliche Administrativhaft zum Beispiel auch in andern Lokalitäten als Gefängnissen vollzogen werden (vgl. BBl 1994 I 326), soweit sich das von den konkreten Umständen her als angemessen erwiese.
b) Die Beschränkung der Freiheitsrechte von Gefangenen darf nicht über das hinausgehen, was zur Gewährleistung des Haftzwecks und zur Aufrechterhaltung eines ordnungsgemässen Anstaltsbetriebs erforderlich ist (
BGE 118 Ia 64
E. 2d S. 73;
BGE 113 Ia 325
E. 4 S. 328; je mit Hinweisen). Bei der ausländerrechtlichen Haft geht es einzig um die Sicherung des Wegweisungsverfahrens und den Vollzug des entsprechenden Entscheids (Urteil Messaoudi vom 23. August 1995, E. 2a, veröffentlicht in EuGRZ 1995, S. 610). Sie bezweckt in erster Linie, den Ausländer bis zum Verlassen des Landes festzuhalten und damit sicherzustellen, dass er sich den Behörden zur Verfügung hält. Wie sich insbesondere aus dem Haftgrund der Untertauchensgefahr (
Art. 13b Abs. 1 lit. c ANAG
) ergibt, kann bei Ausschaffungshäftlingen Fluchtgefahr vorliegen. Verhältnismässige Vorkehren zur Verringerung des Fluchtrisikos sind daher in solchen Fällen zulässig. Bei gefährlichen Häftlingen darf sodann auch dem Sicherheitsrisiko mit adäquaten Massnahmen begegnet werden (vgl. dazu PETER UEBERSAX, Menschenrechtlicher Schutz bei fremdenpolizeilichen Einsperrungen, in: recht 1995, S. 56; Andreas Zünd, Rechtsprechung des Bundesgerichts zu den Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht, in ZBJV 132/1996, S. 90 ff.). Diese Vorkehren können weitergehen, je konkreter das Flucht- bzw. Sicherheitsrisiko im Einzelfall ist, d.h. je konkretere Anhaltspunkte für die Notwendigkeit von Gegenmassnahmen bestehen. Unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit kann sodann die Dauer der Haft entscheidend sein. Je länger eine solche dauert, desto weniger einschneidend haben - dem Grundsatz nach - die Freiheitsbeschränkungen auszufallen; bei lediglich kurzer Haft können hingegen weitergehende Restriktionen zulässig sein.
c) Anders als bei Untersuchungshäftlingen macht der Haftzweck bei Ausschaffungsgefangenen selber regelmässig keine Beschränkungen des Kontakts mit der Aussenwelt oder mit andern ausländerrechtlich Inhaftierten nötig. Einschränkungen können sich, soweit sie über den mit der Haft - von der Sache selber her - notwendigerweise verbundenen Sicherungsaspekt hinausgehen, nur aus den Erfordernissen des Anstaltsbetriebs oder aus konkreten Gefährdungselementen ergeben (obgenanntes Urteil vom 12. Juli
BGE 122 II 299 S. 304
1996; vgl. auch UEBERSAX, a.a.O., S. 56; ZÜND, a.a.O., S. 90 ff.; AJP 1995, S. 1347 ff.).
Der besonderen Situation der ausländerrechtlichen Administrativhäftlinge wird am besten in spezifisch auf die Bedürfnisse dieser Haft eingerichteten Gebäulichkeiten Rechnung getragen; ihr Vollzug in anderen Anstalten ist jedoch nicht ausgeschlossen. In diesem Fall genügt eine zellenweise Trennung von anderen Häftlingskategorien den gesetzlichen Anforderungen nicht, wohl aber die Unterbringung in von anderen Häftlingen getrennten Abteilungen derselben Anstalt, wenn die getroffene Lösung dem Zweck der getrennten Unterbringung Rechnung trägt und ein abweichendes freieres Haftregime (Gemeinschaftsräumlichkeiten, Besuchsausübung, Freizeitaktivitäten) zulässt (
BGE 122 II 49
E. 5a S. 53; unveröffentlichte Urteile vom 11. Dezember 1995 i.S. M., E. 2 u. 3, vom 27. Februar 1996 i.S. A.S., E. 3, und vom 18. April 1996 i.S. A.S., E. 4). Die Trennung von Ausländern in Vorbereitungs- und Ausschaffungshaft von andern Häftlingen soll auch äusserlich zeigen, dass die Haft nicht wegen des Verdachts einer Straftat angeordnet wurde, sondern einen administrativen Hintergrund hat (
BGE 122 II 49
E. 5a S. 53). Gewisse unvermeidliche Überschneidungen bei der Benützung der Infrastruktur müssen sich auf ein Minimum beschränken. Unbedenklich ist die zeitlich verschobene Benützung der gleichen Räumlichkeiten (z.B. beim Spaziergang) durch verschiedene Häftlingskategorien. Bauliche, organisatorische und personelle Gegebenheiten sind trotz den sich allenfalls aus den Erfordernissen des Anstaltsbetriebs oder aus Sicherheitsgründen ergebenden Sachzwängen anzupassen, soweit dies die verfassungsrechtlichen Minimalforderungen an den Vollzug ausländerrechtlicher Haft gebieten (Urteil Messaoudi vom 23. August 1995, E. 2a, veröffentlicht in EuGRZ 1995, S. 610; erwähntes Urteil des Bundesgerichts vom 12. Juli 1996; ZÜND, a.a.O., S. 90 ff.).
Dem Häftling muss nebst einer geeigneten Unterbringung auf jeden Fall täglich ein einstündiger Spaziergang im Freien ermöglicht werden, ohne dass er dabei mit Untersuchungshäftlingen in Kontakt kommt (
BGE 122 II 49
E. 5a S. 53; obgenanntes Urteil vom 12. Juli 1996). Zudem ist ihm "soweit möglich", d.h. im Rahmen der den Behörden zur Verfügung stehenden Beschäftigungsmöglichkeiten, eine geeignete Tätigkeit anzubieten, wenn er sich um diese aktiv bemüht (unveröffentlichtes Urteil vom 18. April 1996 i.S. A.S., E. 4c); lediglich bei kurzer Haftdauer kann allenfalls hiervon abgesehen werden (BBl 1994 I 326f.; unveröffentlichtes Urteil vom 27.
BGE 122 II 299 S. 305
Februar 1996 i.S. A.S., E. 3b). Nur soweit die bundesrechtlichen Minimalanforderungen erfüllt sind, gesteht das Bundesgericht den Kantonen eine gewisse Frist zur Verwirklichung der übrigen Besonderheiten bezüglich der Haftbedingungen für ausländerrechtliche Einsperrungen zu (
BGE 122 II 49
E. 5 b/cc S. 55 mit Hinweis).
d) Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist die Frage, ob der Beschwerdeführer zu Recht in Haft genommen worden ist; gemäss
Art. 13c Abs. 3 ANAG
sind bei der Überprüfung des Haftentscheids unter anderem die Umstände des Haftvollzugs zu berücksichtigen. Dabei geht es um eine Gesamtschau; es ist zu prüfen, ob die Haftbedingungen zumutbar sind und sich die Anordnung der Ausschaffungshaft auch insofern als rechtmässig erweist. Grundsätzlich sind daher im Haftprüfungsverfahren nicht sämtliche Details des Vollzugs zu hinterfragen; entsprechende Mängel liessen sich jederzeit unabhängig von der Haftprüfung im dafür vorgesehenen Verwaltungsbeschwerde- oder allenfalls Aufsichtsverfahren rügen. Vielmehr geht es um die hauptsächlichen Haftbedingungen, welche die Zumutbarkeit der Haft als solcher beeinflussen können. Vorliegend rechtfertigt es sich immerhin ausnahmsweise, auch auf weniger wichtige Umstände des Haftvollzugs einzugehen oder allgemeinere Erwägungen, denen im vorliegenden Fall kaum Bedeutung zukommt, in die Begründung einfliessen zu lassen, da das Bundesgericht sich zum ersten Mal in einem konkreten Fall mit diesen grundsätzlichen Zusammenhängen zu befassen hat.
4.
a) Der Beschwerdeführer ist in einem Trakt des Flughafengefängnisses 1 untergebracht. Dieses ist grundsätzlich als Anstalt für Untersuchungshaft und für den Strafvollzug konzipiert und erstellt worden. Anwendung findet die zürcherische Verordnung über die Bezirksgefängnisse vom 24. April 1991 (Bezirksgefängnisverordnung). Gemäss § 3 Abs. 3 dieser Verordnung können mit Zustimmung der Justizdirektion administrativ festgenommene Personen bis zu ihrer Überführung in eine Anstalt in Bezirksgefängnissen untergebracht werden. Im Hinblick darauf, dass ein Teil des Flughafengefängnisses 1 auch für die Ausschaffungshaft verwendet wird, erliessen die Direktionen der Justiz und der Polizei des Kantons Zürich am 3. Mai 1995 ein Kreisschreiben über den Vollzug von Vorbereitungs- und Ausschaffungshaft. Darin ist festgehalten, dass sich die Haftbedingungen grundsätzlich nach den für den betreffenden Betrieb gültigen Vorschriften richten, wobei jedoch innerhalb deren Rahmen so weit wie möglich den besonderen Anforderungen an den
BGE 122 II 299 S. 306
Vollzug der Vorbereitungs- und Ausschaffungshaft Rechnung getragen werden kann. Gestützt auf § 20 der Bezirksgefängnisverordnung wurde für das Flughafengefängnis eine Hausordnung erlassen.
Nach dem erwähnten Kreisschreiben vom 3. Mai 1995 ist den Ausschaffungshäftlingen Gelegenheit zur Arbeit zu geben, soweit dies nicht zu einer Bevorzugung gegenüber arbeitsberechtigten Untersuchungsgefangenen oder arbeitspflichtigen Strafgefangenen führt; weiter kann die Besuchszeit für die Ausschaffungshäftlinge ausgedehnt und darf von den für andere Häftlingskategorien geltenden Vorschriften über die zum Besuch zugelassenen Personen abgewichen werden.
b) Im Flughafengefängnis 1 waren zur Zeit des bundesgerichtlichen Augenscheins 100 Gefangene, wovon 70 Ausschaffungshäftlinge und 30 Untersuchungs- und Sicherheitsgefangene, untergebracht. Die baulichen und betrieblichen Gegebenheiten wurden beim Augenschein besichtigt und in der anschliessenden Instruktionsverhandlung erläutert. Sie lassen sich im wesentlichen wie folgt zusammenfassen:
aa) Das Flughafengefängnis 1 enthält im Erdgeschoss, nebst anderen Räumlichkeiten, drei Arbeitsräume mit einer Grösse von je 30-40m2; in jedem Werkraum können 5-6 Häftlinge unter Leitung eines Aufsehers arbeiten. Sodann gibt es vier Besuchskabinen, welche mit Trennscheiben ausgestattet sind. Daneben bestehen zwei Besuchszimmer in der Grösse von ca. 8m2, die mit Tisch und Stühlen ausgestattet sind und als Anwalts- und Besprechungszimmer verwendet werden. Im Freien befinden sich Spazierhöfe von je rund 200m2 Grundfläche (je einer pro Gefängnistrakt), welche von einer ca. 4 m hohen Mauer umgeben und oben mit Maschengittern abgedeckt sind.
bb) Auf zwei Stockwerken verteilt befinden sich im Flughafengefängnis 1 vier separate Zellentrakte mit je 14 Doppel- und einer Einzelzelle. Gegenwärtig werden drei Zellentrakte ausschliesslich mit Ausschaffungshäftlingen belegt, d.h. diese sind von den übrigen Häftlingskategorien getrennt untergebracht. Jeder Trakt verfügt unter anderem über einen Duschraum mit drei Duschkabinen; zwei Mal pro Woche haben die Häftlinge Gelegenheit zum Duschen.
Die Zellen sind von einem Gang aus zugänglich, der selber wiederum abgeschlossen ist. Die einzelnen Zellen, in welchen zwei Häftlinge untergebracht sind - vor kurzem gab es noch einzelne Zellen mit drei Häftlingen -, weisen eine Grundfläche von 10,2 m2 auf und haben ein mit
BGE 122 II 299 S. 307
Klarsichtglas versehenes vergittertes Fenster gegen aussen. Dazu kommt ein mit einer Schiebetüre vom Zellenbereich abgetrennter separater Raum mit WC und Lavabo, der künstlich entlüftet wird. In der Zelle befinden sich ein doppelstöckiges Bett, ein Tisch mit zwei Stühlen sowie ein Kasten mit zwei Abteilen. Von den Häftlingen kann gegen eine Gebühr von Fr. 1.-- pro Tag ein Fernsehapparat gemietet werden, mit welchem sich 26 verschiedene Programme empfangen lassen. Die Zellentüren sind ständig abgeschlossen.
Soweit die Ausschaffungshäftlinge sich nicht in den Arbeitsräumen oder im Spazierhof befinden oder sich zwecks Befragungen oder Besuchen ausserhalb der Zelle aufhalten, sind sie Tag und Nacht in der Zelle eingeschlossen. Wenn sie nicht arbeiten können, halten sie sich somit regelmässig 23 von 24 Stunden im Tag darin auf. Andere Aufenthaltsräume bestehen nicht. Gegessen wird ebenfalls in der Zelle.
cc) Unmittelbar neben dem Flughafengefängnis 1 und durch eine Passerelle damit verbunden wird das Flughafengefängnis 2 gebaut, welches - jedenfalls zu einem grossen Teil - als eigentliches Ausschaffungsgefängnis konzipiert ist. Der Rohbau ist erstellt und zurzeit findet der Innenausbau statt. Die Arbeiten gehen nach Auskunft der Justizdirektion des Kantons Zürich termingemäss voran, so dass das Ausschaffungsgefängnis voraussichtlich im Dezember 1996 übergeben und anfangs Januar 1997 in Betrieb genommen werden kann.
c) Nach dem Augenschein wurden die Haftbedingungen geändert, wie die Gefängnisverwaltung dem Bundesgericht einen Tag vor der anberaumten Urteilsberatung per Fax und Telefon mitteilte. Die Gefängnisverwaltung erklärte, in jeder der drei für die Ausschaffungshaft zur Verfügung stehenden Gefängnisabteilungen je einen Gemeinschaftsraum geschaffen zu haben. In jeweils einer Zelle seien die Betten entfernt und Tische und Stühle hineingestellt worden, womit sich Platz für bis zu sechs Personen habe schaffen lassen. Es bestehe Gelegenheit zu Gesellschaftsspielen (Kartenspiele, Schach usw.) und zum gemeinsamen Fernsehen. Jeder Häftling habe die Möglichkeit, diesen Gemeinschaftsraum, zusätzlich zum täglichen einstündigen Spaziergang, für zwei Stunden pro Tag während der Woche und für eine Stunde pro Tag an Samstagen und Sonntagen zu benützen.
5.
a) In sämtlichen bisher beurteilten Fällen, bei denen die Haftbedingungen zu prüfen waren, unterstrich das Bundesgericht, dass
BGE 122 II 299 S. 308
provisorische Lösungen zwar zulässig seien, sie bis zur Schaffung spezieller Vollzugsanstalten aber tatsächlich bereits ein verhältnismässiges Haftregime zulassen müssten. Hierzu gehört die Möglichkeit sozialer Kontakte mit anderen ausländerrechtlich Inhaftierten, was die regelmässige (aber nicht unbedingt dauernde) Benützung eines Gemeinschaftsraums oder zumindest die Möglichkeit gemeinschaftlicher Aktivitäten (Sport im Gefängnishof, weitere Aktivitäten in den Arbeitsräumen, soweit diese unbenutzt sind usw.) über den obligatorischen einstündigen Spaziergang hinaus voraussetzt. Bauliche, organisatorische und personelle Gegebenheiten sind zur Realisierung dieser Mindestanforderung auch bei Übergangslösungen bis zur Eröffnung einer allen Ansprüchen gerecht werdenden Vollzugsanstalt anzupassen.
In
BGE 122 II 49
ff. schützte das Bundesgericht die luzernische Übergangslösung im Amtsgefängnis Willisau bis zur Eröffnung des Ausschaffungsgefängnisses Schüpfheim Ende Mai 1996; dort standen für die ausländerrechtlich Inhaftierten aber immerhin fünf Einzelzellen, ein Duschraum, ein Aufenthaltsraum mit Kochnische und ein grosser Gang zur Verfügung, was einen den minimalen bundesrechtlichen Anforderungen genügenden Haftvollzug und namentlich hinreichende soziale Kontakte ermöglichte. In einem Entscheid vom 15. April 1996 betreffend den Kanton Genf hob das Bundesgericht hervor, dass in der fraglichen Haftanstalt auf der gleichen Etage zwei bis sechs Ausschaffungshäftlinge untergebracht seien. In der Nacht würde zwar die Abteilung geschlossen, indessen nicht auch die einzelnen Zellen; eine von diesen sei zudem zu einem Arbeitsraum umgestaltet worden. Der Beschwerdeführer habe unter Berücksichtigung des täglichen Spaziergangs von einer Stunde somit hinreichend Gelegenheit zu sozialen Kontakten (unveröffentlichtes Urteil vom 15. April 1996 i.S. D.A., E. 3b).
b) Dem Anspruch des administrativ Inhaftierten auf minimale soziale Kontakte ist grundsätzlich auch im Flughafengefängnis 1 zu entsprechen. Dass dies technisch möglich ist, zeigen die Beispiele in anderen Kantonen. Wie der Kanton Zürich dem Anspruch nachkommt, ist nicht vom Bundesgericht zu entscheiden. Wenn deswegen bis zur Eröffnung des Flughafengefängnisses 2 in Zürich weniger Personen in Ausschaffungshaft genommen werden können oder zusätzliche Bau- oder Personalkosten entstehen, ist das für einen minimal verfassungskonformen Haftvollzug hinzunehmen (vgl.
BGE 121 I 22
E. 4b/bb S. 28, wonach verfassungsrechtlich eine momentane Ausweitung des staatlichen Leistungsangebots bis zu einer definitiven verfassungsmässigen Lösung
BGE 122 II 299 S. 309
geboten sein kann [Zürcher Numerus clausus]).
§ 31 der Bezirksgefängnisverordnung sieht die Unterbringung von Gefangenen in Gemeinschaftshaft vor. Danach können Gefangene in Gemeinschaftshaft mit anderen Gefangenen zusammen arbeiten und spazieren. Wo die betrieblichen und baulichen Verhältnisse dies erlauben, kann zudem die Justizdirektion die Gemeinschaftshaft auf die Freizeit ausdehnen. Ausgeschlossen ist damit zunächst eine (ständige) Isolationshaft im Sinne der Einzelhaft. Der Beschwerdeführer befindet sich indessen nicht in eigentlicher Isolationshaft, sondern belegt zusammen mit einem Mithäftling eine Doppelzelle. Bis anhin war es ihm nur möglich, etwa eine Woche im Monat zu arbeiten; während dieser Zeit konnte er die notwendigen sozialen Kontakte zu andern Mithäftlingen bei der Arbeit pflegen. An den übrigen Tagen - und bisher somit mehrheitlich - musste er aber den grössten Teil des Tages zusammen mit einem andern Häftling in der Zelle verbringen. Das Eingesperrtsein in einem relativ kleinen Zimmer über verhältnismässig lange Zeit für die Dauer von 23 Stunden am Tag - d.h. abgesehen vom täglichen einstündigen Spaziergang sowie vom zweimaligen Duschen pro Woche - berücksichtigt wesentliche Grundbedürfnisse des Menschen als sozialen Wesens nicht. Die Haftbedingungen, denen der Beschwerdeführer bisher an den Tagen ohne gemeinsame Arbeit mit andern Gefangenen unterlag, erweisen sich daher als zu restriktiv.
c) Was die Zürcher Behörden hiergegen einwenden, schlägt nicht durch: Der Beschwerdeführer muss sich nicht entgegenhalten lassen, die Haftbedingungen im Flughafengefängnis 2, in dem vermutlich ab Januar 1997 die ausländerrechtlichen Inhaftierungen vollzogen werden, erlaubten künftig bessere Bedingungen. Er befindet sich heute in Ausschaffungshaft; diese hat jetzt zumindest den bundesrechtlichen Minimalanforderungen zu genügen. Den Einwand, dass ausländerrechtlich Inhaftierte (wie Untersuchungsgefangene) in bestimmten Belangen generell schlechter gestellt werden könnten als Strafgefangene, hat das Bundesgericht bereits in
BGE 122 II 49
ff., aber auch im Zusammenhang mit den Haftbedingungen für Administrativhäftlinge in den Zürcher Polizeigefängnissen (Urteil vom 12. Juli 1996) verworfen. Unterschiedlichen Sicherheitsbedürfnissen ist durch Beschränkungen im Einzelfall Rechnung zu tragen.
Im vorliegenden Fall muss sodann berücksichtigt werden, dass sich der Beschwerdeführer seit nunmehr schon bald vier Monaten in Ausschaffungshaft befindet und diese für weitere vier Monate bereits angeordnet ist. Er hat
BGE 122 II 299 S. 310
damit schon längere Zeit in Haft verbracht und muss auch konkret damit rechnen, nochmals für etwa gleich lange Dauer in Ausschaffungshaft zu bleiben. Allfällige Einschränkungen seiner Grundrechte, namentlich seiner persönlichen Freiheit, im Vollzug wiegen daher schwer und fallen in ihren Auswirkungen bedeutsamer aus, als wenn der Beschwerdeführer lediglich eine kurze Haftdauer zu gewärtigen hätte.
d) Seit dem Augenschein haben - nach Mitteilung der Gefängnisverwaltung - die Haftbedingungen geändert (vgl. E. 4c). Gemäss
Art. 105 Abs. 2 OG
ist das Bundesgericht aber an die Feststellung des Sachverhalts durch den Haftrichter gebunden; insbesondere können nachträgliche Veränderungen des Sachverhalts grundsätzlich nicht berücksichtigt werden (vgl.
BGE 121 II 97
E. 1c, 110 E. 2c;
BGE 119 Ib 193
E. 4a; ZÜND, a.a.O., S. 78 f.). Wohl hat das Bundesgericht im vorliegenden Fall eine Instruktionsverhandlung mit Augenschein durchgeführt und dabei den Sachverhalt ergänzt, worauf selbstverständlich abgestellt werden kann. Die Mitteilung der geänderten Haftbedingungen per Fax und Telefon durch die Gefängnisverwaltung ist indessen verspätet und bedeutet nicht eine formgerechte Ergänzung des Sachverhalts. Weder ist die Gefängnisverwaltung formell Partei im vorliegenden Verfahren, noch hatte der Beschwerdeführer - noch im übrigen die anderen Verfahrensbeteiligten - Gelegenheit, sich zu den neuen Haftbedingungen zu äussern. Die nachträgliche Änderung kann daher im vorliegenden Fall nicht mehr zu einem anderen Ausgang des Verfahrens führen. Hingegen nimmt das Bundesgericht davon in dem Sinne Kenntnis, dass der Kanton Zürich eine Anpassung der Haftbedingungen gemäss der Mitteilung der Gefängnisverwaltung wenigstens in Aussicht stellt, wenn nicht bereits realisiert hat, worauf er behaftet wird. Es lässt sich daraus auch schliessen - ohne dass dies ausschlaggebend zu sein braucht -, was zu realisieren im Flughafengefängnis 1 ohne grossen Aufwand möglich ist. Damit ist indessen nicht auch festgestellt, dass eine solche Regelung ebenfalls für das Flughafengefängnis 2, das als definitive Anstalt für den Vollzug von ausländerrechtlicher Administrativhaft konzipiert ist, genügen würde.
6.
Soweit der Beschwerdeführer kritisiert, er könne Besuche nur in einer Kabine hinter einer Trennscheibe empfangen, sowie die Kontrolle des Briefverkehrs und die beschränkte Möglichkeit privater Telefonanrufe rügt, ist auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung in
BGE 122 II 49
ff. zu verweisen:
BGE 122 II 299 S. 311
a) Nach der Rechtsprechung ist eine Bewilligungspflicht für Besuche aus organisatorischen Gründen bei ausländerrechtlichen Administrativhäftlingen zulässig (vgl. das obgenannte Urteil des Bundesgerichts vom 12. Juli 1996). Der Beschwerdeführer macht nicht geltend, ihm sei je ein Besuch verweigert worden; abgesehen von seinen Vertretern erhält er offenbar ohnehin keinen Besuch. Dennoch rechtfertigt es sich aus grundsätzlichen Gründen, auf die Besuchsregelung kurz einzugehen.
Die vier im Flughafengefängnis 1 vorhandenen Besuchskabinen sind mit einer Trennscheibe versehen, so dass keine Gegenstände, auch keine Schriftstücke, ausgetauscht werden können, aber auch keine Berührungen zwischen Häftling und Besucher möglich sind. Wie in der Instruktionsverhandlung ausgeführt wurde, dient die Trennscheibe ausschliesslich dazu, zu verhindern, dass den Häftlingen Drogen übergeben werden können; korrekterweise werden die Besuche nicht überwacht und die Gespräche auch nicht aufgezeichnet, wozu an sich die Möglichkeit in den Besuchskabinen bestünde. Die ausschliessliche und generelle Besuchsmöglichkeit für die Ausschaffungshäftlinge in einer mit einer Trennscheibe versehenen Kabine entspricht nicht den vom Bundesgericht entwickelten Grundsätzen. Vielmehr müssten im Einzelfall konkrete Anhaltspunkte für die Gefahr von Drogendelikten - oder allenfalls für andere Sicherheitsrisiken - bestehen, damit sich die völlige Abtrennung von Besucher und Häftlingen rechtfertigte. Trifft dies nicht zu, muss die Möglichkeit zu engeren Kontakten gewährt werden, wobei es erneut dem Kanton Zürich überlassen bleibt, wie er dies verwirklichen will. Im Regelfall dürfte es jedoch nicht erforderlich sein, Besuche in der Zelle zu gestatten.
b) Eine Kontrolle der ein- und ausgehenden Post ist - eigentliche Missbräuche vorbehalten - nur und soweit zulässig, als im Einzelfall besondere Sicherheitsbedürfnisse bestehen (vgl.
BGE 122 II 49
E. 5b/bb S. 54 f. [Drogenschmuggel]). Sollte im Flughafengefängnis 1 gestützt auf das dortige Reglement generell und spezifisch in bezug auf den Beschwerdeführer eine andere Praxis herrschen, verletzte dies Bundesrecht. Ferner müssen ausländerrechtlich Inhaftierte und damit auch der Beschwerdeführer im Rahmen des Sinnvollen (und nicht nur zwecks Beschaffung von Ausweispapieren und ausnahmsweise) privat und grundsätzlich auch ohne Aufsicht auf eigene Kosten telefonieren können (vgl.
BGE 122 II 49
E. 5b/bb S. 55). Auch das darf nur verweigert werden, wenn dem im Einzelfall besondere und konkret erhärtete Gründe entgegenstehen.
BGE 122 II 299 S. 312
7.
Als - teilweise offensichtlich - unbegründet erweisen sich die übrigen Rügen:
a) Zwar ist der Beschwerdeführer noch minderjährig, doch gibt ihm dies grundsätzlich keinen Anspruch auf ein spezifisches Haftregime, auch wenn bei minderjährigen Häftlingen die Bedürfnisse von Personen des entsprechenden Alters zu berücksichtigen sind. Nach
Art. 13c Abs. 3 ANAG
ist die Anordnung von Vorbereitungs- und Ausschaffungshaft gegenüber Kindern und Jugendlichen ausgeschlossen, soweit sie das 15. Altersjahr noch nicht zurückgelegt haben. Der Gesetzgeber ging damit davon aus, dass die Haft ab dieser Altersgrenze an sich in den gleichen Einrichtungen wie für Erwachsene vollzogen werden kann. Zu Recht weisen die kantonalen Behörden darauf hin, dass sich die strafrechtlichen und für die Untersuchungshaft geltenden Bestimmungen über die Trennung von Jugendlichen und Erwachsenen nicht unbesehen auf die ausländerrechtliche Administrativhaft übertragen lassen. Geht es dort um den Schutz von leicht beeinflussbaren Jugendlichen vor Kontakten mit älteren (und eventuell verhärteten) Straftätern, besteht hier in der Regel kein solches Trennungsbedürfnis; im übrigen dient die ausländerrechtliche Administrativhaft nicht der Resozialisierung, die bei Jugendlichen allenfalls anders anzugehen ist als bei Erwachsenen. Entsprechen die Haftbedingungen den bundesrechtlichen Minimalanforderungen, ist nicht einzusehen, inwiefern sich in psychischer Hinsicht verfassungsrechtlich ein spezifischer Haftvollzug für junge Administrativhäftlinge (nach vollendetem 15. Altersjahr) gebieten würde. Besonderen Bedürfnissen kann im Rahmen eines verfassungskonformen Haftvollzugs im Einzelfall hinreichend Rechnung getragen werden; im vorliegenden Fall bestehen keine besonderen Hinweise auf solche.
b) Sodann bestreitet der Beschwerdeführer nicht, beim Eintritt ins Flughafengefängnis 1 gefragt worden zu sein, welche Kost er wünsche. Sollte er heute entgegen der damals geäusserten Absicht, sich "normal" verpflegen zu wollen, doch Spezialkost für Moslems wünschen, kann er dies dem Gefängnispersonal mitteilen. Im übrigen hat sich beim Augenschein ergeben, dass im Flughafengefängnis 1 der Menüplan angesichts der Mehrzahl von Häftlingen moslemischen Glaubens ohnehin auf entsprechende Spezialkost ausgerichtet wird.
Soweit der Beschwerdeführer mangelnde Lektüre bzw. Informationsmöglichkeit rügt, hätte er mit seinem Peculium, das er als Arbeitsverdienst und Entschädigung für unverschuldete Beschäftigungslosigkeit erhielt, ohne
BGE 122 II 299 S. 313
weiteres Bücher, Zeitschriften oder Zeitungen in seiner Muttersprache beschaffen können. Über die Antennenanlage des Flughafengefängnisses 1 ist zudem der Empfang eines Fernsehprogramms in arabischer Sprache sichergestellt, was ihm ermöglicht, sich in seiner Sprache zu informieren.
c) Was der Beschwerdeführer sonst noch vorbringt, ist von vorneherein ungeeignet, die Haftfrage zu beeinflussen, wenn nicht sogar missbräuchlich. Es erübrigt sich, darauf näher einzugehen.
8.
a) Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Haftbedingungen des Beschwerdeführers im Flughafengefängnis 1 den Anforderungen von
Art. 13d Abs. 2 ANAG
teilweise nicht genügen. Es stellt sich die Frage, welche Rechtsfolgen hieran zu knüpfen sind. Da der Richter bei der Überprüfung der Rechtmässigkeit und der Angemessenheit der Haft die Umstände des Haftvollzugs berücksichtigen muss, können ungenügende Haftbedingungen zur Haftentlassung führen. Lässt sich indessen annehmen, dass die kantonalen Behörden kurzfristig in der Lage sind, die nötigen Korrekturen vorzunehmen, kann es auch mit einer entsprechenden Anweisung sein Bewenden haben (Urteil Messaoudi vom 23. August 1995, E. 3, veröffentlicht in EuGRZ 1995, S. 611; unveröffentlichtes Urteil vom 11. Dezember 1995 i.S. M.E., E. 3c). Dies gilt auch in einem Fall wie dem vorliegenden, wo die Haft inzwischen durch einen neuen kantonalen Entscheid verlängert worden ist. Für die Frist zur Anpassung über die ursprüngliche Haftdauer hinaus stützt sich die Haft auf den kantonalen Verlängerungsentscheid. Können vom Bundesgericht mit der erstmaligen Haftanordnung verbundene Auflagen nicht eingehalten werden, verliert dieser nach Ablauf der gesetzten Frist seine Wirkung.
b) Dem Beschwerdeführer sind an denjenigen Tagen, an welchen er keine Gelegenheit zu gemeinsamer Arbeit mit andern Häftlingen hat, ausserhalb seiner Zelle soziale Kontakte zu Mitgefangenen der Abteilung über den einstündigen Spaziergang hinaus zu ermöglichen. Die vom Kanton Zürich in Aussicht gestellte bzw. bereits verwirklichte Neuregelung erfüllt diese Anforderung (vgl. E. 4c und 5d). Auf die Kontrolle der ein- und ausgehenden Briefpost ist, konkrete Missbräuche vorbehalten, zu verzichten. Unter dem gleichen Vorbehalt sind dem Beschwerdeführer private Telefongespräche auf seine Kosten zu ermöglichen. Schliesslich ist die Besuchsregelung im vorliegenden Fall an die dargelegten bundesrechtlichen Anforderungen anzupassen. Unter diesen Umständen und mit Blick darauf, dass die Ausschaffungshaft offensichtlich gerechtfertigt ist und vom
BGE 122 II 299 S. 314
Beschwerdeführer zudem eine gewisse Gefahr für die öffentliche Ordnung ausgeht (Urteil vom 24. Juni 1996, E. 4), rechtfertigen die festgestellten Mängel eine unmittelbare Haftentlassung nicht. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist deshalb nur teilweise gutzuheissen, der Entscheid des Haftrichters aufzuheben und die Zustimmung zur Verlängerung der Ausschaffungshaft mit der Auflage zu erteilen, dass die Haftbedingungen sofort, spätestens aber innert Wochenfrist ab Zustellung des bundesgerichtlichen Urteils, im Sinne der Erwägungen angepasst werden. Sollte dies nicht möglich sein, wäre der Beschwerdeführer aus der Haft zu entlassen. | 13,026 | 4,779 | 2 | 0 | CH_BGE_004 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_004_BGE-122-II-299_1996 | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=13&from_date=&to_date=&from_year=1996&to_year=1996&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=124&highlight_docid=atf%3A%2F%2F122-II-299%3Ade&number_of_ranks=331&azaclir=clir | BGE_122_II_299 |
|||
ee26eb67-92f8-4086-aadf-e8811473f2cc | 2 | 82 | 1,358,032 | 1,206,576,000,000 | 2,008 | fr | Sachverhalt
ab Seite 235
BGE 134 III 235 S. 235
Le 5 juillet 2004, X. a ouvert action contre la société anonyme Y. SA devant le Juge des districts de Martigny et Saint-Maurice; il a pris des conclusions ainsi libellées:
Les prestations découlant du contrat d'assurance n° 50'127'083 sont allouées par Y. SA à X.
BGE 134 III 235 S. 236
Le demandeur fut sommé de chiffrer ses conclusions en paiement ou d'indiquer la valeur en litige, sans quoi le juge saisi n'entrerait pas en matière. Le demandeur indiqua que la valeur en litige s'élevait à 220'800 fr., soit la valeur d'une rente mensuelle de 800 fr. pendant vingt-trois ans.
La défenderesse prit des conclusions tendant au rejet de l'action.
Après clôture de l'instruction, la cause fut transmise au Tribunal cantonal pour jugement. La II
e
Cour civile de ce tribunal a statué le 22 octobre 2007; elle a rejeté l'action.
Agissant par la voie du recours en matière civile, le demandeur a saisi le Tribunal fédéral de conclusions ainsi conçues:
Le recours est admis et le jugement du Tribunal cantonal [...] est annulé.
Les prestations découlant du contrat d'assurance 50'127'083 conclu entre Y. SA et X. sont allouées.
La défenderesse a conclu au rejet du recours; selon ses observations, celui-ci est toutefois irrecevable faute de conclusions chiffrées.
Le Tribunal fédéral a déclaré le recours irrecevable. | 520 | 266 | Erwägungen
Extrait des considérants:
1.
Le Tribunal fédéral examine d'office la recevabilité des recours qui lui sont soumis (
ATF 133 III 462
consid. 2 p. 465).
2.
La loi du 17 juin 2005 sur le Tribunal fédéral (LTF) est entrée en vigueur le 1
er
janvier 2007; elle succède à la loi fédérale d'organisation judiciaire du 16 décembre 1943 (OJ).
Selon la jurisprudence relative aux art. 55 al. 1 let. b et 79 al. 1 OJ, concernant les conclusions à énoncer par la partie qui recourait au Tribunal fédéral dans une contestation civile ou dans une procédure de poursuite pour dettes ou de faillite, les conclusions portant sur une somme d'argent devaient obligatoirement être chiffrées; si, d'après les conclusions présentées, le Tribunal fédéral se trouvait requis de fixer lui-même le montant réclamé, le recours était irrecevable (
ATF 121 III 390
). Des conclusions non chiffrées suffisaient à condition que la somme à allouer fût d'emblée reconnaissable au regard de la motivation du recours ou de la décision attaquée (
ATF 78 II 445
consid. 1 p. 448;
ATF 125 III 412
consid. 1b p. 414/415).
De l'
art. 42 al. 1 LTF
, il ressort que l'acte de recours adressé au Tribunal fédéral doit indiquer, notamment, les conclusions de la partie recourante. Or, la réforme de l'organisation judiciaire n'avait pas pour
BGE 134 III 235 S. 237
but d'atténuer les exigences antérieures concernant les procédures de recours; en ce qui concerne la motivation des conclusions prises devant le Tribunal fédéral, ces exigences devaient au contraire être confirmées (Message du 28 février 2001 concernant la révision totale de l'organisation judiciaire fédérale, FF 2001 p. 4093). Il s'ensuit que les exigences antérieures concernant les conclusions elles-mêmes ont aussi été, implicitement, maintenues, et qu'en principe, elles peuvent donc être transposées dans l'application de l'
art. 42 al. 1 LTF
(cf.
ATF 133 III 489
consid. 3).
Devant le Tribunal fédéral, lorsque l'action tend au paiement d'une somme d'argent, les conclusions de la partie recourante doivent, actuellement comme auparavant, être chiffrées, sans quoi le recours est irrecevable. Le demandeur se trouve suffisamment averti de cette exigence par la procédure cantonale; néanmoins, il ne s'y conforme pas en prenant des conclusions tendant simplement aux "prestations découlant du contrat d'assurance 50'127'083". Le Tribunal fédéral n'entre donc pas en matière. | 926 | 472 | 2 | 0 | CH_BGE_005 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_005_BGE-134-III-235_2008-03-27 | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=21&from_date=&to_date=&from_year=2008&to_year=2008&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=209&highlight_docid=atf%3A%2F%2F134-III-235%3Ade&number_of_ranks=277&azaclir=clir | BGE_134_III_235 |
|||
ee2cc917-c369-462a-b7a9-4542bb0ab174 | 2 | 82 | 1,363,904 | 1,562,025,600,000 | 2,019 | fr | Sachverhalt
ab Seite 423
BGE 145 III 422 S. 423
A.
Le 21 mars 2017, le Ministère de la justice de Lettonie a présenté une demande d'entraide internationale en matière civile tendant à la fourniture, par la Banque B., de renseignements relatifs aux comptes ouverts dans ses livres au nom des époux A. et C. - séparément ou en commun -, ainsi qu'à la production des relevés de ces comptes depuis le 1
er
janvier 2012. Cette demande est parvenue au Tribunal de première instance du canton de Genève le 26 mai 2017.
Sur demande du Tribunal de première instance de Genève, le Tribunal du district de Riga a précisé que la demande d'entraide s'inscrivait dans le cadre d'une procédure de divorce introduite devant lui par l'épouse, qui faisait valoir à l'encontre de son mari des prétentions alimentaires et en partage du régime matrimonial.
B.
Statuant le 29 septembre 2017, le Tribunal de première instance de Genève a ordonné l'exécution de la demande d'entraide (1) et ordonné à la Banque B. d'indiquer si des comptes avaient été ouverts dans ses livres aux noms de C., de A., ou des époux en commun, en précisant le cas échéant le solde de ces comptes et en produisant leurs relevés du 1
er
janvier 2012 à ce jour (2); il a fixé à la banque un délai de 30 jours pour s'exécuter (3).
Par acte expédié le 23 octobre suivant, l'époux a recouru contre cette ordonnance; se plaignant d'une violation de son droit d'être entendu et invoquant le retrait, par son épouse, de sa demande en divorce, il a conclu, principalement, au renvoi de la cause au Tribunal de première instance pour qu'il statue à nouveau et, subsidiairement, à ce qu'il soit dit que la demande d'entraide n'a plus d'objet; plus subsidiairement, il a conclu à ce que le Tribunal du district de Riga soit interpellé aux fins de confirmer le retrait de la procédure de divorce.
Par arrêt du 20 février 2018, la Chambre civile de la Cour de justice du canton de Genève a rejeté le recours. (...)
Le Tribunal fédéral a admis le recours de l'époux et renvoyé l'affaire à l'autorité cantonale pour nouvelle décision.
(extrait)
BGE 145 III 422 S. 424 | 787 | 426 | Erwägungen
Extrait des considérants:
4.
4.1
En l'espèce, la Cour de justice a constaté que le recourant, qui est potentiellement titulaire de compte(s) bancaire(s) auprès de la banque visée par la commission rogatoire, revêt la "qualité de partie" dans le procès au fond devant le juge du divorce étranger; il n'a dès lors pas la qualité de tiers à la procédure d'entraide, auquel le Tribunal fédéral a dénié le droit d'être entendu par le juge suisse avant l'exécution de la mesure d'entraide. Cela ne signifie pas, pour autant, que le premier juge aurait méconnu son droit d'être entendu en ordonnant la mesure requise sans l'en informer préalablement et sans lui donner l'occasion de s'exprimer à ce propos. En effet, la procédure devant le juge requis n'est pas de nature contentieuse ni contradictoire, les parties au procès au fond n'y jouissant pas des mêmes prérogatives que dans un procès civil ordinaire. En outre, ni la Convention du 18 mars 1970 sur l'obtention des preuves à l'étranger en matière civile ou commerciale (RS 0.274.132; ci-après: CLaH 70), ni les règles de la procédure sommaire (cf. consid. 2.2 non publié), n'imposent de conférer un caractère contradictoire à la procédure d'entraide; ces dernières normes sont du reste applicables à la procédure gracieuse (cf.
art. 248 let
. e CPC), qui n'est généralement pas contradictoire. Le rôle du juge requis se limite à assurer l'exécution de la commission rogatoire décernée par le juge étranger; en l'absence de demande expresse de celui-ci (cf. art. 7 in fine CLaH 70), celui-là n'est pas tenu d'interpeller les parties au procès à l'étranger avant de se prononcer, ni de les informer de la prochaine exécution de la mesure. A l'instar des tiers, il suffit que ces parties aient eu l'occasion d'être entendues dans le procès au fond, pour que leurs droits fondamentaux soient respectés. Or, en l'espèce, le recourant ne soutient pas qu'il n'aurait pas eu la possibilité de s'exprimer devant le juge letton chargé de la procédure de divorce, notamment en relation avec la demande de renseignements. Il s'ensuit qu'aucune violation du droit d'être entendu ne peut être reprochée au premier juge.
4.2
Le Tribunal fédéral a jugé que le titulaire d'un compte bancaire, en tant que "tiers visé par la demande d'entraide", doit avoir l'occasion de s'exprimer dans le procès au fond à l'étranger, "puisqu'il ne peut pas l'être au stade de l'exécution devant le tribunal de première instance [suisse]" (
ATF 142 III 116
consid. 3.2). Par la suite, il a retenu que le titulaire d'un compte bancaire, dont le tribunal étranger saisi du procès ignore le nom, n'est "pas partie à la procédure
BGE 145 III 422 S. 425
d'exécution en Suisse" et, partant, ne peut pas être entendu par le juge suisse de l'exécution (arrêt 4A_167/2017 du 29 août 2017 consid. 4.2, avec les critiques de WALTHER, in ZBJV 155/2019 p. 204); il a laissé indécise la question du "caractère contradictoire" de la procédure de première instance, en ce sens "que les parties au fond devraient être informées de leur droit de participer" à l'administration des preuves, en l'occurrence à l'audition d'un membre de la banque concernée (consid. 4.3). La Cour de céans semble exclure une pareille possibilité; elle a affirmé que la partie à la procédure au fond (i.c. successorale) devant le juge étranger, qui a pu faire valoir ses droits dans cette procédure, ne "dispose donc d'aucun droit d'intervenir au stade de l'exécution de la commission rogatoire" (arrêt 5A_284/2013 du 20 août 2013 consid. 4.2, in SJ 2014 I p. 13).
La position de la cour cantonale s'avère ainsi conforme à cette dernière jurisprudence (arrêt 5A_799/2014 du 25 juin 2015 consid. 2.2). Elle est au demeurant justifiée en l'occurrence. La demande d'entraide vise à la fourniture de renseignements relatifs aux comptes dont le recourant serait titulaire auprès d'un institut bancaire, aux fins de documenter les prétentions de son épouse "en recouvrement d'aliments et en partage du régime matrimonial"; reconnaître à l'intéressé le droit de s'exprimer "avant la décision d'octroi de l'entraide" pourrait comporter le risque d'actes de disposition préjudiciables aux intérêts de sa partie adverse et compromettre, en fin de compte, le but de l'entraide (cf. sur le conflit entre l'"efficacité de la coopération judiciaire" - objectif expressément rappelé dans le préambule de la CLaH 70 - et les droits de procédure des parties impliquées: BREITENMOSER, La protection juridique dans les procédures d'entraide administrative internationale en Suisse et dans l'Union européenne [UE], in L'entraide administrative, 2019, p. 45 ss et les citations). Enfin, c'est avec raison que l'autorité cantonale rappelle que, conformément à l'art. 9 al. 3 CLaH 70, la commission rogatoire doit être "exécutée d'urgence" ("rasch" dans le texte allemand). Il est vrai que cet aspect n'est pas décisif ici, vu le délai qui s'est écoulé entre la réception de la demande d'entraide (i.e. 26 mai 2017) et l'ordonnance du premier juge (i.e. 29 septembre 2017). Il n'en demeure pas moins que la célérité dans l'exécution de la commission rogatoire contribue à la réalisation de l'objectif d'efficacité promu par le traité (cf. WALTHER, Erläuterungen zum Haager Übereinkommen über die Beweisaufnahme im Ausland in Zivil- und Handelssachen, in Internationales Privat- und Verfahrensrecht, vol. 2, 1999, ch. 61b n. 66), cette considération étant
BGE 145 III 422 S. 426
particulièrement prégnante lorsque - comme ici - la demande porte sur des renseignements relatifs aux avoirs bancaires d'une partie au procès au fond à l'étranger.
L'invocation du droit d'être entendu - dont les contours doivent être d'ailleurs nuancés (cf. pour les mesures provisionnelles:
ATF 139 I 189
consid. 3.3 et les citations) - est vaine dans le cas particulier. Certes, la doctrine enseigne que le juge suisse requis est tenu de respecter le "principe du contradictoire" également dans la procédure d'entraide (GAUTHEY/MARKUS, L'entraide judiciaire internationale en matière civile, 2014, n. 666), mais un tel constat n'implique pas que ce principe doive nécessairement l'être lors de l'exécution de la commission rogatoire; il suffit qu'il le soit avant le
renvoi
(ou retour) de celle-ci (cf. sur ce stade de l'entraide, parmi plusieurs: HUET, Procédure civile et commerciale dans les rapports internationaux, in Juris-Classeur de droit international, vol. 9, Fasc. 583-20, n. 27 ss). Il existe d'autres situations où la partie concernée par l'exécution d'une décision étrangère n'est pas admise à s'exprimer avant la décision qui donne suite à la requête en première instance, cette faculté lui étant offerte à l'appui d'une voie de recours ultérieure: tel est le cas de l'
exequatur
d'un jugement étranger soumis à la Convention de Lugano (RS 0.275.12), vu le caractère unilatéral de la procédure de première instance (
ATF 138 III 82
consid. 3.5.3), ou - autre forme d'entraide (
ATF 137 III 631
consid. 2.3.2;
ATF 135 III 40
consid. 2.5.1) - de la reconnaissance d'un jugement de faillite étranger en application des
art. 166 ss LDIP
(RS 291) (
ATF 139 III 504
consid. 3.2, avec les références). En définitive, pour garantir l'efficacité de la procédure d'entraide judiciaire, tout en respectant le droit d'être entendu des personnes intéressées, il suffit que celles-ci disposent d'une voie de recours,
avant le renvoi de la commission rogatoire
, dans laquelle elles pourront faire valoir leurs arguments; une telle possibilité existe en l'espèce: le recours au sens des
art. 319 ss CPC
(
ATF 142 III 116
consid. 3.4.1), que les parties au procès sur le fond à l'étranger sont légitimées à interjeter (
ATF 142 III 116
consid. 3.4.2; GAUTHEY/MARKUS, op. cit., n. 734).
En l'occurrence, le recourant, même s'il a été informé de l'ordonnance du premier juge par la banque (arrêt 4A_167/2017 précité consid. 4.3), a précisément emprunté cette voie de droit et obtenu la suspension du caractère exécutoire de cette décision (
art. 325 al. 2 CPC
), à l'effet de bloquer le renvoi des documents requis par le juge letton. Sa situation n'est donc pas comparable à celle que la CourEDH a examinée dans son arrêt M. N. et autres contre Saint-Marin du 7 juillet 2015 (rapporté par BREITENMOSER, op. cit., p. 42), où aucun recours
BGE 145 III 422 S. 427
n'était ouvert pour s'opposer à la transmission des données bancaires. Le moyen déduit d'une violation du droit d'être entendu, qui entraînerait la "nullité" de l'ordonnance d'exécution, s'avère ainsi infondé.
5.
5.1
La juridiction précédente a constaté que, dans son acte de recours cantonal, le recourant a allégué que son épouse avait retiré son action en divorce, concluant dès lors (subsidiairement) à ce qu'il soit dit que la demande d'entraide est devenue "sans objet"; plus subsidiairement, il a conclu à l'interpellation du Tribunal de Riga aux fins de confirmer le retrait de la procédure de divorce. Le 25 octobre 2017, il a informé la cour cantonale que le tribunal letton avait clos la procédure l'opposant à sa femme; à l'appui de ses dires, il a produit la copie d'une décision rendue le 23 octobre 2017 par le Tribunal de Riga, accompagnée de sa traduction. Les juges précédents ont cependant souligné que l'
art. 326 al. 1 CPC
, qui interdit les "conclusions, allégations de faits et preuves nouvelles", s'applique en matière d'entraide judiciaire civile fondée sur la CLaH 70; aussi bien ont-ils écarté les faits nouveaux allégués par le recourant ainsi que les pièces produites à ce sujet.
5.2
Comme l'admet la cour cantonale, la décision attaquée est sujette à un recours selon les
art. 319 ss CPC
(cf. supra, consid. 4.2). Certes, cette voie de droit prohibe expressément la présentation de faits et de preuves nouveaux (
art. 326 al. 1 CPC
), mais ce principe est assorti de plusieurs exceptions (cf. sur cette question: STEINER, Die Beschwerde nach der schweizerischen Zivilprozessordnung, 2019, n. 546 ss, avec de nombreuses citations). Ainsi, le débiteur qui n'a pas été entendu en première instance dans la procédure d'
exequatur
d'un jugement soumis à la Convention de Lugano peut se prévaloir de
nova
à l'appui de son recours (
ATF 138 III 82
consid. 3.5.3; STEINER, op. cit., n. 794, avec la doctrine citée); la jurisprudence zurichoise a appliqué la même règle en faveur du débiteur, non cité en première instance, qui s'oppose à la reconnaissance de sa faillite prononcée à l'étranger (ENGLER, Aus der neuen Zürcher Rechtsprechung zum SchKG, BlSchK 2019 p. 63/64 et n. 59). Cette solution repose sur la considération que l'intéressé qui n'a (valablement) pas été entendu devant le premier juge est admis à invoquer des
nova
, à tout le moins ceux qui existaient déjà en première instance (
pseudo-nova
). On ne saurait donc suivre l'autorité cantonale lorsqu'elle ne retient à l'appui de sa décision que les "éléments de fait dont disposait le Tribunal".
BGE 145 III 422 S. 428
De surcroît, le régime de l'
art. 326 al. 1 CPC
doit être calqué sur celui de l'
art. 99 al. 1 LTF
, afin d'empêcher que la présentation des faits et preuves nouveaux soit soumise à une réglementation plus rigoureuse devant l'autorité cantonale que devant le Tribunal fédéral (
ATF 139 III 466
consid. 3.4; STEINER, op. cit., n. 555, avec d'autres références). Or, le Tribunal fédéral peut tenir compte d'éléments nouveaux qui rendent sans objet le recours (
ATF 137 III 614
consid. 3.2.1; récemment: arrêts 8C_123/2019 du 10 mai 2019 consid. 2.3; 5A_866/2018 du 18 mars 2019 consid. 3.3; 5A_396/2018 du 29 juin 2018 consid. 2.3); ce principe vaut également en instance de recours cantonale (COLOMBINI, Code de procédure civile, 2018, n° 1.2.2 ad
art. 326 CPC
, avec la jurisprudence citée). Partant, l'autorité cantonale devait prendre en considération la décision par laquelle le Tribunal du district de Riga a clos la procédure de divorce entre les parties (cf. supra, consid. 5.1), même si elle a été produite après l'ordonnance du premier juge et l'expiration du délai de recours (cf. pour l'
art. 99 al. 1 LTF
: arrêt 5A_710/2017 du 30 avril 2018 consid. 2.3). | 4,762 | 2,442 | 2 | 0 | CH_BGE_005 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_005_BGE-145-III-422_2019-07-02 | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=11&from_date=&to_date=&from_year=2019&to_year=2019&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=110&highlight_docid=atf%3A%2F%2F145-III-422%3Ade&number_of_ranks=216&azaclir=clir | BGE_145_III_422 |
|||
ee335fef-ad5c-463a-85a6-f8ebd8ef736d | 1 | 82 | 1,352,027 | 1,545,350,400,000 | 2,018 | de | Sachverhalt
ab Seite 134
BGE 145 III 133 S. 134
A.
Die rubrizierten Beschwerdeführer sind die Mitglieder der Erbengemeinschaft des A. sel., in deren Gesamteigentum die Stockwerkeinheit U.-GBB-x steht, auf welcher im 1. Rang eine sog. Inhaberobligation mit Grundpfandverschreibung über Fr. 200'000.- lastet.
B.
Am 26. Oktober 2017 trat das - für die Gemeinde U. zuständige - Bezirksgericht Siders auf deren Gesuch um Kraftloserklärung der Inhaberobligation nicht ein mit der Begründung, es fehle an der örtlichen Zuständigkeit.
Mit der gleichen Begründung trat das - aufgrund des Wohnsitzes angerufene - Regionalgericht Emmental-Oberaargau am 23. Januar 2018 auf das Gesuch um Kraftloserklärung nicht ein.
Die hiergegen erhobene Berufung wies das Obergericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 15. März 2018 ab.
C.
Gegen den obergerichtlichen Entscheid erhoben die Erben am 18. April 2018 beim Bundesgericht eine Beschwerde mit den Begehren um dessen Aufhebung, um Zulassung des Gesuches um Kraftloserklärung sowie um Kraftloserklärung der im 1. Rang auf dem Grundstück U.-GBB-x lastenden Inhaberobligation mit Grundpfandverschreibung über Fr. 200'000.-. Es wurden keine Vernehmlassungen eingeholt, aber die kantonalen Akten beigezogen.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab. | 299 | 205 | Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Für die Kraftloserklärung von Grundpfandtiteln ist das Gericht am Ort zuständig, an dem das Grundstück im Grundbuch aufgenommen ist (
Art. 43 Abs. 2 ZPO
), während für die Kraftloserklärung der übrigen Wertpapiere das Gericht am Wohnsitz der Schuldner zuständig ist (
Art. 43 Abs. 3 ZPO
).
Strittig ist vorliegend, ob die sog. Inhaberobligation mit Grundpfandverschreibung (auch Hypothekarobligation auf den Inhaber genannt, französisch obligation hypothécaire au porteur) ein Grundpfandtitel im Sinn von Abs. 2 oder ein gewöhnliches Wertpapier im Sinn von Abs. 3 ist. Je nachdem liegt die örtliche Zuständigkeit zur
BGE 145 III 133 S. 135
Kraftloserklärung beim für U. oder am Wohnsitz der Beschwerdeführer zuständigen Gericht.
3.
Das Obergericht hat erwogen, eine grammatikalische Auslegung führe zu keinem klaren Ergebnis, ob der in
Art. 43 Abs. 2 ZPO
verwendete Begriff "Grundpfandtitel" in einem weiteren Sinn auch die Inhaberobligation mit Grundpfandverschreibung umfasse, bei welcher es sich um ein dem Schuldbrief angenähertes (Hilfs-)Konstrukt handle. Auch aus der Systematik des Gesetzes und dem Aufbau von
Art. 43 ZPO
im Besonderen liessen sich keine Rückschlüsse ziehen. Mehr Klarheit ergebe sich aus der Entstehungsgeschichte und den Gesetzesmaterialien. Im Vorentwurf der Teilrevision des Immobiliarsachen- und Grundbuchrechts sei vorgesehen gewesen,
Art. 30 GestG
mit einem Abs. 3 wie folgt zu ergänzen: "Für die Kraftloserklärung des als Schuldbrief ausgestellten Pfandtitels ist das Gericht am Ort zuständig, an dem das Grundstück im Grundbuch aufgenommen ist." Mit Aufnahme der Arbeit an einer schweizerischen ZPO seien die Bestimmungen des GestG weitestgehend unverändert in den VE-ZPO überführt worden. Im Rahmen der Vernehmlassung habe der Kanton Basel-Landschaft den Antrag auf Einführung eines zusätzlichen Abs. 2 zu Art. 39 VE-ZPO gestellt mit folgendem Wortlaut: "Für die Kraftloserklärung von Grundpfandtiteln, von Obligationen mit Grundpfandverschreibung sowie von grundpfandversicherten Anleihensobligationen ist das Gericht am Ort zuständig, an dem das Grundstück im Grundbuch aufgenommen ist." Der Antrag sei damit begründet worden, dass vor dem Inkrafttreten des GestG verschiedene Kantone als Gerichtsstand den Ort des gelegenen Grundstücks anerkannt hätten. Im Entwurf der ZPO sei in der Folge ein Abs. 2 aufgenommen worden mit folgendem Wortlaut: "Für die Kraftloserklärung von Grundpfandtiteln ist das Gericht an dem Ort zwingend zuständig, an dem das Grundstück im Grundbuch aufgenommen ist." Bei der Entstehungsgeschichte von
Art. 43 Abs. 2 ZPO
falle nach dem Gesagten auf, dass der Entwurf bzw. die schliesslich verabschiedete Fassung nicht mehr spezifisch von "Schuldbrief" spreche, sondern allgemein den Ausdruck "Grundpfandtitel" verwende. Auch eine teleologische Auslegung der Norm ergebe, dass die Kraftloserklärung von Wertpapieren, die aufgrund der Natur des Rechtsverhältnisses eine gewisse örtliche Nähe zu einem Grundstück aufwiesen, an diesem Ort durchzuführen sei.
4.
Die Beschwerdeführer berufen sich auf eine grammatikalische Auslegung des Gesetzes und machen geltend, die Inhaberobligation
BGE 145 III 133 S. 136
mit Grundpfandverschreibung sei kein "Grundpfandtitel", wie er in
Art. 43 Abs. 2 ZPO
erwähnt sei, weil nur die gesicherte Forderung, nicht aber das Grundpfandrecht im Wertpapier verbrieft sei. Daran ändere auch eine historische Auslegung nichts, denn bei den Vorarbeiten sei immer von Schuldbriefen die Rede gewesen.
5.
In den gängigen Kommentierungen zu
Art. 43 ZPO
wird die Inhaberobligation mit Grundpfandverschreibung teils unter die Zuständigkeit nach Abs. 2 gezogen (RÜETSCHI, in: Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO], Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger [Hrsg.], 3. Aufl. 2016, N. 17 zu
Art. 43 ZPO
; ERK-KUBAT, in: ZPO Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, Gehri/Jent-Sørensen/Sarbach [Hrsg.], 2. Aufl. 2015, N. 12a zu
Art. 43 ZPO
), jedoch überwiegend der Anwendungsbereich von Abs. 2 auf den Papier-Schuldbrief beschränkt (MARTI, in: Berner Kommentar, 2012, N. 6 zu
Art. 43 ZPO
; STEININGER, in: Schweizerische Zivilprozessordnung [ZPO], Kommentar, Brunner/Gasser/Schwander [Hrsg.], 2. Aufl. 2016, N. 5 zu
Art. 43 ZPO
; GLAZMANN, in: Schweizerische Zivilprozessordnung [ZPO], Baker & MacKenzie [Hrsg.], 2010, N. 9 zu
Art. 43 ZPO
; HALDY, in: Commentaire romand, Code de procédure civile, 2. Aufl. 2018, N. 4 zu
Art. 43 ZPO
; sinngemäss auch HAAS/STRUB, in: ZPO, Oberhammer/Domej/Haas [Hrsg.], 2. Aufl. 2014, N. 6 zu
Art. 43 ZPO
); in einer Kommentarstelle findet sich gar die Auffassung, die Kraftloserklärung von Inhaberobligationen mit Grundpfandverschreibung falle unter Abs. 1 (VOCK/NATER, in: Basler Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, 3. Aufl. 2017, N. 5 zu
Art. 43 ZPO
). Begründungen oder nähere Ausführungen finden sich bei keinem Autor. Die Norm bzw. der Begriff "Grundpfandtitel" ist im Folgenden auszulegen.
6.
Ausgangspunkt der Auslegung eines Rechtssatzes bildet der Wortlaut der Bestimmung (sog. grammatikalische Auslegung;
BGE 142 V 402
E. 4.1 S. 404 f.;
BGE 143 I 272
E. 2.2.3 S. 278). Ist der Wortlaut klar, d.h. eindeutig und unmissverständlich, darf davon nur abgewichen werden, wenn ein triftiger Grund für die Annahme besteht, der Wortlaut ziele am "wahren Sinn" der Regelung vorbei. Anlass für eine solche Annahme können die Entstehungsgeschichte der Bestimmung (sog. historische Auslegung), ihr Sinn und Zweck (sog. teleologische Auslegung) oder der Zusammenhang mit anderen Gesetzesvorschriften geben (sog. systematische Auslegung), wobei im Sinn des pragmatischen Methodenpluralismus alle anerkannten Auslegungselemente zu berücksichtigen sind (
BGE 142 I 135
E. 1.1.1 S. 138;
BGE 145 III 133 S. 137
BGE 142 III 695
E. 4.1.2 S. 699;
BGE 143 I 272
E. 2.2.3 S. 278;
BGE 144 III 29
E. 4.4.1 S. 34 f.).
6.1
Ausgehend von der soeben dargestellten Methodik stellt sich als Erstes die Frage, ob der Wortlaut von
Art. 43 Abs. 2 ZPO
bzw. das dort verwendete Wort "Grundpfandtitel" derart klar ist, dass es bei einer grammatikalischen Auslegung sein Bewenden haben muss. Gegebenenfalls ist in einem zweiten Schritt nach dem wirklichen Sinn und Zweck der Norm und auch danach zu fragen, was der Gesetzgeber damit beabsichtigte.
6.2
Das Grundpfandrecht als dingliches Recht entsteht durch die Eintragung im Grundbuch (
Art. 799 Abs.1 ZGB
) und besteht bis zur dortigen Löschung (
Art. 801 Abs. 1 ZGB
).
Bei der Grundpfandverschreibung bietet das Grundpfandrecht einer beliebigen gegenwärtigen, zukünftigen oder bloss möglichen Forderung dingliche Sicherheit (
Art. 824 Abs. 1 ZGB
). Über die errichtete Grundpfandverschreibung kann zwar auf Verlangen des Gläubigers ein Auszug aus dem Grundbuch ausgestellt werden; dieser dient jedoch lediglich als Beweismittel und hat keinerlei Wertpapiercharakter (
Art. 825 Abs. 2 ZGB
).
Beim Schuldbrief wird mit der Eintragung im Grundbuch gemeinsam mit dem Grundpfandrecht auch die dadurch gesicherte und zwingend in gleicher Höhe bestehende Grundpfandforderung begründet (vgl.
Art. 842 Abs. 1 ZGB
). Soweit es sich um einen Papier-Schuldbrief handelt (
Art. 860 ff. ZGB
), werden das Grundpfandrecht und die untrennbar damit verbundene Grundpfandforderung in einem Titel verbrieft (vgl.
BGE 130 III 681
E. 2.3 S. 683; Urteil 5P.34/2005 vom 19. Mai 2005 E. 1.4), welcher - über die Wertpapiereigenschaften hinaus - als "fliegende Kopie des Pfandaktes" bzw. als "Reproduktion des Grundbucheintrages" (
BGE 140 III 36
E. 4 S. 39; Urteil 5A_322/2017 vom 12. Juni 2017 E. 4) auch an dessen öffentlichem Glauben teilnimmt (vgl.
Art. 862 Abs. 1 ZGB
).
Verschiedene kantonale Rechte kannten die sog. Inhaberforderung mit Grundpfandverschreibung. Nach Einführung des ZGB wurde dieses Institut gewohnheitsrechtlich weitergeführt und ist (regional unterschiedlich) immer noch verbreitet. Dabei wird über eine Forderung, meist eine Inhaberforderung, eine Schuldanerkennung aufgenommen und mit einer Wertpapierklausel im Sinn von
Art. 965 OR
verbunden, mithin die Forderung verbrieft, wobei sie durch eine Grundpfandverschreibung sichergestellt wird, ohne dass das
BGE 145 III 133 S. 138
Grundpfandrecht selbst verbrieft würde und umgekehrt ohne dass die Wertpapierforderung am öffentlichen Glauben des Grundbuches teilhätte; dies sind ihre Spezifika, welche sie vom Papier-Schuldbrief unterscheiden (vgl. statt vieler: SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, 5. Aufl. 2017, Rz. 1641 ff.; insgesamt zum Institut sodann BONNARD, L'obligation hypothécaire au porteur, Lausanne 1955).
Das Bundesgericht hat dieses Institut stets als mit dem numerus clausus der dinglichen Rechte vereinbar angesehen, weil die Grundpfandverschreibung nach dem Gesagten eine beliebige Forderung sichern kann, mithin auch eine Wertpapierforderung, und das Grundpfandrecht selbst nicht verbrieft, mithin keine neue Grundpfandart geschaffen wird (grundlegend
BGE 49 II 19
, insb. S. 25; sodann
BGE 77 II 360
E. 1 S. 364 f.;
BGE 84 II 281
E. 4a S. 286;
BGE 93 II 82
E. 2 S. 85;
BGE 100 II 319
E. 1 S. 322;
BGE 135 III 378
E. 2.3 S. 381). In der Praxis wird auf dem Wertpapier durch den Grundbuchverwalter die Eintragung der Grundpfandverschreibung bescheinigt; aber auch dies hat nicht zur Folge, dass es zu einer Verkörperung des Grundpfandrechtes im Papier käme (vgl. HOMBERGER, Die Grundpfandverschreibung bei Schuldverpflichtungen auf den Inhaber, ZBJV 71/1935 S. 564; REUTLINGER, Die Inhaberobligation mit Grundpfandverschreibung und der Inhaberschuldbrief, 1950, S. 35; MOSER, Die Verpfändung von Grundpfandtiteln, 1989, S. 75; MÖCKLI, Das Eigentümergrundpfandrecht, 2001, S. 74 Fn. 22). Sodann wird in der Praxis nicht bloss die nackte Grundpfandverschreibung im Grundbuch eingetragen, sondern das Institut als solches genannt; so lautet der Grundbucheintrag im vorliegenden Fall: "Rang 1, Hypothèque au porteur, CHF 200'000.-, Intérêt max. 10 %, ID.2011/001970, Profite des cases libres, Droit de gage individuel". Dies hat aber, wie ebenfalls erwähnt, nicht zur Folge, dass die Forderung gewissermassen auf dem Grundbucheintrag beruhen würde; vielmehr hat sie einen vollständig ausserhalb des Grundbuches liegenden Entstehungsgrund und erfolgt auch die Verbriefung in einem Wertpapier nicht durch das Grundbuchamt. Schliesslich hat auch eine allfällige Eintragung ins Gläubigerregister (
Art. 12 Abs. 1 lit. a GBV
[SR 211.432.1]) keine Grundbuchwirkung (vgl.
Art. 942 Abs. 2 ZGB
;
Art. 2 lit. b GBV
;
BGE 133 III 311
E. 3.2.4 S. 317).
6.3
Ausgehend von der Feststellung, dass bei der Inhaberobligation mit Grundpfandverschreibung das Grundpfandrecht nicht im Wertpapier verkörpert ist, sondern vielmehr nur einer wertpapiermässig verbrieften (Inhaber-)Forderung Sicherheit leistet, handelt es sich
BGE 145 III 133 S. 139
nicht um einen Grundpfandtitel im rechtstechnischen Sinn, denn semantisch geht es bei diesem um die Verbindung von "Grundpfand" und "Titel"; vom Wortsinn her beschreibt das Wort "Grundpfandtitel" mit anderen Worten die Verkörperung des Grundpfandrechtes im Titel. Dies meint denn auch die Marginalie "Pfandtitel" zu
Art. 861 ZGB
und
Art. 144 GBV
, welche beide den Papier-Schuldbrief regeln. Allerdings besteht aufgrund des verbrieften Versprechens zur Errichtung einer Grundpfandverschreibung auch bei der Inhaberobligation mit Grundpfandverschreibung eine feste Verbindung zwischen der gesicherten Forderung und dem Grundpfandrecht, so dass das Institut letztlich die gleichen Funktionen erfüllen kann wie ein Papier-Schuldbrief (dazu statt vieler: SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, a.a.O., Rz. 1645).
Ausgehend vom soeben Gesagten würde eine streng grammatikalische Auslegung eher dagegen sprechen, auch die Inhaberobligation mit Grundpfandverschreibung unter den Ausdruck "Grundpfandtitel" zu subsumieren; hingegen liesse eine funktionale Betrachtung durchaus auch das Gegenteil zu.
Zu beachten ist weiter, dass vorliegend nicht eine Norm des Sachenrechts, sondern eine solche des Zivilprozessrechts auszulegen ist. Für die Zuständigkeitsfrage können auch andere Aspekte ins Spiel oder sogar in den Vordergrund treten, welche eine nicht allzu technische Auslegung des Begriffes nahelegen (dazu E. 6.6).
Sodann fällt bei einer objektiv-geltungszeitlichen Betrachtungsweise auf, dass seit der Teilrevision des Immobiliarsachen- und Grundbuchrechts, mit welcher die Gült abgeschafft worden ist, einzig noch der Papier-Schuldbrief die Kriterien des "Grundpfandtitels" im streng rechtstechnischen Sinn erfüllt. Zwar ist diese Teilrevision erst auf den 1. Januar 2012 und damit ein Jahr später als die Zivilprozessordnung in Kraft getreten, so dass bei deren Einführung die Verwendung des Oberbegriffes "Grundpfandtitel" theoretisch noch Sinn gemacht hätte, um den Schuldbrief wie auch die Gült abzudecken. Indes blieb die Formulierung von
Art. 43 Abs. 2 ZPO
bei der - im Übrigen bereits bei den Vorarbeiten zur ZPO bekannten und berücksichtigten (dazu E. 6.4) - Teilrevision des Immobiliarsachen- und Grundbuchrechts unverändert. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wieso der Gesetzgeber in
Art. 43 Abs. 2 ZPO
einen Oberbegriff verwenden würde, wenn sich nur (noch) ein einziger Unterbegriff darunter subsumieren liesse.
BGE 145 III 133 S. 140
Jedenfalls ergibt die grammatikalische Auslegung nicht ein derart klares bzw. eindeutiges und unmissverständliches Bild, dass keine weitere Überlegungen anhand der gängigen Auslegungsmethoden angezeigt wären.
6.4
Was die historische Auslegung anbelangt, kann für die Entstehungsgeschichte von
Art. 43 Abs. 2 ZPO
auf die zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Entscheid verwiesen werden, welche hier kurz zusammengefasst seien: Im Zusammenhang mit der Teilrevision des Immobiliarsachen- und Grundbuchrechts war ursprünglich die Ergänzung von
Art. 30 GestG
(AS 2000 2361) mit einem Abs. 3 geplant, wonach "für die Kraftloserklärung des als Schuldbrief ausgestellten Pfandtitels" eine Zuständigkeit am Ort der gelegenen Sache vorgesehen worden wäre (vgl. Bericht vom 21. März 2004 zum Vorentwurf zur Teilrevision des Schweizerischen Zivilgesetzbuches, S. 67); operiert wurde hier direkt mit dem Unterbegriff. Mit Aufnahme der Arbeiten für die schweizerische ZPO wurde die geplante Änderung des GestG hinfällig und es ging um die Frage, wie die Zuständigkeit für die Kraftloserklärung von Wertpapieren in der Zivilprozessordnung aussehen sollte. Im Rahmen der Vernehmlassung verlangte der Kanton Basel-Landschaft eine Ergänzung des VE-ZPO dahingehend, dass "für die Kraftloserklärung von Grundpfandtiteln, von Obligationen mit Grundpfandverschreibung sowie von grundpfandversicherten Anleihensobligationen" das Gericht am Ort der gelegenen Sache zuständig sei (Zusammenstellung der Vernehmlassungen vom 15. September 2004, S. 157). Der aufgrund des Vernehmlassungsverfahrens ausgearbeitete E-ZPO sah im Unterschied zum VE-ZPO vor, beim entsprechenden Artikel einen Abs. 2 aufzunehmen mit dem Wortlaut: "Für die Kraftloserklärung von Grundpfandtiteln ist das Gericht an dem Ort zwingend zuständig, an dem das Grundstück im Grundbuch aufgenommen ist". (BBl 2006 7422 zu Art. 41; sodann Botschaft BBl 2006 7271 zu Art. 41). Dies entspricht dem verabschiedeten und heutigen Gesetzeswortlaut.
Die Entstehungsgeschichte ergibt kein eindeutiges Bild, scheint aber tendenziell für eine enge Auslegung zu sprechen: Zunächst lässt der alleinige Umstand, dass der Gesetzgeber im Zusammenhang mit der ZPO durchwegs den Oberbegriff "Grundpfandtitel" verwendete, keineswegs zwingend darauf schliessen, dass darin auch die Inhaberobligation mit Grundpfandverschreibung enthalten sei. Auch der Kanton Basel-Landschaft verwendete diesen Begriff und fügte ihm
BGE 145 III 133 S. 141
separat die "Obligationen mit Grundpfandverschreibung" und die "grundpfandversicherte Anleihensobligation" an. Mithin verstand der Kanton Basel-Landschaft unter den Grundpfandtiteln offensichtlich nur den Schuldbrief und die Gült; er verwendete den Begriff m.a.W. im rechtstechnischen Sinn, wie er in E. 6.3 erklärt wurde. Wenn nun das Gesetz nur noch von "Grundpfandtitel" spricht und im Verhältnis zum Vorschlag des Kantons Basel-Landschaft die weiteren Textteile fallen liess, kann der Gesetzgeber damit den betreffenden Begriff ebenso gut in einem engen rechtstechnischen wie in einem weiten, u.a. auch die Inhaberobligation mit Grundpfandverschreibung einschliessenden Sinn gemeint haben. Eher für eine enge Interpretation spricht aber die Botschaft, indem dort festgehalten wird, dass "die ZPO die im Rahmen der Revision des Immobiliarsachen- und Grundbuchrechts vorgesehene Änderung von Artikel 30 GestG" übernommen habe (BBl 2006 7271 zu Art. 41), und jene Revision in Bezug auf
Art. 30 GestG
eine Zuständigkeit am Ort der gelegenen Sache "für die Kraftloserklärung des als Schuldbrief ausgestellten Pfandtitels" vorgesehen hatte (siehe oben).
6.5
Eine systematische Auslegung ist vorliegend wenig ergiebig. Zwar ist bei der gesetzessystematischen Auslegung der Normkontext allgemein, nicht nur derjenige innerhalb des gleichen Gesetzes zu beachten, und bezieht sich die Marginalie "Pfandtitel" zu
Art. 861 ZGB
und
Art. 144 GBV
auf nichts anderes als den Papier-Schuldbrief (vgl. E. 6.3). Indes geht es vorliegend um eine die örtliche Zuständigkeit regelnde Prozessrechtsnorm, bei welcher durchaus andere als nur streng sachenrechtliche Kriterien eine Rolle spielen können (vgl. E. 6.3 und 6.6).
6.6
Ausgehend vom bisher Gesagten tritt eine teleologische Auslegung der Norm bzw. des in
Art. 43 Abs. 2 ZPO
verwendeten Begriffes "Grundpfandtitel" in den Vordergrund.
Für die Kraftloserklärung von Wertpapieren bildet die allgemeine Anknüpfung am Wohnsitz, wie sie in
Art. 43 Abs. 3 ZPO
vorgesehen ist, den Ausgangspunkt. Ausnahmen sieht das Gesetz vor, wo eine andere Anknüpfung opportun erscheint, nämlich Abs. 1 für Beteiligungspapiere (Sitz der Gesellschaft), Abs. 2 für Grundpfandtitel (Ort der gelegenen Sache) sowie Abs. 4 für Wechsel und Check (Zahlungsort). Dass
Art. 43 Abs. 2 ZPO
die örtliche Zuständigkeit für die Kraftloserklärung von Grundpfandtiteln dem Gericht des Ortes zuweist, an welchem das Grundstück im Grundbuch aufgenommen
BGE 145 III 133 S. 142
ist, hängt offensichtlich mit der Sachnähe des betreffenden Gerichtes zusammen.
Nach dem in E. 6.2 und E. 6.3 Gesagten erfüllt die Inhaberobligation mit Grundpfandverschreibung die gleichen Funktionen wie der Papier-Schuldbrief und wird sie letztlich auch grundbuchlich
wie
ein Papier-Schuldbrief behandelt, freilich ohne dass rechtlich die identischen Wirkungen erzeugt würden. Weil die Inhaberobligation mit Grundpfandverschreibung nicht schweizweit verbreitet ist, sondern typischerweise in den Kantonen bzw. Regionen, die sie vor Einführung des ZGB kannten (dazu E. 6.2), tritt das Element der Sachnähe und der Vertrautheit mit den örtlichen Begebenheiten gegenüber dem Papier-Schuldbrief verstärkt in den Vordergrund. Dies trifft nicht nur auf die Errichtung zu, welche spätestens seit der Teilrevision des Immobiliarsachenrechts ausnahmslos der öffentlichen Beurkundung bedarf (vgl.
Art. 799 Abs. 2 ZGB
; sodann statt vieler: SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, a.a.O., Rz. 1643), sondern auch für die Kraftloserklärung, welche augenfällig spezifische Kenntnisse über dieses spezielle, im ZGB nicht geregelte und auch nicht vorgesehene Institut erfordert.
Gewichtige praktische Aspekte sprechen somit dafür, dass nicht nur die Errichtung, sondern insbesondere auch die Kraftloserklärung der Inhaberobligation mit Grundpfandverschreibung am "vertrauten Ort" stattfinden soll, nämlich dort, wo die Grundpfandverschreibung im Grundbuch eingetragen ist. Die Zuweisung der Entscheidkompetenz an das für den betreffenden Ort zuständige Gericht ist denn auch der offenkundige Sinn und Zweck von
Art. 43 Abs. 2 ZPO
: Die Kraftloserklärung von Wertpapieren, die aufgrund der Natur des Rechtsverhältnisses eine Nähe zu einem Grundstück und damit einer gelegenen Sache aufweisen, soll am betreffenden Ort durchgeführt werden. Wenn dieser Grundgedanke den Gesetzgeber unbestritten für den Papier-Schuldbrief zu einer Spezialregelung veranlasst hat, so muss dies aus zivilprozessualer Optik umso mehr für das nicht in allen Teilen der Schweiz bekannte Institut der Inhaberobligation mit Grundpfandverschreibung gelten; ansonsten käme es zu einer offensichtlichen Wertungsinkongruenz, und es ist nicht davon auszugehen, dass der Gesetzgeber eine solche angestrebt hat.
Die teleologische Auslegung des im Kontext der örtlichen Gerichtszuständigkeit verwendeten Begriffes "Grundpfandtitel" führt mithin dazu, den Terminus nicht in einem technisch-sachenrechtlichen Sinn
BGE 145 III 133 S. 143
zu verstehen, sondern orientiert am Telos der entsprechenden prozessrechtlichen Norm.
6.7
Zusammenfassend ergibt sich, dass die Verwendung des Begriffes "Grundpfandtitel" in
Art. 43 Abs. 2 ZPO
aufgrund von Sinn und Zweck der Norm in einem weiten Sinn zu verstehen und darunter auch die "Inhaberobligation mit Grundpfandverschreibung" zu verstehen ist. Die Beschwerdeführer hatten denn auch - scheinbar ganz natürlich - einen Rechtsanwalt in U. beauftragt und ihr Gesuch gestützt auf Abs. 2 beim Bezirksgericht Siders eingereicht; erst nachdem dieses sich mit Verweis auf Abs. 3 für unzuständig erklärt hatte, reichten sie in einem zweiten Schritt beim Regionalgericht Emmental-Oberaargau ein Gesuch um Kraftloserklärung ein. | 5,110 | 3,721 | 2 | 0 | CH_BGE_005 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_005_BGE-145-III-133_2018-12-21 | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=1&from_date=&to_date=&from_year=2018&to_year=2018&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=3&highlight_docid=atf%3A%2F%2F145-III-133%3Ade&number_of_ranks=236&azaclir=clir | BGE_145_III_133 |
|||
ee35e84c-8bd7-43e1-919b-50543b05ba40 | 1 | 84 | 1,335,170 | 1,315,872,000,000 | 2,011 | de | Sachverhalt
ab Seite 394
BGE 137 V 394 S. 394
A.
A.a
S. wurde am 24. Januar 1997 im Kantonsspital Basel-Stadt bei der operativen Behebung eines Hydrozephalus verletzt und erlitt eine Schädigung des Gehirns. Sie bezieht bei einem Invaliditätsgrad von 100 % eine ganze Rente der Eidgenössischen Invalidenversicherung und der Beruflichen Vorsorge.
BGE 137 V 394 S. 395
A.b
Mit Schreiben vom 29. April 1998 liess S. ihre Arbeitgeberin bitten, der Unfallversicherung das Ereignis vom 24. Januar 1997 als Unfall zu melden. Das Schreiben lautet wie folgt:
"Nach Prüfung der Rechtslage habe ich die Überzeugung gewonnen, dass es sich bei der Operation vom 24.1.1997 um einen Unfall im Rechtssinne handelt. Dürfte ich Sie höflich bitten, die entsprechende Anmeldung an die obligatorische Unfallversicherung vorzunehmen und mir davon eine Kopie zuzustellen. Sollte ihre Gesellschaft selbst die obligatorische Unfallversicherung sein, so bitte ich Sie höflich, mir allfällige Zusatzleistungen bekannt zu geben. Bezüglich der Begründung der Tatsache, dass es sich bei der Operation am 24.1.1997 um einen Unfall handelt, werde ich Sie näher informieren bzw. diesen Standpunkt begründen, wenn Ihre Gesellschaft selbst die Unfallversicherung sein sollte. Mit bestem Dank ..."
Die Arbeitgeberin leitete das Schreiben an die Helsana Unfall AG (nachfolgend: Helsana) weiter, bei der es am 6. Mai 1998 einging. In der Folge kamen die Parteien darauf nicht mehr zurück.
A.c
In der Auseinandersetzung mit dem Kanton Basel-Stadt bestritt dieser mit Schreiben vom 29. Mai 1998 mangels Arztfehler beziehungsweise Widerrechtlichkeit seine Haftpflicht. Am 14. Oktober 1999 klagte daraufhin S. direkt beim Bundesgericht gegen den Kanton Basel-Stadt auf Schadenersatz für Erwerbsausfall, Rentenschaden, Pflege- und Betreuungskosten, Haushaltschaden und vorprozessuale Anwaltskosten sowie Genugtuung. Das Verfahren wurde zunächst auf die Frage der grundsätzlichen Haftung des Beklagten beschränkt und diese mit Urteil 4C.378/1999 des Bundesgerichts vom 23. November 2004 bejaht. Am 5. Juli 2005 wurde das bundesgerichtliche Verfahren fortgesetzt. Mit Replik vom 30. August 2005 zum Quantitativen forderte S. einen Betrag von insgesamt über Fr. 15'000'000.-. In der Folge kam es zu einem Vergleich, mit dem sich der Haftpflichtige verpflichtete, S. über die bereits bezahlten Beträge hinaus einen Betrag von Fr. 3'000'000.- (Anwaltskosten eingeschlossen) zu bezahlen, und das Verfahren wurde mit Verfügung des Bundesgerichts vom 1. Juni 2006 abgeschrieben.
A.d
Mit undatiertem Schreiben, eingegangen bei der ehemaligen Arbeitgeberin am 18. Januar 2007
,
verwies S. auf das Urteil des Bundesgerichts vom 23. November 2004, wonach ein Unfall vorliege, und beantragte Leistungen aus Unfall. Am 22. Januar 2007, eingegangen bei der Helsana am 30. Januar 2007, zeigte die ehemalige Arbeitgeberin das Schadenereignis an. Die Helsana verneinte einen Leistungsanspruch mit Verfügung vom 31. Juli 2008. Zur Begründung führte sie an, die Versicherte habe den Leistungsanspruch
BGE 137 V 394 S. 396
verwirkt und überdies durch den Vergleich mit dem Haftpflichtversicherer auch über die Regressforderung des Unfallversicherers gegenüber dem Unfallverursacher verfügt. Die dagegen gerichtete Einsprache der Versicherten vom 2. September 2008 wies die Helsana mit Entscheid vom 10. November 2008 ab.
B.
S. erhob Beschwerde mit dem Hauptbegehren auf Aufhebung des Einspracheentscheids vom 10. November 2008 und Zusprechung der gesetzlichen Leistungen im Rahmen einer Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von 100 %, einer maximalen Integritätsentschädigung, einer Hilflosenentschädigung für Hilflosigkeit schweren Grades und Heilungskosten, alles rückwirkend ab 24. Januar 1997 nebst 5 % Zins. Im Eventualbegehren beantragte sie Rückweisung zu weiterer Abklärung und Neubeurteilung. Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wies die Beschwerde mit Entscheid vom 29. September 2010 ab.
C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt S. unter Aufrechterhaltung ihrer vorinstanzlichen Begehren die Aufhebung dieses Entscheids beantragen. Die Helsana trägt auf Abweisung an und verlangt mit Eventualantrag, es sei ein Zeuge zu befragen und die vollständigen Akten des Haftpflichtprozesses seien zu edieren.
D.
Das Bundesgericht gewährt den Parteien das rechtliche Gehör zur Frage, ob die Leistungsansprüche durch die Zahlung des Haftpflichtigen bereits getilgt seien, resp. ob deren Geltendmachung gegenüber der Helsana rechtsmissbräuchlich ist. Davon haben beide Seiten mit Eingaben vom 20. Juli und 25. August 2011 Gebrauch gemacht.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab. | 1,922 | 773 | Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Streitig und zu prüfen ist, ob die Beschwerdeführerin für die Folgen des Eingriffs vom 24. Januar 1997 Leistungen der obligatorischen Unfallversicherung geltend machen kann. Die Helsana hat ihre Leistungspflicht mit der Begründung verneint, die Beschwerdeführerin habe auf den Leistungsanspruch verzichtet und überdies durch den Vergleich mit dem Haftpflichtigen über die Regressforderung des Unfallversicherers verfügt. Das kantonale Gericht hat dies bestätigt.
3.
Am 1. Januar 2003 sind das Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG;
BGE 137 V 394 S. 397
SR 830.1) und die Verordnung vom 11. September 2002 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSV; SR 830.11) in Kraft getreten. In materiellrechtlicher Hinsicht gilt jedoch der allgemeine übergangsrechtliche Grundsatz, dass für die Beurteilung diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben (
BGE 136 V 24
E. 4.3 S. 27;
BGE 130 V 445
E. 1.2.1 S. 447; Urteil 8C_979/2009 vom 1. November 2010 E. 3 mit Hinweisen). Das Ereignis, aus dem Leistungsansprüche abgeleitet werden, hat sich vor Inkrafttreten des ATSG ereignet. Da die Regelung des Rückgriffs - sowohl gemäss dem bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen aArt. 41 UVG (SR 832.20) wie auch gemäss dem am 1. Januar 2003 in Kraft getretenen
Art. 72 Abs. 1 ATSG
- vom Prinzip der Subrogation im Zeitpunkt des Ereignisses ausgeht, ist massgebender Zeitpunkt für die Verwirklichung der sich aus der Subrogation ergebenden Rechtsfolgen der Zeitpunkt des Unfallereignisses (erwähntes Urteil 8C_979/2009 E. 4.1 mit Hinweisen;
BGE 129 V 396
E. 1.1 S. 398; vgl. auch
BGE 134 III 489
E. 4.3 S. 492). Die Helsana ist somit gestützt auf aArt. 41 UVG am 24. Januar 1997 bis auf die Höhe der gesetzlichen Leistungen in die Ansprüche der Beschwerdeführerin gegenüber dem Haftpflichtigen eingetreten, obwohl in diesem Zeitpunkt noch nicht feststand, welche Leistungen sie erbringen muss (Urteil 4A_307/2008 vom 27. November 2008 E. 3.1.3 mit Hinweisen). Vorliegend sind demzufolge für die Subrogation die gesetzlichen Grundlagen vor Inkrafttreten des ATSG massgebend.
4.
4.1
Das kantonale Gericht nahm an, die Beschwerdeführerin habe stillschweigend auf die Unfallversicherungsleistungen verzichtet, weil sie nach ihrem Schreiben vom 29. April 1998 während fast neun Jahren nichts mehr unternommen, den Haftpflichtprozess beendet und damit bekundet habe, dass sie die Beschwerdegegnerin nicht in Anspruch nehmen werde. Es beruft sich hiefür auf
BGE 108 V 84
E. 3a S. 88.
4.2
Der von der Vorinstanz angenommene Verzicht knüpft an ein konkludentes Verhalten an, das über den 1. Januar 2003 hinaus andauerte. Es erscheint daher fraglich, ob mit der Vorinstanz und der Beschwerdeführerin diesbezüglich intertemporalrechtlich auf aArt. 65 UVV (SR 832.202) abgestellt werden kann, oder ob nicht vielmehr
Art. 23 ATSG
zur Anwendung gelangt. Die Frage kann offenbleiben, denn sowohl aArt. 65 UVV als auch
Art. 23 ATSG
setzen
BGE 137 V 394 S. 398
ausdrücklich voraus, dass ein Verzicht schriftlich erklärt werden muss. Ein konkludenter Verzicht, wie er unter dem noch früheren Recht von der Rechtsprechung akzeptiert wurde (
BGE 116 V 273
E. 4 S. 279 f.;
BGE 108 V 84
E. 3a S. 88), ist nicht mehr möglich (
BGE 135 V 106
E. 6.2.3 S. 111; GHISLAINE FRÉSARD-FELLAY, De la renonciation aux prestations d'assurance sociale [art. 23 LPGA/ATSG], HAVE 2002 S. 335 ff., 336 f.; FRÉSARD/MOSER-SZELESS, L'assurance-accidents obligatoire, in: Soziale Sicherheit, SBVR Bd. XIV, 2. Aufl. 2007, S. 976 Rz. 481 und Fn. 712; GEBHARD EUGSTER, Krankenversicherung, in: Soziale Sicherheit, SBVR Bd. XIV, 2. Aufl. 2007, S. 811 Rz. 1197; ANDRÉ PIERRE HOLZER, Verjährung und Verwirkung der Leistungsansprüche im Sozialversicherungsrecht, 2005, S. 77). Für einen Verzicht hätte es im Übrigen im Geltungsbereich von aArt. 65 UVV des Einverständnisses aller Beteiligten bedurft, und der Verzicht hätte vom Sozialversicherer in einer Verfügung festgehalten werden müssen (
BGE 124 V 174
E. 3c S. 178; erwähntes Urteil 8C_979/2009; ALEXANDRA RUMO-JUNGO, Subrogation im Zeitpunkt des schädigenden Ereignisses, in: Festschrift des Nationalen Versicherungsbüros Schweiz und des Nationalen Garantiefonds Schweiz, 2000, S. 413 f.). Diese Formvorschriften sind hier offensichtlich nicht eingehalten. Ein Verzicht liegt daher nicht vor.
5.
5.1
Das kantonale Gericht hielt fest, wegen der im Zeitpunkt des Unfalls eingetretenen Subrogation sei es der Beschwerdeführerin grundsätzlich verwehrt gewesen, auf die Leistungen der Beschwerdegegnerin zu verzichten. Es ist unklar, welche Schlüsse es daraus ziehen will. Die Beschwerdeführerin ihrerseits leitet daraus ab, der Vergleich mit dem Haftpflichtigen habe keine UVG-Ansprüche beinhalten können, da sie zufolge Subrogation über diese Ansprüche nicht mehr habe verfügen können.
5.2
Dem ist nicht zu folgen. Zwar trifft es zu, dass die Subrogation im Zeitpunkt des Unfalls eintritt (vgl. oben E. 3) und die Forderung des Geschädigten gegenüber dem Haftpflichtigen schon dann auf den Versicherer übergeht. Der Sozialversicherer allein ist somit Gläubiger (GHISLAINE FRÉSARD-FELLAY, Le recours subrogatoire de l'assurance-accidents sociale contre le tiers responsable ou son assureur, 2007, S. 105 Rz. 343 f.; ALEXANDRA RUMO-JUNGO, Haftpflicht und Sozialversicherung, 1998, S. 431 Rz. 971). Das bedeutet im Haftpflichtprozess, dass der grundsätzlich für den ganzen Schaden Haftpflichtige
BGE 137 V 394 S. 399
dem Geschädigten gegenüber die erbrachten Sozialversicherungsleistungen als den Schaden reduzierende Positionen, für die er beweispflichtig ist, entgegenhalten kann (erwähntes Urteil 4A_307/2008 E. 3.1.4). Ging der Haftpflichtige nicht davon aus, dass Leistungen aus UVG erbracht worden sind bzw. noch erbracht werden, bestand auch kein Anlass für einen entsprechenden Abzug. Im Übrigen bewirkt der Forderungsübergang nur, dass der Geschädigte mangels Berechtigung nicht mehr verfügen
darf
, nicht dass er nicht verfügen
kann
. Verfügt er trotzdem, beispielsweise durch Abschluss eines Vergleichs mit dem Haftpflichtigen, bedeutet dies einzig, dass Letzterer durch Zahlung an den nicht mehr berechtigten Geschädigten von seiner Leistungspflicht gegenüber dem Sozialversicherer nicht befreit wird und die Gefahr der Doppelzahlung läuft (Urteil 4P.322/1994 vom 28. August 1995 E. 2d; FRÉSARD-FELLAY, Le recours subrogatoire, a.a.O., S. 106 Rz. 345).
6.
Zwischen den Parteien ist streitig, ob der Vergleich mit dem haftpflichtigen Kanton auch UVG-Leistungen umfasste. Die Beschwerdegegnerin macht geltend, die Beschwerdeführerin sei ungerechtfertigt bereichert, falls sie ihrerseits Leistungen nach UVG erbringen müsse.
6.1
Nach einem UVG-versicherten Ereignis mit Drittbeteiligung sind in der Regel und auch hier nebst den Ansprüchen aus UVG solche aus Haftpflichtrecht zu berücksichtigen. Wie bereits erwähnt, tritt der UVG-Versicherer dabei im Zeitpunkt des bei ihm versicherten Ereignisses bis auf die Höhe der gesetzlichen Leistungen in die Ansprüche der verunfallten Person gegenüber dem Haftpflichtigen ein (aArt. 41 UVG; E. 3 hievor).
6.2
Der Vergleich zwischen der Beschwerdeführerin und dem Haftpflichtigen lautet wie folgt:
"1. Der Beklagte bezahlt der Klägerin über die bereits bezahlten Beträge hinaus Fr. 3'000'000.- (drei Millionen Franken), Anwaltskosten eingeschlossen.
2. Dabei gehen die Parteien insbesondere von folgenden Gegebenheiten aus:
a) Entsprechend der neuesten Rechtsprechung des Bundesgerichts (4C.277/2005 vom 17. Januar 2006, zur Publikation bestimmt), steht den Pensionskassen auch nach der vor dem 1. Januar 2005 geltenden Regelung (Einführung von
Art. 34b BVG
) ein Rückgriffsrecht auf den haftpflichtigen Dritten zu, unabhängig davon, ob eine Abtretung der Ansprüche des Geschädigten erfolgt ist.
BGE 137 V 394 S. 400
b) Die Klägerin erhält keine Hilflosenentschädigung. Sollte sie in Zukunft entsprechende Leistungen beziehen, hält sie den Beklagten schadlos, soweit dieser dafür aus Regress zahlungspflichtig wird.
3. Mit Erfüllung dieser Vereinbarung sind die Parteien per Saldo aller Ansprüche auseinander gesetzt."
Aus der Bestätigung des damaligen Rechtsvertreters der Beschwerdeführerin vom 1. Februar 2007 geht sodann hervor, dass der Haftpflichtige gesamthaft, einschliesslich der im Vergleich genannten Summe und vorangegangener Akontozahlungen Fr. 5'000'000.- ausbezahlt hat. Davon flossen nach Abzug des Anwaltshonorars und von Barauslagen an eine Drittperson Fr. 4'250'000.- an die Beschwerdeführerin.
Es fragt sich nun, ob die Beschwerdeführerin über diese Summe hinaus Anspruch auf die geltend gemachten UVG-Leistungen (Invalidenrente, Integritätsentschädigung, Hilflosenentschädigung, Heilbehandlung) erheben kann.
6.3
An Leistungen aus Haftpflichtrecht mit jeweils vergleichbarem Zweck kommen bei der Invalidenrente (nach
Art. 18 ff. UVG
) die Leistungskategorie Erwerbsausfallsentschädigung/Rentenschaden, bei der Integritätsentschädigung (Art. 24 f. UVG) die Genugtuung, bei der Hilflosenentschädigung (Art. 26 f. UVG) die Entschädigung für den Betreuungs- sowie Pflegeaufwand und bei der Heilbehandlung (
Art. 10 UVG
) die Übernahme von Heilungs- sowie Behandlungskosten (Begriffsverwendungen jeweils wie im durchgeführten Haftpflichtprozess [siehe: Urteil 4C_378/1999 vom 23. November 2004]; vgl. auch RUMO-JUNGO, a.a.O., S. 436 ff.) in Betracht. Dabei ist davon auszugehen, dass die Leistungen des Haftpflichtigen resp. Haftpflichtversicherers, welcher den vollen Schaden und eine Genugtuung zu bezahlen hat, die Leistungen des UVG-Versicherers in der Regel übertreffen. So hat Letzterer etwa nur eine Invalidenrente im Umfang von höchstens 80 % des versicherten Verdienstes (
Art. 20 Abs. 1 UVG
) und eine Integritätsentschädigung, die maximal dem Höchstbetrag des versicherten Jahresverdienstes entspricht (
Art. 25 Abs. 1 UVG
), auszurichten.
Im vorliegenden Fall bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass es sich diesbezüglich anders verhalten könnte. Namentlich liegen keine Hinweise auf erfolgte Kürzungen der haftpflichtrechtlichen Leistungen vor, welche allenfalls bei UV-Leistungen nicht vorzunehmen wären.
BGE 137 V 394 S. 401
6.4
Zu beurteilen bleibt, ob durch den Haftpflichtigen auch tatsächlich der volle Schaden gedeckt worden ist.
Vorerst ergibt sich aus dem Wortlaut des Vergleiches selber, dass die Parteien per saldo aller Ansprüche auseinandergesetzt seien. Dies lässt darauf schliessen, dass nicht noch weitere Ansprüche zur Beurteilung standen, soweit im Vergleich nicht Vorbehalte formuliert wurden (dazu nachstehend E. 6.5).
Weiter ist zu beachten, dass die Ansprüche gegenüber dem Haftpflichtigen erhoben wurden, bevor die Frage allfälliger Leistungsansprüche nach dem UVG geprüft und beantwortet worden war. Bei dieser Konstellation ist gestützt auf die allgemeine Lebenserfahrung davon auszugehen, dass eine geschädigte Person vom Haftpflichtigen den vollen Schadensausgleich fordert. Das gilt erst recht, wenn sie - wie hier der Fall - durch einen erfahrenen Schaden- und Versicherungsrechtsanwalt vertreten ist. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass der Rechtsvertreter bei Unterlassen gebotener Leistungsbegehren selber Gefahr läuft, haftpflichtrechtlich belangt zu werden. Im Lichte dieser Ausführungen besteht eine natürliche Vermutung dafür, dass die geschädigte Person bei der gegebenen Konstellation den gesamten Schaden vom Haftpflichtigen verlangt.
Konkret hat die Beschwerdeführerin im Direktprozess vor Bundesgericht denn auch alle möglichen Schadenspositionen ausführlich geltend gemacht. Dies betrifft insbesondere die Positionen der Heilungskosten, des Erwerbsausfalls und der Genugtuung, welche im Haftpflichtrecht bei der Gliederung der Ansprüche denjenigen nach UVG gleichgesetzt sind (
Art. 74 ATSG
bzw. aArt. 43 UVG).
Für die Behauptung der Beschwerdeführerin, sie habe nur den Direktschaden verlangt, ergeben sich aus den Akten keinerlei Anhaltspunkte. Das Gegenteil ist der Fall: In den formatierten Berechnungen zur Schadenshöhe (Berechnungssystem Leonardo) findet sich zwar ein Abzug für die laufende Rente der Invalidenversicherung. Die entsprechende Rubrik für Leistungen der Unfallversicherung ist indessen leer gelassen worden. Das bedeutet, dass die Beschwerdeführerin bei der Begründung ihrer Ansprüche selber davon ausging, sie erhalte keinerlei Leistungen der Unfallversicherung, andernfalls sie sich diese - analog zu denjenigen der Invalidenversicherung - hätte anrechnen lassen müssen. Die Beschwerdeführerin hat denn auch zusätzliche Leistungen der Unfallversicherung im Direktprozess vor Bundesgericht gar nie erwähnt. Offenbar ging sie selber in
BGE 137 V 394 S. 402
jener Prozessphase davon aus, das Ereignis stelle keinen Unfall im Rechtssinne dar bzw. der Nachweis eines solchen sei wenig erfolgversprechend.
Es kann mithin mit Sicherheit angenommen werden, die Einigung zwischen der Beschwerdeführerin und dem Haftpflichtigen habe alle Schadenpositionen erfasst und damit den Gesamtschaden abgedeckt.
6.5
Daran ändert auch der Umstand nichts, dass sich im Vergleich ein Vorbehalt zu möglichen späteren Hilflosenentschädigungen der Invalidenversicherung findet. Die Beschwerdeführerin will daraus ableiten, ein solcher hätte auch für Leistungen der Unfallversicherung angebracht werden müssen, falls diese in der durch Vergleich vereinbarten Summe enthalten gewesen wären. Dem kann nicht gefolgt werden. Der Vorbehalt im Vergleich ging offensichtlich auf eine Intervention des Haftpflichtigen zurück, da die Beschwerdeführerin trotz 100%iger Invalidität auf die Hilflosenentschädigung verzichtete. Diese Frage wurde im Prozess ausführlich diskutiert. Leistungen der Unfallversicherung waren aber nie Gegenstand der Verhandlungen, da alle Verfahrensbeteiligten davon ausgingen, solche seien nicht geschuldet.
6.6
Der Behauptung der Beschwerdeführerin, sie habe im Zivilprozess gegen den Haftpflichtigen nur den Direktschaden geltend gemacht, kann aber auch aus (verfahrens)rechtlichen Gründen nicht gefolgt werden. Einmal wäre es unmöglich gewesen, (nur) den Direktschaden geltend zu machen, ohne die Leistungen des Unfallversicherers überhaupt zu kennen; insbesondere diese Leistungen sind ja vom Gesamtschaden in Abzug zu bringen, um überhaupt den Direktschaden berechnen zu können. Überdies hätte das Bundesgericht den Prozess nicht zum Abschluss bringen können, falls Leistungen aus Unfallversicherung vorbehalten gewesen wären; vielmehr hätte es wohl den Prozess bis zum Abschluss des UVG-Verfahrens sistiert.
6.7
Die Beschwerdeführerin bringt auch vergeblich vor, sie habe im Haftpflichtverfahren nicht alles zugesprochen resp. vergleichsweise zuerkannt erhalten, was sie ursprünglich eingeklagt hatte. Massgebend ist, dass bei der Bestimmung der vom Haftpflichtigen zu erbringenden Zahlungen keine UV-Leistungen vorbehalten und abgezogen wurden. Dies lässt sich unter den gegebenen Umständen vernünftigerweise nur so erklären, dass die Beschwerdeführerin vom Haftpflichtigen den gesamten Schaden vergütet erhielt, was denn
BGE 137 V 394 S. 403
auch mit Blick auf die erfolgten Zahlungen realistisch erscheint. Daran vermag der Einwand der Beschwerdeführerin nichts zu ändern. Gleiches gilt, soweit sie auf einzelne Positionen der damaligen zivilrechtlichen Schadensbestimmung und auf verschiedene Leistungsarten der Unfallversicherung Bezug nimmt.
6.8
Grundsätzlich kann ein Geschädigter nur einmal die Wiedergutmachung seines Schadens erlangen (
BGE 133 III 6
E. 5.3.2 S. 22). Steht daher zweifellos fest, dass einem Versicherten im Rahmen eines Haftpflichtprozesses der volle Schaden (und damit auch allfällige Leistungen der Unfallversicherung) gedeckt worden ist, kann er solche Leistungen nicht ein zweites Mal geltend machen.
Zwar besteht im Sozialversicherungsrecht kein extrasystemisches Überentschädigungsverbot, weshalb der Unfallversicherer dem Versicherten gegenüber nicht die Einrede der Erfüllung durch den Haftpflichtigen entgegenhalten kann. Indem die Versicherte aber eine Leistung verlangt, für die sie im Zivilprozess schon voll entschädigt worden ist, handelt sie rechtsmissbräuchlich (vgl. E. 7.1 nachfolgend).
7.
Die Prüfung der geltend gemachten Ansprüche kann überdies unterbleiben, weil das Prozessverhalten der Beschwerdeführerin ebenfalls rechtsmissbräuchlich erscheint.
7.1
Auch der Private ist im Verkehr mit den Behörden an Treu und Glauben gebunden (
Art. 5 Abs. 3 BV
; SVR 2011 EL Nr. 7 S. 21, 9C_999/2009 E. 6.2 mit Hinweisen). Ein auch im öffentlichen Recht anerkannter Ausfluss davon ist das Verbot widersprüchlichen Verhaltens. Da jedoch die Berufung auf das Verbot widersprüchlichen Verhaltens gegenüber dem Bürger stets auf eine Verkürzung von dessen gesetzlichen Rechtspositionen hinausläuft, ist - insbesondere wenn es aus passivem Verhalten abgeleitet wird - Zurückhaltung angebracht (THOMAS GÄCHTER, Rechtsmissbrauch im öffentlichen Recht, 2005, S. 194 ff., 197). In Anlehnung an die privatrechtliche Doktrin zu
Art. 2 Abs. 2 ZGB
kann Widersprüchlichkeit einerseits auf der
Unvereinbarkeit zweier Verhaltensweisen
und andererseits auf dem Verbot, begründete Erwartungen eines anderen zu enttäuschen, beruhen. Zentral ist die Abwägung der Interessen und dabei eine allfällige
Vertrauensbetätigung
der Behörden (GÄCHTER, a.a.O., S. 199 f., 208 und 556 f.).
7.2
Mit undatiertem Schreiben an ihre ehemalige Arbeitgeberin, das bei dieser am 18. Januar 2007 einging, verwies die
BGE 137 V 394 S. 404
Beschwerdeführerin auf das Urteil des Bundesgerichts vom 23. November 2004. Daraus ergebe sich, dass ein Unfall vorliege und nicht eine Krankheit. Sie beantrage daher Leistungen aus Unfall. Die Arbeitgeberin meldete der Beschwerdegegnerin mit offiziellem Formular, datierend vom 22. Januar 2007, einen Unfall "gemäss Berichte des Bundesgerichts". Diese Meldung ging bei der Beschwerdegegnerin zusammen mit den Akten am 30. Januar 2007 ein, mithin nach Eintritt der absoluten Verjährung des Regressanspruchs.
7.3
Im Hinblick auf die Beurteilung des Verhaltens der Parteien ist von Bedeutung, dass es sich bei dem streitgegenständlichen Unfall um eine Sorgfaltspflichtverletzung bei einer Operation handelte. Nicht jede Sorgfaltspflichtverletzung stellt einen Unfall dar. Im Rahmen einer Krankheitsbehandlung, für welche der Unfallversicherer nicht leistungspflichtig ist, kann ein Behandlungsfehler ausnahmsweise den Unfallbegriff erfüllen, nämlich dann, wenn es sich um grobe und ausserordentliche Verwechslungen und Ungeschicklichkeiten oder sogar um absichtliche Schädigungen handelt, mit denen niemand rechnete, noch zu rechnen brauchte (FRÉSARD/MOSER-SZELESS, a.a.O., S. 860 Rz. 72; ALEXANDRA RUMO-JUNGO, Bundesgesetz über die Unfallversicherung, 2003, S. 24).
In ihrem Schreiben vom 29. April 1998 stellte die Beschwerdeführerin in Aussicht, näher darüber zu informieren, wieso es sich bei der Operation um einen Unfall gehandelt habe. Nachdem der Kanton Basel-Stadt die Haftpflicht mit Schreiben vom 29. Mai 1998 bestritten hatte, leitete sie Klage ein. Vor diesem Hintergrund durfte die Beschwerdegegnerin das Schreiben vom 29. April 1998 so verstehen, dass sie von der Beschwerdeführerin informiert würde, sobald diese in der Lage sei, die Voraussetzungen des Unfallbegriffs zu begründen. Die Beschwerdeführerin macht denn auch selbst geltend, erst mit dem Urteil des Bundesgerichts vom 23. November 2004 sei festgestanden, dass eine Sorgfaltspflichtverletzung gegeben und damit der Unfallbegriff erfüllt sei. Solange die Beschwerdeführerin somit nicht gemäss ihrem Schreiben mitteilte, weshalb die Operation als Unfall anzuerkennen sei, musste die Beschwerdegegnerin nicht damit rechnen, dass sie das am 29. April 1998 gemeldete Ereignis als Unfall weiterverfolgen wolle. Dies war erst mit Schreiben vom 18. Januar 2007 (Eingang) an die Arbeitgeberin der Fall. Die Beschwerdeführerin wusste jedoch bereits nach dem Urteil vom 23. November 2004, dass eine Sorgfaltspflichtverletzung vorlag und hätte
BGE 137 V 394 S. 405
in diesem Zeitpunkt die Beschwerdegegnerin darüber informieren müssen.
7.4
Indem die Beschwerdeführerin gegenüber dem Haftpflichtigen und dem Unfallversicherer kongruente Leistungen geltend macht, verhält sie sich widersprüchlich. Sie will damit die vom Gesetz verpönte Überentschädigung erreichen. Die Beschwerdeführerin wäre aufgrund ihres Schreibens vom 29. April 1998 gehalten gewesen, die Beschwerdegegnerin über den Ausgang des Haftpflichtverfahrens zu informieren. Ihre Unterlassung verschlechterte grundlos die Position des Sozialversicherers (vgl. auch
BGE 127 III 257
E. 6c S. 266 f.), indem dessen Regressanspruch verjährte. Auch dieses Verhalten ist als rechtsmissbräuchlich zu qualifizieren. | 8,829 | 3,507 | 2 | 0 | CH_BGE_007 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_007_BGE-137-V-394_2011-09-13 | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=10&from_date=&to_date=&from_year=2011&to_year=2011&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=91&highlight_docid=atf%3A%2F%2F137-V-394%3Ade&number_of_ranks=265&azaclir=clir | BGE_137_V_394 |
|||
ee3c8264-52a7-48e4-b168-7c6bc67d14da | 1 | 81 | 1,353,595 | null | 2,024 | de | Sachverhalt
ab Seite 418
BGE 109 II 418 S. 418
A.-
B. erwarb im Jahre 1964 in der Gemeinde Egnach eine Liegenschaft und verlegte seinen Wohnsitz dorthin. Im gleichen Jahr wurde das Nachbargrundstück an die Verzinkerei Egnach AG verkauft, welche darauf ihren Verzinkereibetrieb errichtete. Der Ausbau der entsprechenden Werkanlagen erfolgte in den Jahren 1965 bis 1967. Von Mitte November 1964 bis Ende Oktober 1966 war B. als Hilfsarbeiter in der Verzinkerei tätig. Er beschwerte sich
BGE 109 II 418 S. 419
seit der Aufnahme des Werkbetriebs der Verzinkerei über übermässige Lärmimmissionen. Trotzdem lehnte er drei Offerten der Verzinkerei Egnach AG, seine Liegenschaft käuflich zu übernehmen, ab.
Seit 1963 steht B. wegen einer endogenen Depression in psychiatrischer Behandlung. Im Jahre 1971 stellten die Ärzte auch bei seiner Ehefrau eine Depression exogen-reaktiver Natur fest.
B.-
Im März 1978 erhob B. gegen die Verzinkerei Egnach AG Klage auf Feststellung und Unterlassung der übermässigen Lärmimmissionen in der Zeit von 19.00 Uhr bis 07.00 Uhr sowie auf Schadenersatz im Betrag von Fr. 119'844.90 zuzüglich Zins zu 5% seit dem 1. September 1974, unter Vorbehalt des Nachklagerechts mit Rücksicht auf weitere Schadenersatzansprüche.
Mit Urteil vom 25. September 1981 stellte das Bezirksgericht Arbon fest, dass vom Grundstück der Beklagten übermässige Lärmimmissionen ausgehen, und verpflichtete diese zur Ausführung verschiedener lärmdämpfender Massnahmen. Dieses Teilurteil, das sich nicht mit der Schadenersatzforderung befasste, wurde am 5. März 1982 vom Obergericht des Kantons Thurgau bestätigt und ist inzwischen in Rechtskraft erwachsen. Es ist damit hinsichtlich der lärmdämpfenden Vorkehren gegen die nach wie vor übermässigen Lärmimmissionen vollstreckbar geworden.
C.-
Über die vom Kläger geltend gemachte Schadenersatzforderung entschied das Bezirksgericht Arbon mit Urteil vom 24. November 1982. Es wies das entsprechende Rechtsbegehren ab mit der Begründung, die Forderung sei im Sinne von
Art. 60 Abs. 1 OR
verjährt, sofern sie überhaupt zu Recht bestehe.
Gegen dieses Urteil erhob der Kläger Berufung an das Obergericht des Kantons Thurgau, welche am 1. März 1983 abgewiesen wurde.
D.-
Der Kläger führt hiegegen beim Bundesgericht Berufung. Er beantragt die Aufhebung des Urteils des Obergerichts vom 1. März 1983 und die Gutheissung seiner Schadenersatzforderung, eventuell die Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur Ergänzung des Beweisverfahrens und zu neuer Entscheidung. | 545 | 407 | Das Bundesgericht heisst die Berufung gut, hebt das angefochtene Urteil auf und weist die Sache zu neuer Entscheidung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurück.
BGE 109 II 418 S. 420
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Der Kläger wirft der Vorinstanz vor, sie habe gegen Bundesrecht verstossen, indem sie angenommen habe, seine Schadenersatzforderung sei bereits verjährt. Er bestreitet zwar nicht, dass der eingeklagte Betrag sich im wesentlichen aus den Auslagen für ärztliche Behandlung in den Jahren 1968 bis 1974 und aus dem Ersatz für seine von der Beklagten widerrechtlich herbeigeführte Erwerbsunfähigkeit in den Jahren 1968 bis 1974 zusammensetzt und dass auch die Verursacherin des behaupteten Schadens seit Jahren bekannt ist, so dass eine Schadenersatzforderung für einen bestimmten Teilschaden gegenüber einem seit längerer Zeit bekannten Schädiger geltend gemacht wird. Der Kläger geht indessen davon aus, dass die im Jahre 1982 vom Obergericht als widerrechtlich festgestellten Lärmimmissionen nach wie vor andauern und die Ursache empfindlicher Beeinträchtigungen seiner Gesundheit und Arbeitsfähigkeit wie auch der Gesundheit seiner Ehefrau bilden. Das gesamte Ausmass des Schadens sei daher noch nicht absehbar, weshalb die Verjährungsfrist von
Art. 60 OR
nach einhelliger Lehre und Rechtsprechung noch nicht zu laufen begonnen habe, auch wenn gewisse Schadenspositionen bereits bekannt seien.
3.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichts unterliegen Schadenersatzansprüche, die sich auf
Art. 679 ZGB
stützen, der Verjährung gemäss
Art. 60 OR
(
BGE 107 II 140
,
BGE 81 II 445
/46 und
BGE 68 II 375
). Nach dieser Bestimmung sind eine relative Verjährungsfrist von einem Jahr von dem Tag hinweg, wo der Geschädigte Kenntnis vom Schaden und von der Person des Ersatzpflichtigen erlangt hat, und eine absolute Frist von zehn Jahren, vom Tage der schädigenden Handlung an gerechnet, zu beachten. Im Gegensatz dazu gilt der Anspruch auf Beseitigung oder Unterlassung der Schädigung gemäss
Art. 679 ZGB
als unverjährbar. Er setzt indessen voraus, dass ein als fortdauernde Störung wirkender Zustand beseitigt werden kann oder eine weitere widerrechtliche Einwirkung zu verhindern ist (
BGE 81 II 446
f. mit Hinweisen). Im Zusammenhang mit dem Beseitigungsanspruch hat sich unter anderem die Frage gestellt, ob mit dem Begriff der Schädigung im Sinne von
Art. 679 ZGB
der Erfolg der Einwirkung auf dem geschädigten Grundstück oder die schädigende Handlung bzw. der schädigende Zustand auf dem Ausgangsgrundstück
BGE 109 II 418 S. 421
gemeint sei. Das Bundesgericht hat diese Frage in
BGE 107 II 136
E. 3 dahingehend beantwortet, dass der geschädigte Grundeigentümer mit der Beseitigungsklage des
Art. 679 ZGB
nur die Beseitigung des den Schaden verursachenden Zustandes auf dem Ausgangsgrundstück, nicht aber die Wiederherstellung des früheren Zustandes seines verletzten Eigentums verlangen könne. Es hielt dafür, dass angesichts des mit
Art. 679 und 684 ZGB
vom Gesetzgeber verfolgten Zwecks von den Vorrichtungen und Anlagen auszugehen sei, von denen die Immissionen herrühren. Mit der Beseitigungsklage des
Art. 679 ZGB
soll der Eigentümer des Ausgangsgrundstücks dazu verhalten werden, sein Eigentumsrecht in einer Weise auszuüben, die keine unerlaubten Einwirkungen auf das Nachbargrundstück mehr zur Folge hat. Die Klage richte sich somit gegen die Art der Bewirtschaftung des Ausgangsgrundstücks. Sollten dagegen die Folgen der übermässigen Immissionen auf dem geschädigten Grundstück beseitigt werden, so könne nur die Schadenersatzklage angestrengt werden (
BGE 107 II 136
E. 3a und b).
Indessen besteht zwischen dem Beseitigungsanspruch und demjenigen auf Schadenersatz insofern ein unmittelbarer Zusammenhang, als der auf dem geschädigten Grundstück eingetretene Schaden auf die dem Beseitigungs- und allenfalls dem Unterlassungsanspruch zugrundeliegende übermässige Immission zurückzuführen ist. Das schädigende Ereignis, das die als Schaden zu bezeichnenden Folgen auf dem Nachbargrundstück hervorbringt, ist die dem unverjährbaren Beseitigungs- und Unterlassungsanspruch unterliegende widerrechtliche Immission auf dem Ausgangsgrundstück. Daraus folgt für die allein verjährbare Schadenersatzforderung, dass grundsätzlich keine Verjährungsfrist läuft, solange das schädigende Ereignis andauert (
BGE 107 II 140
und
BGE 81 II 448
mit Hinweis). Das Bundesgericht schränkt diese Betrachtungsweise in
BGE 81 II 448
insofern ein, als es festhält, eine Verjährung könne nur dann nicht zu laufen beginnen, wenn und solange kein abgeschlossener Schaden vorliege. Dieser Vorbehalt bedeutet indessen nur eine Verdeutlichung und nicht eine eigentliche Einschränkung des oben Gesagten. Das Bundesgericht verweist nämlich an dieser Stelle auf
BGE 55 II 253
E. 2. Aus diesem Urteil ergibt sich aber mit aller Deutlichkeit, dass der behauptete Schaden nur dann als abgeschlossen betrachtet werden soll, wenn die schädigende Handlung bzw. das schädigende Ereignis schon vor der Einreichung der Schadenersatzklage aufgehört hat. Damit wird auch die in der
BGE 109 II 418 S. 422
kantonalen Rechtsprechung vereinzelt vertretene Meinung abgelehnt, wonach es für die Verjährung einer Schadenersatzforderung aufgrund einer übermässigen Immission nur auf den Beginn des schädigenden Ereignisses ankomme, nicht aber auf das Andauern der widerrechtlichen Immission (vgl. das in
BGE 81 II 448
zitierte Urteil der Genfer Cour de Justice, in SJ 1945 S. 412).
Nun sind gegen diese Betrachtungsweise der bundesgerichtlichen Rechtsprechung in der jüngeren Doktrin gewisse Vorbehalte angemeldet worden (siehe SPIRO, Die Begrenzung privater Rechte durch Verjährungs-, Verwirkungs- und Fatalfristen, Bd. I § 60 S. 125 ff.). Dieser Autor weist darauf hin, dass der Schadenersatzanspruch bei wiederholten und fortgesetzten Delikten, aber auch bei Dauer- und Zustandsdelikten einer Gesamtverjährung unterliegen sollte. Doch macht auch er eine Ausnahme für jene Fälle, in denen die Natur des verletzten Rechtsgutes einen Verzicht und damit auch die Verjährung künftiger Ansprüche ausschliesst oder besondere Regeln entgegenstehen, wozu namentlich die meisten Gefährdungen der körperlichen Integrität und anderer Persönlichkeitsgüter, auf deren Schutz ihr Träger nicht bindend verzichten kann, gehören (SPIRO, a.a.O., S. 128). Solche Persönlichkeitsgüter liegen aber auch der Schadenersatzforderung des Klägers zugrunde, verlangt er doch Schadenersatz wegen der durch die übermässigen Immissionen bewirkten Beeinträchtigung seiner Gesundheit und Arbeitsfähigkeit.
4.
Der Kläger hat nun seine Schadenersatzansprüche in einem Zeitpunkt geltend gemacht, da die mit Urteil des Obergerichts vom 5. März 1982 rechtskräftig als übermässig und damit widerrechtlich beurteilten Lärmimmissionen vom Grundstück der Beklagten noch andauerten. Es handelte sich auch nicht um blosse Folgewirkungen einer unzulässigen Immission, wie dies für den
BGE 81 II 439
ff. zugrundeliegenden Sachverhalt zutraf (dazu LIVER, N. 216 f. zu
Art. 737 ZGB
, und ZBJV 1983/119 S. 115 ff.), sondern um andauernden übermässigen Lärm. Eine Verjährung des Schadenersatzanspruchs konnte deshalb nicht eintreten. Aber auch während des Prozesses konnte die Verjährungsfrist nicht zu laufen beginnen, solange die übermässigen Lärmimmissionen noch andauerten bzw. andauern, was mindestens bis zum Eintritt der Rechtskraft des ersten Teilurteils des Obergerichts vom 5. März 1982 der Fall war, nach Meinung des Klägers aber heute noch zutrifft.
Daran vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass mit der
BGE 109 II 418 S. 423
Schadenersatzklage nur Schadensposten geltend gemacht werden, die bereits abgeschlossen sind und sich zum Teil nicht mehr wiederholen können, wie das für die Erwerbsunfähigkeit des Klägers, der inzwischen ins AHV-Alter eingetreten ist, in den Jahren 1968 bis 1974 zutrifft. Der Kläger bemerkt mit Recht unter Hinweis auf
BGE 92 II 1
ff., dass die einzelnen Schadensposten, die derselben unerlaubten Handlung entspringen, nicht voneinder zu unterscheidende besondere Schäden darstellen, sondern nur Bestandteile eines einzigen Schadens sind, der erst verwirklicht ist, wenn sein in chronologischer Reihenfolge letzter Teil eingetreten ist. Diese Rechtsprechung wird mit dem Hinweis auf den Zweck des Instituts der Verjährung begründet. Unbesehen des Bedürfnisses nach Rechtssicherheit auf seiten des Schädigers soll nämlich der Geschädigte angesichts der kurzen gesetzlichen Verjährungsfristen nicht gezwungen sein, ein einheitliches Schadensereignis mit unterschiedlichen Schadensfolgen in einer Vielzahl von Prozessen geltend zu machen. Ein solches mühsames Vorgehen würde der Rechtssicherheit nicht dienen, welche das Institut der Verjährung zu fördern bezweckt (
BGE 92 II 5
).
Nach dem Ausgeführten hat die Vorinstanz die vom Kläger geltend gemachte Schadenersatzforderung zu Unrecht als verjährt betrachtet und die Klage demzufolge abgewiesen. Ist die Verjährung des Anspruchs noch nicht eingetreten, so hat das Obergericht die Klage materiell zu behandeln. Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben, und die Sache ist zur materiellen Beurteilung und zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. | 1,913 | 1,494 | 2 | 0 | CH_BGE_004 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_004_BGE-109-II-418_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=5&from_date=&to_date=&from_year=1983&to_year=1983&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=44&highlight_docid=atf%3A%2F%2F109-II-418%3Ade&number_of_ranks=345&azaclir=clir | BGE_109_II_418 |
|||
ee3c84b9-07b5-434a-8752-3dea03e90c7d | 2 | 84 | 1,345,987 | null | 2,024 | fr | 2 | 0 | Erwägungen
ab Seite 442
BGE 130 V 441 S. 442
Extrait des considérants:
3.
3.1
A teneur de l'
art. 19 al. 3 LAI
, le Conseil fédéral a la compétence d'édicter des prescriptions sur l'octroi notamment de subsides, en faveur d'enfants invalides qui fréquentent l'école publique. Ces prestations correspondent à celles allouées pour la formation scolaire spéciale des assurés éducables qui n'ont pas atteint l'âge de 20 ans révolus mais qui, par suite d'invalidité, ne peuvent suivre l'école publique ou dont on ne peut attendre qu'ils la suivent. Ces derniers subsides, visés par les alinéas 1 et 2 de l'
art. 19 LAI
, comprennent notamment des indemnités particulières pour les frais de transport à l'école qui sont dus à l'invalidité (
art. 19 al. 2 let
. d LAI). Relativement imprécise, la norme de délégation prévue à l'
art. 19 al. 3 LAI
confère au Conseil fédéral un large pouvoir d'appréciation (
ATF 128 V 106
consid. 6b et les références citées).
3.2
Faisant usage de cette compétence, le Conseil fédéral a édicté, sous le titre de "Mesures permettant la fréquentation de l'école publique", les art. 9, 9
bis
et 9
ter
RAI. Intitulé "Indemnités particulières pour les transports", l'
art. 9
bis
RAI
stipule que l'assurance prend à sa charge les frais de transport qui, en raison d'un handicap physique ou d'un handicap de la vue, sont nécessaires pour l'exécution des mesures selon l'art. 9, 2ème alinéa, ainsi que pour permettre à l'assuré de participer à l'enseignement de l'école publique. L'art. 8
quater
est applicable par analogie.
(...)
6.
6.1
La LAI ne prévoit pas d'exceptions à la prise en charge des frais de transport des enfants invalides qui fréquentent l'école publique ou un centre dispensant une formation scolaire spéciale, à condition que ces frais soient occasionnés par leur handicap. Seul l'
art. 9
bis
RAI
limite le droit à la prise en charge par l'assurance des frais de transport nécessaires pour participer à l'enseignement de l'école publique, aux assurés souffrant d'un handicap physique ou
BGE 130 V 441 S. 443
de la vue, en excluant les enfants présentant des troubles psychiques. Selon la Cour de céans (
ATF 128 V 221
consid. 4b), cette limitation n'apparaît pas critiquable, de prime abord tout au moins. Ces frais doivent en effet être supportés par tous les enfants en âge scolaire aptes à fréquenter l'école publique. Dès lors, seuls des enfants souffrant d'un trouble de la santé physique ou de la vue peuvent justifier de frais de transport supplémentaires dus à leur handicap, aux conditions de l'art. 8
quater
al. 2 et 3 RAI applicable par analogie (art. 9
bis
in fine RAI).
6.2
En l'espèce, la recourante souffre de troubles mnésiques et exécutifs consécutifs au grave traumatisme crânien qu'elle a subi au cours du mois d'août 1999. Ces séquelles neuropsychologiques interfèrent avec les exigences d'une scolarisation en classe à effectif normal. En effet, l'assurée nécessite une stimulation et un cadrage constants, ainsi qu'un conditionnement pour l'arrêt ou la diminution des conduites de type "frontal" (logorrhée, impulsivité, persévérations,...). Dans la mesure où elle présente d'importants troubles de l'attention et qu'elle ne peut pas fonctionner de manière autonome dans une classe ordinaire, en particulier dans une structure constituée de deux niveaux, une scolarisation en classe avec effectif réduit et suivant un programme adapté à ses difficultés se révèle la mieux appropriée (cf. rapports établis au mois de novembre 2000 par les docteurs R. [spécialiste en neuropédiatrie], C. [spécialiste en neuropsychologie] et M. [spécialiste en neuropsychologie et logopédie]).
Aux termes d'un rapport du 24 avril 2002, la doctoresse R. constate en outre que bien qu'elle ait récupéré sur le plan physique, la recourante présente encore des séquelles neuropsychologiques sévères, sous forme de troubles mnésiques et exécutifs entraînant des difficultés majeures pour anticiper et programmer des actions, pour respecter une règle émise malgré une bonne compréhension apparente, pour inhiber ses conduites, ainsi que pour fixer son attention. Ces troubles sont de nature à la mettre en danger, faute de supervision, lors des trajets scolaires effectués en bus. Aussi n'est-ce pas son jeune âge, mais les séquelles résultant du traumatisme subi qui ont présidé à la décision de la conduire en taxi jusqu'à son école.
En raison des troubles psychiques dont elle souffre, la recourante est ainsi contrainte de fréquenter une classe spéciale de l'école publique distante de quatre ou cinq kilomètres de son domicile. Au moyen des transports publics, chaque trajet - d'une durée d'une
BGE 130 V 441 S. 444
heure - implique qu'elle emprunte trois bus différents et qu'elle traverse une route très fréquentée (cf. rapport du 19 février 2002 de l'office). Compte tenu de son état de santé psychique, ce parcours est source de danger faute de supervision, raison pour laquelle elle est conduite à l'école en taxi. A l'instar des enfants souffrant d'un handicap physique ou de la vue qui participent à l'enseignement de l'école publique, la recourante subit également des frais de transport que les autres enfants en âge scolaire aptes à suivre cette scolarité n'ont pas. Aussi, lorsqu'un assuré présentant des troubles psychiques est à même - malgré son handicap - de suivre l'enseignement dispensé dans une école publique, mais que l'atteinte dont il souffre est susceptible notamment de le mettre en danger lors des trajets scolaires à effectuer, ou que les moyens de transport à disposition des autres élèves sont inadaptés à son état de santé, convient-il d'admettre qu'il encourt des frais de transport supplémentaires qui doivent être mis sur un pied d'égalité avec ceux occasionnés par une affection de la santé physique ou de la vue.
On ne saisit dès lors pas le motif pour lequel de tels frais n'incomberaient pas à l'assurance-invalidité. Dans ces circonstances, la limitation de la prise en charge des frais de transport nécessaires pour participer à l'enseignement de l'école publique, aux assurés souffrant d'un handicap physique ou de la vue prescrite à l'
art. 9
bis
RAI
n'est pas fondée sur des motifs sérieux et objectifs et elle se révèle par conséquent incompatible avec l'
art. 8 al. 1 Cst.
Une interprétation raisonnable de cette disposition conduit à reconnaître également aux assurés souffrant de troubles psychiques, même s'ils ne présentent pas de trouble physique ou de la vue, la prise en charge des frais de transport nécessaires pour leur permettre de participer à l'enseignement de l'école publique, dans la mesure où l'affection dont ils souffrent leur occasionne des frais de transport supplémentaires par rapport aux autres enfants en âge scolaire aptes à fréquenter l'école publique.
7.
7.1
Il convient en outre de rappeler que la nécessité de fréquenter une école déterminée n'implique pas la prise en charge automatique des frais de transport en résultant. Ces derniers doivent être dus à l'invalidité. Selon la jurisprudence, pour déterminer si tel est le cas, il convient de tenir compte de l'âge de l'assuré, de son état de santé et du temps de parcours (VSI 1993 p. 41 consid. 3 et les arrêts cités). Ces critères servent notamment à établir si l'assuré est
BGE 130 V 441 S. 445
en mesure de se rendre à l'école à pied et, dans la négative, s'il peut ou non utiliser les transports en commun (RCC 1979 p. 195 consid. 3).
7.2
En l'occurrence, la recourante est contrainte de fréquenter une classe spéciale de l'école publique (cf.
art. 8 al. 3 RAI
) à la suite de troubles neuropsychologiques. En raison de ces affections, elle n'est pas non plus en mesure d'emprunter les transports publics pour se rendre à l'école, raison pour laquelle elle accomplit ces trajets en taxi (cf. rapport du 24 avril 2002 de la doctoresse R.; voir également consid. 6.1, 6.2 supra). Il résulte de ce qui précède que la recourante peut prétendre la prise en charge des frais de transport nécessaires pour lui permettre de participer à l'enseignement de l'école publique. | 1,860 | 1,633 | 2 | 0 | CH_BGE_007 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_007_BGE-130-V-441_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=11&from_date=&to_date=&from_year=2004&to_year=2004&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=104&highlight_docid=atf%3A%2F%2F130-V-441%3Ade&number_of_ranks=296&azaclir=clir | BGE_130_V_441 |
||||
ee474c39-16d5-411b-b33d-c8400e7ffa3c | 2 | 81 | 1,363,421 | 252,460,800,000 | 1,978 | fr | Sachverhalt
ab Seite 136
BGE 104 II 136 S. 136
Marius S., décédé le 1er février 1975, a laissé comme seul héritier institué son neveu Antoine S., né le 8 mars 1960, sous la puissance paternelle de son père et sous la curatelle du notaire, Z., à Lausanne. Les testament dispose notamment ce qui suit:
"... si celui-ci (Antoine S.) revend mes immeubles de l'avenue de Morges 12 à 18, à Lausanne, il devra verser à titre de legs: à mon neveu Charles P. 700'000 fr., à ma nièce Monique B. 500'000 fr., à ma petite-nièce Martine S. 200'000 fr., à mon petit-neveu Christian S. 200'000 fr., à mon petit-neveu Marc Henri S. 200'000 fr."
La valeur des immeubles, de 1'600'000 fr., est inférieure de 200'000 fr. au montant total des legs modaux. Ces immeubles représentent l'essentiel de la succession.
Faisant valoir que ses droits éventuels seraient en péril et invoquant les
art. 490 al. 2 CC
, 594 al. 2 CC et 152 al. 2 CO,
BGE 104 II 136 S. 137
Charles P. a déposé une requête de mesures provisionnelles dans laquelle il concluait en substance:
- principalement, à ce que l'héritier fût invité à constituer en sa faveur une sûreté immobilière sous forme d'une cédule hypothécaire de 700'000 fr.;
- subsidiairement, à l'inscription à titre de sûreté d'une hypothèque de 700'000 fr.;
- plus subsidiairement, à l'annotation d'une restriction du droit d'aliéner;
- plus subsidiairement encore, à ce qu'interdiction fût faite à l'héritier de disposer des immeubles en cause.
Le président du Tribunal civil du district de Lausanne a rejeté la requête le 16 décembre 1976.
Charles P. a recouru au Tribunal cantonal vaudois, qui, par arrêt du 11 novembre 1977, a rejeté le recours.
Charles P. a recouru en réforme au Tribunal fédéral, reprenant ses conclusions premières mais limitant ses moyens à la fausse application de l'
art. 594 al. 2 CC
.
Le Tribunal fédéral a déclaré le recours irrecevable. | 729 | 396 | Erwägungen
Extrait des considérants:
1.
Selon les art. 44 à 46 OJ, le recours en réforme est ouvert dans les "contestations civiles". La jurisprudence entend par contestation civile (Zivilrechtsstreitigkeit, causa civile) une procédure contradictoire visant à provoquer une décision définitive sur des rapports de droit civil (
ATF 103 II 317
consid. 2c,
ATF 101 II 359
consid. 1, 368/369 consid. 2a,
ATF 100 II 7
, 292 consid. 1 et les arrêts cités). En matière successorale, rentre dans la juridiction gracieuse la décision qui ne se prononce pas sur l'existence d'un droit matériel, mais se limite à faire établir la composition de la succession ou à en garantir la conservation (
ATF 94 II 58
et les références).
2.
a) Dans un arrêt Marchand contre Marchand, rendu sous l'empire de la loi fédérale sur l'organisation judiciaire fédérale de 1893, telle qu'elle avait été modifiée en 1911, le Tribunal fédéral a jugé que la décision ordonnant la liquidation officielle d'une succession ne règle pas une contestation civile et partant ne peut pas être déférée au Tribunal fédéral par la voie du recours en réforme: il n'y a pas prétention de droit matériel
BGE 104 II 136 S. 138
formulée par une partie contre une partie adverse, mais simple requête présentée par une partie à une autorité, qui statue dans le cadre de la procédure non contentieuse, non comme autorité de jugement (
ATF 39 II 433
). Le Tribunal fédéral relève que le projet Jaeger (1909) de revision de la loi d'organisation judiciaire de 1893 prévoyait un recours de droit civil contre la décision relative à la liquidation officielle d'une succession, disposition qui a été supprimée.
Il résulte des travaux préparatoires de la loi de modification de 1911 que le juge fédéral Jaeger, auteur du projet, estimait qu'une telle décision ne peut pas être l'objet d'un recours en réforme, parce qu'il n'y a pas contestation civile. A côté du recours en réforme, le projet de 1909 instituait un recours en cassation (Kassationsbeschwerde) (art. 105-115 du projet; cf. l'exposé des motifs, p. 72 ss) comprenant trois catégories de cas, savoir:
- à l'art. 106, quatorze cas relevant de la juridiction non contentieuse, dont les cas des articles actuels 44 lettres b, d, e et 45 lettre b OJ, ainsi que, parmi d'autres, la liquidation officielle;
- à l'art. 107, des décisions en matière d'exécution forcée, comme, par exemple, la mainlevée provisoire;
- à l'art. 108, les cas qui font actuellement l'objet du recours en nullité de l'
art. 68 OJ
.
Le projet du Conseil fédéral a conservé le recours de droit civil, tout en réduisant la liste des cas de recours non contentieux de l'art. 106 du projet Jaeger. Il l'a supprimé, entre autres, pour la liquidation officielle des successions. Il explique cette modification par le motif qu'il s'agit de cas soulevant avant tout des questions de fait et, partant, que l'unité du droit fédéral ne saurait souffrir de ce que les juridictions cantonales statuent en dernier ressort (Message du Conseil fédéral du 11 mai 1911, texte français, p. 7/8). La liste a encore été réduite lors des débats parlementaires. Comme le remarque l'arrêt Marchand, ces suppressions ont été dictées par le souci de diminuer le nombre des recours de droit civil, et non pas parce que les cas éliminés auraient été considérés comme susceptibles d'être l'objet d'un recours en réforme.
Le système de 1911 est demeuré: la loi de 1943, actuellement en vigueur, a maintenu la notion de contestation civile, dont le contenu n'a pas été modifié. Elle a conservé, sous le nom de
BGE 104 II 136 S. 139
"recours en nullité", le recours de droit civil, le limitant aux cas de l'
art. 68 OJ
et transportant au chapitre du recours en réforme les cas de recours contre les décisions de nature non contentieuse (art. 44 lettres b, d, e
; 45 lettre b OJ
).
Ainsi, il apparaît clairement que l'organisation judiciaire fédérale a toujours restreint, sous réserve de quelques exceptions, le recours en réforme aux contestations civiles et que la décision relative à la liquidation officielle d'une succession a toujours été rangée dans la procédure non contentieuse. On ne peut sur ce point que reprendre l'argumentation de l'arrêt Marchand: destinée à sauvegarder les droits des créanciers de la succession, soit à garantir la conservation d'un droit, la décision de liquidation officielle a un caractère purement conservatoire et ne statue nullement sur l'existence des droits respectifs des créanciers et des successeurs à cause de mort (cf. GULDENER, Grundzüge der freiwilligen Gerichtsbarkeit der Schweiz, Zurich 1954, p. 4, 15/16; Schweizerisches Zivilprozessrecht, 2e éd., Zurich 1958, p. 39; PIOTET, Droit successoral, Traité de droit privé suisse, IV, p. 736).
3.
Les mesures conservatoires prévues en faveur des légataires par l'
art. 594 al. 2 CC
entrent dans la même catégorie que la liquidation officielle. Comme la liquidation officielle tend à éviter que les créanciers du défunt soient en concours avec les créanciers de l'héritier, et à parer ainsi à une confusion des patrimoines qui leur serait préjudiciable, ces mesures sont un correctif à l'
art. 564 al. 2 CC
: elles doivent empêcher que les légataires soient payés après les créanciers de l'héritier (cf. PIOTET, op.cit. pp. 754-756). De toute évidence, il s'agit également de mesures à caractère purement conservatoire.
4.
a) Le recourant invoque l'arrêt Pesenti contre Scolari, du 31 janvier 1974, partiellement publié aux
ATF 100 II 92
ss Il se prévaut de ce que le Tribunal fédéral a déclaré recevable un recours en réforme relatif à la fourniture de sûretés par le grevé en matière de substitution fidéicommissaire sur les biens résiduels. Mais il ressort de la partie non publiée de l'arrêt que le litige portait sur l'existence de l'obligation du grevé. Le chiffre 1 du dispositif de la décision cantonale constatait que le grevé de la substitution n'était pas tenu de transférer aux appelés les biens dont il héritait, mais seulement ce qu'il en laisserait à son décès. Ce qui était en cause, c'était donc des droits matériels.
BGE 104 II 136 S. 140
b) Le recourant fait également état de l'opinion de Lemp (n. 44 ad
art. 205 CC
, reprise par WURZBURGER, Les conditions objectives du recours en réforme au Tribunal fédéral, thèse Lausanne 1964, p. 29), selon lequel le litige relatif aux sûretés en garantie des apports de la femme (
art. 205 CC
) relève de la juridiction contentieuse: ces sûretés ne sont pas assimilables à un séquestre ou à une mesure provisoire devant garantir l'exécution rapide d'un droit exigible; il s'agit d'une garantie durable, identique à un gage conventionnel (en sens contraire: la jurisprudence et la doctrine citées par WURZBURGER, op.cit., p. 29 n. 91; voir cependant
ATF 82 II 94
ss, où le Tribunal fédéral est directement entré en matière sur le point de savoir si un conjoint survivant usufruitier est tenu de fournir des sûretés en faveur des cohéritiers, en vertu de l'
art. 464 CC
).
Mais l'opinion de Lemp ne peut pas être invoquée dans le cadre du présent litige. On peut envisager que, lorsque la loi prévoit directement l'obligation de fournir des sûretés, comme dans les cas des art. 205, 464, 490, 760 CC, il y a un droit légal à des sûretés, avec le même effet qu'aurait une convention: dès lors, le litige relatif à la constitution de telles sûretés peut être qualifié de contestation civile en ce sens qu'il tranche sur l'existence d'un droit matériel, fondé sur la règle légale. Il en va autrement quand la loi prévoit des mesures conservatoires indéterminées: dans ce cas, le créancier ne peut soutenir qu'il est de par la loi au bénéfice d'un droit à la constitution d'un gage.
La solution contraire étendrait le recours en réforme là où le législateur l'a délibérément exclu. Par ailleurs, les mesures conservatoires de l'
art. 594 al. 2 CC
ont été prévues en substitution de la liquidation officielle, qui, contrairement à ce qu'avait envisagé le législateur, n'a pas été accordée aux légataires (cf. PIOTET, op.cit., pp. 754 ss): elles vont donc moins loin qu'une telle mesure, contre laquelle le recours en réforme n'est pas ouvert. | 3,066 | 1,629 | 2 | 0 | CH_BGE_004 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_004_BGE-104-II-136_1978 | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=26&from_date=&to_date=&from_year=1978&to_year=1978&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=255&highlight_docid=atf%3A%2F%2F104-II-136%3Ade&number_of_ranks=339&azaclir=clir | BGE_104_II_136 |
|||
ee4bd3b6-dd45-4336-9c21-8935586fc1b9 | 1 | 84 | 1,330,528 | null | 2,024 | de | Sachverhalt
ab Seite 221
BGE 122 V 221 S. 221
A.-
Die 1958 geborene M. bezieht seit Juli 1990 zu ihrer Rente der Invalidenversicherung Ergänzungsleistungen und kantonale Beihilfen. Mit Verfügung vom 18. Juni 1991 wurde sie vom Amt für Sozialbeiträge Basel-Stadt zur Rückerstattung der von Juli 1990 bis Juni 1991 zu viel bezogenen Leistungen von insgesamt Fr. 6'948.-- verhalten. Anlass hiezu gab eine Neuberechnung des Ergänzungsleistungsanspruchs, nachdem die Versicherte dem Amt ein Schreiben der Rentenanstalt vom 4. April 1991 weitergeleitet
BGE 122 V 221 S. 222
hatte, wonach ihr nunmehr nach Ablauf der vertraglichen Wartefrist von 24 Monaten rückwirkend ab Februar 1989 eine Invalidenrente von jährlich Fr. 6'947.-- ausgerichtet werde, was für die Zeit von Februar 1989 bis Juni 1991 zu einer Nachzahlung von Fr. 16'791.-- führe.
Die Kantonale Rekurskommission für die Ausgleichskassen, Basel, wies die gegen die Rückerstattungsverfügung erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 10. Dezember 1991 ab. Dieser Entscheid erwuchs unangefochten in Rechtskraft.
Am 1. April 1992 ersuchte M. das Amt für Sozialbeiträge um Erlass der Rückerstattung, welches Begehren mangels guten Glaubens mit Verfügung vom 7. April 1992 abgewiesen wurde.
B.-
Die Kantonale Rekurskommission für die Ausgleichskassen, Basel, hiess die dagegen erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 14. Januar 1993 gut, indem sie die angefochtene Verfügung aufhob und M. die Rückerstattung von Fr. 6'948.-- erliess.
C.-
Das Amt für Sozialbeiträge Basel-Stadt beantragt mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde die Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheides. Zur Begründung wird dem Sinne nach ausgeführt, dass sich die Versicherte unter den gegebenen Umständen nicht auf ihren guten Glauben berufen könne; zwar sei sie im Zeitpunkt des Leistungsbezuges gutgläubig gewesen, doch hätte ihr bekannt sein müssen, dass die rückwirkend ausgerichtete Invalidenrente mit den bereits erbrachten Ergänzungsleistungen zu kompensieren seien.
Während sich M. nicht vernehmen liess, schliesst das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) auf Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. | 481 | 334 | Erwägungen
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde kann gemäss
Art. 128 OG
in Verbindung mit
Art. 97 OG
und
Art. 5 Abs. 1 VwVG
nur insoweit eingetreten werden, als sie sich auf bundesrechtliche Ergänzungsleistungen im Sinne des ELG und nicht auf kantonale Beihilfen bezieht (ZAK 1976 S. 190 Erw. 1b).
2.
Nachdem die Frage der Rückerstattung bereits rechtskräftig entschieden wurde, kann sie im vorliegenden Verfahren nicht wieder aufgegriffen werden (vgl. AHI 1994 S. 122 Erw. 1). Folglich ist hier nur mehr streitig, ob die Vorinstanz die Erlassvoraussetzungen zu Recht als erfüllt erachtet hat.
BGE 122 V 221 S. 223
Nach ständiger Rechtsprechung geht es somit nicht um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen im Sinne von
Art. 132 OG
(
BGE 112 V 100
Erw. 1b mit Hinweisen). Das Eidg. Versicherungsgericht hat demnach einzig zu prüfen, ob der vorinstanzliche Richter Bundesrecht verletzt hat, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie
Art. 105 Abs. 2 OG
).
3.
Das kantonale Gericht hat die massgebenden Gesetzes- und Verordnungsbestimmungen über die Voraussetzungen für den Erlass der Rückerstattung zu Unrecht bezogener Ergänzungsleistungen (
Art. 27 Abs. 1 ELV
in Verbindung mit
Art. 47 Abs. 1 AHVG
und
Art. 79 AHVV
) sowie die nach der Rechtsprechung für die Beurteilung des guten Glaubens des Leistungsbezügers entscheidenden Kriterien (
BGE 110 V 180
f. Erw. 3c und d,
BGE 102 V 246
Erw. b; ZAK 1983 S. 508 Erw. 3, je mit Hinweisen) zutreffend dargelegt. Gleiches gilt für die Erwägungen über die den Ergänzungsleistungsbezügern obliegende Meldepflicht (
Art. 24 ELV
). Auf die entsprechenden Ausführungen kann ohne weiteres verwiesen werden.
Bezüglich der Erlassvoraussetzungen ist zu ergänzen, dass die Rechtsprechung unterscheidet zwischen dem guten Glauben als fehlendem Unrechtsbewusstsein und der Frage, ob sich jemand unter den gegebenen Umständen auf den guten Glauben berufen kann und ob er bei zumutbarer Aufmerksamkeit den bestehenden Rechtsmangel hätte erkennen sollen. Die Frage nach dem Unrechtsbewusstsein gehört zum inneren Tatbestand und ist daher Tatfrage, die nach Massgabe von
Art. 105 Abs. 2 OG
von der Vorinstanz verbindlich beantwortet wird. Demgegenüber gilt die Frage nach der Anwendung der gebotenen Aufmerksamkeit als frei überprüfbare Rechtsfrage, soweit es darum geht, festzustellen, ob sich jemand angesichts der jeweiligen tatsächlichen Verhältnisse auf den guten Glauben berufen kann (
BGE 102 V 246
Erw. b; AHI 1994 S. 123 Erw. 2c mit weiteren Hinweisen).
4.
a) Hinsichtlich der Frage des guten Glaubens hat die Vorinstanz erkannt, dass sich die Beschwerdegegnerin bis zum Empfang des Schreibens der Rentenanstalt vom 4. April 1991, mit dem sie über den Umfang ihres vorsorgerechtlichen Invalidenleistungsanspruchs unterrichtet wurde, des Unrechts ihres Ergänzungsleistungsbezugs nicht bewusst war. Damit liegt nach dem Gesagten (Erw. 3) eine Feststellung tatsächlicher Art vor, und da
BGE 122 V 221 S. 224
weder dargetan noch ersichtlich ist, inwiefern sie mit einem Mangel im Sinne von
Art. 105 Abs. 2 OG
behaftet sein könnte, bleibt das Eidg. Versicherungsgericht daran gebunden (Erw. 2).
Im weiteren kann dem kantonalen Gericht insoweit beigepflichtet werden, als es der Beschwerdegegnerin unter den gegebenen Umständen auch die Berufung auf den guten Glauben zugestanden hat. Immerhin setzte sie die Verwaltung nach Erhalt der Mitteilung über ihre zusätzlichen Einkünfte gemäss den verbindlichen Feststellungen im vorinstanzlichen Entscheid noch im gleichen Monat April 1991 ins Bild, womit sie dem in
Art. 24 ELV
verankerten Erfordernis der "unverzüglichen Mitteilung" genügte. Dass sie zu dieser Meldung bereits früher gehalten gewesen wäre, trifft nicht zu. Denn vor der Anfang April 1991 erfolgten Mitteilung der Rentenanstalt waren weder der Umfang der vorsorgerechtlichen Invalidenleistungen noch der Zeitpunkt ihrer Ausrichtung bekannt. Damit hätte die Meldung an die Durchführungsstelle höchstens ermöglicht, die Verfügung über die Ergänzungsleistungen an eine Bedingung zu knüpfen oder unter einen Vorbehalt zu stellen. Hingegen wäre der hypothetische Rentenanspruch auf die Höhe der laufenden Ergänzungsleistungen von vornherein ohne Einfluss geblieben, da diese grundsätzlich nach Massgabe der tatsächlich vereinnahmten Einkünfte und vorhandenen Vermögenswerte zu ermitteln ist (vgl.
BGE 115 V 353
am Ende Erw. 5c; AHI 1994 S. 216 Mitte). Endlich kann der Beschwerdegegnerin trotz der ihr obliegenden Mitwirkungspflicht (vgl.
BGE 120 V 360
Erw. 1a mit Hinweis) auch nicht vorgeworfen werden, nicht bereits bei der Anmeldung zum Ergänzungsleistungsbezug auf ihr hängiges Begehren gegenüber der Rentenanstalt verwiesen zu haben. Jedenfalls liesse sich insofern der Vorwurf grober Fahrlässigkeit nicht halten, wie das kantonale Gericht zu Recht erkannt hat.
b) Kann nach dem Gesagten der gute Glaube der Beschwerdegegnerin bejaht werden, bleibt im folgenden die weitere Erlassvoraussetzung der grossen Härte (
Art. 47 Abs. 1 AHVG
in Verbindung mit
Art. 27 Abs. 1 ELV
) zu prüfen. Erst in diesem Zusammenhang wird auch auf die in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhobenen Einwände einzugehen sein. Denn entgegen dem beschwerdeführenden Amt beschlägt die von ihm angeschnittene Problematik weniger den Bereich des guten Glaubens als vielmehr die mit dem Erfordernis der grossen Härte angesprochene wirtschaftliche Situation der von der Rückerstattung betroffenen Person.
BGE 122 V 221 S. 225
5.
a) Eine grosse Härte im Sinne von
Art. 47 Abs. 1 AHVG
liegt gemäss der im wesentlichen auf das Urteil N. vom 16. März 1972 (ZAK 1973 S. 198) zurückgehenden und nach grundsätzlicher Überprüfung in
BGE 107 V 79
(vgl. ferner
BGE 108 V 59
Erw. 2b) nur mehr hinsichtlich des prozentualen Zuschlags modifizierten Rechtsprechung vor, wenn zwei Drittel des anrechenbaren Einkommens (und der allenfalls hinzuzurechnende Vermögensteil) die nach
Art. 42 Abs. 1 AHVG
anwendbare und um 50% erhöhte Einkommensgrenze nicht erreichen. Für die Ermittlung des anrechenbaren Einkommens und des hinzuzurechnenden Vermögensteils gelten die Regeln der
Art. 56 ff. AHVV
. Massgebend sind die wirtschaftlichen Verhältnisse, wie sie im Zeitpunkt vorliegen, da der Rückerstattungspflichtige bezahlen sollte (zum Ganzen vgl.
BGE 116 V 12
Erw. 2a und 293 Erw. 2c, je mit Hinweisen; ferner SVR 1995 AHV Nr. 61 S. 182 f. Erw. 4 und SZS 1992 S. 117 Erw. 3b; ERWIN CARIGIET, Ergänzungsleistungen zur AHV/IV, Zürich 1995, S. 178; zur Entwicklung der Rechtsprechung vgl. MEYER-BLASER, Die Rückerstattung von Sozialversicherungsleistungen, ZBJV 131/1995 S. 484 f. sowie FRITZ WIDMER, Die Rückerstattung unrechtmässig bezogener Leistungen in den Sozialversicherungen, Basler Diss. 1984, S. 158 ff.).
b) In Anwendung dieser Rechtsprechung hat das Eidg. Versicherungsgericht verschiedentlich erkannt, dass das Vorliegen einer grossen Härte bei einem Versicherten, dessen Einkommen die massgebende Grenze unterschreitet, nicht schon deshalb verneint werden könne, weil er über ein gewisses Vermögen verfüge. Diese Aussage lässt sich bereits dem in ZAK 1973 S. 198 veröffentlichten Urteil N. vom 16. März 1972 entnehmen (a.a.O., S. 201 oben), wie namentlich in
BGE 111 V 134
Erw. 4c unmissverständlich klargestellt wurde ("... il résulte, en effet, clairement de cet arrêt que, lorsque le revenu de l'assuré n'atteint pas la limite déterminante en l'occurence, l'existence d'une situation difficile ne peut pas être niée du seul fait que l'assuré jouit d'une certaine fortune"). In der Folge ist diese Rechtsprechung nicht nur stillschweigend angewendet (unveröffentlichtes Urteil K. vom 30. Oktober 1989), sondern auch ausdrücklich (unveröffentlichtes Urteil R. vom 18. Oktober 1990) bestätigt worden. Dabei führte das Eidg. Versicherungsgericht zuletzt aus, dass das Vermögen eines Versicherten für die Beurteilung seiner Rückzahlungsfähigkeit und des Vorliegens eines Härtefalles nur in seiner "Einkommensrelevanz" massgeblich sei, indem einerseits der Vermögensertrag und anderseits ein Fünfzehntel (vgl.
Art. 60 Abs. 2 AHVV
) des nach Abzug
BGE 122 V 221 S. 226
der Rückerstattungsschuld und des in
Art. 60 Abs. 1 AHVV
aufgeführten "Notpfennigs" verbleibenden Nettobetrages als Einkommen angerechnet werde; darüber hinaus könne das Vermögen nicht weiter berücksichtigt werden.
c) Eine Einschränkung hat der Anwendungsbereich des Erlasses durch die Rechtsprechung hingegen dort erfahren, wo der Verwaltung die Möglichkeit der Verrechnung offensteht. Gerade im Zusammenhang mit
Art. 27 Abs. 2 ELV
, wonach Rückforderungen von Ergänzungsleistungen mit fälligen Leistungen aufgrund des ELG sowie des AHVG und des IVG verrechnet werden können, hat das Eidg. Versicherungsgericht erkannt, dass bei dieser Verrechnung ein Erlass nur dann in Betracht fällt, wenn sie mit laufenden oder künftig fällig werdenden Leistungen erfolgt. Anderes gilt jedoch, wenn es darum geht, dem Versicherten bereits ausbezahlte Leistungen durch gleich hohe, unter anderem Titel geschuldete zu ersetzen und die beiden Betreffnisse miteinander zu verrechnen. Hier besteht lediglich ein anderer Rechtsgrund für die geschuldeten Leistungen; das Vermögen des Rückerstattungspflichtigen erfährt keine Veränderung, die zu einem Härtefall im Sinne von
Art. 47 Abs. 1 AHVG
führen könne, weshalb die Frage des Erlasses nicht zu prüfen ist (ZAK 1977 S. 195 f. Erw. 3). - Wie das Eidg. Versicherungsgericht später entschieden hat, handelt es sich dabei um einen allgemeinen Grundsatz des Sozialversicherungsrechts, der stets angewendet werden muss, wenn der Erlass einer verrechnungsweise geltend gemachten Rückforderung zu prüfen ist (ARV 1987 Nr. 13 S. 120 Erw. 3b; vgl. ferner
BGE 116 V 297
Erw. 5b).
6.
a) Das beschwerdeführende Amt bringt - mit Unterstützung des BSV - sinngemäss vor, dass die dargelegte Rechtsprechung und die darauf gründende Verwaltungspraxis (vgl. Rz. 7042 der Wegleitung über die Ergänzungsleistungen zur AHV/IV [WEL], gültig ab 1. Januar 1995) zum Erlass insofern nicht überzeugen würden, als häufig selbst nach Berücksichtigung der nachträglich zugeflossenen Mittel auf eine grosse Härte zu erkennen sei. Damit würden Bezüger von Ergänzungsleistungen von der Situation profitieren, dass etwa ausländische Renten regelmässig erst nach Jahren rückwirkend zur Auszahlung gelangten.
b) Tatsächlich verhält es sich im vorliegenden Fall so, dass die gutgläubige Beschwerdegegnerin nach bisheriger Rechtsprechung in den Genuss der Rechtswohltat des Erlasses gelangen würde, weil die ihr nachträglich zugeflossenen vorsorgerechtlichen Invalidenleistungen von Fr. 16'791.-- der
BGE 122 V 221 S. 227
Annahme einer grossen Härte nicht entgegenstehen (vgl. Erw. 5b hievor sowie vor allem das Beispiel in
BGE 111 V 133
Erw. 4a). Denn wegen des nach der Rechtsprechung anwendbaren
Art. 60 AHVV
und des darin verankerten Freibetrages für alleinstehende Versicherte von Fr. 25'000.-- bliebe das aus der Nachzahlung der Rentenanstalt gebildete Vermögen als solches (d.h. vorbehältlich des Ertrages) ohne jeden Einfluss auf die Beurteilung der grossen Härte, wie das kantonale Gericht an sich richtig erkannt hat. Aufgrund des Umstandes endlich, dass
Art. 60 Abs. 2 AHVV
lediglich die Anrechnung des fünfzehnten Teils des über den Freibetrag hinausgehenden Vermögens verlangt und nach der Praxis überdies die Rückerstattungsschuld vom Vermögen abzuziehen ist (vgl.
BGE 116 V 293
Erw. 2c; Rz. 1395 der Wegleitung über die Renten [RWL], gültig ab 1. Januar 1995; zu dieser in der Verwaltungspraxis seit 1984 verankerten Ordnung vgl. auch WIDMER, a.a.O., S. 169), müsste ein Härtefall selbst dann bejaht werden, wenn der zugeflossene Kapitalbetrag um ein Vielfaches höher ausgefallen wäre.
c) Die mit der geschilderten Art der Vermögensanrechnung einhergehende Bejahung der grossen Härte bewirkt, dass das mit der Rückerstattung verfolgte Ziel der Wiederherstellung der gesetzlichen Ordnung (vgl. MEYER-BLASER, a.a.O., S. 477) oftmals selbst dann unerreicht bleibt, wenn die rückerstattungspflichtige Person über geäufnete Mittel verfügt. Insofern sind die in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vorgetragenen Bedenken begründet. Die bisherige Praxis verkennt namentlich, dass sich die finanzielle Situation in der Regel grundsätzlich anders gestaltet, wenn neben den laufenden Einkünften zusätzliche Mittel vorhanden sind, welchem Umstand bei der nach den gesamten wirtschaftlichen Verhältnissen des Rückerstattungspflichtigen vorzunehmenden Beurteilung der Zumutbarkeit der Rückerstattung Rechnung zu tragen ist (vgl.
BGE 107 V 80
Erw. 3b). Darüber hinaus führt sie im Ergebnis zu einer unhaltbaren Bevorteilung jener Versicherter, die nach der Festsetzung ihres Ergänzungsleistungsanspruchs in den Genuss rückwirkend ausgerichteter zusätzlicher Leistungen gelangen. Würden nämlich diese Versicherungsleistungen - statt aufs Mal - fortlaufend ausgerichtet, käme es zur entsprechenden Anpassung der Ergänzungsleistungen (
Art. 25 ELV
) und damit nicht zu einer eigentlichen Überentschädigung, während bei unterbliebener Meldung (
Art. 24 ELV
) ein Erlass mangels guten Glaubens in aller Regel ohnehin ausser Betracht fallen dürfte. Abgesehen davon lässt sich der vorliegende Fall aufgrund seiner Umstände in gewisser Hinsicht mit
BGE 122 V 221 S. 228
der zuvor geschilderten Verrechnungssituation vergleichen, bei der nach einem allgemeinen Grundsatz des Sozialversicherungsrechts (vgl. Erw. 5c) die Möglichkeit des Erlasses ausser Frage steht, wenn die zur Verrechnung gestellten Leistungen bereits ausbezahlt wurden. So beschlagen die von der Rentenanstalt rückwirkend ausbezahlten Invalidenleistungen immerhin denselben Zeitraum wie die der verfügten Rückerstattung unterliegenden Ergänzungsleistungen, deren Zweck an sich gerade darin bestand, den durch den zeitlichen Aufschub der Invalidenleistungen entstandenen Ausfall zu decken.
d) Nach dem Gesagten ist die bisherige Rechtsprechung dahin zu präzisieren, dass die Rückerstattung im Falle rückwirkend ausgerichteter Rentennachzahlungen insoweit keine grosse Härte darstellen kann, als die aus den entsprechenden Nachzahlungen stammenden Mittel im Zeitpunkt, in dem die Rückzahlung erfolgen sollte (dazu
BGE 116 V 12
Erw. 2a), noch vorhanden sind. Diese Präzisierung bezieht sich indes nur auf jene Fälle, in denen dem Versicherten im nachhinein zusätzliche Leistungen aus Ansprüchen zufliessen, die sich bezüglich ihrer zeitlichen Bestimmung mit dem vorangegangenen Ergänzungsleistungsbezug decken und dessen Unrechtmässigkeit erst zutage treten lassen. In allen anderen Fällen bleibt es bei der bisherigen Rechtsprechung, wonach allenfalls vorhandene Vermögenswerte bei der Prüfung der grossen Härte gemäss
Art. 60 AHVV
zu berücksichtigen sind.
Gegen die hier vorgeschlagene Lösung mag wohl angeführt werden, dass sich das Eidg. Versicherungsgericht in einem früheren Urteil ausdrücklich gegen eine Beschränkung der Rückerstattung auf die ungerechtfertigte Bereicherung wandte, weil eine solche Lösung nicht nur den sparsamen Versicherten benachteilige, sondern auch mit erheblichen praktischen Schwierigkeiten verbunden wäre (
BGE 107 V 83
Erw. 5b). Indes dürften sich Probleme dieser Art in Grenzen halten, während gegenüber jener Benachteiligung das allgemeine öffentliche Interesse an der Wiederherstellung der gesetzlichen Ordnung überwiegt. Mit dieser Neubewertung wird im übrigen ein im geltenden Ergänzungsleistungsrecht zwar nicht ausdrücklich verankerter, diesem aber eigener Wesenszug stärker als bisher betont, dass nämlich die Ergänzungsleistungen je nach Sachlage gleichsam Vorschusscharakter aufweisen können (vgl. auch
Art. 85bis IVV
). So wäre der Ergänzungsleistungsanspruch der Beschwerdegegnerin - wie bereits erwähnt (Erw. 4a) - nach der Anmeldung keineswegs tiefer bemessen worden, wenn die Durchführungsstelle um die erst in Zukunft anfallenden zusätzlichen
BGE 122 V 221 S. 229
Versicherungsleistungen gewusst hätte. Liegt jedenfalls insofern auch kein anspruchsrelevantes Versehen der Durchführungsstelle vor, erweist sich die Rückerstattung nach dem Zufluss zusätzlicher Mittel als um so gebotener.
7.
Nach dem Gesagten hält der angefochtene Gerichtsentscheid - soweit er hier zu überprüfen ist - sowohl in der Begründung als auch im Ergebnis nicht stand. Denn die Beschwerdegegnerin erhielt nachträglich für einen Zeitraum Invalidenleistungen ausgerichtet, für den sie bereits Ergänzungsleistungen bezogen hatte. Infolgedessen fällt ein Erlass ausser Betracht, soweit sie im Zeitpunkt der entsprechenden Rückerstattung noch über Mittel aus der Nachzahlung verfügte. | 3,695 | 2,834 | 2 | 0 | CH_BGE_007 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_007_BGE-122-V-221_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=22&from_date=&to_date=&from_year=1996&to_year=1996&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=219&highlight_docid=atf%3A%2F%2F122-V-221%3Ade&number_of_ranks=331&azaclir=clir | BGE_122_V_221 |
|||
ee58353e-5384-4bf9-bd1e-b0c4d383246e | 1 | 81 | 1,329,502 | null | 2,024 | de | Sachverhalt
ab Seite 169
BGE 129 II 168 S. 169
A.-
X., wohnhaft im Kanton St. Gallen, fuhr am 24. Februar 2001 um 01.54 Uhr am Steuer eines "Mercedes 500" mit liechtensteinischem Nummernschild im österreichischen Feldkirch. Dort geriet er in eine Polizeikontrolle. Seine Atemluft wies eine Alkoholkonzentration von 0,53 mg/l auf.
Die Bezirkshauptmannschaft Feldkirch verurteilte X. am 1. März 2001 wegen Lenkens eines Fahrzeugs in einem durch Alkohol beeinflussten Zustand zu einer Geldstrafe. Mit Bescheid vom gleichen Tag aberkannte die Bezirkshauptmannschaft Feldkirch X. die Berechtigung, in Österreich ein Motorfahrzeug zu führen, für die Dauer von vier Wochen. Straferkenntnis und Aberkennungsbescheid blieben unangefochten und erwuchsen in Rechtskraft. Sie wurden in der Folge den Behörden des Kantons St. Gallen mitgeteilt.
X. war der Führerausweis im Kanton St. Gallen schon einmal wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand entzogen worden. Der fünfmonatige Entzug hatte am 28. Juni 1997 geendet.
B.-
Ausgehend vom Atemalkoholgehalt von 0,53 mg/l, ermittelte das kantonale Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt mit einem Umrechnungsfaktor von 1,70 einen Blutalkoholgehalt von 0,90 Gewichtspromillen. Mit Verfügung vom 27. April 2001 entzog es X. den Führerausweis für die Dauer von zwölf Monaten (
Art. 16 Abs. 3 lit. b und
Art. 17 Abs. 1 lit. d SVG
).
BGE 129 II 168 S. 170
Die Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen wies den von X. dagegen eingereichten Rekurs am 3. Juli 2002 ab.
C.-
X. erhebt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, es sei von einem Führerausweisentzug abzusehen. Subsidiär sei das Fahrverbot auf einen Monat und auf das Gebiet der Schweiz zu beschränken und es sei ihm ein rechtsgenüglicher Führerausweis zu überlassen, der es ihm erlaube, während des Entzugs des schweizerischen Führerausweises im Ausland ein Fahrzeug zu lenken. Sodann beantragt er die aufschiebende Wirkung für die Beschwerde und die Abnahme von Beweisen.
D.-
Die Verwaltungsrekurskommission beantragt unter Hinweis auf den angefochtenen Entscheid die Abweisung der Beschwerde.
Das Bundesamt für Strassen (ASTRA) pflichtet dem angefochtenen Entscheid grundsätzlich bei. Es schlägt aber vor, die Entzugsdauer auf elf Monate herabzusetzen, um dem in Österreich schon vollzogenen einmonatigen Fahrverbot Rechnung zu tragen.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut. | 1,018 | 411 | Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Der Beschwerdeführer wendet sodann unter Berufung auf die neueste Rechtsprechung ein, die kantonale Behörde dürfe die ausländische Massnahme höchstens nachvollziehen, also den Ausweis nicht für eine längere Dauer entziehen, als es die Behörde des Tatortstaates getan habe.
2.1
In Abänderung der bis dahin geltenden Praxis zum Warnungsentzug hat das Bundesgericht kürzlich erkannt, der schweizerische Führerausweis dürfe wegen einer Auslandtat nur noch entzogen werden, wenn auch der Tatortstaat die Fahrberechtigung für sein Staatsgebiet entzogen hat. Das Bundesgericht änderte die Rechtsprechung im Wesentlichen wegen der Absicht des Bundesrates, das schweizerische Recht in Sachen Führerausweis mit dem europäischen zu harmonisieren. Es wies in diesem Zusammenhang auf das Übereinkommen der Europäischen Union vom 17. Juni 1998 über den Entzug der Fahrerlaubnis hin, welches folgende Grundregel statuiert: Die durch europäische Drittstaaten als Tatortstaaten verfügten Führerausweisentzüge können und sollen durch den Wohnsitzstaat übernommen oder gerichtlich nachvollzogen werden, der Wohnsitzstaat darf jedoch mit der von ihm verfügten Massnahme nicht über das Sanktionsmass hinausgehen, das vom Tatortstaat festgesetzt worden ist (
BGE 128 II 133
E. 4d).
BGE 129 II 168 S. 171
Das Bundesgericht hat im Sinne einer Harmonisierung mit den Nachbarländern und zur Vermeidung einer in Europa singulären Praxis festgehalten, "dass der schweizerische Nachvollzug einer vom Ausland verfügten Massnahme durch die Art der ausländischen Massnahme begrenzt wird; der schweizerische Führerausweis darf deshalb nur noch entzogen werden, wenn auch der Tatortstaat die Fahrberechtigung für sein Staatsgebiet entzogen hat". Mehr hatte das Bundesgericht nicht zu entscheiden. Insbesondere war nicht die Frage zu beantworten, ob und inwiefern die Dauer eines vom Tatortstaat verfügten Entzuges der Fahrberechtigung bei der Festsetzung der Dauer des schweizerischen Führerausweisentzugs zu berücksichtigen ist. Die Frage stellt sich auch vorliegend nicht.
2.2
Das erwähnte europäische Übereinkommen gilt für die Schweiz nicht. Der Beschwerdeführer kann aus diesem Übereinkommen folglich nichts zu seinen Gunsten ableiten.
Die durch
BGE 128 II 133
eingeleitete Änderung der Rechtsprechung hat nicht zur Folge, dass im Falle, in welchem der Tatortstaat die Fahrberechtigung entzieht, die Dauer des Entzuges in der Schweiz durch die Dauer der ausländischen Massnahme begrenzt wird. Entziehen schweizerische Behörden einem in der Schweiz wohnhaften Fahrzeuglenker den Führerausweis, so haben sie dies ausschliesslich in Anwendung schweizerischen Rechtes zu tun. Dieses kennt jedoch keine Norm, die es erlaubte, in Fällen von Auslandtaten von der allgemeinen gesetzlichen Ordnung abzuweichen. Es sind beim Nachvollzug somit die schweizerischen Bestimmungen über die Festsetzung der Dauer und insbesondere jene über die Mindestdauer des Entzuges zu beachten. Anlässlich der letzten Revision des Strassenverkehrsgesetzes vom 14. Dezember 2001 (AS 2002 S. 2767) sind im Übrigen die Vorschriften über die Mindestentzugsdauer verschärft worden, und der Gesetzgeber hat ausdrücklich festgehalten, dass diese nicht unterschritten werden darf (Art. 16 Abs. 3 nSVG). Würde die gesetzliche Mindestentzugsdauer beim Nachvollzug einer ausländischen Massnahme nicht beachtet, widerspräche dies dem klaren Willen des Gesetzgebers.
Die Vorinstanz hat auf die in
Art. 17 Abs. 1 lit. d SVG
festgelegte Mindestentzugsdauer von zwölf Monaten bei Rückfall innert fünf Jahren abgestellt. Damit hat sie kein Bundesrecht verletzt.
(...)
6.
Der Beschwerdeführer macht schliesslich geltend, der Führerausweisentzug führe mangels Koordination zwischen den österreichischen und den schweizerischen Behörden im Ergebnis zu einer
BGE 129 II 168 S. 172
Doppelbestrafung. Ein Entzug in der Schweiz sei deshalb solange unstatthaft, als nicht ein Mittel bestehe, um ihm gleichzeitig das legale Fahren im Ausland zu ermöglichen.
In diesem Zusammenhang schlägt das ASTRA vor, den Ausweisentzug auf elf Monate zu begrenzen, um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass der Ausweisentzug in der Schweiz dem Beschwerdeführer auch das Führen eines Fahrzeugs in Österreich verbietet, obwohl er dort bereits während eines Monats nicht habe fahren dürfen.
6.1
Derjenige, dem der schweizerische und, gestützt auf
Art. 45 Abs. 2 der Verordnung vom 27. Oktober 1976 über die Zulassung von Personen und Fahrzeugen zum Strassenverkehr (VZV; SR 741.51)
, gleichzeitig ein allfälliger ausländischer Führerausweis entzogen wird, besitzt nicht nur in der Schweiz, sondern auch im Ausland während der Entzugsdauer keine Fahrerlaubnis mehr. War ihm aber wegen einer Auslandtat die Fahrerlaubnis im entsprechenden Staat bereits entzogen worden, so führt der nachträgliche Entzug des schweizerischen Führerausweises zu einem weiteren Fahrverbot in jenem Staat. In einem unveröffentlichten Entscheid, auf den sich der Beschwerdeführer beruft, hat das Bundesgericht erkannt, eine derartige Sanktion verstosse gegen den Grundsatz "ne bis in idem", weil die Auslandtat im entsprechenden Staat endgültig abgeurteilt worden sei und für dessen Gebiet deshalb keine neuerliche Sanktion verhängt werden dürfe. Es hat daraus geschlossen, die Entzugsbehörde habe, um eine derartige Folge zu vermeiden, von Amtes wegen einen örtlich differenzierten Entzug auszusprechen. Dem Fahrzeuglenker sei deshalb zusammen mit dem Entzug des schweizerischen (und eines allfälligen ausländischen) Führerausweises für die Entzugsdauer eine Fahrerlaubnis für den Staat auszustellen, in dem wegen desselben Ereignisses ein Entzug bereits vollzogen worden sei (Urteil 6A.104/1996 vom 17. Februar 1997, E. 3c).
Daran hat sich das in erster Instanz verfügende Amt gehalten. Es hielt in der Entzugsverfügung fest: "Damit ist Ihnen für die genannte Dauer das Recht aberkannt, in der Schweiz und im Fürstentum Liechtenstein ein Motorfahrzeug zu führen. Es steht Ihnen frei, gegen Bezahlung einer Gebühr einen internationalen Führerausweis zu beantragen."
Der Beschwerdeführer hat diese Anordnung im kantonalen Rekursverfahren angefochten. Er berief sich auf ein Urteil des Verwaltungsgerichtes Basel-Landschaft vom 30. Januar 2001, in welchem die Stellungnahme einer deutschen Amtsstelle wiedergegeben
BGE 129 II 168 S. 173
wird. Dort heisst es, ein internationaler Führerausweis berechtige nur denjenigen zum Führen eines Motorfahrzeugs, der auch im Besitz eines nationalen Ausweises sei; fehle dieser, sei in Deutschland mit einem Strafverfahren und der Beschlagnahme des Fahrzeugs zu rechnen. Auf diesen Einwand ist die Vorinstanz nicht explizit eingegangen.
6.2
Internationale Führerausweise dürfen nur Inhabern schweizerischer oder ausländischer Ausweise erteilt werden (
Art. 46 Abs. 1 VZV
). Wird ein nationaler Führerausweis entzogen oder aberkannt, so ist für die Dauer der Massnahme auch ein allfälliger internationaler Führerausweis zu entziehen (
Art. 46 Abs. 4 VZV
); auf dem Ausweis ist ein entsprechender Eintrag vorzunehmen (
Art. 45 Abs. 3 VZV
). Diese Regelung des schweizerischen Rechts entspricht Art. 41 Ziff. 6 des Übereinkommens über den Strassenverkehr vom 8. November 1968 (SR 0.741.10), welcher vorsieht, dass ein internationaler Führerausweis nur dem Inhaber eines nationalen Führerausweises ausgestellt werden darf und dass dessen Gültigkeitsdauer nicht über die entsprechende Dauer des nationalen Führerausweises hinausgehen darf.
Die vom Bundesgericht im obgenannten unveröffentlichten Entscheid angeregte Erteilung eines internationalen Führerausweises erweist sich damit als nicht praktikabel. In diesem Punkt muss vom Entscheid abgerückt werden.
Vom genannten Entscheid ist das Bundesgericht im Übrigen schon in einem andern Punkt abgewichen. Es hat erkannt, dass sich der Grundsatz "ne bis in idem" nur auf die strafrechtliche Verfolgung von Delikten bezieht und deshalb auf die vom Tatort- und vom Wohnsitzstaat ausgesprochenen Administrativmassnahmen nicht anwendbar ist. Gleichzeitig hat es aber bekräftigt, dass die auf Grund der bestehenden Doppelspurigkeit angeordneten Massnahmen in ihrer Gesamtheit schuldangemessen sein müssen und nicht zu einer verkappten Doppelbestrafung führen dürfen (
BGE 128 II 133
E. 3b/bb).
6.3
Die Rechtsprechung hat verschiedentlich den strafähnlichen Charakter des Warnungsentzugs erwähnt und aus diesem Grund dort, wo die gesetzliche Regelung des Warnungsentzuges lückenhaft ist, auf strafrechtliche Grundsätze zurückgegriffen (vgl.
BGE 128 II 285
E. 2.4 in fine).
Bei Straftaten mit internationalem Bezug können unter Umständen mehrere Strafrechtsordnungen anwendbar sein und der Täter kann wegen derselben Tat sowohl im Ausland wie in der Schweiz
BGE 129 II 168 S. 174
strafrechtlich verurteilt werden. Eine derartige Doppelbestrafung verstösst nach allgemeiner Ansicht nicht gegen den Grundsatz "ne bis in idem", sie kann im Ergebnis aber unbillig sein. Um unbillige Folgen zu vermeiden, sieht das schweizerische Strafrecht die Anrechnung der ausländischen Strafe vor (vgl.
Art. 3 Ziff. 1 Abs. 2 StGB
;
BGE 114 IV 83
E. 1). In gleicher Weise ist die Anrechnung des ausländischen Entzugs der Fahrerlaubnis geeignet, im Ergebnis eine doppelte Sanktionierung auf administrativem Gebiet zu vermeiden.
Die schweizerische Entzugsbehörde hat demzufolge die schon vollstreckte ausländische Massnahme anzurechnen und die Dauer des Entzuges des nationalen Führerausweises so festzusetzen, dass dieser Entzug und die ausländische Massnahme zusammen nicht strenger erscheinen als der Entzug des nationalen Ausweises, der ausgesprochen worden wäre, wenn die Anlasstat in der Schweiz begangen worden wäre. Wie hierbei der Entzug der Fahrberechtigung im fremden Staat zu gewichten ist, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab, namentlich davon, ob der Betroffene in diesem Staat ein Fahrzeug selten oder häufig führt und ob ihn deshalb die ausländische Massnahme während der entsprechenden Zeit nur in geringem oder in starkem Masse einschränkte.
6.4
Das ASTRA schlägt vor, die in der Schweiz an sich auszusprechende Entzugsdauer von zwölf Monaten um einen Monat herabzusetzen, um so dem einmonatigen Entzug der Fahrerlaubnis in Österreich Rechnung zu tragen. Dies würde sich rechtfertigen, wenn der Beschwerdeführer fast ausschliesslich in Österreich führe. Dem ist aber nicht so. Aus dem angefochtenen Urteil ergibt sich vielmehr, dass sein Arbeitsort im Fürstentum Liechtenstein liegt, dass er mit dem Fahrzeug Kunden in der Schweiz aufsucht, dass sich sein gesetzlicher Wohnsitz in der Schweiz befindet und dass er in Österreich das Fahrzeug nur zu privaten Zwecken braucht.
Die Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zwecks weiterer Abklärungen drängt sich angesichts der feststehenden Tatsachen und des zu treffenden Entscheids nicht auf. Der Beschwerdeführer benutzt sein Fahrzeug für seine berufliche Tätigkeit vorwiegend ausserhalb Österreichs, und er hat auch seinen Wohnsitz ausserhalb dieses Landes. Die Einschränkung in privaten, wenn auch regelmässigen Tätigkeiten in Österreich hat damit verhältnismässig wenig Gewicht. Unter diesen Umständen ist die Verkürzung des schweizerischen Führerausweisentzugs um einen halben Monat jedenfalls hinreichend, um dem bereits vollzogenen einmonatigen Entzug der Fahrberechtigung in Österreich Rechnung zu tragen. | 4,878 | 1,825 | 2 | 0 | CH_BGE_004 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_004_BGE-129-II-168_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=2&from_date=&to_date=&from_year=2002&to_year=2002&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=17&highlight_docid=atf%3A%2F%2F129-II-168%3Ade&number_of_ranks=303&azaclir=clir | BGE_129_II_168 |
|||
ee587ee3-823b-4149-8c7c-4579f928c041 | 2 | 84 | 1,352,800 | 1,622,592,000,000 | 2,021 | fr | Sachverhalt
ab Seite 252
BGE 147 V 251 S. 252
A.
Né en 2009, A.A. est atteint d'hémiplégie droite et d'une infirmité motrice cérébrale de type spastique. L'Office de l'assurance-invalidité du canton de Genève (ci-après: l'office AI) a pris en charge des mesures médicales en raison d'une infirmité congénitale. Par la suite, il a alloué à l'assuré une allocation pour impotence de degré faible depuis le 1
er
janvier 2012, puis de degré moyen dès le 1
er
août 2012, ainsi qu'une contribution d'assistance d'un montant maximal de 8'672 fr. 95 par année à partir du 1
er
octobre 2012.
A la suite d'un échange de correspondance avec la mère de l'assuré quant au cadre dans lequel celui-ci poursuivait sa scolarité pour l'année 2014-2015, puis 2015-2016, 2016-2017 et 2017-2018, l'office AI a mis en oeuvre une enquête à domicile. Dans son rapport du 11 février 2019, la collaboratrice de l'office AI a mentionné que A.A. était inscrit depuis l'année scolaire 2016-2017 à l'école C. qui était une école spécialisée, privée et subventionnée. Informé par l'office AI de son intention de supprimer la contribution d'assistance, l'assuré a fait valoir qu'il fréquentait une classe ordinaire, en produisant une attestation du 28 février 2019 du directeur de l'école C. Par décision du 25 mars 2019, l'office AI a supprimé la contribution d'assistance à partir de la fin du mois suivant la notification de son prononcé, au motif que l'assuré ne suivait plus une classe ordinaire.
B.
Statuant le 30 janvier 2020 sur le recours formé par A.A. contre cette décision, la Cour de justice de la République et canton de Genève l'a rejeté.
C.
Agissant par la voie du recours en matière de droit public, A.A. demande au Tribunal fédéral d'annuler l'arrêt cantonal et de le mettre au bénéfice de la contribution d'assistance. Il sollicite par ailleurs l'assistance judiciaire.
L'office AI a renoncé à répondre, tandis que l'Office fédéral des assurances sociales (OFAS) propose le rejet du recours. L'assuré s'est exprimé sur la détermination de l'autorité de surveillance.
BGE 147 V 251 S. 253
Le Tribunal fédéral a rejeté le recours. | 522 | 449 | Erwägungen
Extrait des considérants:
2.
2.1
Le litige porte sur le droit du recourant au maintien d'une contribution d'assistance, au sens de l'art. 42
quater
LAI, au-delà du 30 avril 2019 (compte tenu de la date de la notification de la décision du 25 mars 2019 retenue par la juridiction cantonale). Selon le premier alinéa de cette disposition, l'assuré a droit à une contribution d'assistance aux conditions suivantes: a) il perçoit une allocation pour impotent de l'AI conformément à l'art. 42 al. 1 à 4; b) il vit chez lui; c) il est majeur. En vertu de l'art. 42
quater
al. 3 LAI, le Conseil fédéral fixe les conditions auxquelles les mineurs ont droit à la contribution d'assistance.
2.2
Conformément à cette délégation de compétence, le Conseil fédéral a édicté l'
art. 39a RAI
(RS 831.201) qui prévoit que l'assuré mineur a droit à une contribution d'assistance (notamment) s'il remplit les conditions prévues à l'art. 42
quater
al. 1 let. a et b LAI et s'il suit de façon régulière l'enseignement scolaire obligatoire dans une classe ordinaire, une formation professionnelle sur le marché ordinaire de l'emploi ou une autre formation du degré secondaire II (let. a).
Le désaccord des parties concerne exclusivement l'application de l'
art. 39a let. a RAI
(les deux autres éventualités prévues par les let. b et c n'étant pas déterminantes en l'espèce). Il s'agit singulièrement d'examiner si la juridiction cantonale a à juste titre considéré que le recourant n'avait pas droit à la prestation en cause, au motif que la condition de la fréquentation d'une "classe ordinaire" n'était pas réalisée en l'occurrence.
(...)
5.
Conformément au texte clair de l'art. 42
quater
al. 3 LAI, le Conseil fédéral s'est vu déléguer la compétence de fixer les conditions auxquelles les mineurs ont droit à une contribution d'assistance. Le législateur n'a prévu aucune prescription explicite quant au contenu matériel de ces conditions (
ATF 145 V 278
consid. 4.2).
L'
art. 39a RAI
(fondé sur l'art. 42
quater
al. 3 LAI) constitue une règle relevant d'une ordonnance dépendante, non pas d'exécution mais de substitution (sur cette notion, voir AUER/MALINVERNI/HOTTELIER,
BGE 147 V 251 S. 254
Droit constitutionnel suisse, vol. I, 3
e
éd. 2013, p. 539 ss n. 1594 ss; HÄFELIN/MÜLLER/UHLMANN, Allgemeines Verwaltungsrecht, 8
e
éd. 2020, p. 22 ss n. 93 ss). En présence d'une telle ordonnance, le Tribunal fédéral examine si l'autorité exécutive est restée dans les limites des pouvoirs qui lui ont été conférés par la loi. Dans la mesure où la délégation législative ne l'autorise pas à déroger à la Constitution fédérale, le Tribunal fédéral est également habilité à revoir la constitutionnalité des règles contenues dans l'ordonnance en cause. Lorsque la délégation législative accorde à l'autorité exécutive un très large pouvoir d'appréciation pour fixer les dispositions d'exécution, cette clause lie le Tribunal fédéral en vertu de l'
art. 190 Cst.
Dans un tel cas, le Tribunal fédéral ne saurait substituer sa propre appréciation à celle du Conseil fédéral et doit se borner à examiner si l'ordonnance en question sort manifestement du cadre de la délégation législative octroyée à l'autorité exécutive ou si, pour d'autres raisons, elle apparaît contraire à la loi ou à la Constitution fédérale. Il ne revient pas au Tribunal fédéral d'examiner l'opportunité de l'ordonnance ou de prendre position au sujet de l'adéquation politique, économique ou autre d'une disposition d'une ordonnance (
ATF 146 II 56
consid. 6.2.2 et les références;
ATF 145 V 278
consid. 4.1 et les références).
(...)
7.
Eu égard ensuite au reproche du recourant à l'encontre des premiers juges selon lequel ils auraient manqué d'analyser le terme "'classe ordinaire' à la lueur de la volonté du législateur", il convient de rappeler les motifs qui ont guidé celui-ci lors de l'introduction de la contribution d'assistance pour les mineurs, que le Tribunal fédéral a déjà eu l'occasion d'exposer dans l'
ATF 145 V 278
.
7.1
Introduite par la 6
e
révision de la LAI (premier volet) au 1
er
janvier 2012 à la suite du projet pilote "Budget d'assistance" (cf. RO 2005 3529), la contribution d'assistance constitue une prestation en complément de l'allocation pour impotent et de l'aide prodiguée par les proches, conçue comme une alternative à l'aide institutionnelle et permettant à des handicapés d'engager eux-mêmes des personnes leur fournissant l'aide dont ils ont besoin et de gérer leur besoin d'assistance de manière plus autonome et responsable. L'accent mis sur les besoins a pour objectif d'améliorer la qualité de vie de l'assuré, d'augmenter la probabilité qu'il puisse rester à domicile malgré son handicap et de faciliter son intégration sociale et professionnelle;
BGE 147 V 251 S. 255
parallèlement, la contribution d'assistance permet de décharger les proches qui prodiguent des soins (
ATF 145 V 278
consid. 2.2; Message du 24 février 2010 relatif à la modification de la loi fédérale sur l'assurance-invalidité, 6
e
révision, premier volet, FF 2010 1692 ch. 1.3.4).
7.2
Initialement, le Conseil fédéral a proposé de soumettre le droit à la contribution d'assistance à la condition que l'assuré ait l'exercice des droits civils au sens de l'
art. 13 CC
(al. 1 let. c de l'art. 42
quater
P-LAI; FF 2010 1771); là où cette condition fait défaut - ainsi pour les mineurs et les personnes dont la capacité de discernement est restreinte -, le droit à la prestation doit être lié à l'exigence que, par ce moyen, l'intéressé puisse mener une vie autonome et responsable, la décision dépendant de l'importance des limites à l'exercice des droits civils et des domaines concernés par ces limites. Selon le Conseil fédéral, la délégation de compétence en sa faveur lui permet d'édicter des "critères sur mesure et applicables en pratique, en vertu desquels les mineurs et les personnes dont l'exercice des droits civils est partiellement limité pourront bénéficier de la nouvelle prestation" (message cité, FF 2010 1727 ch. 2, ad art. 42
quater
al. 2 P-LAI).
Au terme des délibérations parlementaires, suivant l'avis de la Commission de la sécurité sociale et de la santé publique du Conseil des Etats qui entendait supprimer la discrimination des personnes dont la capacité d'exercer les droit civils est restreinte, les Chambres fédérales ont adopté les modifications proposées de l'art. 42
quater
al. 1 let. c et des al. 2 et 3 (BO 2010 CE 658 s.; BO 2010 CN 2102 ss). La compétence de régler les conditions auxquelles les personnes dont la capacité d'exercer les droits civils est restreinte n'ont droit à aucune contribution d'assistance a été déléguée au Conseil fédéral (art. 42
quater
al. 2), de même que celle de fixer les conditions auxquelles les personnes mineures ont droit à une contribution d'assistance (art. 42
quater
al. 3).
7.3
En ce qui concerne en particulier les mineurs, un exemple concret du besoin d'assistance a été évoqué pendant les débats au Conseil des Etats. Le Conseiller aux Etats David a mentionné le cas d'un jeune homme, entre 15 et 18 ans, qui suivrait un apprentissage ou l'école et nécessiterait de l'aide (par exemple pour se rendre aux toilettes): le point central est qu'une personne l'assiste pour une aide relativement modeste également au lieu d'apprentissage ou à l'école, que les parents ne pourraient pas forcément fournir. Selon le
BGE 147 V 251 S. 256
Conseiller aux Etats, la voie doit être ouverte le plus possible pour de tels jeunes, qui pourraient effectivement entrer dans le processus du travail, afin de leur permettre d'avoir accès à une vie indépendante (BO 2010 CE 659). Le Chef du Département concerné (le Conseiller fédéral Burkhalter) a attiré l'attention des députés sur les conditions financières, qui nécessitent une "ouverture" de la disposition par étapes ("commencer avec l'alinéa 1 [de l'art. 42
quater
LAI] et [é]largir la disposition, dans la mesure du possible, à mesure que les conséquences deviennent clairement visibles"), l'intention étant de "mettre en place un monitoring et avancer par étapes" (BO 2010 CE 659; cf. aussi
ATF 145 V 278
consid. 4.3.2).
En amont, lors des discussions au sein des deux Commissions de la sécurité sociale et de la santé publique, la possibilité pour le Conseil fédéral de définir les conditions du droit à la contribution d'assistance pour les mineurs a été évoquée en relation avec la nécessité de rester restrictif - pour maintenir les objectifs fixés en termes financiers -, avec l'idée d'étendre progressivement ces conditions en fonction de l'évolution de l'assurance-invalidité et du projet même de la contribution d'assistance (procès-verbaux de la séance de la Commission de la sécurité sociale et de la santé publique du Conseil des Etats des 19 et 20 mai 2010, p. 43, 45 et 56 s. et de la séance de la Commission de la sécurité sociale et de la santé publique du Conseil national des 4 et 5 novembre 2010, p. 56 s.).
7.4
Comme l'a déjà rappelé la juridiction cantonale, en relation avec la situation des personnes disposant d'une capacité d'exercer les droits civils restreinte et des mineurs, la discussion au cours des débats parlementaires a aussi porté sur la possibilité d'introduire la contribution d'assistance sans exigence supplémentaire par rapport aux assurés majeurs. Une minorité de la Commission de la sécurité sociale et de la santé publique du Conseil national (Prelicz-Huber et autres) a proposé d'ouvrir le droit à la contribution d'assistance à toute personne avec un handicap, indépendamment du point de savoir si elle a l'exercice des droits civils ou si l'exercice d'une activité lucrative respectivement l'intégration dans le marché du travail est envisageable, une intégration sociale et avant tout plus d'autodétermination étant toujours possibles (BO 2010 CN 2102 s. et 2108; cf. en particulier aussi la déclaration de la Conseillère nationale Weber-Gobet, BO 2010 CN 2104 s.). Une telle extension de la prestation, qui aurait lié le droit à celle-ci uniquement à la perception d'une allocation pour impotent et au fait de vivre chez soi, a été
BGE 147 V 251 S. 257
refusée par la majorité de la Commission - suivie ensuite par la majorité du Conseil national - pour des raisons financières; elle aurait entraîné une augmentation du cercle des bénéficiaires de 20'000 à 38'000 et une augmentation des coûts de près du double, ce qui n'aurait pas été compatible avec le but de l'ensemble de la révision ("rééquilibrer les finances de l'AI"; déclaration du Conseiller national Cassis, BO 2010 CN 2108; cf. aussi la déclaration du Conseiller national Bortoluzzi, BO 2010 CN 2105 s.).
8.
8.1
Au regard de la procédure législative et des débats parlementaires exposés, il y a lieu de constater que la compétence déléguée au Conseil fédéral de régler les conditions du droit à la contribution d'entretien pour les mineurs lui confère une marge de manoeuvre très étendue (cf.
ATF 145 V 278
consid. 5.2), alors que le législateur a fait le choix explicite de ne pas ouvrir cette nouvelle prestation à l'ensemble des assurés mineurs percevant une allocation pour impotent et vivant chez eux, mais de laisser place à une ouverture par étapes.
8.2
Le choix du législateur de soumettre le droit à la contribution d'assistance des mineurs à des conditions supplémentaires à celles de l'art. 42
quater
al. 1 let. a et b LAI implique forcément que l'organe compétent pour édicter celles-ci détermine certaines exigences quant à l'autonomie ou à la responsabilité nécessaire pour bénéficier de la prestation.
Or en posant la condition que l'assuré mineur doive suivre de façon régulière l'enseignement obligatoire dans une classe ordinaire, l'auteur de l'ordonnance a prévu un critère qui s'inscrit dans le cadre du but de la contribution d'assistance, à savoir améliorer la qualité de vie de l'assuré, augmenter la probabilité qu'il puisse rester à domicile malgré son handicap et faciliter son intégration sociale et professionnelle. Il s'agit par ailleurs d'un critère de délimitation clair et objectif qui permet d'admettre un degré d'autonomie et de capacité de se responsabiliser de l'assuré mineur concerné. Quoi qu'en dise le recourant, il ne s'agit en effet pas de reconnaître le droit à la prestation en fonction du "type" ou du "statut" de l'établissement scolaire, mais de s'assurer que l'intéressé dispose d'une autonomie et de capacités nécessaires en vue d'une vie la plus indépendante et responsable possible, d'un point de vue objectif (cf. aussi Commentaire de l'OFAS de la modification du RAI du 16 novembre 2011, ad
BGE 147 V 251 S. 258
art. 39a [nouveau] RAI, p. 12 s.,
www.bsv.admin.ch
sous Assurances sociales/Assurance-invalidité/Informations de base & législation/Lois et ordonnances [consulté le 20 avril 2021]). Ce critère ne saurait être remplacé par "un examen concret des conditions de scolarisation" de l'intéressé, qui supposerait au préalable de définir le seuil d'autonomie en cause autrement qu'au regard de "l'aptitude à suivre l'école normale", laquelle correspond précisément à une délimitation objective et praticable. Lorsqu'un enfant est intégré dans une classe ordinaire, on peut en effet partir de l'idée qu'il dispose d'un degré d'autonomie certain, des besoins éducatifs particuliers nécessitant un soutien pédagogique spécialisé n'étant alors pas avérés. L'argument du recourant selon lequel sa soeur jumelle est inscrite dans le même établissement n'y change rien. Si l'école C. n'accueille pas exclusivement des enfants nécessitant des besoins particuliers, il n'en demeure pas moins que le recourant n'est pas intégré dans une classe ordinaire au sens de la disposition en cause.
8.3
A l'inverse de ce que prétend par ailleurs le recourant, l'exigence prévue par l'
art. 39a let. a RAI
quant au suivi de l'enseignement scolaire obligatoire dans une classe ordinaire ne contrevient pas au principe de l'égalité de traitement (
art. 8 al. 1 Cst.
). Comme le relève l'OFAS, un enfant qui fréquente une école spécialisée se trouve dans une situation différente de celui qui suit l'enseignement dans une classe ordinaire, puisque la prise en charge dans une structure ou institution de pédagogie spécialisée vise à apporter des réponses pédagogiques aux élèves qui ont des besoins éducatifs particuliers ou présentent un handicap (cf. par exemple art. 33 de la loi cantonale genevoise du 17 septembre 2015 sur l'instruction publique [LIP; rs/GE C 1 10]).
On ajoutera que la question d'une éventuelle extension du droit à la contribution d'assistance a été déposée au Conseil national, l'auteur de l'interpellation admettant cependant que "le critère en matière d'assistance est, à juste titre, la fréquentation de l'école ordinaire" (19.3682 Interpellation Quadranti du 19 juin 2019, Contribution d'assistance - Éliminer les incohérences dans la réglementation scolaire; état "non encore traité au conseil"). Une telle ouverture du droit à la contribution d'entretien relève d'un choix politique sur lequel le Tribunal fédéral n'a pas à se prononcer. | 3,430 | 3,049 | 2 | 0 | CH_BGE_007 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_007_BGE-147-V-251_2021-06-02 | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=8&from_date=&to_date=&from_year=2021&to_year=2021&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=79&highlight_docid=atf%3A%2F%2F147-V-251%3Ade&number_of_ranks=181&azaclir=clir | BGE_147_V_251 |
|||
ee5f9296-f181-47f7-b063-e78f5cc9d870 | 1 | 83 | 1,360,012 | null | 2,024 | de | Sachverhalt
ab Seite 96
BGE 129 IV 95 S. 96
Am 26. September 1995 reichte das armenische Komitee für die "Gedenkfeier an den armenischen Völkermord vor 80 Jahren" eine mit etwa 5'000 Unterschriften versehene Petition an die eidgenössischen Räte ein, in welcher diese aufgefordert wurden, "die nötigen politischen Schritte einzuleiten, um den Tatbestand des Genozids an den Armeniern als Völkermord anzuerkennen und zu verurteilen" (siehe AB 1996 N 41 f.). In der Petition wurde ausgeführt, dass im Jahre 1915 im Osmanischen Reich Hunderte armenische Intellektuelle verhaftet und hingerichtet worden seien und im Anschluss daran ein geplanter Völkermord stattgefunden habe, dem rund 1,5 Millionen Armenier zum Opfer gefallen seien.
Als Reaktion darauf reichte die Koordinationsstelle der türkischen Verbände in der Schweiz am 30. Januar 1996 eine mit ca. 4'200 Unterschriften versehene (Gegen-)Petition an die eidgenössischen Räte ein (siehe AB 1996 N 42 f.). Darin wird einleitend Folgendes ausgeführt:
"Wir, die Unterzeichnenden, verurteilen die kürzlich initiierte
Hetzkampagne des armenischen Komitees für die Gedenkfeier, die an den
angeblichen 'armenischen Völkermord' vor 80 Jahren erinnern soll. Mit
der Bezeichnung 'armenischer Völkermord' werden die historischen
Tatsachen massiv verzerrt".
Am 18. April 2000 reichten X. und Y., beide armenischer Abstammung, eine Privatklage ein mit den Rechtsbegehren, die Beklagten seien in Anwendung von
Art. 261bis StGB
zu bestrafen; es sei festzustellen, dass die Kläger durch die Leugnung des Völkermords an den Armeniern durch die Beklagten in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt worden seien; die Beklagten seien zu verurteilen, den Klägern eine Genugtuung von Fr. 1.- zu zahlen.
BGE 129 IV 95 S. 97
Am 14. September 2001 sprach der Gerichtspräsident 16 des Gerichtskreises VIII Bern-Laupen die Beschuldigten unter Zurückweisung der Zivilklage vom Vorwurf der Rassendiskriminierung im Sinne von Art. 261bis Abs. 4 zweiter Satzteil StGB frei.
Dagegen erhoben X. und Y. Appellation.
Der Generalprokurator des Kantons Bern erklärte mit Eingabe vom 15. Januar 2002, dass er auf eine Teilnahme am Verfahren verzichte und die Vertretung der Anklage den Privatklägern überlasse.
Mit Entscheid vom 16. April 2002 trat das Obergericht des Kantons Bern auf die Appellation nicht ein.
X. und Y. führen staatsrechtliche Beschwerde und eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde. Mit der Letzteren stellen sie den Antrag, der Entscheid des Obergerichts vom 16. April 2002 sei aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Das Bundesgericht weist die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde ab. | 1,095 | 459 | Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Gemäss
Art. 270 lit. e BStP
steht die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde dem Opfer zu, das sich bereits vorher am Verfahren beteiligt hat, soweit der Entscheid seine Zivilansprüche betrifft oder sich auf deren Beurteilung auswirken kann (Ziff. 1), oder soweit es eine Verletzung von Rechten geltend macht, die ihm das Opferhilfegesetz einräumt (Ziff. 2). Opfer im Sinne des Opferhilfegesetzes (OHG; SR 312.5) und damit auch gemäss
Art. 270 lit. e BStP
ist jede Person, die durch eine Straftat in ihrer körperlichen, sexuellen oder psychischen Integrität unmittelbar beeinträchtigt worden ist (
Art. 2 Abs. 1 OHG
). Das Opfer kann gemäss
Art. 8 Abs. 1 lit. c OHG
den Gerichtsentscheid mit den gleichen Rechtsmitteln anfechten wie der Beschuldigte, wenn es sich bereits vorher am Verfahren beteiligt hat und soweit der Entscheid seine Zivilansprüche betrifft oder sich auf deren Beurteilung auswirken kann. Das Opfer ist mithin gemäss
Art. 8 Abs. 1 lit. c OHG
unter den darin genannten Voraussetzungen von Bundesrechts wegen zur Appellation etwa gegen ein die Beschuldigten mangels Tatbestandserfüllung freisprechendes erstinstanzliches Urteil befugt. Tritt die kantonale Appellationsinstanz auf die Appellation nicht ein mit der Begründung, dass der Appellant nicht Opfer im Sinne des Opferhilfegesetzes und somit eine in
Art. 8 Abs. 1 lit. c OHG
genannte Voraussetzung nicht erfüllt sei, so kann der Appellant den Nichteintretensentscheid gestützt auf
Art. 270 lit. e
BGE 129 IV 95 S. 98
Ziff. 2 BStP
mit eidgenössischer Nichtigkeitsbeschwerde anfechten mit der Begründung, die Vorinstanz habe seine Eigenschaft als Opfer im Sinne des Opferhilfegesetzes zu Unrecht verneint.
Die Beschwerdeführer sind somit zur eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde legitimiert, soweit sie geltend machen, die Vorinstanz habe sie zu Unrecht nicht als Opfer im Sinne des Opferhilfegesetzes angesehen. Auf die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde ist daher insoweit einzutreten.
3.
Gemäss
Art. 261bis Abs. 4 StGB
wird bestraft, wer öffentlich durch Wort, Schrift, Bild, Gebärden, Tätlichkeiten oder in anderer Weise eine Person oder eine Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse, Ethnie oder Religion in einer gegen die Menschenwürde verstossenden Weise herabsetzt oder diskriminiert oder aus einem dieser Gründe Völkermord oder andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit leugnet, gröblich verharmlost oder zu rechtfertigen sucht. Die Beschwerdeführer werfen den Beschwerdegegnern Leugnung etc. von Völkermord oder anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne von Art. 261bis Abs. 4 zweiter Satzteil StGB vor. Zu prüfen ist, ob die Beschwerdeführer in Bezug auf diese den Beschwerdegegnern zur Last gelegte Straftat Opfer im Sinne von
Art. 2 Abs. 1 OHG
seien.
3.1
Gemäss
Art. 2 Abs. 1 OHG
ist Opfer, wer durch eine strafbare Handlung in seiner körperlichen, sexuellen oder psychischen Integrität unmittelbar beeinträchtigt worden ist. Die Beeinträchtigung muss tatsächlich eingetreten sein; eine blosse Gefährdung genügt nicht (
BGE 122 IV 71
E. 3a S. 77; Urteil 6S.729/2001 vom 25. Februar 2002). Die Beeinträchtigung muss zudem von einer gewissen Schwere sein; ob dies der Fall sei, hängt von den gesamten konkreten Umständen ab (
BGE 128 I 218
E. 1.2;
BGE 125 II 265
E. 2, mit Hinweisen).
Der Anwendungsbereich des Opferhilfegesetzes wird insbesondere durch das in
Art. 2 Abs. 1 OHG
ausdrücklich genannte Erfordernis der unmittelbaren Beeinträchtigung der körperlichen, sexuellen oder psychischen Integrität eingeschränkt. Die Unmittelbarkeit der Beeinträchtigung ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichts auch ein wesentliches Merkmal des Begriffs des Geschädigten im strafprozessrechtlichen Sinne. Danach ist Geschädigte diejenige Person, welcher durch das eingeklagte Verhalten unmittelbar ein Schaden zugefügt wurde oder zu erwachsen drohte. Das ist in der Regel der Träger des Rechtsgutes, welches durch die
BGE 129 IV 95 S. 99
fragliche Strafbestimmung vor Verletzung oder Gefährdung geschützt werden soll (
BGE 128 I 218
E. 1.5 mit Hinweisen). Bei Delikten, die nicht primär Individualrechtsgüter schützen, gelten nur diejenigen Personen als Geschädigte, welche durch diese Delikte tatsächlich in ihren Rechten beeinträchtigt werden, sofern diese Beeinträchtigung unmittelbare Folge der tatbestandsmässigen Handlung ist (
BGE 120 Ia 220
E. 3b;
BGE 120 IV 154
E. 3c/cc S. 159;
BGE 119 Ia 342
E. 2b;
BGE 117 Ia 135
E. 2a, je mit Hinweisen). Nach der Rechtsprechung ist beispielsweise die bei einem Verkehrsunfall verletzte Person in Bezug auf die vom andern Verkehrsteilnehmer begangene Straftat der fahrlässigen Körperverletzung Opfer im Sinne des Opferhilfegesetzes, nicht aber hinsichtlich der vom Andern begangenen Straftaten der Verletzung von Verkehrsregeln und des Fahrens in angetrunkenem Zustand; die letztgenannten Straftaten beeinträchtigen nicht im Sinne von
Art. 2 Abs. 1 OHG
"unmittelbar" die körperliche Integrität (
BGE 122 IV 71
E. 3a).
3.2
Das Bundesgericht hat in
BGE 123 IV 202
E. 2 und E. 3a in Bezug auf
Art. 261bis Abs. 1 und Abs. 4 StGB
ausgeführt, geschützt werde wesentlich die Würde des einzelnen Menschen in seiner Eigenschaft als Angehöriger einer Rasse, Ethnie oder Religion. Der öffentliche Friede werde mittelbar geschützt als Folge des Schutzes des Einzelnen in seiner Zugehörigkeit zu einer ethnischen oder religiösen Gruppe (zustimmend MARCEL ALEXANDER NIGGLI, in: AJP 1998 S. 624 ff.; kritisch KARL-LUDWIG KUNZ, Zur Unschärfe und zum Rechtsgut der Strafnorm gegen Rassendiskriminierung..., in: ZStrR 116/1998 S. 223 ff., 228 ff.; GUIDO JENNY, in: ZBJV 134/1998 S. 628 f.). Es hat diese Auffassung in
BGE 128 I 218
E. 1.4 betreffend Art. 261bis Abs. 4 erster Satzteil StGB bestätigt. Darin ist es auf eine staatsrechtliche Beschwerde gegen einen letztinstanzlichen kantonalen Einstellungsbeschluss nicht eingetreten, weil der durch die inkriminierte Herabsetzung Betroffene mangels ausreichend erheblicher Beeinträchtigung der psychischen Integrität nicht als Opfer im Sinne von
Art. 2 und
Art. 8 OHG
angesehen werden könne. Beide Entscheide betreffen nicht die vorliegend einzig zur Diskussion stehende Tatbestandsvariante von Art. 261bis Abs. 4 zweiter Satzteil StGB.
Das Bundesgericht hat in
BGE 125 IV 206
E. 2b S. 210 angedeutet, dass bei der Tatbestandsvariante der Leugnung von Völkermord im Sinne von Art. 261bis Abs. 4 zweiter Satzteil StGB eine Einzelperson, wenn überhaupt, nur in seltenen Ausnahmefällen als Geschädigte (im Sinne von
Art. 270 Abs. 1 BStP
in der damals
BGE 129 IV 95 S. 100
geltenden Fassung) betrachtet werden könne. Es hat in
BGE 128 I 218
E. 1.5 offen gelassen, wie es sich damit verhält. Eine Einzelperson kann gemäss den Erwägungen im letztgenannten Entscheid jedenfalls Geschädigte sein, soweit es um eine Rassendiskriminierung nach Art. 261bis Abs. 4 erster Satzteil StGB geht. In diesem Fall richtet sich der Angriff unmittelbar gegen die betreffende Person und wird diese in ihrer Menschenwürde getroffen. Insoweit kommt grundsätzlich - bei hinreichend schwer wiegender Beeinträchtigung der psychischen Integrität - auch die Annahme der Opfereigenschaft in Betracht (
BGE 128 I 218
E. 1.5).
Mit der Frage der Geschädigtenstellung von Einzelpersonen beim Tatbestand der Leugnung von Völkermord im Sinne von Art. 261bis Abs. 4 zweiter Satzteil StGB hat sich das Bundesgericht unter der beschränkten Kognition der Willkür im Urteil 6P.78/2000 vom 10. August 2000 befasst (zitiert bei FRANÇOIS CHAIX/BERNARD BERTOSSA, La répression de la discrimination raciale: lois d'exceptions?, in: SJ 2002 II S. 177 ff., 201). Das Genfer Appellationsgericht hatte in einem Appellationsverfahren, in welchem der beschuldigte Buchhändler vom Vorwurf der Leugnung von Völkermord im Sinne von Art. 261bis Abs. 4 zweiter Satzteil StGB in Gutheissung seiner Appellation freigesprochen wurde, zwei Einzelpersonen jüdischen Glaubens, die sich als Zivilkläger am Verfahren beteiligen wollten, die Stellung als Zivilkläger ("parties civiles") im Sinne von Art. 12 Abs. 1 und Art. 25 der Genfer Strafprozessordnung (StPO/GE) abgesprochen mit der Begründung, dass sie in Bezug auf die inkriminierte Tat nicht Verletzte ("personnes lésées") im Sinne von
Art. 25 StPO
/GE seien, der vorsieht, dass "le plaignant et toute personne lésée par une infraction poursuivie d'office peuvent se constituer partie civile jusqu'à l'ouverture des débats". Im Urteil 6P.78/2000 vom 10. August 2000 hat das Bundesgericht diese Auffassung, die im Appellationsentscheid ausführlich begründet worden ist, als nicht willkürlich erachtet und daher die staatsrechtliche Beschwerde der beiden Einzelpersonen abgewiesen. Zur Begründung wird zunächst festgehalten, die beiden Beschwerdeführer - der eine ein Überlebender des Vernichtungslagers Auschwitz, der andere Sohn von Eltern, die im Holocaust ermordet wurden - behaupteten nicht, dass sie durch den verbreiteten Text von Roger Garaudy direkt und persönlich angegriffen würden ("... n'affirment pas être directement et personnellement mis en cause par le texte incriminé..."), sondern sie machten lediglich geltend, dass sie als Angehörige der verfolgten Gemeinschaft durch die inkriminierte Leugnung des Holocaust
BGE 129 IV 95 S. 101
betroffen seien. Somit sei zu prüfen, ob die Beschwerdeführer in dieser Eigenschaft Geschädigte im Sinne der Genfer Strafprozessordnung seien, was nach der Praxis der Genfer Behörden, wie allgemein beim Geschädigten im strafprozessrechtlichen Sinne, eine sich aus der Straftat unmittelbar (direkt) ergebende Betroffenheit voraussetze. Das Bundesgericht hat im zitierten Entscheid erkannt, das Appellationsgericht habe diese Frage in Anwendung von
Art. 12 und
Art. 25 StPO
/GE ohne Willkür verneinen dürfen. Dass die Geschädigtenstellung von dem Autor, auf welchen sich die Beschwerdeführer beriefen, bejaht werde, bedeute offensichtlich nicht, dass die Verneinung der Geschädigtenstellung willkürlich sei, zumal der von den Beschwerdeführern angerufene Autor selber festhalte, dass die Frage eine dornenvolle sei und mit guten Gründen sowohl bejaht als auch verneint werden könne (siehe MARCEL ALEXANDER NIGGLI, Rassendiskriminierung, Ein Kommentar zu
Art. 261bis StGB
und
Art. 171c MStG
, 1996, N. 302 ff.).
3.3
3.3.1
Art. 261bis StGB
("Rassendiskriminierung") ist im Zwölften Titel des Strafgesetzbuches betreffend die "Verbrechen und Vergehen gegen den öffentlichen Frieden" eingeordnet. Strafbar sind grundsätzlich - ausser bei der Tatbestandsvariante der Leistungsverweigerung im Sinne von
Art. 261bis Abs. 5 StGB
- nur öffentliche Handlungen. Gemäss den Ausführungen in der Botschaft des Bundesrates stellt Rassendiskriminierung eine Gefährdung des öffentlichen Friedens dar. Der Angriffspunkt sei allerdings die Menschenwürde eines jeden Einzelnen der betroffenen Gruppe. Der Zusammenhang sei jedoch eindeutig. In einem Staat, in dem Teile der Bevölkerung ungestraft verleumdet oder herabgesetzt werden könnten, wo zu Hass und Diskriminierung gegen Angehörige bestimmter rassischer, ethnischer oder religiöser Gruppen aufgestachelt werden dürfte, wo einzelne Menschen auf Grund ihrer rassischen, ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit in ihrer Menschenwürde angegriffen werden könnten, wo aus derartigen Gründen einem Menschen oder einer Gruppe von Menschen eine Leistung verweigert werden dürfte, wäre der öffentliche Friede gefährdet, das Vertrauen in die Rechtsordnung erschüttert und sehr häufig die Gewährleistung anderer Grundrechte gefährdet. Mit Blick auf das geschützte Rechtsgut gehörten sämtliche Varianten des Tatbestands zum Typus des abstrakten Gefährdungsdelikts, d.h. das Verhalten als solches berge die erhöhte Möglichkeit einer Gefährdung in sich. Eine Konkretisierung der Gefahr für den öffentlichen Frieden trete erst beim
BGE 129 IV 95 S. 102
Zusammentreffen der Diskriminierungsdelikte mit andern Straftaten ein (Botschaft des Bundesrates BBl 1992 III 269 ff., S. 309 f.).
3.3.2
Das Bundesgericht hat indessen, wie dargelegt, in
BGE 123 IV 202
in Bezug auf Art. 261bis Abs. 1 und Abs. 4 erster Satzteil StGB die Würde des einzelnen Menschen als das geschützte Rechtsgut angesehen. Es hat in
BGE 128 I 218
die Person, die im Sinne von Art. 261bis Abs. 4 erster Satzteil StGB öffentlich durch Wort, Schrift, Bild, Gebärden, Tätlichkeiten oder in anderer Weise in einer gegen die Menschenwürde verstossenden Weise herabgesetzt wird, als in ihrer Menschenwürde unmittelbar betroffen und damit als Geschädigte qualifiziert (E. 1.5). Letzteres lässt sich unter anderem damit begründen, dass bei der öffentlichen Herabsetzung einer Person in einer gegen die Menschenwürde verstossenden Weise durch Wort oder Schrift neben dem Tatbestand von Art. 261bis Abs. 4 erster Satzteil StGB auch ein Ehrverletzungstatbestand (
Art. 173 ff. StGB
) erfüllt sein kann. Es ist nicht recht ersichtlich, aus welchen Gründen die konkret angegriffene Person nur bezüglich des Ehrverletzungstatbestands und nicht auch in Bezug auf den Tatbestand gemäss Art. 261bis Abs. 4 erster Satzteil StGB unmittelbar betroffen sein könnte.
3.4
3.4.1
Die Tatbestandsvariante gemäss Art. 261bis Abs. 4 zweiter Satzteil StGB unterscheidet sich nicht unwesentlich etwa von den Tatbestandsvarianten gemäss Art. 261bis Abs. 1 und Abs. 4 erster Satzteil StGB. Die Tatbestandsvariante der Leugnung von Völkermord gehört primär gar nicht in den Zusammenhang der Rassendiskriminierung als solchen und fällt daher aus dem Rahmen der Gesetzessystematik (REHBERG, Strafrecht IV, 2. Aufl., 1996, S. 187; STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Bes. Teil II, 5. Aufl., 2000, § 39 N. 37).
Der Straftatbestand der Leugnung von Völkermord ist in erster Linie mit Blick auf den unter der Herrschaft des nationalsozialistischen Regimes begangenen Holocaust insbesondere an den Juden geschaffen worden. Der Gesetzgeber hat eine solche Bestimmung als sinnvoll erachtet, weil es zum Instrumentarium neonazistischer, rechtsradikaler und auch so genannter "revisionistischer" Kreise gehört, den unter der Herrschaft des nationalsozialistischen Regimes begangenen Holocaust zu leugnen oder gröblich zu verharmlosen. Gemäss den Ausführungen in der Botschaft ist diese Art der Geschichtsklitterung nicht nur ein Historikerstreit. Darin stecke oft ein propagandistisches Ziel. Als besonders gefährlich erweise sich
BGE 129 IV 95 S. 103
diese Form von rassistischer Propaganda, wenn sie sich im Rahmen von Unterrichtsveranstaltungen an jugendliche Zuhörer richte. Andererseits dürfe natürlich ernsthafte Geschichtsforschung, auch über die Geschichte des 20. Jahrhunderts, nicht verunmöglicht werden (Botschaft des Bundesrates, a.a.O., S. 314).
3.4.2
Wohl werden durch die Leugnung des Holocaust auch Einzelne betroffen, insbesondere Personen, die zu den Gruppen gehören, welche unter der Herrschaft des nationalsozialistischen Regimes verfolgt worden sind. Diese Betroffenheit kann je nach den persönlichen Verhältnissen des Einzelnen unter Umständen schwer wiegen. Die Betroffenheit ist aber nicht im Sinne von
Art. 2 Abs. 1 OHG
eine sich aus der Leugnung des Holocaust unmittelbar ergebende Beeinträchtigung. Eine Äusserung in der Öffentlichkeit, durch welche der Holocaust geleugnet wird, kann den Tatbestand von Art. 261bis Abs. 4 zweiter Satzteil StGB auch erfüllen, wenn sie von niemandem wahrgenommen wird, der sich, etwa weil er zur verfolgten Personengruppe gehört und der Verfolgung nur knapp entkommen ist, durch die Äusserung in einem besonderen Masse betroffen fühlen könnte. Eine Äusserung im privaten Kreis, durch welche der Holocaust geleugnet wird, erfüllt hingegen mangels Öffentlichkeit den Tatbestand von Art. 261bis Abs. 4 zweiter Satzteil StGB nicht, auch wenn sie direkt gegenüber einer Person getan wird, die selbst die Verfolgung erlebt und überlebt hat und sich daher durch die Äusserung schwer betroffen fühlt. Die individuelle Betroffenheit stellt bei der Tatbestandsvariante von Art. 261bis Abs. 4 zweiter Satzteil StGB im Rechtssinne lediglich eine mittelbare Beeinträchtigung dar, auch wenn sie im konkreten Einzelfall schwer wiegt. Die Kriterien der Unmittelbarkeit der Beeinträchtigung einerseits und der Schwere der Beeinträchtigung andererseits dürfen nicht miteinander vermengt werden (siehe dazu Urteil des Bundesgerichts 6P.125/1999 vom 4. November 1999, E. 1d/cc; EVA WEISHAUPT, Die verfahrensrechtlichen Bestimmungen des Opferhilfegesetzes, Diss. Zürich 1998, S. 35). Ob die gemäss
Art. 2 Abs. 1 OHG
erforderliche Unmittelbarkeit der Beeinträchtigung gegeben ist, bestimmt sich nach dem zur Diskussion stehenden Straftatbestand. Die Schwere der Beeinträchtigung hängt demgegenüber von den tatsächlichen Umständen des konkreten Einzelfalles ab.
3.4.3
Entsprechendes gilt für die Leugnung von anderen Vorgängen und Ereignissen, die allenfalls als Völkermorde oder andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu qualifizieren sind und unter den Anwendungsbereich von Art. 261bis Abs. 4 zweiter Satzteil StGB
BGE 129 IV 95 S. 104
fallen können. Personen, welche der in der Vergangenheit allenfalls relevant verfolgten Rasse, Ethnie oder Religion angehören, werden durch die Leugnung der Vorgänge nur mittelbar beeinträchtigt, auch wenn ihre Betroffenheit, je nach den Umständen des konkreten Einzelfalles, schwer wiegen und im äussersten Fall gar zu einer psychischen Beeinträchtigung führen mag.
3.4.4
Das Bundesgericht hat in
BGE 120 Ia 220
erkannt, es sei willkürlich, in einem Strafverfahren wegen Störung der Glaubens- und Kultusfreiheit im Sinne von
Art. 261 StGB
den in seinen religiösen Überzeugungen Verletzten nicht als Geschädigten gemäss
§ 40 und
§ 395 Abs. 1 Ziff. 2 StPO
/ZH anzuerkennen, wonach diejenigen Personen als Geschädigte gelten, denen durch die inkriminierte Straftat unmittelbar ein Schaden zugefügt wurde oder zu erwachsen drohte. Zur Begründung wird unter Hinweis auf die Rechtsprechung ausgeführt, der Tatbestand von
Art. 261 StGB
schütze trotz seiner Einordnung in den Zwölften Titel des Strafgesetzbuches betreffend Verbrechen und Vergehen gegen den öffentlichen Frieden nicht nur den öffentlichen Frieden, sondern auch die Überzeugung des Einzelnen in religiösen Dingen; geschütztes Rechtsgut sei mithin nicht allein der öffentliche Frieden, sondern auch die religiöse Überzeugung des Einzelnen. Die Beeinträchtigung der Rechtsstellung der Einzelnen erscheine als die unmittelbare Folge der tatbestandsmässigen Handlung, welche ja gerade darin bestehe, dass deren religiöse Überzeugungen beschimpft oder verspottet bzw. dass Gegenstände der religiösen Verehrung verunehrt werden. Es sei deshalb willkürlich, wenn die Staatsanwaltschaft die durch eine strafbare Handlung nach
Art. 261 StGB
in ihrem religiösen Glauben Verletzten lediglich als mittelbar geschädigt betrachte und daher in einem diesbezüglichen Strafverfahren nicht als Geschädigte im Sinne von
§
§ 40 und 395 Abs. 1 Ziff. 2 StPO
/ZH zulassen wolle (
BGE 120 Ia 220
E. 3c S. 224 ff.).
Aus diesem Entscheid folgt nicht, dass auch die aus der Straftat der Leugnung von Völkermord oder anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne von Art. 261bis Abs. 4 zweiter Satzteil StGB sich ergebende Betroffenheit eine unmittelbare im strafprozessrechtlichen Sinne sei. Zwischen dem Straftatbestand der Störung der Glaubens- und Kultusfreiheit gemäss
Art. 261 StGB
einerseits und dem Straftatbestand der Leugnung von Völkermord oder anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne von Art. 261bis Abs. 4 zweiter Satzteil StGB andererseits bestehen gerade auch insoweit wesentliche Unterschiede. Der Holocaust ist eine von der
BGE 129 IV 95 S. 105
Allgemeinheit als wahr erwiesen anerkannte historische Tatsache, die nicht in Zweifel gezogen werden kann. Die öffentliche Leugnung des Holocaust erfüllt schon als solche den objektiven Tatbestand von Art. 261bis Abs. 4 zweiter Satzteil StGB. Demgegenüber erfüllt den objektiven Tatbestand von
Art. 261 Abs. 1 StGB
nicht schon, wer öffentlich etwa äussert, dass es keinen Gott gebe oder dass dieser nicht so sei, wie die Anhänger eines bestimmten Glaubens ihn sich vorstellten. Strafbar nach
Art. 261 Abs. 1 StGB
ist nur, wer öffentlich und "in gemeiner Weise" die Überzeugung anderer in Glaubenssachen, insbesondere den Glauben an Gott, "beschimpft" oder "verspottet" oder Gegenstände religiöser Verehrung "verunehrt". Gerade durch die damit vorausgesetzte verletzende Form der Äusserung wird der Einzelne in seiner religiösen Überzeugung im strafprozessrechtlichen Sinne unmittelbar betroffen. Der Straftatbestand von
Art. 261 StGB
weist insoweit gewisse Parallelen zum Tatbestand der Herabsetzung einer Person oder einer Gruppe von Personen wegen ihrer Religion in einer gegen die Menschenwürde verstossenden Weise im Sinne von Art. 261bis Abs. 4 erster Satzteil StGB auf, in Bezug auf welchen das Bundesgericht die Möglichkeit einer unmittelbaren Betroffenheit und damit einer Geschädigtenstellung von Einzelnen anerkannt hat.
3.5
Die Straftat der Leugnung von Völkermord oder anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne von Art. 261bis Abs. 4 zweiter Satzteil StGB ist ein Delikt gegen den öffentlichen Frieden. Allein das allgemeine Rechtsgut des öffentlichen Friedens wird durch diese Tatbestandsvariante unmittelbar geschützt. Individuelle Rechtsgüter werden nur mittelbar geschützt.
Dies scheint zumindest im Ergebnis auch die Auffassung der wohl herrschenden Lehre zu sein (siehe etwa TRECHSEL, Kurzkommentar, 2. Aufl., 1997,
Art. 261bis StGB
N. 6; KARL-LUDWIG KUNZ, a.a.O., S. 223 ff., 229 ff.; EVA WEISHAUPT, a.a.O., S. 43/44; GUIDO JENNY, a.a.O., S. 628 f.; FRANZ RIKLIN, Die neue Strafbestimmung der Rassendiskriminierung ..., in: Medialex 1995 S. 36 ff., 38; auch STRATENWERTH, a.a.O., § 39 N. 22; anderer Auffassung insbesondere MARCEL ALEXANDER NIGGLI, Kommentar, N. 105 ff., 240 ff., 295 ff., siehe aber auch N. 1022 ff.; MARCEL ALEXANDER NIGGLI/CHRISTOPH METTLER/DORRIT SCHLEIMINGER, Zur Rechtsstellung des Geschädigten im Strafverfahren wegen Rassendiskriminierung, in: AJP 1998 S. 1057 ff., 1060, 1064, 1073; REHBERG, a.a.O., S. 180, der aber, im Unterschied zu NIGGLI, Kommentar, N. 318, die prozessuale Stellung eines Geschädigten nur demjenigen zubilligen will, gegen welchen
BGE 129 IV 95 S. 106
sich der Angriff in erkennbarer Weise persönlich richtet, mithin nicht jeder Person, die nur in ihrer Eigenschaft als Mitglied der diskriminierten Gruppe betroffen ist; ROBERT ROM, Die Behandlung der Rassendiskriminierung im schweizerischen Strafrecht, Diss. Zürich 1995, S. 138/139; FRANÇOIS CHAIX/BERNARD BERTOSSA, a.a.O., S. 202, jedenfalls für Personen, die den Horror der Konzentrationslager erlebt haben, und für die Angehörigen). Allerdings nehmen nur wenige Autoren ausdrücklich zu den Fragen Stellung, welches Rechtsgut durch die spezielle Tatbestandsvariante von Art. 261bis Abs. 4 zweiter Satzteil StGB im Besonderen geschützt wird und welche strafprozessrechtlichen Konsequenzen sich daraus insoweit ergeben.
3.6
Bei der Straftat der Leugnung von Völkermord oder andern Verbrechen gegen die Menschlichkeit gemäss Art. 261bis Abs. 4 zweiter Satzteil StGB gibt es demnach keine Opfer im Sinne von
Art. 2 und
Art. 8 OHG
, weil durch diese Straftat, die sich gegen den öffentlichen Frieden richtet, die psychische Integrität von Einzelnen höchstens mittelbar beeinträchtigt werden kann und es somit an der in
Art. 2 Abs. 1 OHG
vorausgesetzten unmittelbaren Beeinträchtigung fehlt. Die Vorinstanz hat daher zu Recht erkannt, dass die beiden Beschwerdeführer keine Opfer im Sinne von
Art. 2 und
Art. 8 OHG
sind. Das Nichteintreten auf deren Appellation verstösst demnach nicht gegen Bundesrecht. | 9,874 | 4,126 | 2 | 0 | CH_BGE_006 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_006_BGE-129-IV-95_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=6&from_date=&to_date=&from_year=2002&to_year=2002&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=55&highlight_docid=atf%3A%2F%2F129-IV-95%3Ade&number_of_ranks=303&azaclir=clir | BGE_129_IV_95 |
|||
ee6638f5-0cf4-4cd8-8145-3d453f72b07d | 2 | 78 | 1,345,880 | null | 2,024 | fr | Sachverhalt
ab Seite 345
BGE 97 I 344 S. 345
Résumé des faits:
A.-
L'art. 2 de la loi fribourgeoise d'application de la loi fédérale sur le maintien de la propriété foncière rurale, du 25 novembre 1952, est ainsi conçu:
"En cas de vente entraînant une diminution de l'aire agricole, le canton prélève, à raison de la diminution de la surface productive, un montant compensatoire en espèces, calculé au mètre carré et destiné à un fonds d'amélioration foncière.
Le Conseil d'Etat précise, dans un règlement d'application, les détails de cette perception."
Le Conseil d'Etat a édicté, les 8 janvier et 2 mars 1954, un règlement d'exécution, qui ne contient aucune disposition relative au montant compensatoire prévu à l'art. 2 de la loi d'application. Il a en outre édicté successivement quatre règlements d'exécution des art. 1er et 2 de ladite loi d'application, chacun des trois derniers abrogeant celui qui l'avait précédé.
Le troisième règlement, édicté le 19 décembre 1967 et entré en vigueur le 1er janvier 1968, s'applique à tous les actes d'aliénation postérieurs à cette dernière date; il prévoit que pour tout acte d'aliénation de terrains productifs entraînant une diminution de l'aire agricole, le canton prélève une taxe compensatoire en espèces, selon un barème fondé sur le prix de vente au m2, à payer par moitié entre l'aliénateur et l'acquéreur. Le montant de la taxe s'élève à 30 ct. par m2 (mais au maximum à la moitié du prix d'aliénation) lorsque le prix de vente ne dépasse pas 5 fr. par m2; il est de 40 ct. par m2 lorsque le prix de vente est compris entre 5 fr. 01 et 10 fr. par m2, et augmente ensuite régulièrement de 20 ct. par m2 chaque fois que le prix de vente augmente de 5 fr. par m2, de sorte que, pour le montant supérieur de chaque palier, la taxe est égale à 4% du prix de vente. Le montant maximum de la taxe est cependant fixé
BGE 97 I 344 S. 346
à 3 fr. par m2 et s'applique lorsque le prix de vente dépasse 70 fr. par m2. Les taxes perçues sont versées à la Caisse de l'Etat, pour constituer un fonds d'améliorations foncières, dont l'utilisation est du ressort du Conseil d'Etat.
B.-
La fondation de famille de Zurich-de Reynold (en abrégé: la Fondation) est propriétaire sur le territoire des communes de Fribourg et de Villars-sur-Glâne de terrains qu'elle donne à ferme. Elle a vendu un certain nombre de parcelles distraites de ces fonds. Le 12 septembre 1968, le conservateur du registre foncier de Fribourg lui a adressé un bordereau l'invitant à verser des montants compensatoires de 12 904 fr. 40 au total, résultant de quatre ventes conclues le 10 juillet 1968 avec des particuliers. Cette réclamation se fondait sur l'art. 5 al. 2 LPR et sur les dispositions cantonales d'exécution; elle portait sur la moitié des montants prévus par ces dispositions, l'autre moitié allant à la charge des acquéreurs.
La Fondation a recouru au Conseil d'Etat contre le bordereau notifié par le conservateur du registre foncier. Elle a été déboutée par arrêté du 20 mars 1970, notifié le 21 avril 1970.
C.-
Agissant par la voie du recours de droit public, la Fondation requiert le Tribunal fédéral d'annuler l'arrêté du Conseil d'Etat du 20 mars 1970. Elle se plaint de violation des art. 4 Cst., 45 lit. d et m et 52 lit. a de la constitution fribourgeoise, soutenant en substance que la réglementation fribourgeoise de la taxe compensatoire est contraire au principe de la séparation des pouvoirs.
Le Tribunal fédéral a admis le recours. | 1,348 | 689 | Erwägungen
Considérant en droit:
1.
...
2.
Le législateur fribourgeois a posé, à l'art. 2 al. 1 de la loi d'application de la loi fédérale sur le maintien de la propriété foncière rurale, le principe du prélèvement d'un montant compensatoire en cas de diminution de la surface productive résultant d'un acte d'aliénation (art. 5 al. 2 LPR). Selon l'alinéa 2 du même article, le Conseil d'Etat précise, dans un règlement d'application, les détails de cette perception. Se fondant sur cette délégation, l'autorité exécutive a édicté notamment le règlement du 19 décembre 1967. La recourante tient cet acte normatif, de même que la délégation sur laquelle il se fonde, pour inconstitutionnels. Ce moyen est recevable. Certes, la loi
BGE 97 I 344 S. 347
et le règlement ne peuvent plus être attaqués comme tels, le délai de l'art. 89 OJ étant échu. Leur constitutionnalité peut toutefois être remise en cause à l'occasion d'un acte d'application (RO 95 I 4 consid. 2; 371 consid. 3).
a) Selon une jurisprudence constante, les contributions publiques ne peuvent être perçues qu'en vertu de la loi (RO 80 I 327;
82 I 27
/28;
83 I 87
;
84 I 93
;
85 I 84
, 278/279;
87 I 14
;
88 I 34
/35;
91 I 176
consid. 3, 254 consid. 3;
92 I 47
;
93 I 333
, 634 ss.;
95 I 251
lit. a, 325); seuls font exception les simples émoluments de chancellerie, que l'autorité exécutive peut fixer dans une ordonnance d'exécution, même sans que le législateur l'y ait spécialement habilitée (RO 93 I 635 et les références). Ce principe - cas particulier du principe général de la réserve de la loi - s'applique dans tout Etat fondé sur le droit et notamment dans tous les cantons suisses, quand bien même il ne figurerait pas expressément dans la constitution cantonale (RO 82 I 27/28, 84 I 93, précités); en le méconnaissant, la collectivité publique viole en effet l'art. 4 Cst. (RO 95 I 325, précité). Pour le canton de Fribourg, la règle résulte du reste de l'art. 45 lit. d Cst. cant. et n'est pas contestée.
A moins que le droit cantonal n'en dispose autrement (cf. RO 91 I 462/463), la notion de loi doit être entendue ici au sens matériel et non au sens formel, de sorte qu'elle englobe toute norme générale et abstraite fixant les droits et obligations des administrés et édictée par un organe compétent selon les règles du droit public (RO 88 I 34/35, 176). La réserve de la loi n'exclut pas par elle-même la délégation législative.
Cependant, à peine de vider la règle de sa substance, la loi formelle doit à tout le moins définir les limites dans lesquelles l'autorité délégataire devra user du pouvoir qui lui est délégué. Selon la jurisprudence précitée, le législateur doit fixer luimême les conditions et la mesure de l'impôt (cf. notamment RO 91 I 176 consid. 3, 254 consid. 3 et les citations;
92 I 47
). Il est vrai que ce principe n'a pas été expressément repris dans les arrêts relatifs à l'impôt à la source (RO 88 I 31 ss.;
93 I 330
ss.). Il y est cependant implicitement contenu. L'impôt à la source supplée les impôts ordinaires sur le revenu. Le cadre dans lequel l'autorité délégataire doit exercer son pouvoir est ainsi défini par référence à ces impôts ordinaires. Dans la mesure où les deux arrêts précités disent autre chose, ils ne peuvent être confirmés.
BGE 97 I 344 S. 348
Dans un arrêt récent, le Tribunal fédéral s'est demandé s'il n'y aurait pas lieu d'assouplir l'exigence d'une base légale formelle en matière d'émoluments (RO 97 I 204 consid. 5 b). La question peut encore rester indécise, les contributions aujourd'hui en cause n'ayant pas le caractère d'émoluments.
b) En l'espèce, le législateur cantonal a purement et simplement abandonné au Conseil d'Etat la compétence de fixer les conditions et la mesure de la taxe compensatoire. Le Conseil d'Etat a usé de cette compétence en édictant successivement quatre règlements d'application, qui reflètent clairement l'imprécision de la délégation. L'autorité exécutive a pu successivement désigner comme contribuable l'acquéreur, puis le vendeur et l'acquéreur, puis à nouveau l'acquéreur; elle a pu fixer tout d'abord un taux unique de 10 ct. par m2, puis porter ce taux à 20 ct., puis prévoir une contribution allant de 30 ct. à 3 fr. par m2, selon le prix de vente. Une délégation aussi peu précise n'est pas compatible avec la réserve de la loi. Le législateur lui-même aurait dû tout au moins désigner le contribuable, fixer le montant maximum de l'impôt et prévoir, le cas échéant, le principe et les modalités de la progression. C'est donc à bon droit que la recourante se plaint d'une violation du principe de la séparation des pouvoirs, grief qui se confond avec celui du défaut de base légale. Si le règlement du 19 décembre 1967 - au demeurant abrogé - ne peut plus être annulé, la décision attaquée, qui se fonde sur lui, doit être cassée. Il est dès lors superflu d'examiner les autres moyens soulevés par la recourante et notamment de rechercher si la constitution fribourgeoise proscrit la délégation législative, de manière générale ou en matière de contributions publiques.
3.
En vertu de l'art. 46 al. 2 LPR, les cantons sont tenus d'établir les règles complémentaires nécessaires à l'application de la loi et ils peuvent le faire dans des ordonnances d'exécution. Cette disposition ne peut être invoquée à l'appui du règlement du 19 décembre 1967, dont les dispositions ne sont pas nécessaires à l'application de la loi fédérale. | 2,159 | 1,117 | 2 | 0 | CH_BGE_001 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_001_BGE-97-I-344_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=20&from_date=&to_date=&from_year=1971&to_year=1971&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=193&highlight_docid=atf%3A%2F%2F97-I-344%3Ade&number_of_ranks=328&azaclir=clir | BGE_97_I_344 |
|||
ee698ce9-efed-42fc-a676-d299254a28d1 | 2 | 82 | 1,353,416 | 1,353,974,400,000 | 2,012 | fr | Sachverhalt
ab Seite 61
BGE 139 III 60 S. 61
A.
X. SA est une entreprise active dans le domaine du nettoyage d'avions. Elle a conclu deux conventions collectives de travail (ci-après: CCT) avec le Syndicat suisse des services publics (SSP): la CCT pour le personnel mensualisé et la CCT pour le personnel auxiliaire.
Selon l'art. 1 de la CCT pour le personnel mensualisé, celle-ci est applicable à tout le personnel de X. SA Genève - sauf aux cadres (al. 3) - travaillant selon des horaires irréguliers et avec un taux d'occupation d'au moins 50 %; ce personnel reçoit un salaire mensuel (al. 1). Selon l'art. 1 de la CCT pour le personnel auxiliaire, celle-ci s'applique à tout le personnel auxiliaire de X. SA Genève; le personnel auxiliaire est rémunéré à l'heure.
X. SA a engagé A. comme nettoyeuse auxiliaire. A l'origine, la durée hebdomadaire du travail était fixée à 15 heures. A partir d'une date indéterminée, A. a été amenée à travailler environ 30 heures par semaine de manière régulière; tel était le cas entre janvier 2004 et juin 2009.
A. a toujours été payée à l'heure. Son salaire de base ainsi que la rémunération des heures de nuit et du dimanche ont été augmentés à chaque fois en fonction des majorations prévues dans la CCT pour le personnel auxiliaire.
A. a adhéré au SSP le 1
er
décembre 2008.
B.
Par demande déposée le 21 août 2009, A. a ouvert action en paiement contre X. SA. Elle réclamait en particulier un montant de 80'807 fr. représentant la différence entre le salaire perçu de janvier 2004 à juin 2009 et le salaire calculé conformément à la CCT pour le personnel mensualisé. L'employée soutenait en effet que la CCT pour le personnel mensualisé lui était applicable dès lors qu'elle travaillait à plus de 50 %.
Par jugement du 19 juillet 2010, le Tribunal des prud'hommes du canton de Genève a rejeté la demande sur ce point. Statuant le 20 février 2012 sur appel de A., la Chambre des prud'hommes de la Cour de justice du canton de Genève a confirmé le jugement de première instance.
C.
A. a interjeté un recours en matière civile.
Le Tribunal fédéral a admis le recours et renvoyé la cause à la cour cantonale pour nouvelle décision. Dans un considérant non publié, il
BGE 139 III 60 S. 62
a reconnu tout d'abord que la recourante entrait dans le champ d'application personnel de la CCT pour le personnel mensualisé. L'arrêt a été rendu à la suite d'une délibération en séance publique.
(résumé) | 926 | 488 | Erwägungen
Extrait des considérants:
5.
Il convient à présent d'examiner si la CCT pour le personnel mensualisé est applicable à la relation de travail liant les parties et, en particulier, si la recourante peut fonder sa prétention salariale sur cette convention collective pour la période antérieure à son adhésion au syndicat.
5.1
Selon l'
art. 357 al. 1 CO
, les clauses normatives de la convention collective de travail - dont notamment celles relatives au salaire - n'ont en principe d'effet direct et impératif qu'envers les employeurs et travailleurs qu'elles lient, c'est-à-dire les employeurs qui sont personnellement parties à la convention, les employeurs et les travailleurs qui sont membres d'une association contractante (
art. 356 al. 1 CO
), ou encore les employeurs et les travailleurs qui ont déclaré se soumettre individuellement à la convention (
art. 356b al. 1 CO
). En outre, le champ d'application de la CCT peut être étendu par décision d'une autorité cantonale ou fédérale (art. 1 de la loi fédérale du 28 septembre 1956 permettant d'étendre le champ d'application de la convention collective de travail [LECCT; RS 221.215.311]); en ce cas, les clauses conventionnelles s'appliquent également aux employeurs et travailleurs auxquels elle est étendue. En tant qu'ils dérogent à des clauses impératives, les accords entre employeurs et travailleurs liés par la CCT sont nuls et remplacés par ces clauses, sauf si les dérogations sont stipulées en faveur des travailleurs (
art. 357 al. 2 CO
).
Par ailleurs, un employeur, lié ou non, peut convenir avec un travailleur non lié d'incorporer la CCT dans le contrat individuel de travail; il faut que les parties manifestent, fût-ce tacitement, la volonté réciproque et concordante de le faire. La CCT ne produit alors pas directement un effet normatif puisque l'employeur conserve, en principe, la faculté de résilier le contrat de travail et d'en conclure un nouveau qui déroge aux clauses normatives de la convention en défaveur du travailleur. Le travailleur peut néanmoins exiger le respect de la CCT en réclamant l'exécution des clauses de son contrat de travail qui reprennent les dispositions conventionnelles (effets dits indirects de la CCT;
ATF 123 III 129
consid. 3c p. 135).
BGE 139 III 60 S. 63
Un autre cas de figure se présente lorsque la CCT contient une clause faisant obligation aux employeurs liés par elle d'appliquer ses dispositions normatives à tous leurs employés, qu'ils soient membres d'une association de travailleurs ou non (clause d'égalité de traitement ou clause d'extension). Selon la jurisprudence, le travailleur non organisé ne peut déduire d'une telle clause aucune prétention civile à l'encontre de l'employeur, qui n'engage sa responsabilité qu'envers les parties à la CCT s'il n'applique pas la clause d'égalité de traitement (
ATF 81 I 1
consid. 4 p. 3 ss;
ATF 123 III 129
consid. 3 p. 131 ss). Dans le dernier arrêt cité, le Tribunal fédéral a refusé de remettre en cause le principe posé dans le premier arrêt, lequel se fonde sur le texte légal et sur la volonté exprimée en son temps par le législateur fédéral (
ATF 123 III 129
consid. 3b/aa p. 133); en particulier, il a rejeté l'argument tiré de l'
art. 112 al. 2 CO
relatif à la stipulation pour autrui parfaite, en précisant qu'il ne s'agissait que d'une présentation différente du grief touchant la portée des clauses d'égalité de traitement et que, de toute manière, une stipulation pour autrui parfaite ne conférait pas au travailleur le droit d'actionner directement son employeur puisque que celui-ci n'est pas une "partie" au sens de l'
art. 112 al. 2 CO
(même arrêt consid. 3d p. 136).
5.2
L'art. 1 al. 1 de la CCT pour le personnel mensualisé contient une clause d'égalité de traitement en tant qu'il prévoit que la convention collective de travail s'applique à "tout le personnel de l'entreprise", indépendamment d'une appartenance au syndicat signataire. Contrairement aux cas envisagés dans les deux arrêts cités plus haut (consid. 5.1), la CCT en cause est une convention collective d'entreprise, c'est-à-dire qu'elle a été conclue par l'employeur lui-même, et non par une association d'employeurs. Il y a lieu de rechercher si, comme la recourante le prétend, cette circonstance a une incidence sur l'issue de la cause.
La clause d'égalité de traitement (ou d'extension) contenue dans une CCT s'analyse juridiquement comme une stipulation pour autrui en faveur des travailleurs non syndiqués (PETER KREIS, Der Anschluss eines Aussenseiters an den Gesamtarbeitsvertrag, 1973, p. 46). La stipulation pour autrui, au sens de l'
art. 112 CO
, est une convention par laquelle un sujet, le stipulant, se fait promettre par un autre, le promettant, une prestation en faveur d'un tiers, le bénéficiaire (
ATF 117 II 315
consid. 5d p. 320). L'
art. 112 CO
distingue la stipulation pour autrui imparfaite (al. 1) de la stipulation pour autrui parfaite (al. 2
BGE 139 III 60 S. 64
et 3). Dans la première, le bénéficiaire est uniquement destinataire de la prestation et seul le stipulant peut agir contre le promettant. En revanche, dans la seconde, stipulant et promettant accordent au tiers le droit d'exiger directement la prestation et, le cas échéant, d'actionner le promettant (arrêt 4A_627/2011 du 8 mars 2012 consid. 3.5.1; PIERRE ENGEL, Traité des obligations en droit suisse, 2
e
éd. 1997, p. 419 s.). La stipulation pour autrui parfaite ne se présume pas (
ATF 123 III 129
consid. 3d p. 136). Elle peut résulter des manifestations de volonté concordantes des parties ou de l'usage (
art. 112 al. 2 CO
; arrêt précité du 8 mars 2012 consid. 3.5.1).
Lorsqu'une CCT passée par des associations contient une clause d'extension, celle-ci n'est pas de nature normative, mais obligationnelle (VISCHER/ALBRECHT, Zürcher Kommentar, 4
e
éd. 2006, n° 23 ad
art. 356b CO
; JEAN-FRITZ STÖCKLI, Berner Kommentar, 1999, n° 16 ad
art. 356b CO
; ESTHER ANNAHEIM-BÜTTIKER, Die Stellung des Aussenseiter-Arbeitnehmers im System des Gesamtarbeitsvertragsrecht, 1990, p. 12; KREIS, op. cit., p. 47). La clause d'extension concerne uniquement les droits et obligations des parties à la convention. Le travailleur non lié censé bénéficier de la CCT ne dispose d'aucun moyen direct de faire respecter la convention à son égard (stipulation pour autrui imparfaite); il peut uniquement demander que les parties à la CCT interviennent auprès de l'employeur lié (cf.
ATF 81 I 1
consid. 4 p. 4;
ATF 123 III 129
consid. 3a p. 132; VISCHER/ALBRECHT, op. cit., n° 23 ad
art. 356b CO
; KREIS, op. cit., p. 47).
Il est toutefois possible, dans certains cas, que la clause d'égalité s'interprète comme une stipulation pour autrui parfaite; le travailleur non organisé dispose alors d'un droit propre, mais uniquement contre l'association patronale signataire de la convention, afin qu'elle agisse auprès de son membre (cf.
ATF 123 III 129
consid. 3d p. 136; VISCHER/ALBRECHT, op. cit., n° 23 ad
art. 356b CO
; STÖCKLI, op. cit., n° 16 ad
art. 356b CO
; KREIS, op. cit., p. 47).
Lorsque la clause d'extension figure dans une convention collective d'entreprise, le promettant n'est pas une association d'employeurs, mais bien l'employeur lui-même. Si la volonté des parties à la convention est d'accorder un droit propre au travailleur non syndiqué, rien n'empêche ce dernier, en ce cas, d'agir directement contre l'employeur pour obtenir le respect de la CCT (cf. VISCHER/ALBRECHT, op. cit., n° 23 ad
art. 356b CO
; THOMAS GEISER, Probleme des Gesamtarbeitsvertragsrechts in der Schweiz, ARV/DTA 2004 p. 139).
BGE 139 III 60 S. 65
5.3
Pour déterminer si la stipulation pour autrui contient un droit en faveur du tiers bénéficiaire, il y a lieu d'interpréter avant tout la volonté des parties, ce qui suppose de prendre en considération toutes les circonstances de l'espèce, dont en particulier les termes utilisés (GONZENBACH/ZELLWEGER/GUTKNECHT, in Basler Kommentar, Obligationenrecht, vol. I, 5
e
éd. 2012, n° 9 ad
art. 112 CO
).
En l'espèce, la CCT pour le personnel mensualisé indique clairement qu'elle s'applique sans réserve à tout le personnel de l'entreprise remplissant les conditions posées, cadres mis à part (art. 1). En outre, l'art. 5 al. 1 CCT prévoit le prélèvement d'une participation aux frais d'exécution de la convention collective sur les salaires de tous les travailleurs soumis à ladite convention, étant précisé que cette participation sera restituée par le syndicat signataire aux salariés membres de l'association (art. 5 al. 3 CCT). Les travailleurs non organisés participent donc à la même hauteur que les employés syndiqués aux frais d'exécution de la CCT. Enfin, l'art. 14 al. 2 CCT prévoit que la convention et ses annexes font partie intégrante du contrat de travail. Il faut y voir la volonté des parties à la convention collective de n'opérer aucune distinction entre travailleurs syndiqués et non syndiqués et, en particulier, de leur accorder les mêmes droits. Il s'ensuit que la clause d'égalité de traitement figurant dans la CCT pour le personnel mensualisé doit être interprétée comme une stipulation pour autrui parfaite en faveur des travailleurs non syndiqués qui remplissent les conditions personnelles mises à l'application de la convention.
5.4
Avant le 1
er
décembre 2008, la recourante n'était pas membre du SSP. Comme on l'a vu (consid. 4.3 non publié), elle entre par ailleurs dans le champ d'application personnel de la CCT pour le personnel mensualisé. Pour la période de janvier 2004 à novembre 2008, elle dispose en principe envers l'intimée d'une prétention salariale fondée sur ladite convention en vertu d'une stipulation pour autrui parfaite.
Cependant, d'après les constatations de la cour cantonale, les parties ont manifesté tacitement leur volonté réciproque et concordante d'incorporer la CCT pour le personnel auxiliaire dans le contrat de travail individuel. Il convient à présent d'examiner l'éventuelle incidence de cette incorporation.
Le travailleur non lié qui peut se prévaloir d'une CCT à la suite d'une incorporation de la convention dans le contrat de travail dispose d'une obligation de nature contractuelle (cf. consid. 5.1). Invoquant l'
art. 357
BGE 139 III 60 S. 66
al. 2 CO
, la recourante voudrait que cet accord des parties soit écarté au bénéfice de la CCT pour le personnel mensualisé. Selon la disposition susmentionnée, les accords entre employeur et travailleur liés par la convention qui dérogent à des clauses impératives de celle-ci sont nuls et remplacés par ces clauses, sauf si les dérogations sont stipulées en faveur du travailleur (principe de la clause la plus favorable; cf. STREIFF/VON KAENEL/RUDOPLH, Arbeitsvertrag: Praxiskommentar zu
Art. 319-362 OR
, 7
e
éd. 2012, n° 3 ad
art. 357 CO
p. 1467). On peut se demander si le travailleur non syndiqué dont les droits découlent d'une stipulation pour autrui parfaite est lié au sens de l'
art. 357 al. 2 CO
. La réponse à cette question importe toutefois peu. En effet, s'il ne s'applique pas directement, l'
art. 357 al. 2 CO
s'applique du moins par analogie. En effet, en vertu des règles de la bonne foi (
art. 2 al. 1 CC
), l'employeur ne peut pas, par une stipulation pour autrui parfaite, accorder aux travailleurs non organisés des droits tirés d'une convention collective et, par ailleurs, limiter ces droits par le biais d'un accord contractuel, par exemple en incorporant au contrat de travail les dispositions moins favorables d'une autre convention.
Il s'ensuit que la recourante peut fonder ses prétentions salariales pour la période de janvier 2004 à novembre 2008 sur la CCT pour le personnel mensualisé.
5.5
Il en va a fortiori de même pour la période de décembre 2008 à juin 2009, pendant laquelle la recourante était liée par la CCT pour le personnel mensualisé en tant que membre du syndicat signataire. | 4,453 | 2,353 | 2 | 0 | CH_BGE_005 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_005_BGE-139-III-60_2012-11-27 | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=3&from_date=&to_date=&from_year=2012&to_year=2012&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=25&highlight_docid=atf%3A%2F%2F139-III-60%3Ade&number_of_ranks=309&azaclir=clir | BGE_139_III_60 |
|||
ee6a74d7-03e4-447e-a812-9f668674641e | 1 | 83 | 1,338,921 | 1,417,478,400,000 | 2,014 | de | Sachverhalt
ab Seite 11
BGE 141 IV 10 S. 11
A.
X. lebt getrennt von seiner ehemaligen Lebenspartnerin A. Die beiden gemeinsamen Kinder wohnten bis am 15. Oktober 2011 bei der Mutter, wobei die Eltern die gemeinsame elterliche Sorge innehatten. Die Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich wirft X. vor, die Kinder am 15. Oktober 2011 im Rahmen seines Besuchsrechts abgeholt zu haben, mit ihnen ohne Wissen und Zustimmung der Mutter sowie der Beiständin nach Nigeria gereist zu sein und sie dort bei Familienangehörigen zurückgelassen zu haben. Dies in der Absicht, die Kinder dort aufziehen zu lassen, bis ihm durch die schweizerischen Behörden die alleinige elterliche Sorge übertragen werde.
X. wurde am 30. Oktober 2011 verhaftet. Am 25. November 2011 wurde der Mutter die alleinige elterliche Sorge für die gemeinsamen Kinder zugeteilt, was X. am 13. Dezember 2011 eröffnet wurde. Gemäss Anklage habe er ab diesem Zeitpunkt gewusst, dass er nicht befugt sei, über den Aufenthaltsort der Kinder zu bestimmen und ihnen die Rückkehr zur Mutter zu verwehren. Trotzdem weigere er sich seither, durch entsprechende Anweisung seiner Familienangehörigen in der Schweiz oder in Nigeria die Rückführung der Kinder zu veranlassen, obwohl ihm dies möglich wäre, was er wisse.
B.
Das Obergericht des Kantons Zürich verurteilte X. am 13. Januar 2014 zweitinstanzlich wegen mehrfacher qualifizierter Freiheitsberaubung und mehrfachen Entziehens von Minderjährigen zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren.
BGE 141 IV 10 S. 12
C.
X. beantragt mit Beschwerde in Strafsachen im Hauptpunkt, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und er freizusprechen. Eventualiter sei die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Er ersucht um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.
D.
Das Obergericht und die Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich verzichten auf eine Stellungnahme. A. lässt sich nicht vernehmen.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut. | 412 | 331 | Erwägungen
Aus den Erwägungen:
4.
4.1
Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die Verurteilung wegen mehrfacher qualifizierter Freiheitsberaubung. Die Vorinstanz lege das Tatbestandsmerkmal der Freiheitsberaubung zu extensiv aus, wenn sie diese im Umstand erblicke, dass die Kinder nicht zu ihrer Mutter gelangen können.
4.2
Die Vorinstanz erwägt, der Beschwerdeführer habe spätestens seit dem 13. Dezember 2011 gewusst, dass die alleinige elterliche Sorge der Kindsmutter zugeteilt worden und er nicht befugt sei, über den Aufenthaltsort der Kinder zu bestimmen. Er habe unrechtmässig gehandelt, indem er die Rückführung der Kinder nicht veranlasst habe. Wenn 31⁄2- und 5-jährige Kinder aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen und in einem fremden Land bei nicht näher bekannten Personen zurückgelassen würden, seien sie gehindert, den aktuellen Aufenthaltsort zu verlassen und zu ihrer Mutter zurückzukehren. Dies schränke ihre Fortbewegungsfreiheit unzulässig ein. Bei Kleinkindern sei es unerheblich, ob sie gefesselt oder eingesperrt würden, da sie sich ohne erwachsene Personen ohnehin nicht nach ihrem Belieben fortbewegen und alleine kaum überleben könnten. Der Beschwerdeführer verwehre mit seinem Verhalten der Kindsmutter als Schutzberufene den Zugang zu den Kindern und beschränke deren Fortbewegungsfreiheit unzulässig. Ferner könnten sich die Kinder nicht unabhängig von seinem Willen bewegen.
4.3
Gemäss
Art. 183 StGB
wird bestraft, wer jemanden unrechtmässig festnimmt oder gefangen hält oder jemandem in anderer Weise unrechtmässig die Freiheit entzieht (Freiheitsberaubung; Ziff. 1 Abs. 1) oder wer jemanden durch Gewalt, List und Drohung entführt oder wer jemanden entführt, der urteilsunfähig, widerstandsunfähig oder
BGE 141 IV 10 S. 13
noch nicht 16 Jahre alt ist (Entführung; Ziff. 1 Abs. 2 und Ziff. 2). Das geschützte Rechtsgut ist die körperliche Fortbewegungsfreiheit. Bei der Freiheitsberaubung wird das Opfer unrechtmässig festgehalten, während es bei der Entführung umgekehrt von einem Ort an einen anderen verbracht wird (
BGE 119 IV 216
E. 2e S. 220;
BGE 118 IV 61
E. 2b S. 63 und E. 3a S. 64; DELNON/RÜDY, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. II, 3. Aufl. 2013, N. 20 und 23 zu
Art. 183 StGB
). Erschwerende Umstände im Sinne von
Art. 184 Abs. 4 StGB
liegen vor, wenn der Entzug der Freiheit mehr als zehn Tage dauert (
BGE 119 IV 216
E. 2d und e S. 219 ff.).
4.4
4.4.1
Freiheitsberaubung ist die Aufhebung der körperlichen Bewegungsfreiheit (TRECHSEL/FINGERHUTH, in: Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, 2. Aufl. 2013, N. 1 zu
Art. 183 StGB
). Unrechtmässig ist eine Freiheitsberaubung, wenn rechtfertigende Umstände fehlen. Als solche kommen nebst den gesetzlichen Rechtfertigungsgründen nach
Art. 14 ff. StGB
auch Einwilligungen in Betracht (DELNON/RÜDY, a.a.O., N. 53 f. zu
Art. 183 StGB
). Die unzulässige Beschränkung der Fortbewegungsfreiheit liegt nach Rechtsprechung und Lehre darin, dass jemand daran gehindert wird, sich selbstständig, mit Hilfsmitteln oder mit Hilfe Dritter nach eigener Wahl vom Ort, an dem er sich befindet, an einen anderen Ort zu begeben oder bringen zu lassen (
BGE 101 IV 154
E. 3b S. 160; DELNON/RÜDY, a.a.O., N. 20 zu
Art. 183 StGB
). Demgegenüber erfüllt den Tatbestand nicht, wer jemanden zwingt, einen Ort zu verlassen (
BGE 101 IV 154
E. 3b S. 161). Ebenfalls keine unzulässige Beschränkung der Fortbewegungsfreiheit liegt vor, wenn eine Person einen bestimmten Ort überhaupt nicht oder nicht auf dem gewünschten Weg erreichen kann. Eine partielle Beeinträchtigung der Freiheit, den Aufenthaltsort zu wählen, ist keine Freiheitsberaubung. Nur eine umfassende Aufhebung dieser Freiheit erfüllt den Tatbestand. Wird eine Person gezwungen, einen Ort zu verlassen, oder an dessen Betreten gehindert, wird sie allenfalls im Sinne von
Art. 181 StGB
genötigt (zum Ganzen ANDREAS DONATSCH, Delikte gegen den Einzelnen, 10. Aufl. 2013, S. 454; DELNON/RÜDY, a.a.O., N. 20 zu
Art. 183 StGB
; STRATENWERTH/JENNY/BOMMER, Besonderer Teil I: Straftaten gegen Individualinteressen, 7. Aufl. 2010, § 5 N. 35; BERNARD CORBOZ, Les infractions en droit suisse, Bd. I, 3. Aufl. 2010, N. 20 zu
Art. 183 und 184 StGB
; MARTIN SCHUBARTH, Kommentar zum schweizerischen Strafrecht, Bd. III: Delikte gegen die Ehre,
BGE 141 IV 10 S. 14
den Geheim- oder Privatbereich und gegen die Freiheit,
Art. 173-186 StGB
, 1984, N. 16 zu
Art. 183 StGB
; zum Verhältnis von Freiheitsberaubung und Entführung HANS-PETER EGLI, Freiheitsberaubung, Entführung und Geiselnahme nach der StGB-Revision vom 9. Oktober 1981, 1986, S. 78 mit Hinweisen). Die Freiheitsberaubung kann durch unrechtmässige Festnahme, Gefangenhalten oder unrechtmässige Freiheitsentziehung auf andere Weise geschehen (Generalklausel).
Was als Aufenthaltsort zu verstehen ist, ob darunter ein Raum, ein Fahrzeug, ein Haus, ein Gebiet oder allenfalls auch ein Land fällt, wird in der Rechtsprechung und Lehre nicht näher definiert. BERNARD CORBOZ hält fest, der Ort sei nicht wichtig. Es könne sich um einen Ort unter freiem Himmel, einen Raum oder ein Transportmittel handeln (CORBOZ, a.a.O., N. 18 zu
Art. 183 und 184 StGB
). Die Botschaft vom 23. Juli 1918 zu einem Gesetzesentwurf enthaltend das Schweizerische Strafgesetzbuch (BBl 1918 IV 1) und die Botschaft vom 10. Dezember 1979 über die Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes (BBl 1980 I 1241) äussern sich nicht dazu. Die in
Art. 183 Ziff. 1 Abs. 1 StGB
beispielhaft genannten Tathandlungen des Festnehmens und Gefangenhaltens deuten darauf hin, dass der Tatbestand restriktiv anzuwenden ist. Hierfür spricht auch die hohe Strafandrohung der qualifizierten Freiheitsberaubung (vgl.
BGE 118 IV 61
E. 3c S. 65 f.;
BGE 116 IV 312
E. 2d/aa S. 315 f.). Der Gesetzgeber wollte Situationen erfassen, in denen Personen gänzlich an der Betätigung der körperlichen Fortbewegungsfreiheit gehindert werden. Die Rechtsprechung bejahte einen Freiheitsentzug unter anderem, als eine Ehefrau die Familienwohnung nicht verlassen durfte (Urteil 6B_139/2013 vom 20. Juni 2013 E. 2), beim Festhalten in einer Wohnung während 20 bis 30 Minuten (Urteil 6B_400/2012 vom 15. November 2012 Sachverhalt lit. A), beim Einschliessen in der Waschküche (Urteil 6B_20/2012 vom 29. Mai 2012 E. 1.3.5), bei einer Fahrt in einem Auto gegen den Willen des Opfers (
BGE 89 IV 85
E. 1 S. 87; Urteil 6B_1064/2013 vom 10. März 2014 E. 1), bei einer unrechtmässigen Inhaftierung aufgrund einer falschen Anschuldigung (Urteil 6B_899/2013 vom 17. März 2014 E. 3) und bei einer Festnahme einer auf frischer Tat ertappten verdächtigen Person durch den Geschädigten, sofern sie länger dauert als die Zeit, welche die Polizei bräuchte, um zum Ort des Geschehens zu gelangen (
BGE 128 IV 73
E. 2a-d S. 74 ff.).
BGE 141 IV 10 S. 15
4.4.2
Der Schuldspruch wegen mehrfacher qualifizierter Freiheitsberaubung verletzt Bundesrecht. Die körperliche Fortbewegungsfreiheit der Kinder ist entgegen den Ausführungen der Vorinstanz nicht aufgehoben. Aus den vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen ergibt sich einzig, dass den Kindern der Zugang zum Wohnort ihrer Mutter verwehrt wird. Dass ihre Fortbewegungsfreiheit auch in anderer Weise eingeschränkt wäre, ist dem festgestellten Sachverhalt nicht zu entnehmen. Vielmehr stellt die Vorinstanz im Rahmen der Strafzumessung fest, die Kinder könnten sich in Nigeria frei bewegen und seien nicht eingesperrt. Nach geltender Lehre und Rechtsprechung liegt keine unzulässige Beschränkung der Fortbewegungsfreiheit vor, wenn ein bestimmter Ort, beispielsweise der Wohnort der Mutter, nicht erreicht werden kann (vgl. E. 4.4.1 Absatz 1). Die Vorinstanz weist zwar zu Recht darauf hin, dass sich Kleinkinder in der Regel mit Hilfe von dazu berufenen Personen fortbewegen. Dies muss jedoch nicht zwingend die sorgeberechtigte Mutter sein. Ebenso können Familienangehörige und Bekannte ein Kind von einem Ort an einen anderen bringen. Ferner können sich Kinder ab einem gewissen Alter selbstständig über eine beschränkte Strecke fortbewegen. Folglich führt die Trennung von der Mutter nicht dazu, dass die Fortbewegungsfreiheit der Kinder aufgehoben ist. Der objektive Tatbestand der Freiheitsberaubung ist vorliegend nicht erfüllt. Die weiteren Rügen zum Schuldspruch wegen Freiheitsberaubung können bei diesem Ausgang offengelassen werden.
4.5
4.5.1
Die Vorinstanz sprach den Beschwerdeführer unter anderem wegen mehrfacher qualifizierter Freiheitsberaubung gemäss Art. 183 Ziff. 1 Abs. 1 in Verbindung mit
Art. 184 Abs. 4 StGB
schuldig. Den alternativen Tatbestand der Entführung gemäss
Art. 183 Ziff. 2 StGB
erachtete sie nicht als erfüllt. Freiheitsberaubung und Entführung erscheinen aufgrund der gesetzlichen Regelung als prinzipiell gleichwertige Eingriffe in das geschützte Rechtsgut (siehe STRATENWERTH/JENNY/BOMMER, a.a.O., § 5 N. 54). Nachdem das Bundesgericht entgegen der Vorinstanz die Tatbestandsmerkmale von
Art. 183 Ziff. 1 Abs. 1 StGB
nicht als erfüllt erachtet, kann es prüfen, ob jene von
Art. 183 Ziff. 2 StGB
vorliegen, ohne das Verbot der "reformatio in peius" zu verletzen.
4.5.2
Nach
Art. 183 Ziff. 2 StGB
macht sich strafbar, wer jemanden entführt, der urteilsunfähig, widerstandsunfähig oder noch nicht 16 Jahre alt ist. Der Tatbestand der Entführung setzt voraus, dass
BGE 141 IV 10 S. 16
sich als Folge des Verbringens an einen anderen Ort eine Machtposition des Täters über sein Opfer ergibt (
BGE 118 IV 61
E. 3a S. 64). Erforderlich ist zudem, dass die Ortsveränderung für eine gewisse Dauer vorgesehen und das Opfer in seiner persönlichen Freiheit tatsächlich beschränkt ist, es insbesondere nicht die Möglichkeit hat, unabhängig vom Willen des Täters an seinen gewohnten Aufenthaltsort zurückzukehren (
BGE 83 IV 152
S. 154). Die Urteilsfähigkeit bzw. -unfähigkeit im Sinne von
Art. 183 Ziff. 2 StGB
muss sich auf das geschützte Rechtsgut, d.h. die freie Selbstbestimmung des Aufenthaltsorts beziehen (STRATENWERTH/JENNY/BOMMER, a.a.O., § 5 N. 51). Die Entführung von Urteilsunfähigen, Widerstandsunfähigen oder Personen, die noch nicht 16 Jahre alt sind, verlangt für die Verbringung an einen anderen Ort kein besonderes Tatmittel (DELNON/RÜDY, a.a.O., N. 23, 33, 47 f. und 52 zu
Art. 183 StGB
; STRATENWERTH/JENNY/BOMMER, a.a.O., § 5 N. 51).
4.5.3
Die Vorinstanz erwägt mit Hinweis auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung (vgl.
BGE 126 IV 221
E. 1b S. 222 f.), es liege keine Entführung im Sinne von
Art. 183 Ziff. 2 StGB
vor. Als der Beschwerdeführer die Kinder nach Nigeria verbracht habe, habe er die elterliche Sorge zusammen mit der Kindsmutter innegehabt. Die Vormundschaftsbehörde habe die Obhutsfrage nicht geregelt, weder als sie die elterliche Sorge den Eltern gemeinsam übertragen habe noch als der Beschwerdeführer die gemeinsame Wohnung verlassen habe und ein begleitetes Besuchsrecht eingeführt worden sei. Es sei zwar aufgrund der Akten davon auszugehen, dass die Kindsmutter bis zu einem gewissen Grad faktisch alleine die Obhut über die Kinder innegehabt habe, als diese bei ihr gelebt und vom Beschwerdeführer getrennt gewohnt hätten. Die Anklage basiere jedoch nicht auf diesem Umstand. Auch könne der Staatsanwaltschaft nicht gefolgt werden, wonach das Verbringen der Kinder nach Nigeria nach Aufhebung der elterlichen Sorge durch den Beschwerdeführer rückwirkend als Entführung zu werten sei.
4.5.4
Das von
Art. 183 Ziff. 2 StGB
geschützte Rechtsgut ist die körperliche Bewegungsfreiheit des Kindes. Auf dessen Willen kommt es indes nicht an; das Gesetz schützt es unabhängig davon, ob es Widerstand leistet oder ob es in die Entführung einwilligt (
BGE 83 IV 152
S. 153).
In
BGE 118 IV 61
erwog das Bundesgericht, dass der Schutz der Freiheit des Kindes bezüglich der Wahl seines Aufenthaltsorts den
BGE 141 IV 10 S. 17
sich aus der elterlichen Gewalt ergebenden Einschränkungen unterliegt. Es ordnete das Freiheitsrecht des Kindes der Gehorsamspflicht gegenüber dem (Mit-)Inhaber der elterlichen Gewalt unter. Danach ist es für das Kind grundsätzlich unerheblich, wer seinen Aufenthaltsort bestimmt. Selbst die faktische Einschränkung der elterlichen Gewalt des einen Elternteils durch die Obhutsberechtigung des andern spielt keine Rolle, solange das Kindeswohl nicht in Frage gestellt ist. Das dem Kind zugestandene Freiheitsbewusstsein verschafft ihm erst mit zunehmendem Alter eine gewisse Freiheit in der Wahl seines Aufenthaltsorts (E. 3b und c S. 65; vgl. zum letzten Satz CORBOZ, a.a.O., N. 65 zu
Art. 183 und 184 StGB
; TRECHSEL/FINGERHUTH, a.a.O., N. 16 zu
Art. 183 StGB
).
In
BGE 126 IV 221
änderte das Bundesgericht seine Rechtsprechung dahin gehend, als unabhängig davon, ob die Ortsveränderung dem Wohl und dem Interesse des Kindes entspricht, keine Entführung begeht, wer Inhaber der elterlichen Sorge ist und das Recht hat, über den Aufenthaltsort des Kindes zu bestimmen. Anders liegt es, wenn das Obhutsrecht einem Elternteil allein zugeteilt wird. Alsdann ist der andere Elternteil nicht mehr berechtigt, über den Aufenthaltsort des Kindes zu bestimmen. Wechselt er dennoch eigenmächtig dessen Aufenthaltsort, liegt unter den Voraussetzungen von
Art. 183 Ziff. 2 StGB
eine Entführung vor. Seinen Entscheid begründete das Bundesgericht damit, dass das Wohl des Kindes beim Entführungstatbestand kein ausschlaggebendes Kriterium ist. Je nach Fall ist sehr schwer festzustellen, ob sich ein Wechsel des Aufenthaltsorts mit dem Wohle des Kindes verträgt oder nicht (E. 1b S. 222 f.).
4.5.5
An dieser Rechtsprechung kann in dieser Absolutheit nicht festgehalten werden. Der Grundsatz, wonach derjenige Elternteil, der das Recht hat, über den Aufenthaltsort des Kindes zu bestimmen, keine Entführung im Sinne von
Art. 183 Ziff. 2 StGB
begehen kann, behält Gültigkeit. Vorliegend drängt es sich jedoch auf zu prüfen, ob dem Aufenthaltsbestimmungsrecht der Eltern (zivilrechtliche) Schranken gesetzt sind. So hielt bereits ROBERT KOBER zur altrechtlichen Kindesentführung (aArt. 185 StGB in der bis am 30. September 1982 gültig gewesenen Fassung [AS 54 757], wonach bestraft wurde, wer ein Kind unter 16 Jahren zum Zweck der Gewinnsucht oder der Unzucht entführte) fest, eine Entführung aus Gewinnsucht oder zu einem unzüchtigen Zweck sei ein so starker Eingriff in die Freiheit der körperlichen Integrität und der Entwicklung des Kindes, dass eine solche Tat niemals im Rahmen der elterlichen oder
BGE 141 IV 10 S. 18
vormundschaftlichen Gewalt, die in erster Linie zum Nutzen des Kindes gedacht ist, vorgenommen werden könnte (ROBERT KOBER, Die Entführung nach dem schweizerischen Strafgesetzbuch, 1953, S. 56, vgl. auch S. 60). Auch HANS-PETER EGLI führte zum revidierten
Art. 183 StGB
aus, Freiheitsberaubungen und Entführungen seien so schwerwiegende Eingriffe in die körperliche Integrität auch eines Kindes, dass das elterliche Züchtigungsrecht keinesfalls extensiv zu interpretieren sei (EGLI, a.a.O., S. 116).
Gemäss aArt. 296 Abs. 1 ZGB (in der im Tatzeitpunkt und bis am 30. Juni 2014 in Kraft gestandenen Fassung; AS 1999 1118) stehen Kinder, solange sie unmündig sind, unter elterlicher Sorge (ähnlich
Art. 296 Abs. 2 ZGB
). Die elterliche Sorge umfasst unter anderem das Recht, den Aufenthaltsort des Kindes zu bestimmen (aArt. 301 Abs. 3 ZGB;
Art. 301 Abs. 3 und
Art. 301a ZGB
) und über dessen Erziehung zu entscheiden (
Art. 302 ZGB
). Dabei sind die Eltern jedoch nicht völlig frei, sondern haben sich am Wohl des Kindes zu orientieren und dessen Persönlichkeit zu achten (aArt. 272 und 301 Abs. 1 ZGB;
Art. 296 Abs. 1 ZGB
; vgl.
BGE 136 III 353
E. 3.3 S. 358). Beim Aufenthaltsbestimmungsrecht sind Aspekte der Stabilität und Kontinuität von besonderer Bedeutung (INGEBORG SCHWENZER, in: Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch, Bd. I, 4. Aufl. 2010, N. 2 und 12 zu
Art. 301 ZGB
). Ferner kann die elterliche Sorge durch andere Gesetzesbestimmungen eingeschränkt sein (vgl. SCHWENZER, a.a.O., N. 16 zu
Art. 301 ZGB
).
Das Bundesgericht entschied in einem nicht publizierten Urteil aus dem Jahr 2003, das Einschliessen und Gefangenhalten eines Kindes während mehrerer Tage stelle keine zulässige Erziehungsmassnahme dar und erfülle den Tatbestand der Freiheitsberaubung (
Art. 183 Ziff. 1 Abs. 1 StGB
). Es legte anhand des Erziehungsrechts der Eltern dar, dass es unter gewissen Bedingungen ein zulässiges Erziehungsmittel sein könne, sein Kind einzuschliessen. Jedoch rechtfertige das Erziehungsrecht der Eltern nicht jegliche Erziehungsmassnahme. Diese hätten immer im Blick auf das Wohl des Kindes zu erfolgen (Urteil 6S.145/2003 vom 13. Juni 2003 E. 2; vgl. zum elterlichen Züchtigungsrecht
BGE 129 IV 216
E. 2 S. 219 ff.; Urteil 6P.106/2006 vom 18. August 2006 E. 6.4; BARBARA LOPPACHER, Erziehung und Strafrecht unter besonderer Berücksichtigung der Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht [
Art. 219 StGB
], ZStStr 58/2011 S. 29 ff.). Im gleichen Entscheid wurde mit Hinweis auf
BGE 126 IV 221
ausgeführt, die Freiheitsberaubung unterscheide sich von der
BGE 141 IV 10 S. 19
Entführung, da Letztere unbesehen des Kindeswohls von einem obhutsberechtigten Elternteil nicht begangen werden könne (E. 2.2). Dies gilt nicht in jedem Fall. Es ist nicht nachvollziehbar, weshalb aus strafrechtlicher Sicht für das Aufenthaltsbestimmungsrecht etwas anderes gelten sollte als für das Erziehungsrecht, zumal sich beide Rechte am Wohl des Kindes zu orientieren haben. Es sind Konstellationen denkbar, in denen die Verbringung eines Kindes an einen anderen Aufenthaltsort derart massiv in die Interessen des Kindes und letztlich auch dessen Freiheitsrecht eingreift, dass sie strafrechtlich relevant wird. In diesen Ausnahmefällen lässt sich die Ortsveränderung nicht mehr mit dem Aufenthaltsbestimmungsrecht rechtfertigen. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass die konkreten Umstände eindeutig ausserhalb des Kindeswohls liegen. Geringfügige Beeinträchtigungen der Interessen des Kindes, die mit einer Veränderung des Aufenthaltsortes zwangsläufig einhergehen, genügen nicht (vgl.
BGE 136 III 353
E. 3.3 S. 358 f.).
Zusammengefasst ist grundsätzlich jeder Elternteil, der das Recht hat, über den Aufenthaltsort des Kindes zu bestimmen, berechtigt, diesen zu verändern, ohne eine Entführung im Sinne von
Art. 183 Ziff. 2 StGB
zu begehen. Greift die Verbringung des Kindes an einen anderen Ort massiv in dessen Interessen ein, lässt sich die Tat nicht mit dem Aufenthaltsbestimmungsrecht rechtfertigen.
4.5.6
Vorliegend sind die objektiven Tatbestandsmerkmale der Entführung gemäss
Art. 183 Ziff. 2 StGB
erfüllt. Indem der Beschwerdeführer seine damals 31⁄2- und 5-jährigen Söhne an einen unbekannten Ort in Nigeria verbrachte, erlangte er über sie eine Machtposition. Die Ortsveränderung ist dauerhaft und die Kinder können nicht unabhängig vom Willen des Beschwerdeführers an ihren gewohnten Aufenthaltsort zurückkehren. Auf den Willen der Kinder kommt es nicht an. Daher braucht auf die im Zusammenhang mit dem Tatbestand der Freiheitsberaubung vorgebrachte Rüge nicht eingegangen zu werden, die Vorinstanz verletze das Anklageprinzip und das Willkürverbot, wenn sie annehme, die Kinder weilten nicht freiwillig in Nigeria. Die Verbringung der Kinder lässt sich nicht mehr durch das Aufenthaltsbestimmungsrecht des Beschwerdeführers rechtfertigen. Gemäss den vorinstanzlichen Feststellungen hat er die Interessen und das Wohl seiner Kinder in eklatanter Weise verletzt. Er verbrachte sie an einen unbekannten Ort in Nigeria, zu ihnen nicht näher bekannten Personen, fernab von ihrer Mutter, bei der sie bis dahin ununterbrochen lebten. Weder konnten sie sich von ihr verabschieden
BGE 141 IV 10 S. 20
noch haben sie Kontakt zu ihr. Dieser abrupte und langandauernde Verlust der eigenen Mutter und das Herausreissen aus der vertrauten Umgebung kommen einer Entwurzelung gleich. Hinzu kommt, dass die Kinder nach der Verhaftung des Beschwerdeführers auch ohne Vater aufwachsen mussten. Folglich befanden sie sich im vorliegend zu beurteilenden Zeitraum ohne elterlichen Beistand bei fremden Personen in einem ihnen fremden Land. Dies widerspricht ihren Interessen und ihrem Wohl in krasser Weise (vgl. Urteil 6S.360/1998 vom 30. November 1999 E. 2d).
4.5.7
Ob der Tatbestand von
Art. 183 Ziff. 2 StGB
auch in subjektiver Hinsicht erfüllt ist, kann aufgrund der Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz nicht abschliessend beurteilt werden. Es obliegt ihr, darüber und über den (neuen) Schuldpunkt zu entscheiden. Dabei wird sie dem Beschwerdeführer das rechtliche Gehör gewähren müssen. | 4,921 | 3,754 | 2 | 0 | CH_BGE_006 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_006_BGE-141-IV-10_2014-12-02 | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=3&from_date=&to_date=&from_year=2014&to_year=2014&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=26&highlight_docid=atf%3A%2F%2F141-IV-10%3Ade&number_of_ranks=268&azaclir=clir | BGE_141_IV_10 |
|||
ee76fddb-5bf0-4f91-8297-2c12434824aa | 1 | 83 | 1,336,116 | 1,367,971,200,000 | 2,013 | de | Sachverhalt
ab Seite 247
BGE 139 IV 246 S. 247
A.
Die Eidgenössische Steuerverwaltung (ESTV) führt ein Verwaltungsstrafverfahren gegen Unbekannt wegen des Verdachts von Abgabebetrug, eventuell Hinterziehung von Verrechnungssteuern im Umfang von ca. 21,3 Mio. Fr., begangen im Geschäftsbereich der X. SA (nachfolgend: Gesellschaft). Im Rahmen der Untersuchung fand am 4. April 2012 am Wohnort von A. (dem Co-Geschäftsführer der Gesellschaft) eine Hausdurchsuchung statt, bei der Unterlagen und elektronische Datenträger sichergestellt und auf Einsprache des Betroffenen hin versiegelt wurden. Im Einverständnis mit dem Betroffenen wurden die Dateien eines sichergestellten Laptops elektronisch kopiert (gespiegelt), der Laptop an den Betroffenen retourniert und die Kopien versiegelt.
B.
Mit Gesuch vom 7. Mai 2012 beantragte die ESTV beim Bundesstrafgericht die Entsiegelung der sichergestellten Aufzeichnungen und Gegenstände bzw. deren Freigabe zur Durchsuchung. Mit Beschluss vom 19./21. September 2012 hiess das Bundesstrafgericht, Beschwerdekammer, das Entsiegelungsgesuch gut.
BGE 139 IV 246 S. 248
C.
Gegen den Entsiegelungsentscheid der Beschwerdekammer gelangte A. mit Beschwerde vom 24. Oktober 2012 an das Bundesgericht. Er beantragt im Hauptstandpunkt die Aufhebung des angefochtenen Entscheides. (...) Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
(Auszug) | 556 | 225 | Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
1.1
Gemäss Art. 67 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 13. Oktober 1965 über die Verrechnungssteuer (VStG; SR 642.21) findet auf Strafverfahren im Rahmen des VStG das Bundesgesetz vom 22. März 1974 über das Verwaltungsstrafrecht (VStrR; SR 313.0) Anwendung. Im vorliegenden Fall ermittelt die ESTV wegen Abgabebetrug (
Art. 14 VStrR
) bzw. massiver Hinterziehung von Verrechnungssteuern (
Art. 61 VStG
).
1.2
Auch nach Inkrafttreten der Eidgenössischen Strafprozessordnung (StPO; SR 312.0) und des Strafbehördenorganisationsgesetzes des Bundes (StBOG; SR 173.71) am 1. Januar 2011 bleibt das VStrR auf Fälle der Bundesgerichtsbarkeit in Verwaltungsstrafsachen weiterhin anwendbar. Das VStrR wurde durch die StPO (Anhang 1 Ziff. II/11) und das StBOG (Anhang Ziff. II/9) teilweise geändert. Die neuen VStrR-Bestimmungen sind auf den vorliegenden Fall anwendbar, da der angefochtene erstinstanzliche Entscheid nach dem 1. Januar 2011 erging (vgl.
Art. 454 Abs. 1 StPO
;
BGE 137 IV 145
E. 1.1 mit Hinweisen). Soweit das VStrR einzelne Fragen nicht abschliessend regelt, sind die Bestimmungen der StPO grundsätzlich (vgl. dazu unten, E. 3.2) analog anwendbar.
1.3
Über das Entsiegelungsgesuch der untersuchenden Verwaltungsbehörde des Bundes entscheidet die Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts (
Art. 50 Abs. 3 VStrR
i.V.m.
Art. 37 Abs. 2 lit. b StBOG
). Entsiegelungsentscheide der Beschwerdekammer sind beim Bundesgericht anfechtbar (
Art. 79 BGG
; vgl.
BGE 137 IV 189
; Urteil 1B_232/2009 vom 25. Februar 2010 E. 1).
1.4
Auch die Sachurteilsvoraussetzungen von
Art. 80 ff. BGG
sind grundsätzlich erfüllt und geben zu keinen Vorbemerkungen Anlass.
(...)
BGE 139 IV 246 S. 249
3.
3.1
Der Beschwerdeführer macht geltend, das Entsiegelungsgesuch sei verspätet gestellt worden, nämlich nach Ablauf der 20-tägigen Verwirkungsfrist von
Art. 248 Abs. 2 StPO
, weshalb auf das Gesuch nicht eingetreten werden dürfe. Gemäss
Art. 31 Abs. 2 VStrR
sei diese Fristbestimmung auch in verwaltungsstrafrechtlichen Untersuchungen "analog" anwendbar. Ausserdem verletze die Beschwerdekammer das rechtliche Gehör (
Art. 29 Abs. 2 BV
), indem sie ihre Rechtsbehauptung,
Art. 248 Abs. 2 StPO
sei hier nicht anwendbar, mit "keiner einzigen Überlegung" begründe. Diesbezüglich stelle sich hier eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung.
3.2
Bei Durchsuchungen in Strafverfahren nach VStrR ist dem Inhaber der "Papiere" (bzw. der zu durchsuchenden Aufzeichnungen und Gegenstände) wenn immer möglich Gelegenheit zu geben, sich zuvor über ihren Inhalt auszusprechen. Erhebt er gegen die Durchsuchung Einsprache, so werden die Papiere versiegelt und verwahrt, und es entscheidet die Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts über die Zulässigkeit der Durchsuchung (Art. 50 Abs. 3 i.V.m.
Art. 25 Abs. 1 VStrR
und
Art. 37 Abs. 2 lit. b StBOG
). Eine förmliche Frist zur Einreichung des Entsiegelungsgesuches der Untersuchungsbehörde kennt das VStrR nicht. Insbesondere hat der Gesetzgeber bei Erlass der StPO (per 1. Januar 2011)
keine
Anpassung von
Art. 50 VStrR
an
Art. 248 Abs. 2 StPO
(20-Tages-Frist für Entsiegelungsgesuche) vorgenommen. Lediglich die Fristen im
gerichtlichen Verfahren
richten sich nach der StPO (
Art. 31 Abs. 2 und
Art. 82 VStrR
, in der Fassung gemäss Anhang 1 Ziff. II/11 zur StPO). Das gerichtliche Verfahren nach VStrR ist im Dritten Abschnitt des Dritten Titels (
Art. 73-82 VStrR
) geregelt. Das Entsiegelungsverfahren vor der Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts in der Untersuchung nach VStrR (
Art. 37-61 VStrR
) fällt nicht darunter. Die
Art. 73-82 VStrR
regeln das Verfahren vor dem erkennenden kantonalen Strafgericht bzw. vor der Strafkammer des Bundesstrafgerichts nach erfolgter Überweisung (Anklage). Die untersuchende Verwaltungsbehörde hat allerdings - gerade bei Entsiegelungsgesuchen - dem Beschleunigungsgebot in Strafsachen ausreichend Rechnung zu tragen (
Art. 29 Abs. 1 BV
,
Art. 5 Abs. 1 StPO
). Die allgemeinen strafprozessualen und verfassungsrechtlichen Grundsätze sind jedenfalls auch im Verwaltungsstrafverfahren zu berücksichtigen.
3.3
Im vorliegenden Fall erfolgte das Entsiegelungsgesuch einen Monat nach der Hausdurchsuchung und Siegelung. Damit hat die
BGE 139 IV 246 S. 250
ESTV dem Beschleunigungsgebot in Strafsachen genügend Rechnung getragen. Die Rüge, das Entsiegelungsgesuch sei zu spät gestellt worden und verletze bundesrechtliche Fristbestimmungen, erweist sich als unbegründet. Es kann offenbleiben, ob
Art. 248 Abs. 2 StPO
überhaupt als Verwirkungsfrist anzusehen wäre, deren Missachtung (in jedem Fall) zum Nichteintreten auf das Entsiegelungsgesuch führen müsste. | 2,039 | 900 | 2 | 0 | CH_BGE_006 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_006_BGE-139-IV-246_2013-05-08 | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=17&from_date=&to_date=&from_year=2013&to_year=2013&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=169&highlight_docid=atf%3A%2F%2F139-IV-246%3Ade&number_of_ranks=267&azaclir=clir | BGE_139_IV_246 |
|||
ee819d1a-0f83-47f0-91c4-22776777f955 | 1 | 78 | 1,359,342 | 31,536,000,000 | 1,971 | de | Sachverhalt
ab Seite 194
BGE 97 I 193 S. 194
A.-
Nach
Art. 954 Abs. 1 ZGB
sind die Kantone berechtigt, für die Eintragung in das Grundbuch und für die damit verbundenen Vermessungsarbeiten Gebühren zu erheben. Gemäss
Art. 3 Abs. 2 der bundesrätlichen Verordnung über die Grundbuchvermessung vom 5. Januar 1934 (SR 211.432.2)
haben die Kantone unter anderem Bestimmungen zu erlassen über die Tragung der Kosten für die Vermarkung und Vermessung der Grundstücke. Im Kanton Bern geschieht die Nachführung der Vermessungswerke durch angestellte Geometer, deren Obliegenheiten zusammen mit den Nachführungsgebühren im Dekret des Grossen Rates über die Nachführung der Vermessungswerke (NVD) vom 23. November 1915 geregelt sind, welches sich auf Art. 131 des bern. EG zum ZGB vom 28. Mai 1911 stützt. Dieses Dekret ist am 4. Dezember 1915 vom Eidg. Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) genehmigt worden und am 1. Januar 1916 in Kraft getreten. Gemäss § 1 NVD bildet jede Einwohnergemeinde einen Nachführungskreis; mehrere Gemeinden können sich mit Bewilligung der Vermessungsaufsicht zu einem Kreis vereinigen. Die Nachführung erfolgt ausschliesslich durch besondere Nachführungsgeometer, die im Besitze des eidg. Geometerpatentes sein müssen (§ 2 Abs. 1 NVD) und deren Anstellungsverhältnis in einem mit der betreffenden Gemeinde abzuschliessenden Dienstvertrag zu regeln ist (§ 2 Abs. 2 NVD); nach Abs. 3 dieser Bestimmung können indessen auch Gemeindebeamte, die das Geometerpatent besitzen, mit der Nachführung
BGE 97 I 193 S. 195
betraut werden. Das NVD enthält im Abschnitt "Gebühren und Bundesbeitrag" unter anderem folgende Bestimmungen:
§ 34
"Alle zur Nachführung und Erhaltung der Vermessungswerke durch den Nachführungsgeometer auszuführenden Arbeiten erfolgen gegen Entgelt. Der Gebührentarif, der auch die Reiseauslagen und die Feldzulagen regelt, wird durch Verordnung des Regierungsrates festgesetzt, die den zuständigen Organen der Bundesverwaltung zur Genehmigung zu unterbreiten ist."
§ 35
"Der Staat trägt die gesamten Kosten der Aufsichtsführung und der Neuerstellung der auf dem Grundbuchamt aufbewahrten Doppel von Grundbuchplänen, sowie die Versicherungsprämien (§ 25).
Die übrigen Kosten fallen zu Lasten der Gemeinden; diese sind berechtigt, die Kosten für alle in § 36 nicht erwähnten Arbeiten ganz oder zum Teil auf die beteiligten Grundeigentümer zu verlegen. Über Anstände, die sich hieraus ergeben, entscheidet der Regierungsrat."
§ 36
"Der an die Nachführungskosten auszurichtende Bundesbeitrag ist den Gemeinden auszuzahlen. Bei denjenigen Gemeinden, in welchen der Nachführungsgeometer kein Gemeindebeamter ist, soll der Bundesbeitrag in erster Linie zur Deckung der Kosten folgender Arbeiten verwendet werden:
1. Nachführung des Gemeindedoppels des Vermessungswerkes, der Übersichts- und Polygonnetzpläne, die beim Geometer liegen;
2. Erhaltung der Versicherung der Polygonpunkte;
3. Ergänzungsarbeiten im Sinne der Bundesratsverordnung vom 15. Dezember 1910;
4. Erneuerung von Plänen und Büchern, mit Ausnahme der in § 35, Alinea 1, genannten;
5. Behebung von konstatierten Fehlern und notwendige Berichtigung von Mängeln im Vermessungswerk, soweit sie nicht durch den Nachführungsgeometer verschuldet sind;
6. Revisionsarbeiten allgemeiner Natur, für welche keine Kostenverteilung möglich ist.
Ein Aktivsaldo ist auf neue Rechnung vorzutragen, ein Passivsaldo durch die laufende Verwaltung zu decken."
Der Regierungsrat des Kantons Bern hat bis heute keine eigentliche Tarifverordnung im Sinne von § 34 NVD erlassen. Seit 18. August 1925 besteht indessen ein "Akkordtarif", der dem Normaldienstvertrag mit den einzelnen Geometern beigeheftet ist. Dieser Tarif bildet Bestandteil der Dienstverträge und
BGE 97 I 193 S. 196
hebt die damit im Widerspruch stehenden Artikel dieser Verträge auf (Regierungsratsbeschlüsse Nr. 3659 vom 18. August 1925/Nr. 1851 vom 1. April 1952 /Nr. 3859 vom 10. Juli 1959 /Nr. 6693 vom 22. September 1964). In Ziff. 2 der erwähnten Beschlüsse vom 1. April 1952 und vom 10. Juli 1959 bestimmte der Regierungsrat ausserdem, dass in den Kreisen, in denen Beamte den Nachführungsdienst besorgen, ein besonderer Tarif aufgestellt werden kann, der dem Regierungsrat zur Genehmigung vorzulegen ist.
Der Stadtrat von Bern erliess am 13. Februar 1919 unter anderem gestützt auf Art. 36 lit. e der Gemeindeordnung vom 27. November 1899 (GO 1899) und auf § 2 Abs. 3 und § 5 NVD eine Verordnung über das Vermessungsamt der Einwohnergemeinde Bern, welchem die Ausführung der Grundbuchvermessung auf dem Gemeindegebiet übertragen wurde. Art. 10 dieser Verordnung lautet wie folgt:
"Das Vermessungsamt ist berechtigt, für alle seine Arbeiten von dem Besteller zu Handen der Gemeindekasse eine Gebühr zu erheben.
Die Gebühren werden in einem vom Gemeinderat zu erlassenden Gebührentarif festgesetzt. Derselbe unterliegt der Genehmigung des Regierungsrates und der zuständigen Organe der Bundesverwaltung."
Diese Regelung wurde nach dem Erlass der Gemeindeordnung vom 29. März 1920 (GO 1920) und der sie ersetzenden Gemeindeordnung vom 30. Juni 1963 (GO 1963) beibehalten (Art. 85 Abs. 4 GO 1920; Art. 128/9 GO 1963). Am 7. Dezember 1960 erliess der Gemeinderat von Bern gestützt darauf den gegenwärtig gültigen "Tarif des Vermessungsamtes der Stadt Bern über die Nachführungsarbeiten" (im folgenden: Tarif), der am 27. Januar 1961 - mit einem hier nicht in Betracht fallenden Vorbehalt - vom Regierungsrat und am 27. März 1961 vom EJPD genehmigt wurde. Gemäss Ziff. 1 dieses Tarifs ist für Nachführungsarbeiten (Grenzänderungen) unter anderem eine Grundtaxe von Fr. 30.- und ein Zuschlag von 5 o/00 des Verkehrswerts der neu entstandenen bzw. abgetrennten Grundstücksflächen zu entrichten. Als Verkehrswert gilt der für die massgebende Fläche bezahlte Kaufpreis bzw. der angerechnete Übernahmepreis; bei Schenkungen der amtliche Wert (Ziff. 2 des Tarifs).
B.-
Am 19. Juli 1966 erteilten die Erbengemeinschaft Surber (Eigentümerin der Besitzung Nr. 116 X im Halte von 266'214 m2 ) und die Cementwerke Vigier AG (Erwerberin von
BGE 97 I 193 S. 197
73'995 m2 des erwähnten Grundstücks) dem Vermessungsamt der Stadt Bern den Auftrag, die Parzelle Nr. 116 im Brünnengut, Bern, aufzuteilen. Zu diesem Zwecke hatte das Vermessungsamt einen Grenzstein zu setzen sowie eine Grenzlinie zu ziehen und die Flächen der beiden getrennten Parzellen auszurechnen. Mit Rechnung vom 1. Oktober 1966 forderte es hiefür gestützt auf den erwähnten städtischen Tarif vom 7. Dezember 1960 eine Gebühr von Fr. 13'488.--.
Die Cementwerke Vigier AG ersuchte hierauf den Gemeinderat der Stadt Bern mit Schreiben vom 13. Oktober 1966 um eine angemessene Herabsetzung des Rechnungsbetrages. Der Gemeinderat wies dieses Begehren jedoch am 11. Januar 1967 ab. Zur Begründung führte er aus, nach dem geltenden Tarif sei eine Gebühr von 5o/00 des Verkehrswertes der neu entstandenen bzw. abgetrennten Grundstücksflächen zu erheben, wobei als Verkehrswert der für die massgebliche Fläche bezahlte Kaufpreis zu gelten habe. Dieser sei für das auszumarchende Grundstück im Halte von 73'995 m 2 mit Fr. 70.- pro m2 angegeben worden. Da das fragliche Grundstück "noch keine Bauparzelle bedeute" und da es "wahrscheinlich später bei einer Anpassung an den Bebauungsplan nochmals verändert" werden müsse, sei bei der Gebührenberechnung von einem Quadratmeterpreis von Fr. 35.- ausgegangen worden, was unter Berücksichtigung der übrigen Posten den beanstandeten Rechnungsbetrag ergebe. Weiter könne der Gesuchstellerin nicht entgegengekommen werden.
C.-
Mit Eingabe vom 15. März 1967 ersuchte die Cementwerke Vigier AG hierauf die Baudirektion des Kantons Bern um amtliche Festsetzung der verfallenen Vermessungsgebühr. Sie stützte sich dabei auf § 37 NVD, wonach der "zahlungspflichtigen Partei" in jedem Fall das Recht zusteht, "die amtliche Festsetzung der geschuldeten Gebühren und Auslagen zu verlangen". Zur Begründung machte sie - wie bereits vor dem Gemeinderat der Stadt Bern - geltend, der Rechnungsbetrag sei angesichts der vom Vermessungsamt erbrachten Leistungen offensichtlich übersetzt.
Mit Entscheid vom 14. Februar 1968 wies die Baudirektion des Kantons Bern das Moderationsbegehren ab und bestätigte die angefochtene Gebührenrechnung vom 1. Oktober 1966.
D.-
Die Cementwerke Vigier AG führt staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, der Entscheid der Baudirektion
BGE 97 I 193 S. 198
vom 14. Februar 1968 sei aufzuheben. Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung von
Art. 4 BV
und - sinngemäss - eine solche von Art. 2 der Übergangsbestimmungen der BV. Sie macht im wesentlichen geltend, dem stadtbernischen Tarif vom 7. Dezember 1960 ermangle es an der erforderlichen gesetzlichen Grundlage; die im vorliegenden Fall erhobene Gebühr sei zudem offensichtlich übersetzt und verstosse gegen den Grundsatz der Verhältnismässigkeit.
E.- | 1,933 | 1,501 | Die Baudirektion des Kantons Bern beantragt die Abweisung der Beschwerde, während die Tiefbaudirektion der Stadt Bern den Antrag stellt, auf die Beschwerde sei mangels Erschöpfung des kantonalen Instanzenzugs nicht einzutreten, eventuell sei sie abzuweisen. Die Begründung dieser Anträge ergibt sich, soweit wesentlich, aus den nachfolgenden Erwägungen.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
I.
Formelles 1. - Zur Begründung ihres Nichteintretensantrags macht die Tiefbaudirektion der Stadt Bern folgendes geltend: Wenn die Vermessungsarbeiten nicht durch freierwerbende Geometer, sondern durch Gemeindebeamte ausgeführt würden, handle es sich bei der entsprechenden Vergütung um eine Gebühr und damit um eine "Gemeindeabgabe" im Sinne von Art. 24 Ziff. 1 des bernischen Verwaltungsrechtspflegegesetzes vom 22. Oktober 1961 (VRPG). Über eine solche Abgabe habe ungeachtet der Vorschrift von § 37 NVD nicht die Baudirektion als Aufsichtsbehörde, sondern gemäss Art. 24 Ziff. 1 VRPG der Regierungsstatthalter zu entscheiden, dessen Urteil nach Massgabe von Art. 26 Abs. 2 VRPG an das Verwaltungsgericht weitergezogen werden könne. Die Baudirektion hätte daher im vorliegenden Fall ihre sachliche Zuständigkeit verneinen und die Streitsache an den Regierungsstatthalter überweisen sollen. Ihr Entscheid sei mithin nichtig; er könne von der Beschwerdeführerin mit der an keine Frist gebundenen Kassationsbeschwerde beim Regierungsrat angefochten und von diesem gemäss Art. 35 Abs. 1 VRPG jederzeit aufgehoben werden. Der kantonale Instanzenzug sei somit nicht erschöpft, weshalb auf die staatsrechtliche Beschwerde nicht eingetreten werden könne (
Art. 86 Abs. 2 und
Art. 87 OG
). - In der Behauptung,
BGE 97 I 193 S. 199
der angefochtene Entscheid sei nichtig, ist ferner sinngemäss der Einwand enthalten, die Beschwerdeführerin sei nicht beschwert und daher zur staatsrechtlichen Beschwerde nicht legitimiert (
Art. 88 OG
).
Die Baudirektion und die Beschwerdeführerin machen demgegenüber geltend, das NVD gehe als lex specialis dem VRPG vor und § 37 NVD gehöre zu den in Art. 31 VRPG vorbehaltenen "besonderen Verfahrensvorschriften", die auch nach dem Erlass des VRPG weiterhin in Kraft blieben. - Sowohl das Verwaltungsgericht als auch der Regierungsrat des Kantons Bern haben sich dieser Auffassung angeschlossen. Das Verwaltungsgericht bringt in seiner Stellungnahme ausserdem vor, bei der Kassation nach Art. 35 Abs. 1 VRPG handle es sich nicht um ein den Parteien zustehendes Rechtsmittel, sondern um eine aus der Oberaufsicht fliessende Befugnis des Regierungsrates und des Verwaltungsgerichts.
2.
Ob die Sachurteilsvoraussetzungen gemäss
Art. 84 ff. OG
gegeben sind, hat das Bundesgericht von Amtes wegen abzuklären. Dabei steht ihm grundsätzlich die freie Überprüfung zu, und zwar auch in bezug auf das in Betracht fallende kantonale Recht; doch misst es dabei der Auslegung, die dieses in der Rechtsprechung der obersten kantonalen Behörden erfährt, ein besonderes Gewicht bei (
BGE 91 I 414
,
BGE 93 I 174
Erw. 3 a). Was die Erschöpfung des kantonalen Instanzenzugs anbelangt, so hat das Bundesgericht ferner den Grundsatz aufgestellt, dass ein kantonales Rechtsmittel nicht ergriffen zu werden braucht, wenn an seiner Zulässigkeit im konkreten Fall ernstliche Zweifel bestehen (
BGE 96 I 644
Erw. 1 mit Hinweisen).
3.
Unter der Herrschaft des Verwaltungsrechtspflegegesetzes vom 31. Oktober 1909 war es Sache des Verwaltungsgerichts, Streitigkeiten über öffentliche Leistungen an den Staat oder an Gemeinden zu beurteilen (Art. 11 Ziff. 6). Gemäss Art. 11ter dieses Gesetzes (eingefügt durch das Gesetz vom 30. Juni 1935 über Massnahmen zur Wiederherstellung des finanziellen Gleichgewichts im Staatshaushalt) wurde hiefür der Regierungsstatthalter für sachlich zuständig erklärt, allerdings unter Vorbehalt der Beschwerde an das Verwaltungsgericht. An dieser Ordnung hat sich mit dem Erlass des neuen VRPG im Jahre 1961 nichts geändert (vgl. Art. 24 Ziff. 1 in Verbindung mit Art. 26 Abs. 2 VRPG). Das bedeutet jedoch
BGE 97 I 193 S. 200
nicht, dass Streitigkeiten über die Höhe einer Vermessungsgebühr von den erwähnten Verwaltungsjustizbehörden zu beurteilen sind, denn gemäss Art. 31 Abs. 1 VRPG finden die Vorschriften dieses Gesetzes keine Anwendung, wenn für einen bestimmten Bereich des Verwaltungsrechts besondere Verfahrensvorschriften bestehen, für deren Beibehaltung ausreichende Gründe vorhanden sind (vgl. GYGI/STUCKI, Handkommentar zum VRPG, N. 2 zu Art. 31 VRPG).
Das Moderationsverfahren gemäss § 37 NVD wird im Gegensatz zum Verwaltungsjustizverfahren weder durch Beschwerde noch durch Klage, sondern durch ein Gesuch um amtliche Gebührenfestsetzung angehoben. Es ist offensichtlich dem Kostenfestsetzungsverfahren im Notariats- und Anwaltsrecht nachgebildet und soll es den Beteiligten ermöglichen, Streitigkeiten über die Angemessenheit des geforderten Betrags in einem einfachen Verfahren vor einer fachkundigen Instanz auszutragen. Die kantonale Baudirektion verfügt als Aufsichtsbehörde über die erforderlichen Fachkenntnisse und vermag die erwähnten Anstände in der Regel ohne Mitwirkung besonderer Experten zu beurteilen, während die Verwaltungsjustizbehörden in derartigen Fällen regelmässig auf die Hilfe von Sachverständigen angewiesen wären. Das in § 37 NVD vorgesehene Moderationsverfahren erscheint mithin nicht nur in denjenigen Fällen als sinnvoll, in denen die Honorarforderung eines freierwerbenden Geometers angefochten wird; es ist vielmehr auch dann angezeigt, wenn ein Gemeindebeamter als Nachführungsgeometer tätig gewesen ist und Streit über die Höhe der hiefür geschuldeten Gebühr entsteht. Die von der Tiefbaudirektion der Stadt Bern geforderte Kompetenzaufteilung zwischen der kantonalen Baudirektion (für die Moderation von Honorarforderungen freierwerbender Geometer) und den Verwaltungsjustizbehörden (für die Moderation entsprechender Gebühren) wäre einer einheitlichen Rechtsprechung nicht förderlich. Für die erwähnte Aufsplitterung der Zuständigkeiten besteht im übrigen umso weniger Anlass, als das NVD dafür keinerlei Anhaltspunkte enthält, wird doch in § 37 NVD ausgeführt, dass die amtliche Festsetzung der Gebühren und Auslagen "in jedem Fall" in dem hiefür vorgesehenen Verfahren verlangt werden kann; in § 2 Abs. 3 NVD wird zudem der Grundsatz aufgestellt, dass die Vorschriften des Dekrets auf die als Geometer tätigen Gemeindebeamten sinngemäss Anwendung finden.
BGE 97 I 193 S. 201
Die Auffassung der kantonalen Baudirektion und der zur Stellungnahme eingeladenen obersten kantonalen Verwaltungsjustizbehörden, bei den Bestimmungen des § 37 NVD handle es sich um "besondere Vorschriften" im Sinne von Art. 31 Abs. 1 VRPG, stützt sich nach dem Gesagten auf sachlich richtige Überlegungen. Für das Bundesgericht besteht daher kein Anlass, davon abzuweichen und der kantonalen Baudirektion die Zuständigkeit zur Moderation von Vermessungsgebühren abzusprechen. - Der Entscheid der Baudirektion ist endgültig (§ 37 Abs. 1 Satz 2 NVD). Beim angefochtenen Beschluss vom 14. Februar 1968 handelt es sich mithin um einen letztinstanzlichen kantonalen Entscheid, gegen den staatsrechtliche Beschwerde geführt werden kann (Art. 86 Abs. 2 in Verbindung mit
Art. 87 OG
). Auf die vorliegende Beschwerde ist daher grundsätzlich einzutreten.
4.
...
II.
Materielle Beurteilung
5.
Das Vermessungsamt der Stadt Bern stützt seine Gebührenforderung auf den von der städtischen Exekutive (Gemeinderat) erlassenen Tarif vom 7. Dezember 1960, der sowohl vom Regierungsrat als auch vom EJPD genehmigt worden ist. Die Beschwerdeführerin macht sinngemäss geltend, als Grundlage für diesen Tarif diene Ziff. 2 Abs. 2 des Regierungsratsbeschlusses Nr. 3859 vom 10. Juli 1959 über die Abänderung des "Akkordtarifs" für die Nachführung der Vermessungswerte, wonach in den Kreisen, in denen Beamte den Nachführungsdienst besorgen, ein besonderer Tarif aufgestellt werden kann. Sie bringt vor, die gemäss § 34 NVD dem Regierungsrat vorbehaltene Befugnis zum Erlass eines Gebührentarifs könne zum vorneherein nicht an die Gemeinde subdelegiert werden; dazu komme, dass dem erwähnten Regierungsratsbeschluss vom 10. Juli 1959 jede Rechtsatzwirkung abgehe, da er keine Rechtsverordnung darstelle und nicht publiziert worden sei. Die fragliche Vermessungsgebühr sei somit ohne gültige gesetzliche Grundlage erhoben worden, weshalb der angefochtene Beschluss als verfassungswidrig aufzuheben sei.
a) Das Bundesgericht hat die sog. Gesetzesdelegation in ständiger Rechtsprechung als grundsätzlich zulässig bezeichnet, sofern die entsprechende Ermächtigungsklausel auf ein bestimmtes Sachgebiet beschränkt bleibt und die Delegation in
BGE 97 I 193 S. 202
der Verfassung nicht ausdrücklich ausgeschlossen ist (
BGE 92 I 45
mit Verweisungen; vgl. auch A. GRISEL, Droit administratif suisse, p. 84/5). Diese Rechtsprechung bezieht sich freilich vorwiegend auf die Übertragung von Befugnissen vom kantonalen Gesetzgeber auf eine andere kantonale Behörde. Ob sie auch diejenigen Fälle trifft, in denen das Verhältnis zwischen Kanton und Gemeinden in Frage steht, hat das Bundesgericht im erwähnten Entscheid
BGE 92 I 45
Erw. 1 offen gelassen. Dieses Problem stellt sich indessen jedenfalls dann nicht, wenn die kantonale Legislative die Gemeinde auf dem Wege der Gesetzgebung zur Reglementierung einer bestimmten Materie ermächtigt und ihr dabei eine relativ erhebliche Entscheidungsfreiheit einräumt, denn in derartigen Fällen liegt nicht eine eigentliche Delegation, sondern vielmehr eine Kompetenzausscheidung zwischen Kanton und Gemeinde vor. Voraussetzung dafür ist freilich, dass die betreffende kantonale Rechtsordnung eine derartige Kompetenzaufteilung zulässt.
Gemäss Art. 2 Ziff. 1 des bernischen Gesetzes über das Gemeindewesen (Gemeindegesetz) vom 9. Dezember 1917 steht den Gemeinden "die Besorgung der ihr durch staatliche Erlasse übertragenen oder überlassenen Angelegenheiten" zu. Darunter fällt auch das Vermessungswesen, sofern als Nachführungsgeometer Gemeindebeamte eingesetzt werden und der entsprechende Gemeindeerlass von der zuständigen Kantons- und Bundesbehörde genehmigt worden ist (§ 2 Abs. 3 in Verbindung mit § 5 NVD). Daraus und aus den Bestimmungen von §§ 34 ff. NVD ergibt sich ohne weiteres das Recht der Gemeinden, in einem genehmigungspflichtigen Erlass das Gebührenwesen zu ordnen, wenn die Nachführungsarbeiten einem kommunalen Vermessungsamt übertragen werden. Diese Befugnis steht im übrigen auch im Einklang mit Art. 219 Abs. 2 des bernischen Gesetzes über die direkten Staats- und Gemeindesteuern, wonach die Gemeinden in allgemeiner Form für berechtigt erklärt werden, "Gebühren, Taxen und dergleichen" zu erheben. Mit Rücksicht auf die im NVD verankerte Ordnung des bernischen Vermessungs- und Nachführungswesens kann sich der nach § 34 NVD vom Regierungsrat zu erlassende Gebührentarif somit lediglich auf die Verrichtungen des freierwerbenden Geometers beziehen.
Der von der Beschwerdeführerin beanstandeten Ermächtigung in Ziff. 2 Abs. 2 des Regierungsratsbeschlusses Nr. 3859 vom
BGE 97 I 193 S. 203
10. Juli 1959 kommt mithin bloss deklaratorische Bedeutung zu. Die Befugnis der über einen eigenen Vermessungsdienst verfügenden Gemeinden, die als Entgelt für die Nachführungsarbeiten zu erhebenden Gebühren in einem Gemeindeerlass zu ordnen, ergibt sich nach dem Gesagten aus dem NVD selbst, mit welchem der kantonale Gesetzgeber eine Kompetenzausscheidung zwischen Kanton und Gemeinden vorgenommen hat. So führt der Regierungsrat in Ziff. 2 Abs. 2 seines Beschlusses Nr. 6693 vom 22. September 1964 (Abänderung des Tarifs 1959) denn auch aus, die darin enthaltene Ordnung finde auf die Vermessungsämter der Städte Bern und Biel, die einen eigenen Nachführungstarif besitzen, keine Anwendung. Dazu kommt, dass sich der angefochtene städtische Tarif gemäss Ingress nicht auf den beanstandeten Regierungsratsbeschluss, sondern unter anderem auf das NVD selbst stützt. Die Rüge, für eine kommunale Regelung der Vermessungsgebühren fehle es im vorliegenden Fall an einer hinreichenden gesetzlichen Grundlage, erweist sich daher als unbegründet.
b) Die stadtbernische Vermessungsgebühr stellt das Entgelt für die Inanspruchnahme einer Verwaltungseinrichtung dar; sie ist eine Verwaltungsgebühr und gehört als solche zum Kreis der öffentlichen Abgaben. Der angefochtene Tarif vom 7. Dezember 1960 ist vom Gemeinderat der Stadt Bern (d.h. von der kommunalen Exekutive) erlassen worden, welcher sich dabei auf Art. 10 der Verordnung des Stadtrats über das Vermessungsamt der Einwohnergemeinde Bern vom 13. Februar 1919 gestützt hat. Diese Bestimmung enthält keine näheren Angaben darüber, nach welchen Gesichtspunkten der Gebührentarif festzusetzen ist, sondern erschöpft sich darin, den Gemeinderat in allgemeiner Form zum Erlass einer entsprechenden Ordnung zu ermächtigen.
Das Bundesgericht hat in seiner Rechtsprechung wiederholt betont, dass Steuern nur bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen und lediglich in dem vom Gesetz festgelegten Umfang erhoben werden dürfen (Grundsatz der Gesetzesmässigkeit;
BGE 91 I 176
Erw. 3, 254 Erw. 3;
BGE 95 I 325
mit Verweisungen; vgl. auch A. GRISEL, a.a.O., p. 164/5), und es hat in
BGE 92 I 47
ausgeführt, dieser Grundsatz finde bei der Erhebung öffentlicher Abgaben ganz allgemein Anwendung (vgl. auch
BGE 93 I 634
und
BGE 95 I 251
), Eine Ausnahme gilt lediglich für die sog. Kanzleigebühren, die von der vollziehenden Behörde im
BGE 97 I 193 S. 204
Rahmen einer Ausführungsverordnung ohne besondere gesetzliche Ermächtigung festgesetzt werden können (
BGE 93 I 635
mit Hinweisen).
Im Lichte dieser Rechtsprechung könnte sich fragen, ob der vom Gemeinderat erlassene Tarif vor der Verfassung standhält. Dabei wäre freilich zu prüfen, ob für jede Gebühr eine gesetzliche Grundlage im formellen Sinn erforderlich ist, denn der Betroffene kann sich mit Rücksicht auf das Wesen der Gebühr (Entgelt für eine vom Gemeinwesen erbrachte Leistung) ohne weiteres auf den Grundsatz der Verhältnismässigkeit und auf das Kostendeckungsprinzip berufen und geltend machen, der Gebührenbetrag stehe in keinem vernünftigen Verhältnis zur erbrachten Leistung und übersteige offensichtlich die dem Gemeinwesen erwachsenden Kosten (vgl.
BGE 83 I 89
/90,
BGE 84 I 165
/6). Diese Frage braucht indessen im vorliegenden Fall nicht entschieden zu werden, denn die Beschwerdeführerin behauptet nicht, der angefochtene Tarif beruhe auf einer unzulässigen Delegation innerhalb der Gemeinde und verstosse gegen den Grundsatz der Gewaltentrennung.
6.
Bei der Bemessung einer Verwaltungsgebühr hat das bezugsberechtigte Gemeinwesen - wie erwähnt - das sog. Kostendeckungsprinzip zu beachten, wenn die Abgabe ihren Gebührencharakter beibehalten und nicht zur Steuer werden soll (vgl.
BGE 72 I 397
,
BGE 84 I 165
; A. GRISEL, a.a.O., p. 120). Nach diesem Grundsatz soll der Gesamtertrag der Gebühren die Gesamtkosten des betreffenden Verwaltungszweiges in der Regel nicht übersteigen (
BGE 84 I 165
mit Verweisungen; IMBODEN, Schweiz. Verwaltungsrechtsprechung, 3. Aufl., Nr. 412 IV S. 510). Bei der Gebührenbemessung können somit auch die allgemeinen Unkosten des betreffenden Verwaltungszweiges mitberücksichtigt werden. Dem Gemeinwesen ist es insbesondere nicht verwehrt, mit den Gebühren für bedeutende Geschäfte den Ausfall aus Verrichtungen auszugleichen, für die wegen des mangelnden Interesses keine kostendeckende Entschädigung verlangt werden kann (
BGE 83 I 89
,
BGE 84 I 166
mit Hinweisen). Ferner ist es durchaus angängig, der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Pflichtigen und dessen Interessen an der Amtshandlung angemessen Rechnung zu tragen (IMBODEN, a.a.O., S. 510/11). Der Verteilung der Gesamtkosten auf die einzelnen gebührenpflichtigen Verrichtungen sind jedoch Schranken
BGE 97 I 193 S. 205
gesetzt. Diese ergeben sich einerseits aus dem Wesen der Gebühr sowie aus dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit und anderseits aus dem Gebot der rechtsgleichen Behandlung sowie aus dem Willkürverbot. Aus der Tatsache, dass der gesamte Gebührenertrag den Aufwand des betreffenden Verwaltungszweiges nicht übersteigt bzw. nicht deckt, darf somit noch nicht geschlossen werden, die im konkreten Fall erhobene Gebühr sei verfassungsmässig. Ob dies zutrifft, hängt vielmehr davon ab, ob sie in einem vernünftigen Verhältnis zur erbrachten Leistung steht und ob der massgebliche Tarif nach sachlich haltbaren Gesichtspunkten ausgestaltet ist und keine Unterscheidungen trifft, für die ein vernünftiger Grund nicht ersichtlich ist.
Die Baudirektion hat sich mit der Feststellung begnügt, die Gesamteinnahmen des Vermessungsamtes der Stadt Bern vermöchten die Aufwendungen für die Nachführung des Vermessungswerks nachgewiesenermassen bei weitem nicht zu decken, weshalb der Gebührencharakter und die Angemessenheit der geforderten Abgabe bejaht werden müssten und das Moderationsbegehren aus diesem Grunde ohne weiteres abzuweisen sei. Mit Recht macht die Beschwerdeführerin geltend, diese Begründung sei ungenügend. Die Baudirektion wäre nach dem Gesagten verpflichtet gewesen, sich nähere Angaben über die Zusammensetzung des fraglichen Verwaltungsaufwands zu beschaffen und die Angemessenheit der angefochtenen Gebühr im einzelnen zu überprüfen, denn das Vermessungsamt hat im Rahmen der Nachführungsarbeiten verschiedene Dienstleistungen zu erbringen (vgl. Tarif Ziff. 1.1. bis 1.7), die sich in Bedeutung und Arbeitsaufwand wesentlich voneinander unterscheiden und für welche die Gebühren nach verschiedenen Gesichtspunkten festgesetzt werden. Schliesslich wären weitere Abklärungen schon deshalb am Platz gewesen, da das Vermessungsamt seinem Tarif (Ziff. 1.1, insbesondere Ziff. 1.12) im vorliegenden Fall selbst nicht in vollem Umfang Nachachtung verschafft, sondern bloss die Hälfte des nach den massgeblichen Tarifansätzen ermittelten Gebührenbetrages erhoben hat. Da die Baudirektion mithin entscheidende Gesichtspunkte ausser Acht gelassen hat, muss der angefochtene Beschluss bereits aus diesem Grunde wegen Verletzung von
Art. 4 BV
aufgehoben werden (
BGE 95 I 525
).
BGE 97 I 193 S. 206
7.
Ungeachtet dieses Ergebnisses hält es das Bundesgericht für angebracht, den angefochtenen Tarif auf seine Verfassungsmässigkeit hin zu überprüfen.
a) Aus den vom Bundesgericht eingeholten Amtsberichten des Vermessungsamtes der Stadt Bern geht hervor, dass der Ertrag aus Privataufträgen gemäss Tarif Ziff. 1.1 (Parzellierungen und Grenzänderungen) den entsprechenden Aufwand in der Zeit von 1962 bis 1969 (acht Jahre) um insgesamt Fr. 214'207.-- überstieg (Tabelle 6):
Anzahl Aufwand Ertrag Gewinn bzw. Verlust
abträgliche
Verrichtungen: 243 340'668.-- 601'079.-- 260'411.-- (Gewinn)
unabträgliche
Verrichtungen: 175 118'901.-- 72'697.-- 46'204.-- (Verlust)
----------------------------------------------------
Total 418 459'569.-- 673'776.-- 214'207.-- (Saldo)
(durchschnittlicher Gewinn pro Verrichtung = ca. Fr. 500.--)
Die Dienstleistungen gemäss Tarif Ziff. 1.1 (Grenzänderungen und Parzellierungen) unterscheiden sich ihrer Natur nach nicht wesentlich von denjenigen nach Ziff. 1.4 (Gebäudeaufnahmen). Ein Unterschied besteht lediglich in bezug auf den Grad der geforderten Messgenauigkeit, welcher bei Grenzänderungen und Parzellierungen offensichtlich höher ist als bei den Gebäudeaufnahmen, mit denen das Mass der betreffenden Parzelle nicht verändert wird. Das Vermessungsamt ist nicht in der Lage, für die Gebäudeaufnahmen (Tarif Ziff. 1.4) eine der obenstehenden Tabelle entsprechende Aufstellung über Aufwand, Ertrag und Gewinn bzw. Verlust auszuarbeiten. Die in den Amtsberichten enthaltenen Angaben lassen jedoch darauf schliessen, dass diese Dienstleistung nicht kostendeckend erbracht werden kann: In der Vergleichsperiode (1962 bis 1969) betrug die Zahl der Gebäudeaufnahmen insgesamt 3515 (Neubauten: 1687; Umbauten und Kunstbauten: 1828). Obwohl diese Verrichtungen zahlenmässig mehr als das Achtfache der Grenzänderungen ausmachten, war der Ertrag aus den Gebäudeaufnahmen insgesamt wesentlich geringer als derjenige aus den Grenzänderungen und Parzellierungen:
Verrichtungen gemäss Tarif Ziff. 1.4:
Gesamtertrag in den Jahren 1962-1969: Fr. 295'900.--
Verrichtungen gemäss Tarif Ziff. 1.1:
Gesamtertrag in den Jahren 1962-1969: Fr. 673'776.--
BGE 97 I 193 S. 207
Diese erheblichen Ertragsdifferenzen für die beiden ihrer Natur nach ähnlichen Verrichtungen ergeben sich aus dem unterschiedlichen System für die Gebührenberechnung. Für beide Dienstleistungen ist zwar eine Grundtaxe von Fr. 30.- vorgesehen (Tarif Ziff. 1.11 und 1.41); der Zuschlag, mit welchem dem Wert des Objekts Rechnung getragen werden soll, wird indessen nach zwei verschiedenen Methoden berechnet:
- für die Grenzänderungen (Tarif Ziff. 1.12) ist generell ein Zuschlag von 5 %o des Verkehrswerts der neu entstandenen bzw. abgetrennten Grundstücksflächen vorgesehen;
- bei den Gebäudeaufnahmen wird der Zuschlag vom Brandversicherungswert bzw. vom Wert der Brandversicherungserhöhung (bei An- und Umbauten) berechnet, und zwar aufgrund des folgenden, degressiven Tarifs (Ziff. 1.42):
von 1'000 bis 50'000 = 1,5 %o
von 50'000 bis 100'000 = 1,0 %o
von 100'000 bis 500'000 = 0,5 %o
von 500'000 bis 1'000,000 = 0,25 %o
Auch für ein Millionenobjekt beträgt somit die gemäss Tarif Ziff. 1.42 geschuldete Höchstgebühr lediglich Fr. 480.-- (Tabelle 7).
b) Selbst wenn angenommen wird, für Grenzänderungen gemäss Tarif Ziff. 1.1 dürften im Hinblick auf den verschiedenen Grad der geforderten Messgenauigkeit höhere Gebühren erhoben werden als für Gebäudeaufnahmen gemäss Tarif Ziff. 1.4, so verstösst die im angefochtenen Tarif enthaltene Regelung gegen den Grundsatz der Rechtsgleichheit, denn es besteht kein vernünftiger Grund, die Grenzänderungen und die Gebäudeaufnahmen als ihrer Natur nach verwandte behördliche Verrichtungen gebührenmässig derart verschieden zu behandeln, dass für die ersteren in jedem Fall unbekümmert um den sich daraus ergebenden Abgabebetrag eine um die Grundtaxe von Fr. 30.- erhöhte feste Gebühr von 5‰ des Verkehrswerts erhoben und für die letzteren bloss eine nach degressivem Tarif berechnete und auf den Höchstbetrag von Fr. 480.-- beschränkte Abgabe vorgesehen wird. Wenn auch zuzugeben ist, dass für die Kostenverteilung in der öffentlichen Verwaltung nicht durchwegs die gleichen Gesichtspunkte massgebend sein können wie beim privaten Unternehmer (
BGE 84 I 167
) und dass deshalb dem vom Regierungsrat erlassenen "Akkordtarif" für
BGE 97 I 193 S. 208
die freierwerbenden Geometer nur beschränkte Bedeutung beigemessen werden darf, so ist in diesem Zusammenhang doch darauf hinzuweisen, dass der "Akkordtarif 1964" (Regierungsratsbeschluss Nr. 6693 vom 22. September 1964) sowohl für Grenzänderungen als auch für Gebäudeaufnahmen einen degressiven Tarif enthält und eine Höchstgebühr vorsieht (Ziff. 1.4 und 2.2). Auch der Regierungsrat hat somit der Tatsache Rechnung getragen, dass sich die beiden in Frage stehenden Verrichtungen sachlich nicht wesentlich voneinander unter.. scheiden. Der angefochtene Tarif behandelt nach dem Gesagten Gleiches ungleich und bewirkt letztlich, dass der Verwaltungsaufwand des städtischen Vermessungsamtes in sachlich nicht zu rechtfertigender Weise vorwiegend einer einzigen gebührenpflichtigen Verrichtung angelastet wird. Er verstösst deshalb gegen das in
Art. 4 BV
verankerte Gebot der rechtsgleichen Behandlung (vgl.
BGE 92 I 9
) und erweist sich daher als verfassungswidrig.
c) Aber auch für sich allein betrachtet hält der für die Gebühr gemäss Tarif Ziff. 1.1 vorgesehene generelle Zuschlag von 5‰ auf dem Verkehrswert der neu entstandenen bzw. abgetrennten Grundstücksflächen vor der Verfassung nicht stand. Wohl ist anerkannt, dass mit einer Verwaltungsgebühr nicht bloss die Kosten der einzelnen amtlichen Verrichtungen gedeckt, sondern auch den allgemeinen Unkosten des betreffenden Verwaltungszweiges sowie der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und dem Interesse des Bürgers an der in Frage stehenden Dienstleistung Rechnung getragen werden darf (vgl. oben Erw. 6) und dass dem Gemeinwesen dabei ein weiter Ermessensspielraum offen steht. Das ändert jedoch nichts daran, dass die Gebühr im Einzelfall angemessen zu sein hat, d.h. in einem vernünftigen Verhältnis zum Aufwand stehen muss und den Wert der erbrachten Leistung nicht unberücksichtigt lassen darf (vgl. IMBODEN, a.a.O., Nr. 412 V e S. 511). Die angefochtene Gebühr steht in offensichtlichem Widerspruch zu diesen Grundsätzen, denn sowohl die nach Massgabe von Tarif Ziff. 1.1 ermittelte Gebühr im Betrage von mehr als Fr. 26'000.-- als auch die tatsächlich geforderte Summe von Fr. 13'488.-- stehen in keinem vernünftigen Verhältnis zum Arbeitsaufwand des Gemeinwesens und zum Wert der erbrachten Leistung. Die bei der Beschwerdeführerin erhobene Vermessungsgebühr verstösst somit auch gegen den Grundsatz der Verhältnismässigkeit, so
BGE 97 I 193 S. 209
dass der angefochtene Entscheid auch unter diesem Gerichtspunkt vor der Verfassung nicht standhält.
8.
Die Stadt Bern wird somit einen neuen Gebührentarif für das Vermessungswesen aufzustellen haben und dabei den obenstehenden Erwägungen Rechnung tragen müssen; sie wird sich insbesondere darüber schlüssig werden müssen, inwieweit die einzelnen Verrichtungen eine unterschiedliche gebührenmässige Behandlung rechtfertigen, und sie wird in diesem Zusammenhang die Verteilung der in Betracht zu ziehenden allgemeinen Unkosten des Vermessungsamtes neu zu überdenken haben. | 5,425 | 4,114 | Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird gutgeheissen, und der angefochtene Entscheid der Baudirektion des Kantons Bern vom 14. Februar 1968 wird aufgehoben. | 39 | 29 | CH_BGE_001 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_001_BGE-97-I-193_1971 | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=28&from_date=&to_date=&from_year=1971&to_year=1971&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=280&highlight_docid=atf%3A%2F%2F97-I-193%3Ade&number_of_ranks=328&azaclir=clir | BGE_97_I_193 |
||
ee883f91-4dc8-4b7c-9486-690930f2c33a | 2 | 78 | 1,334,273 | null | 2,024 | fr | Sachverhalt
ab Seite 271
BGE 94 I 270 S. 271
A.-
La Ville de Fribourg a entrepris en 1964 la construction d'une station communale d'épuration des eaux, au Goz de la Torche. Pour couvrir les frais d'exécution de ces travaux, soit pour amortir la somme empruntée à cette fin et en payer les intérêts, le Conseil communal a adopté le 25 février 1964 un "règlement communal sur la contribution temporaire pour l'épuration des eaux". Approuvé le 23 mars 1964 par le Conseil général, puis les 25 septembre 1964 et 9 juillet 1965 par le Conseil d'Etat, ce texte dispose notamment ce qui suit.
Tous les propriétaires de bâtiments et de fonds non bâtis dont les eaux, usées ou non, se déversent dans l'égout communal pour aboutir à la station prévue, sont astreints à verser une contribution annuelle (art. 1er). Par bâtiments et fonds non bâtis, il faut entendre les biens-fonds au sens de l'art. 655 al. 2 CC, soit aussi les voies de communication qui font partie
BGE 94 I 270 S. 272
du domaine public; peu importe qu'ils soient propriété d'un établissement ou d'une collectivité publics, voire affectés à l'administration publique (art. 2). Les contributions serviront exclusivement au paiement des intérêts du montant emprunté et à son amortissement; elles seront perçues jusqu'au remboursement de l'emprunt, mais pendant vingt ans au plus (art. 3). Deux facteurs entrent dans le calcul de la contribution: la valeur du fonds et la consommation d'eau (art. 4). Les critères d'évaluation diffèrent selon la nature des fonds: pour les bâtiments, la valeur d'assurance au 1er janvier de l'année de perception ou d'assujettissement fait règle; en ce qui concerne les fonds non bâtis, y compris les fonds sous-jacents aux bâtiments, la taxe cadastrale au 1er janvier de l'année de perception est déterminante; quant aux fonds du domaine public, leur superficie sert de base (art. 5). S'agissant de la consommation d'eau, il y a lieu de tabler sur la quantité consommée l'année qui a précédé la perception, selon les indications des Services industriels communaux (art. 6).
Le règlement du 25 février 1964 se réfère à l'art. 25 de la loi du 10 mai 1963 sur les impôts communaux et paroissiaux. Sous le titre "contribution temporaire", cette disposition est ainsi rédigée: "Les communes peuvent percevoir une contribution temporaire pour couvrir les frais d'exécution de travaux, tels que voies de communication, endiguements, assainissements, adduction d'eau (al. 1er). Cette contribution atteint les propriétaires, en proportion des avantages que chacun retire des travaux exécutés (al. 2)".
En revanche, ni l'arrêté pris le 7 juillet 1959 par le Conseil d'Etat en exécution de la loi fédérale du 16 mars 1955 sur la protection des eaux contre la pollution, ni la loi cantonale adoptée le 4 février 1964 en application de la même loi fédérale et entrée en vigueur le 1er juillet 1964, ne sont mentionnés dans le règlement du 25 février 1964.
B.-
Sur le territoire de la Ville de Fribourg, les CFF sont propriétaires de plusieurs bâtiments et fonds non bâtis, notamment des édifices de la gare et d'un terrain 4039 situé à la route des Arsenaux. Sans être approvisionné en eau par les Services industriels, ce terrain a été loué partiellement à Roger Vuichard, qui y a aménagé une construction mobilière.
Les 19, 20 et 21 octobre 1965, la Ville de Fribourg a fait parvenir aux CFF vingt bordereaux qui les invitent à payer,
BGE 94 I 270 S. 273
pour 1965, une contribution totale de 10 618 fr. 05 aux frais d'épuration des eaux. Le bordereau 406.001, de 474 fr. 85, et le bordereau 407.020, de 8630 fr. 35, concernent les bâtiments de la gare; le no 601 999.02, de 2 fr. 75, a trait à la parcelle 4039; la contribution réclamée ici est basée sur la taxe cadastrale. Pour sa part, Roger Vuichard a reçu un bordereau de 25 fr. 20, contribution calculée sur la base de la valeur d'assurance incendie.
Les CFF élevèrent une réclamation contre les taxations dont ils étaient l'objet, non sans se déclarer disposés à participer au paiement des dépenses d'épuration dans les limites prévues à l'origine par le législateur fédéral. Leur réclamation ayant été écartée le 4 octobre 1966 par le Conseil communal, ils s'adressèrent ensuite à la Commission cantonale de recours en matière d'impôt, qui les débouta le 26 mai 1967.
L'autorité de recours constate que, dans la mesure où il se fonde sur l'art. 25 de la loi du 10 mai 1963 relative aux impôts communaux et paroissiaux, le règlement du 25 février 1964 repose sur une base valable: cette disposition, qui n'est pas limitative, s'applique aux installations d'épuration des eaux, ce que le Tribunal fédéral a admis implicitement dans un arrêt du 10 novembre 1965 en la cause Association fribourgeoise des intérêts immobiliers, Macheret et consorts c. Fribourg, Commune et Conseil d'Etat. La Commission cantonale considère en outre que, si l'art. 6 de la loi du 23 juin 1944 sur les CFF les exonère des impôts cantonaux et communaux, les contributions exigées en l'espèce ne tombent pas sous le coup de ce texte: limitées dans le temps, destinées à couvrir les frais de travaux déterminés, frappant chaque propriétaire en raison des avantages qu'il en retire, elles ne se caractérisent pas comme des impôts. De plus, suivant l'autorité de recours, c'est à juste titre que le règlement du 25 février 1964 ne fait pas de distinction entre les bâtiments productifs d'eaux usées et ceux qui ne déversent que des eaux pluviales dans les égouts communaux: une discrimination entre les uns et les autres entraînerait la réfection des canalisations publiques, soit une charge accrue pour les propriétaires. La commission invoque encore des motifs pratiques pour préférer le critère de la consommation d'eau à celui de l'écoulement dans les égouts. Enfin, elle tient pour justifiée la contribution perçue sur la parcelle 4039, l'eau qui s'y répand étant recueillie partiellement dans les canalisations publiques.
BGE 94 I 270 S. 274
C.-
Par un mémoire intitulé "recours de droit public", les CFF requièrent le Tribunal fédéral de prononcer: principalement, que la contribution pour l'épuration des eaux est un impôt dont ils sont exonérés, c'est-à-dire que la décision de la Commission cantonale n'est pas obligatoire ni exécutoire en ce qui les concerne; subsidiairement, qu'ils ne doivent une contribution ni pour les bâtiments où l'eau ne se consomme et ne s'use pas, ni pour l'eau fournie et non évacuée à l'égout communal, ni pour la parcelle 4039.
A l'appui de leurs conclusions principales, les CFF invoquent l'art. 6 de la loi fédérale du 23 juin 1944 qui les concerne. En vertu de cette disposition légale, ils sont exempts de tout impôt cantonal ou communal. Ils estiment que la contribution fixée par le règlement du 25 février 1964, qui frappe indifféremment tous les propriétaires de bâtiments et de fonds non bâtis, même s'ils ne consomment pas d'eau ni ne produisent d'eaux usées, n'est pas une charge de préférence au sens de la jurisprudence, mais bien un impôt auquel ils ne sauraient être astreints.
Quant aux conclusions subsidiaires de leur recours, les CFF les fondent sur la violation de l'art. 4 Cst. Ils prétendent que la Ville de Fribourg a choisi comme base légale un texte qui ne vise pas l'épuration des eaux, mais les impôts communaux et paroissiaux, à la seule fin de ménager sa liberté d'action. Ils qualifient ce procédé d'arbitraire. Les recourants relèvent en outre que, sans s'appuyer sur aucune preuve, la Commission cantonale admet que l'eau utilisée à la gare de Fribourg et celle qui s'écoule sur la parcelle 4039, rejoignent les collecteurs communaux. A leur avis, il est arbitraire de ne pas tenir compte de l'évaporation de l'eau, de son absorption par le sol et de son évacuation au cours des transports par chemin de fer. Au surplus, il est contraire aux art. 4 et 5 du règlement du 25 février 1964 d'imposer un propriétaire à la fois sur la taxe cadastrale de son fonds et sur la valeur d'assurance de la construction qui s'y trouve.
D.-
La Ville de Fribourg a conclu au rejet des conclusions principales et subsidiaires des CFF. Elle a fait observer dans sa réponse que les premières se rapportent à une action de droit administratif au sens de l'art. 111 litt. a OJ, tandis que les secondes revêtent le caractère d'un recours de droit public pour arbitraire. Quant au fond, elle affirme que la contribution
BGE 94 I 270 S. 275
réclamée est une charge de préférence, fixée sur une base qui échappe au grief d'arbitraire.
E.-
La Commission cantonale de recours en matière d'impôt a conclu au rejet du recours de droit public. | 1,992 | 1,736 | Erwägungen
Extrait des considérants:
I.
Sur la procédure 1. - Dans la mesure où ils se fondent sur l'art. 6 de la loi du 23 juin 1944 pour se prétendre exonérés de la contribution fixée par le règlement du 25 février 1964, les CFF soulèvent une contestation relative à l'exemption de contributions cantonales en vertu du droit fédéral, visée à l'art. 111 litt. a OJ. Un pareil litige doit être porté devant le Tribunal fédéral statuant comme juridiction unique, par la voie de l'action directe de droit administratif, à l'exclusion du recours de droit public (RO 82 I 128 ss., 87 I 148 ss., 92 I 166).
En tant qu'ils invoquent l'arbitraire de la décision rendue le 26 mai 1967 par la Commission cantonale de recours en matière d'impôt, les CFF ont formé un recours de droit public pour violation de l'art. 4 Cst.
Bien qu'il soit intitulé simplement recours de droit public, le mémoire des CFF est recevable à la fois comme acte d'ouverture d'une action de droit administratif et comme recours de droit public. Saisie d'un mémoire qui contenait les deux moyens, la Chambre de droit public s'est prononcée sur l'un et l'autre dans un seul arrêt (RO 81 I 186). En l'espèce, la Chambre de droit administratif n'a aucune raison de s'écarter de cette pratique. Chargée normalement de statuer sur les actions de droit administratif (art. 12 al. 1 litt. a OJ), elle siège avec le concours de cinq membres et comprend ainsi le même nombre de juges que la Chambre de droit public chargée des recours pour violation de l'art. 4 Cst. (cf. art. 15 OJ). En outre, l'action de droit administratif et le recours de droit public s'instruisent selon les mêmes règles, c'est-à-dire principalement suivant les
art. 91 à 96
OJ (cf. art. 115 al. 2 OJ) et subsidiairement, par le jeu de l'art. 40 OJ, conformément à la loi du 4 décembre 1947 sur la procédure civile fédérale. Au surplus, dans le cas particulier, l'action et le recours posent des problèmes de fond communs.
BGE 94 I 270 S. 276
II.
Sur l'exemption d'impôt
2.
Comme les parties l'admettent avec raison, l'art. 6 de la loi du 23 juin 1944 dispense les CFF du paiement des impôts proprement dits, non pas des charges de préférence (RO 74 I 224 ss.). Selon la jurisprudence, une redevance se caractérise comme une charge de préférence lorsqu'elle remplit trois conditions: tout d'abord, elle doit être prélevée, pour couvrir des dépenses relatives à des travaux d'intérêt public, auprès des personnes qui en tirent des avantages économiques spéciaux; ensuite, il faut que le montant réclamé soit en rapport avec les frais qu'il s'agit d'amortir; enfin, la charge doit être calculée en proportion du profit que les travaux procurent aux bénéficiaires (RO 74 I 224 s.;
86 I 99
;
90 I 81
, 93;
92 I 454
s.;
93 I 113
). Le Tribunal fédéral a déjà jugé qu'une contribution aux frais d'épuration des eaux répondait à ces conditions (RO 93 I 113 s.). Il a même reconnu la qualité de charge de préférence à la contribution temporaire prévue par l'art. 25 de la loi fribourgeoise du 10 mai 1963 sur les impôts communaux et paroissiaux, auquel se réfère le règlement du 25 février 1964 (arrêt non publié du 10 novembre 1965 dans la cause Association cantonale fribourgeoise des intérêts immobiliers, Macheret et consorts contre Fribourg, Commune et Conseil d'Etat, consid. 2). Cette jurisprudence doit être confirmée.
3.
Assurément, dans la mesure où elle compromet l'approvisionnement en eau potable, entraîne la destruction des poissons, entrave l'exercice des sports nautiques, contribue à détériorer les ouvrages aménagés sur les rives des lacs et des rivières, la pollution des eaux est préjudiciable à la collectivité tout entière. A ce point de vue, l'épuration des eaux est une ,,,oeuvre d'intérêt général et relève de la salubrité publique. Mais elle n'en procure pas moins, considérée sous un autre aspect, des avantages économiques spéciaux aux propriétaires immobiliers.
Lorsqu'il est impossible d'évacuer les eaux qui s'y trouvent, qu'elles soient usées ou non, un immeuble ne peut guère servir qu'à des fins agricoles. Il ne se prête ni à la construction, ni à une affectation industrielle ou commerciale. Cela vaut aussi bien pour les immeubles des particuliers que pour ceux des administrations publiques, y compris les CFF. Tout propriétaire immobilier tire donc un avantage spécial du raccordement de son fonds aux canalisations publiques qui recueillent les
BGE 94 I 270 S. 277
eaux. Sans cette faculté, il est limité dans l'exploitation de son bien ou contraint d'entreprendre à ses frais des installations d'égout.
Or l'épuration des eaux est liée à leur évacuation. C'est parce que les eaux évacuées dans les canalisations publiques risquent de polluer les lacs et les rivières qu'elles doivent être épurées. Ainsi, l'art. 3 de la loi fédérale du 16 mars 1955 sur la protection des eaux invite l'autorité cantonale à prendre toutes mesures pour les préserver de la pollution qui résulte du déversement d'eaux usées ou d'autres résidus liquides ou gazeux. De même, l'art. 6 al. 1 de l'arrêté du Conseil d'Etat fribourgeois du 7 juillet 1959 oblige les communes, tout à la fois, à établir un règlement des canalisations, à élaborer un plan directeur d'égouts et à construire des installations d'épuration des eaux. L'art. 9 de la loi d'application fribourgeoise du 4 février 1964 énonce une règle analogue. Il s'ensuit qu'en droit fribourgeois comme en droit fédéral, l'évacuation et l'épuration des eaux sont des opérations inséparables. Dès lors, si les frais d'évacuation consentis par les collectivités publiques procurent un avantage économique spécial à chaque propriétaire immobilier, il en est de même de ceux d'épuration (RO 93 I 113).
4.
La contribution exigée des CFF est en rapport avec la dépense dont ils profitent d'une manière particulière. Selon le préambule du règlement du 25 février 1964, le produit de cette contribution est destiné exclusivement à couvrir les frais d'établissement de la station communale d'épuration, soit à rembourser le montant emprunté à cette fin et à en payer les intérêts. Non seulement l'art. 3 confirme cette affectation, mais il précise que la contribution sera perçue jusqu'au remboursement de l'emprunt et, au plus, pendant vingt ans.
5.
Les propriétaires immobiliers sont doublement intéressés à l'évacuation et à l'épuration des eaux par les soins des collectivités publiques. Grâce à ces mesures, ils peuvent utiliser leurs fonds sans restriction, d'une part, et ils n'ont pas la charge de construire leurs propres installations d'égout, d'autre part. Il faut donc examiner encore si la contribution réclamée aux CFF se détermine bien d'après le double avantage qu'ils retirent des travaux exécutés par la Ville de Fribourg.
a) L'art. 5 du règlement du 25 février 1964 table sur la valeur des fonds, soit sur la valeur d'assurance des bâtiments, la taxe cadastrale des fonds non bâtis et la superficie des fonds du
BGE 94 I 270 S. 278
domaine public qui ne sont pas l'objet d'une estimation cadastrale. C'est là une manière de tenir compte du fait que l'évacuation des eaux, y compris leur épuration, accroît les possibilités d'utiliser le sol. Si les bases de calcul fixées s'adaptent plus ou moins exactement aux circonstances de chaque cas particulier, elles se justifient cependant par leur simplicité. En l'occurrence, des critères schématiques sont inévitables. Celui de la valeur d'assurance est d'ailleurs usuel pour les fonds bâtis (RO 93 I 114; arrêt du 1er mars 1967 dans la cause Wert-Invest-Immobilien AG c. Tecknau, Commune et Bâle-Campagne, Tribunal administratif, consid. 2 litt. a et b, inédit au RO mais publié dans les BJM 1967 p. 143 ss.). Le prélèvement de la contribution calculée sur la taxe cadastrale des terrains à bâtir correspond à l'avantage virtuel que le propriétaire tire de l'évacuation et de l'épuration des eaux. Quant aux terrains affectés à l'agriculture, on peut se demander s'ils ne devraient pas être exemptés dans le cas visé à l'art. 5 de la loi fédérale du 16 mars 1955 sur la protection des eaux contre la pollution. Mais il n'est pas nécessaire de résoudre la question, car les CFF ne peuvent évidemment pas être mis au bénéfice de cette disposition légale.
b) En se fondant sur la consommation d'eau, l'art. 6 du règlement prend en considération le fait que l'évacuation et l'épuration des eaux aux frais de la collectivité publique dispensent les propriétaires de créer leurs propres installations, dont le coût dépend dans une certaine mesure du volume d'eau à éliminer. Sans doute la quantité d'eau consommée ne correspond-elle qu'approximativement à la masse d'eau évacuée. Il n'est toutefois pas contraire au principe de proportionnalité d'adopter comme facteur d'appréciation celle-là plutôt que celle-ci. Alors que la consommation d'eau est facilement déterminable, l'évacuation ne pourrait se mesurer qu'au moyen d'appareils dont la pose serait aussi compliquée qu'onéreuse et qui, apparemment, n'existent nulle part.
C'est pourquoi on admet communément que la contribution aux frais d'épuration pourrait même être prélevée sous la forme d'un supplément au prix perçu pour la fourniture de l'eau (cf. D. SCHINDLER, Rechtsfragen des Gewässerschutzes in der Schweiz, RDS 1965 II 483). Au demeurant, la solution choisie par la Ville de Fribourg n'est pas plus préjudiciable aux CFF qu'à d'autres propriétaires. Si une partie de l'eau utilisée pour le nettoyage de la gare ou recueillie sur la parcelle 4039 s'évapore
BGE 94 I 270 S. 279
ou est absorbée par le sol, il en est de même de l'eau de pluie qui tombe sur tous les terrains non bâtis, ou de l'eau dont le propriétaire se sert pour arroser son fonds. En outre, si l'eau qui remplit les réservoirs des wagons s'écoule en dehors du territoire de la Ville de Fribourg, il n'en est pas autrement de l'eau que certaines entreprises emploient à des fins industrielles.
6.
Ainsi, la contribution réclamée aux CFF remplit les trois conditions posées par la jurisprudence pour qu'une redevance constitue une charge de préférence et non un impôt. Il en résulte que l'art. 6 de la loi fédérale du 23 juin 1944 n'est pas applicable, et partant que l'action de droit administratif tendant à faire prononcer une exemption d'impôt en faveur des CFF est mal fondée.
III.
... (Rejet du grief d'arbitraire) | 2,406 | 2,100 | Dispositiv
Par ces motifs, le Tribunal fédéral:
Rejette l'action de droit administratif et le recours de droit public. | 29 | 24 | CH_BGE_001 | CH_BGE | CH | Federation | CH_BGE_001_BGE-94-I-270_nodate | https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=17&from_date=&to_date=&from_year=1968&to_year=1968&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=163&highlight_docid=atf%3A%2F%2F94-I-270%3Ade&number_of_ranks=199&azaclir=clir | BGE_94_I_270 |
Subsets and Splits