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71f4f1d4-4d68-4ff4-b153-676b2d5cc01c | Sachverhalt
ab Seite 75
BGE 136 V 73 S. 75
A.
Die BVG-Sammelstiftung der Rentenanstalt (neu: BVG-Sammelstiftung Swiss Life) führte am 21. Januar 2008 Klage gegen L. mit dem Rechtsbegehren, dieser sei zu verpflichten, ihr den Betrag von Fr. 45'693.- nebst Zins zu 5 Prozent seit dem 10. Oktober 2001 zuzüglich Fr. 100.- für Zahlungsbefehlskosten zu bezahlen; der in der Sache erhobene Rechtsvorschlag sei aufzuheben und es sei ihr die definitive Rechtsöffnung zu erteilen. Die Vorsorgeeinrichtung begründete die Klage damit, L., der als Eigentümer eines Gipsergeschäfts von Januar 1984 bis Ende März 1997 bei ihr angeschlossen gewesen sei (...), habe den versicherungspflichtigen Mitarbeiter P. (Jahrgang 1935) nicht angemeldet. Für dessen Beschäftigungszeiten in den Jahren 1985 bis 1995 seien Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge und Verzugszinsen im eingeklagten Ausmass geschuldet.
B.
Das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn wies die Klage ab; die geltend gemachten Forderungen seien verjährt (Entscheid vom 20. Januar 2009).
C.
Die Sammelstiftung führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die Sache an das kantonale Gericht zurückzuweisen, damit dieses über die Klage materiell entscheide. (...)
L. lässt beantragen, es sei auf die Beschwerde nicht einzutreten; eventuell sei sie abzuweisen. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Stellungnahme.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut.
(Auszug) Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
2.2
Strittig und zu prüfen ist, ob das kantonale Gericht zu Recht erkannt hat, die klageweise geltend gemachte Beitragsnachforderung für die Beschäftigungsjahre 1985 bis 1995 sei verjährt. Forderungen auf periodische Beiträge und Leistungen verjähren nach fünf, andere nach zehn Jahren; die Art. 129 bis 142 OR sind anwendbar (
Art. 41 Abs. 1 BVG
[SR 831.40] in der bis Ende 2004 geltenden
BGE 136 V 73 S. 76
Fassung; nunmehr
Art. 41 Abs. 2 BVG
; Urteil 9C_618/2007 vom 28. Januar 2008 E. 1.1.1 mit Hinweisen). Die Verjährungsfrist beginnt mit der Fälligkeit der Forderung (
Art. 130 Abs. 1 OR
). Eine Forderung ist fällig, wenn der Gläubiger sie verlangen kann und der Schuldner erfüllen muss (
BGE 129 III 535
E. 3.2.1 S. 541; SVR 2008 BVG Nr. 14 S. 57, 9C_321/2007 E. 3.1).
3.
3.1
Eine gesetzliche Fälligkeitsregel für Beitragsforderungen besteht erst seit dem Inkrafttreten der 1. BVG-Revision auf Anfang 2005; nach ihr überweist der Arbeitgeber die beiderseitigen Beiträge bis spätestens zum Ende des ersten Monats nach dem Kalender- oder Versicherungsjahr, für das die Beiträge geschuldet sind, an die Vorsorgeeinrichtung (
Art. 66 Abs. 4 BVG
). Zuvor waren allein reglementarische oder vertragliche Fälligkeitsregelungen massgebend (Urteil 9C_618/2007 vom 28. Januar 2008 E. 1.1.2). Gemäss der hier anwendbaren reglementarischen Bestimmung werden die Prämien vorschüssig zu Beginn jedes Versicherungsjahres in einem Betrag fällig (Art. 4 Abs. 1 der ab 1988 gültigen Allgemeinen Versicherungsbedingungen der Rentenanstalt [AVB] und Art. 3 Abs. 1 der ab 1996 gültigen AVB). Die Verjährungsfrist beginnt für jede einzelne Jahresprämie gesondert.
Zu beurteilen ist die Verjährungsfrage mit Bezug auf Prämienzahlungsansprüche, die rückwirkend für einen Zeitraum erhoben werden, während dessen die Vorsorgeeinrichtung offenbar keine Kenntnis vom individuellen Vorsorgeverhältnis hatte. In dieser Situation stellt sich zunächst die Frage, ob die Fälligkeit, mit welcher der Beginn der Verjährungsfrist einhergeht, bereits unmittelbar zu Beginn des jeweiligen Versicherungsjahrs (gemäss AVB) respektive nach Massgabe von
Art. 66 Abs. 4 BVG
eintritt, oder ob sie erst mit der
effektiven
Begründung des individuellen Versicherungsverhältnisses (nachträgliche Aufnahme des P. in die berufliche Vorsorge) zum Tragen kommen kann. Wenn ersteres zutrifft, stellt sich die weitere Frage, ob der Lauf der Verjährungsfrist unabhängig von der Kenntnis sämtlicher anspruchserheblicher Tatbestandselemente seitens der Beitragsgläubigerin beginnt.
3.2
Nach der Rechtsprechung des Eidg. Versicherungsgerichts und (ab 2007) der II. sozialrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts war der tatsächliche Bestand eines einschlägigen Rechtsverhältnisses für die Fälligkeit der auf vergangene Beschäftigungszeiten
BGE 136 V 73 S. 77
bezogenen Beitragsforderungen konstitutiv. Mit anderen Worten fiel der Beginn der Beitragsverjährungsfrist nach
Art. 41 Abs. 2 BVG
(aArt. 41 Abs. 1 BVG) mit der Begründung des Rechtsverhältnisses zusammen; dies galt ungeachtet dessen, ob es sich um den Anschluss eines Arbeitgebers an die Vorsorgeeinrichtung (mit kollektiver Wirkung hinsichtlich der Arbeitnehmer) handelte oder um die Begründung eines individuellen Versicherungsverhältnisses zwischen der Vorsorgeeinrichtung und dem einzelnen Arbeitnehmer.
3.2.1
Demnach werden Vorsorgebeiträge für frühere Jahre mit dem zwangsweisen Anschluss des (zuvor keiner registrierten Vorsorgeeinrichtung angehörenden) Arbeitgebers an die Auffangeinrichtung (nunmehr Art. 11 Abs. 5 und 6 [in der seit Januar 2005 geltenden Fassung],
Art. 60 Abs. 2 lit. a BVG
) fällig (SZS 1994 S. 388, B 34/93 E. 3b). Jüngst hat das Bundesgericht bestätigt, dass erst die Anschlussverfügung die Beitragsforderung entstehen lässt und ihre Fälligkeit begründet (SVR 2010 BVG Nr. 2 S. 4, 9C_655/2008 E. 4.3).
3.2.2
Die Fälligkeit von Beitragsforderungen, die sich aus der nachträglichen Begründung eines individuellen Vorsorgeverhältnisses im Rahmen eines bestehenden Anschlussvertrages ergeben (vgl. zu den verschiedenen Rechtsverhältnissen HANSJÖRG SEILER, Der Anschlussvertrag an eine Personalvorsorgeeinrichtung: in: Liber amicorum für Moritz W. Kuhn, 2009, S. 376 ff.), trat nach bisheriger Praxis ebenfalls mit der Entstehung des Rechtsverhältnisses ein. So liess bei Ungewissheit über das Beitragsstatut erst der rechtskräftige Entscheid über die AHV-rechtliche Einstufung einer Person als Unselbständigerwerbende eine rückwirkende Beitragsforderung entstehen; die nachzuentrichtenden Beiträge wurden frühestens mit diesem Entscheid fällig (Urteil B 26/99 vom 9. August 2001 E. 2c; vgl. SZS 2002 S. 510). Unter Bezugnahme auf diese Rechtsprechung hat das Eidg. Versicherungsgericht festgehalten, bei einem Rechtsstreit zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer über die Qualifizierung einer Beschäftigung als Haupt- oder aber als Nebenerwerb - wovon abhing, ob die betreffende Person der obligatorischen beruflichen Vorsorge zu unterstellen war oder nicht - trete die Fälligkeit rückwirkender Beitragsforderungen erst mit Rechtskraft des Entscheides ein, die Erwerbstätigkeit sei als hauptberufliche zu betrachten: "Nel rinviare agli
art. 129 a 142
CO, l'art. 41 LPP fa dipendere l'inizio della prescrizione dall'esigibilità del credito contributivo. Orbene, il credito contributivo può diventare esigibile solo se il lavoratore è stato correttamente annunciato all'istituto di previdenza. Solo a partire da tale
BGE 136 V 73 S. 78
momento l'istituto di previdenza può, sulla base del guadagno annunciato, conteggiare e addebitare i contributi. (...) Per determinare l'inizio del termine di prescrizione non può per contro semplicemente bastare la circostanza che il lavoratore avrebbe dovuto essere assicurato" (SVR 2007 BVG Nr. 17 S. 57, B 1/04 E. 4.7).
3.3
Abweichend von der soeben zitierten Rechtsprechung ist es angezeigt, die Fälligkeit von Beitragsforderungen, die sich aus einem im Nachhinein begründeten individuellen Versicherungsverhältnis ergeben, grundsätzlich ex tunc, das heisst mit der beitragspflichtigen Arbeitsleistung (oben E. 3.1), eintreten zu lassen. Die beim Zwangsanschluss gemäss
Art. 11 BVG
bestehende Rechtfertigung, die Fälligkeit an die effektive Begründung des Rechtsverhältnisses zu binden, lässt sich nicht auf die hier interessierende Konstellation übertragen: Während vor einem Zwangsanschluss noch nicht bestimmbar ist, welche Institution den kollektiven Vorsorgeschutz später übernehmen wird, stehen vor der Begründung eines individuellen Versicherungsverhältnisses im Rahmen eines bestehenden Anschlussvertrages alle wesentlichen Bemessungsgrundlagen fest. In Änderung der Rechtsprechung ist daher festzuhalten, dass die Beitragsverjährungsfrist bei bestehendem Anschlussverhältnis grundsätzlich nicht erst mit dem nachträglichen Abschluss eines Vorsorgevertrags für einen bestimmten Arbeitnehmer beginnt, sondern bereits mit der Fälligkeit der Prämie für dessen beitragspflichtige Arbeitsleistung; der Fälligkeitstermin richtet sich dabei nach
Art. 66 Abs. 4 BVG
oder nach Reglement.
4.
Bei dieser Rechtslage bleibt zu prüfen, ob die (hier noch abschliessend festzustellende) Unkenntnis der Vorsorgeeinrichtung und eine allfällige Zuwiderhandlung des Arbeitgebers gegen die Meldepflicht (Art. 10 der Verordnung vom 18. April 1984 über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge [BVV 2; SR 831.441.1]; vgl.
Art. 11 Abs. 1 BVG
und
Art. 7 Abs. 1 BVV 2
) die Fälligkeit der Beitragsschuld beeinflussen.
4.1
Nach der Rechtsprechung und mehrheitlichen Doktrin zu
Art. 130 Abs. 1 OR
tritt die Fälligkeit unabhängig davon ein, ob der Gläubiger von Forderung und Fälligkeit Kenntnis hat oder haben kann (
BGE 126 III 278
;
BGE 119 II 216
E. 4a/aa S. 219;
BGE 106 II 134
E. 2a S. 137; Urteil 9C_618/2007 vom 28. Januar 2008 E. 1.1.3; vgl.
BGE 126 II 145
E. 2b S. 151; ROBERT K. DÄPPEN, in: Basler Kommentar, Obligationenrecht, Bd. I, 2007, N. 9 zu
Art. 130 OR
; STEPHEN V. BERTI, in: Zürcher
BGE 136 V 73 S. 79
Kommentar, 3. Aufl. 2002, N. 8 zu
Art. 130 OR
; ALFRED KOLLER, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2009, S. 1100 Rz. 1 und S. 1155 Rz. 44; INGEBORG SCHWENZER, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2009, S. 527 Rz. 84.15; GAUCH/SCHLUEP/SCHMID/EMMENEGGER, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, 2008, S. 224 Rz. 3309; a.M.: HANS MERZ, Die privatrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichts im Jahre 1980, ZBJV 118/1982 S. 136 f.).
4.2
Aus Sicht der Vorsorgeeinrichtung erscheint es als stossend, wenn der Lauf der Verjährung auch dann in Gang gesetzt wird, wenn ihr eine - zwar objektiv einklagbare - Forderung nicht bekannt ist und auch nicht bekannt sein kann (vgl. dazu JEAN-BENOÎT MEUWLY, La prescription des créances d'assurance privée [art. 46 al. 1 LCA] au regard de la dernière jurisprudence du Tribunal fédéral, AJP 2003 S. 315 ff.). Das Anliegen der Vorsorgeeinrichtung und der dahinter stehenden Versichertengemeinschaft, dass alle Beiträge zur Finanzierung der Vorsorgeleistungen reglementskonform bezahlt werden, steht dem Ziel der Rechtssicherheit gegenüber, wonach eine Forderung nach Ablauf einer bestimmten Frist nicht mehr durchsetzbar sein soll. Beim Ausgleich dieser Interessen muss der Schutzzweck des Rechtsinstituts der Verjährung im Auge behalten werden. Die Nichterheblichkeit der Kenntnis wird unter anderem damit begründet, die Verjährung sei vor allem zum Schutz des Schuldners geschaffen (PASCAL PICHONNAZ, in: Commentaire romand, Code des obligations, Bd. I, 2003, N. 4 zu
Art. 130 OR
). Dieser Schutz kann nach Treu und Glauben (
Art. 2 Abs. 1 ZGB
) von demjenigen nicht in Anspruch genommen werden, der - aus eigenem, vorwerfbarem Verhalten - allein dafür verantwortlich ist, dass die Forderung der Gläubigerin verborgen geblieben ist. Die Berufung des Beitragsschuldners auf einen Eintritt der Fälligkeit vor erfolgter Kenntnisnahme wäre alsdann rechtsmissbräuchlich (
Art. 2 Abs. 2 ZGB
;
BGE 131 II 265
E. 4.2 S. 267; THOMAS GÄCHTER, Rechtsmissbrauch im öffentlichen Recht, 2005, S. 4 ff.). Wenn der Schuldner die vorläufige Unkenntnis der Gläubigerin zu verantworten hatte, hängt der Eintritt der Fälligkeit somit ausnahmsweise von deren Wissen um die Grundlagen der Forderung ab. Da der Zeitpunkt, zu welchem sämtliche für die Bemessung der Beitragsforderung notwendigen Angaben vorliegen, auch von der Aufmerksamkeit der Vorsorgeeinrichtung abhängig ist, wirkt nicht erst die tatsächliche, sondern bereits die normativ anrechenbare - zumutbare - Kenntnis fristauslösend.
BGE 136 V 73 S. 80
Eine Ausnahme vom Grundsatz, dass auch die dem Gläubiger noch unbekannte Forderung fällig werden kann, rechtfertigt sich allerdings nicht bei jeder objektiven Verletzung der Meldepflicht. Der Beginn des Fristenlaufs wird nicht aufgeschoben, wenn der Arbeitgeber mit Blick auf die konkreten Verhältnisse in guten Treuen davon ausgehen durfte, der nicht an die Vorsorgeeinrichtung gemeldete Arbeitnehmer sei etwa aufgrund seines Beitragsstatus nicht versicherungspflichtig gewesen. Gefordert ist vielmehr eine qualifizierte Meldepflichtverletzung im Sinne einer unentschuldbaren Unterlassung, so wie im Hinblick auf den Erlass einer Rückforderung unrechtmässig bezogener Leistungen eine nur leichte Verletzung der Melde- oder Auskunftspflicht den guten Glauben nicht ausschliesst (
Art. 25 Abs. 1 Satz 2 ATSG
[SR 830.1];
BGE 110 V 176
; Urteil 8C_594/2007 vom 10. März 2008 E. 5.6). Ein rechtsmissbräuchliches Verhalten ist nicht schon dann gegeben, wenn der Arbeitgeber die Versicherungspflicht aus einfacher Fahrlässigkeit verkannte.
4.3
Bei vorwerfbarem Verhalten des Schuldners erfolgt ein an sich zeitlich schrankenloser Aufschub der Fälligkeit der einzelnen periodischen Beitragsforderung bis zu dem Zeitpunkt, in welchem die Beitragsgläubigerin davon anrechenbare Kenntnis erlangt. Dabei muss jedoch berücksichtigt werden, dass - vergleichsweise - für (sekundäre) Ansprüche aus Vertragsverletzung eine subsidiäre Verjährungsfrist von zehn Jahren seit der Pflichtverletzung gilt (
Art. 127 OR
), für Deliktsansprüche eine ebenfalls zehnjährige absolute Frist (
Art. 60 Abs. 1 OR
), beginnend mit dem schädigenden Verhalten (SCHWENZER, a.a.O., S. 526 f. Rz. 84.14 und 84.18; vgl.
BGE 126 II 145
E. 2b S. 151). Wenn nun die Durchsetzbarkeit der originären Beitragsforderung gegenüber dem Schuldner, der qualifiziert gegen die Meldepflicht verstossen hat, rückwirkend unbegrenzt möglich wäre, könnte dies mit der Verjährungsordnung insgesamt nicht vereinbart werden (vgl. MEUWLY, a.a.O., S. 319 ff.). Damit ist die insofern relative Verjährungsfrist von fünf Jahren nach (zumutbarer) Kenntnisnahme im Wege der Lückenfüllung (vgl.
BGE 135 V 163
E. 5.3 S. 168;
BGE 127 V 38
E. 4b/cc S. 41) um eine absolute Befristung zu ergänzen: Die einzelne Beitragsforderung verjährt auch bei Bejahung einer qualifizierten Meldepflichtverletzung und andauernd unverschuldet fehlender Kenntnis der Vorsorgeeinrichtung über den Beitragstatbestand jedenfalls zehn Jahre nach ihrem (virtuellen) Entstehen. Da die Fälligkeit bis zur Kenntnisnahme aufgeschoben ist,
BGE 136 V 73 S. 81
können von vornherein nur Beitragsforderungen nachgefordert werden, die zu diesem Termin nicht älter als zehn Jahre sind. Weiter zurückliegende Beitragsforderungen sind bereits (absolut) verjährt, so dass mit Bezug auf sie keine (relative) Verjährungsfrist (
Art. 41 Abs. 2 BVG
[aArt. 41 Abs. 1 BVG]) mehr beginnen kann.
5.
Das kantonale Gericht wird zunächst festzustellen haben (
Art. 61 lit. c ATSG
), ob die Nichtdeklaration der Beschäftigung des P., den konkreten Umständen nach, einer qualifizierten Meldepflichtverletzung des Beschwerdegegners entspricht (vgl. oben E. 4.2) und ob die anrechenbare Kenntnisnahme erst mit dem Eingang eines Schreibens des Rechtsvertreters des P. vom 26. Januar 1999 begründet wurde. Eintritt und Ausmass der Verjährung hängen vom Inhalt dieser Feststellungen ab.
5.1
Sollte die Vorinstanz keine oder keine qualifizierte Meldepflichtverletzung feststellen, so wurden die eingeklagten Betreffnisse der Beschäftigungsjahre 1985 bis 1995 jeweils im betreffenden Beitragsjahr fällig, womit die fünfjährige Verjährungsfrist begann. Die erste verjährungsunterbrechende Handlung der Beschwerdeführerin konnte erst im Jahr 2002 erfolgen, so dass in dieser Variante die gesamte Forderung verjährt ist (
Art. 41 Abs. 2 BVG
[aArt. 41 Abs. 1 BVG]).
5.2
Falls die Abklärungen des kantonalen Gerichts ergeben sollten, dass eine qualifizierte Meldepflichtverletzung des Beschwerdegegners gegeben sei, sind die rückwirkenden Beitragsforderungen der Beschwerdeführerin bezüglich der Beschäftigungsjahre 1985 bis 1995 grundsätzlich nicht fällig geworden, solange die Beschwerdeführerin nicht um den Bestand der im Streit liegenden Forderung wissen konnte (oben E. 4.2).
5.2.1
Mit Empfang des Schreibens vom 26. Januar 1999 hatte die Sammelstiftung wohl erstmals Gelegenheit, von einem (möglichen) Vorsorgetatbestand Kenntnis zu nehmen. Trat die Fälligkeit im Januar 1999 ein, hat die Vorsorgeeinrichtung die Verjährung auf dem Weg der Betreibung (Erwirkung des Zahlungsbefehls vom 18. Juni 2002) vorerst rechtzeitig unterbrochen (
Art. 41 Abs. 2 BVG
[aArt. 41 Abs. 1 BVG] in Verbindung mit
Art. 135 Ziff. 2 OR
). Die Verjährung beginnt sodann mit jedem Betreibungsakt und - nach Klageerhebung - mit jeder gerichtlichen Handlung der Parteien und mit jeder Verfügung oder Entscheidung des Richters von neuem (Art. 137 Abs. 1 und
Art. 138 Abs. 1 und 2 OR
). Mit Blick auf die weiteren
BGE 136 V 73 S. 82
Unterbrechungen (Rechtsöffnungsbegehren vom 22. Januar 2003, Entscheid des Richteramts X. vom 13. August 2003 [vgl. dazu
BGE 91 II 362
E. 10 S. 371]; Klage vom 21. Januar 2008) ist die Forderung insoweit bis zum heutigen Tag nicht verjährt.
5.2.2
Die normalerweise in unmittelbarem Zusammenhang mit der Arbeitsleistung eintretende Fälligkeit der Beitragsforderung (oben E. 3.1) wird im Falle einer qualifizierten Meldepflichtverletzung bis zur (anrechenbaren) Kenntnisnahme durch die Gläubigerin aufgeschoben. Die Fälligkeit der bis dahin für die einzelnen Versicherungsjahre aufgelaufenen Forderungen bezieht sich aber nur auf Jahresprämien, die bei Eintritt der aufgeschobenen Fälligkeit nicht älter als zehn Jahre waren (oben E. 4.3). Nicht erheblich ist deshalb, ob eine - im Zeitpunkt der anrechenbaren Kenntnis noch nicht zehnjährig gewesene - Forderung dieses Alter bei der ersten verjährungsunterbrechenden Handlung (hier im Juni 2002) erreicht hat; eine solche (vom Fristenlauf gemäss
Art. 41 Abs. 2 BVG
unabhängige) Handhabung der absoluten Befristung würde der Ausnahmesituation des Rechtsmissbrauchs nicht gerecht, welche die Fälligkeit an die (zumutbare) Kenntnis des Gläubigers bindet. Unter den erwähnten sachverhaltlichen Annahmen sind noch die Jahresprämien für 1990 bis 1995 effektiv einforderbar; diejenige für das Jahr 1989 ist bereits absolut verjährt, da sie vorschüssig zu Beginn jedes Versicherungsjahres in einem Betrag fällig wird (Art. 4 Abs. 1 AVB 1988 und Art. 3 Abs. 1 AVB 1996).
5.3
Soweit originäre Beitragsforderungen verjährt sind, stellt sich die Anschlussfrage, ob die Voraussetzungen für sekundäre Ansprüche auf Schadenersatz aus Vertragsverletzung gegeben seien. Zur Annahme einer vertraglichen Schadenersatzpflicht bedarf es nicht wie beim Rechtsmissbrauch (oben E. 4.2) einer qualifizierten Meldepflichtverletzung, sondern genügt gegebenenfalls leichte Fahrlässigkeit (
Art. 97 Abs. 1 und
Art. 99 Abs. 1 OR
;
BGE 130 V 103
E. 3.3 S. 109 mit Hinweisen). Falls eine Vertragsverletzung während des gesamten Beschäftigungszeitraums (1985 bis 1995) andauerte, fallen - mit Blick auf die im Laufe des Jahres 2002 erfolgte Betreibung - unverjährte Ersatzansprüche für die (primär verjährten) Jahresprämien ab 1993 in Betracht (
Art. 127 OR
). Nach bisheriger Rechtsprechung oblag die Beurteilung von Ersatzforderungen aus Nicht- oder Schlechterfüllung eines Anschlussvertrages der Ziviljustiz (Urteil B 37/03 vom 10. März 2004 E. 2.3). Diese Kompetenzzuweisung erfolgte ursprünglich mit Blick auf den Umstand,
BGE 136 V 73 S. 83
dass der - mit dem Schadenersatzanspruch verwandte - Verantwortlichkeitsanspruch nach
Art. 52 BVG
bis zur Gesetzesrevision gemäss Bundesgesetz vom 21. Juni 1996, in Kraft seit 1. Januar 1997 (vgl.
BGE 128 V 124
E. 2 S. 126), nicht in die Zuständigkeit des BVG-Gerichts, sondern der Ziviljustiz fiel (vgl.
BGE 117 V 33
S. 42; SVR 1994 BVG Nr. 2 S. 3, B 37/92 E. 4c). Seither sind für die Beurteilung von Verantwortlichkeitsansprüchen die Berufsvorsorgegerichte zuständig. Der früher zur Begründung einer Zuständigkeit der Zivilgerichtsbarkeit verwendete Harmonisierungsgedanke spricht nun dafür, die Beurteilung von Ersatzforderungen aus einer Verletzung des Anschlussvertrages zwischen Arbeitgeber und Vorsorgeeinrichtung in die berufsvorsorgegerichtliche Zuständigkeit fallen zu lassen. Die bisherige Rechtsprechung steht überdies im Gegensatz zur Praxis, wonach im Bereich der auf
Art. 97 ff. OR
gestützten Ansprüche aus Nicht- oder Schlechterfüllung des Vorsorgevertrags die Zuständigkeit der Gerichte nach
Art. 73 BVG
bejaht wird (
BGE 130 V 103
E. 1.2 S. 105 in Verbindung mit E. 3.3 S. 109; SEILER, a.a.O., S. 398). Die veränderten rechtlichen Verhältnisse rechtfertigen eine Praxisänderung (vgl.
BGE 134 V 72
E. 3.3 S. 76). Wenn ein Schadenersatzanspruch aus Verletzung anschlussvertraglicher Pflichten in Frage steht, die spezifisch berufsvorsorgerechtlicher Natur sind, ist aufgrund dieses direkten Sachbezugs somit neu das Berufsvorsorgegericht nach
Art. 73 BVG
sachlich zuständig. Die Vorinstanz wird also gegebenenfalls auch die Frage nach einem sekundären Ersatzanspruch unter dem Gesichtspunkt einer etwaigen Meldepflichtverletzung zu beurteilen haben. | de |
de63b508-e293-4c1f-931e-ac1996f4860d | Sachverhalt
ab Seite 115
BGE 131 III 115 S. 115
Der damals fünfjährige L. verbrachte den Nachmittag des 11. November 2000 bei einem jüngeren Spielgefährten in einem benachbarten Wohnhaus. Kurz vor 16.00 Uhr wies ihn seine Mutter telefonisch an, nach Hause zu kommen. L. machte sich ohne Begleitung einer erwachsenen Person auf den knapp 200 Meter langen Heimweg von der S.-strasse 30 zur S.-strasse 3 in Einsiedeln. Sein Weg führte an einer talseitig über eine Länge von 50 Metern an die S.-strasse
BGE 131 III 115 S. 116
grenzenden Wiese vorbei, auf welcher die X. gehörenden Pferde weideten. L. begab sich auf die Wiese zu den wenige Meter von der Strasse entfernten Tieren, wo ihn ein ausschlagendes Pferd am Kopf traf und schwer verletzte. Durch ein Hirntrauma mit Trümmerfraktur erlitt er teilweise irreversible Schäden.
Im Unfallzeitpunkt war die Weide eingegrenzt durch einen Elektrozaun, bestehend aus einem dünnen, elektrisch geladenen Plastikband, das im fraglichen Bereich durchschnittlich 124 cm über dem Boden befestigt war. Der 110 cm grosse L. konnte von der Strasse her aufrecht unter dem Zaun hindurchgehen.
Am 25. Februar 2002 klagten die Eltern von L. als gesetzliche Vertreter in dessen Namen vor dem Bezirksgericht Einsiedeln gegen X. als Tierhalter auf Zahlung von Fr. 148'492.- nebst 5 % Zins seit dem 1. Juni 2001, wobei sie sich das Nachklagerecht vorbehielten. Der Beklagte bestritt seine Haftung und verkündete den Eltern des Klägers im Hinblick auf allfällige spätere Regressansprüche den Streit. Mit Vorurteil vom 17. März 2003 erklärte das Bezirksgericht den Beklagten nach
Art. 56 OR für haftbar und grundsätzlich ersatzpflichtig für den durch den Unfall vom 11. November 2000 entstandenen Schaden. Auf Berufung des Beklagten bestätigte das Kantonsgericht Schwyz das erstinstanzliche Urteil am 1. Juni 2004 im Sinne der Erwägungen.
Der Beklagte hat das Urteil des Kantonsgerichts vom 1. Juni 2004 mit eidgenössischer Berufung angefochten. Das Bundesgericht weist die Berufung ab.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
2.1
Nach
Art. 56 Abs. 1 OR
haftet für den von einem Tier angerichteten Schaden, wer dasselbe hält. Der Halter wird jedoch von der Haftung befreit, wenn er nachweist, dass er alle nach den Umständen gebotene Sorgfalt in der Verwahrung und Beaufsichtigung des Tieres angewendet hat oder der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt eingetreten wäre. Die Haftung setzt die Verletzung einer objektiven Sorgfaltspflicht voraus (WERRO, Commentaire Romand, N. 1 zu
Art. 56 OR
; OFTINGER/STARK, Schweizerisches Haftpflichtrecht, Allgemeiner Teil, Bd. II/1, 4. Aufl., § 17, Rz. 6 ff.; WIDMER in: Münch/Geiser (Hrsg.), Schaden - Haftung - Versicherung, Rz. 2.16 f.). Ob es sich bei der Tierhalterhaftung um eine gewöhnliche Kausalhaftung mit Befreiungsmöglichkeit oder um eine
BGE 131 III 115 S. 117
Verschuldenshaftung mit umgekehrter Beweislast handelt, hat lediglich dogmatische, aber kaum praktische Bedeutung (vgl. zum Meinungsstreit REY, Ausservertragliches Haftpflichtrecht, 3. Aufl., Rz. 979 mit Hinweisen), denn so oder anders sind an den Entlastungsbeweis strenge Anforderungen zu stellen. Der Tierhalter kann sich nicht darauf berufen, das allgemein Übliche an Sorgfalt aufgewendet zu haben. Vielmehr hat er nachzuweisen, dass er sämtliche objektiv notwendigen und durch die Umstände gebotenen Massnahmen getroffen hat. Bleiben über die entlastenden Tatsachen Zweifel bestehen, muss die Haftung des Halters bejaht werden (
BGE 126 III 14
E. 1b;
BGE 110 II 136
E. 2a S. 139;
BGE 102 II 232
E. 1 S. 235;
BGE 85 II 243
E. 1 S. 245, mit Hinweisen; BREHM, Berner Kommentar, 2. Aufl., N. 51 ff. zu
Art. 56 OR
; SCHNYDER, Basler Kommentar, 3. Aufl., N. 15 zu
Art. 56 OR
; OFTINGER/STARK, a.a.O., § 21 Rz. 86; WERRO, a.a.O., N. 17 zu
Art. 56 OR
). Die konkreten Sorgfaltspflichten richten sich in erster Linie nach geltenden Sicherheits- und Unfallverhütungsvorschriften. Fehlen gesetzliche oder reglementarische Vorschriften und haben auch private Verbände keine allgemein anerkannten Vorschriften erlassen, ist zu prüfen, welche Sorgfalt nach der Gesamtheit der konkreten Umstände geboten ist (
BGE 126 III 14
E. 1b mit Hinweisen).
2.2
Nach dem angefochtenen Urteil hat der Beklagte im kantonalen Verfahren weder seine Haltereigenschaft noch die Verursachung des Schadens durch eines seiner Tiere bestritten. Die Vorinstanz stellte zudem fest, die Beratungsstelle für Unfallverhütung in der Landwirtschaft (BUL) habe Empfehlungen für die Haltung von Pferden herausgegeben. Diese sähen für Pferdeweiden Umzäunungen mit einer Mindesthöhe von 150 cm sowie mit mehreren gut sichtbaren Bändern oder Holzlatten vor, die in einem vertikalen Abstand von je ca. 40 cm zu befestigen sind. Diesen Anforderungen habe die vom Beklagten angebrachte Einzäunung mit lediglich einem einzigen dünnen, elektrisch geladenen Plastikband auf einer Höhe von durchschnittlich 124 cm nicht entsprochen.
2.3
Die Beratungsstelle für Unfallverhütung in der Landwirtschaft (BUL) wurde 1984 als selbständige Stiftung konzipiert. Basierend auf
Art. 51 der Verordnung vom 19. Dezember 1983 über die Verhütung von Unfällen und Berufskrankheiten (Verordnung über die Unfallverhütung [VUV; SR 832.30])
hat sie als Fachorganisation gemäss Vertrag mit der SUVA die Aufgabe übernommen, die Arbeitssicherheit auf landwirtschaftlichen Betrieben zu fördern.
BGE 131 III 115 S. 118
Diese Beratungsstelle ist für den Erlass einschlägiger Empfehlungen ohne Zweifel kompetent. Die erwähnte Empfehlung zeigt auf, wie ein Pferdeweiden eingrenzender Zaun beschaffen sein muss, damit die von weidenden Pferden ausgehende Gefährdung möglichst gering gehalten wird. Sie konkretisiert damit das Mass der Sorgfalt, dem ein Pferdehalter im Sinne von
Art. 56 OR
diesbezüglich zu genügen hat. Der vom Beklagten tatsächlich verwendete Elektrozaun wird diesen Anforderungen bereits von seiner äusserlichen Beschaffenheit her nicht gerecht. Davon abgesehen bot er aber unter den gegebenen Umständen auch nicht die gleiche Sicherheit, wie sie mit der von der Beratungsstelle empfohlenen Einzäunung bestanden hätte. Namentlich im Hinblick auf die Lage der Pferdeweide in unmittelbarer Nähe zu einer Strasse in einem Wohngebiet ist offensichtlich, dass der Elektrozaun des Beklagten im Vergleich zur von der Beratungsstelle empfohlenen Einzäunung mit einem höheren Risiko verbunden ist. Dass im Übrigen mit der empfohlenen Sicherung nicht zugewartet werden darf, bis ein Pferd Schaden stiftet, wie der Beklagte anzunehmen scheint, bedarf keiner weiteren Erörterung. Ebenso wenig vermöchte der gutmütige Charakter der weidenden Tiere, wie er vom Beklagten behauptet wird, einen geringeren Sicherheitsstandard bezüglich der Umzäunung zu rechtfertigen, da nichts darauf hinweist, dass sich die Empfehlungen der Beratungsstelle nur an die Halter von Pferden mit bösartigem Charakter richten. Der Beklagte zieht die Relevanz dieser Empfehlungen im Grundsatz denn auch nicht in Zweifel. Mit der insoweit unangefochtenen Feststellung der Vorinstanz darüber, dass der Beklagte die Empfehlungen missachtet hat, ist daher die Verletzung der Sorgfaltspflicht gemäss
Art. 56 Abs. 1 OR
erstellt.
Der Beklagte hatte bereits im kantonalen Verfahren eingewendet, dass die Empfehlungen der Beratungsstelle ausschliesslich den Zweck hätten, das Ausbrechen der Pferde zu verhindern, dagegen nicht dazu bestimmt seien, Kinder vom Betreten der Pferdeweide abzuhalten. Diesen Einwand hat die Vorinstanz zu Recht verworfen. Zwar ist einzuräumen, dass der Hauptzweck der Umzäunung darin liegt, die Pferde am Verlassen der Weide zu hindern. Zugleich soll die Umzäunung einer Pferdeweide aber gegen Aussen signalisieren, dass es sich um ein diesen Tieren vorbehaltenes Gebiet handelt, dessen Betreten für den Menschen gefährlich sein kann. Dieser Doppelfunktion muss die Umzäunung einer Pferdeweide in besonderem Masse gerecht werden, wenn sie - wie im
BGE 131 III 115 S. 119
vorliegenden Fall - in der unmittelbaren Nähe eines Wohngebietes liegt, wo mit der Anwesenheit von Kindern zu rechnen ist.
3.
3.1
Misslingt der Sorgfaltsbeweis, kann sich der Tierhalter gemäss
Art. 56 Abs. 1 OR
von der Haftung befreien, indem er nachweist, dass der Schaden auch bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt eingetreten wäre (vgl. zum analogen Befreiungsbeweis des Geschäftsherrn
BGE 97 II 221
E. 1). Damit spricht das Gesetz etwas Selbstverständliches aus, nämlich dass die Sorgfaltsverletzung kausal für den Schaden gewesen sein muss (WERRO, a.a.O., N. 16 zu
Art. 56 OR
mit Hinweisen; HONSELL, Schweizerisches Haftpflichtrecht, 3. Aufl., Zürich 2000, § 13 Rz. 8). Es kodifiziert den allgemein geltenden Grundsatz, dass keine Haftung greift, wenn der präsumtiv Haftpflichtige beweist, dass ein rechtmässiges Alternativverhalten denselben Schaden bewirkt hätte wie das tatsächlich erfolgte rechtswidrige Verhalten (BREHM, a.a.O., N. 85 zu
Art. 56 OR
; BERNARD STUDHALTER, Die Berufung des präsumtiven Haftpflichtigen auf hypothetische Kausalverläufe: hypothetische Kausalität und rechtmässiges Alternativverhalten, Diss. Zürich 1995, S. 273; KRAMER, Die Kausalität im Haftpflichtrecht: Neuere Tendenzen in Theorie und Praxis, ZBJV 123/1987 S. 300; Urteil des Bundesgerichts 4C.322/1998 vom 11. Mai 1999, E. 2). Dogmatisch wird auch vom Nachweis der fehlenden Kausalität der Unterlassung oder des fehlenden Rechtswidrigkeitszusammenhangs gesprochen (
BGE 122 III 229
E. 5a/aa; Urteil des Bundesgerichts 4C.276/1993 vom 1. Dezember 1998, E. 4a, publ. in: Pra 89/2000 Nr. 28 S. 163 ff.).
3.2
Die Vorinstanz erwog, aufgrund der gegebenen Situation sei die Annahme "nicht abwegig", dass eine Umzäunung mit mehreren breiten Bändern oder Latten entsprechend der Empfehlung der BUL den Unfall verhindert hätte, denn eine solche Umzäunung wäre vom fünfjährigen Kläger sehr viel deutlicher als Absperrung wahrgenommen worden sowie als Hindernis, das nur durch Unterschreiten oder Überklettern hätte überwunden werden können. Die geringen finanziellen Aufwand erfordernde Umzäunung nach den Vorgaben der BUL hätte das Unfallrisiko zumindest herabgesetzt. Aus diesen Gründen hielt die Vorinstanz den Entlastungsbeweis des rechtmässigen Alternativverhaltens für gescheitert.
3.3
Der Beklagte bringt mit der Berufung vor, Neugierde und der Berührungsdrang gegenüber weidenden Pferden sei bei Kindern
BGE 131 III 115 S. 120
viel grösser als die Abschreckung durch Plastikbänder. Diesem Drang hätte der Kläger auch nachgegeben, wenn ein zweites Band angebracht gewesen wäre. Damit habe er den Beweis, "mindestens jedoch die Glaubhaftmachung" dafür erbracht, dass sich der Unfall auch bei anderer Umzäunung ereignet hätte.
Diese Ausführungen laufen darauf hinaus, dass der Beklagte dem Bundesgericht seine eigene Sicht der Dinge darlegt, ohne dass er aufzeigt oder dass ersichtlich wäre, weshalb die Beurteilung der Vorinstanz gegen Bundesrecht verstossen soll. Insbesondere im Hinblick darauf, dass auch der Entlastungsbeweis betreffend rechtmässiges Alternativverhalten strikt zu erbringen ist, muss dieser Beweis als gescheitert betrachtet werden, wenn sich im konkreten Fall ergibt, dass der Schaden auch bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt
möglicherweise
eingetreten wäre. Die damit verbleibende Möglichkeit, dass der Schadenseintritt dennoch vermieden worden wäre, schliesst die Haftungsbefreiung aus (
BGE 110 II 136
E. 2a mit Hinweisen; E. 2.1 hiervor). Dass mehrere deutliche Markierungen, die optisch eine klare Abschrankung anzeigen, ihre Signalwirkung auf ein fünfjähriges Kind nicht verfehlt hätten, ist mindestens ebenso wahrscheinlich wie die Hypothese, dass sich das Kind unter allen Umständen über oder unter den Bändern hindurch auf die Wiese begeben hätte. Die Beurteilung durch das Kantonsgericht, das zum gleichen Schluss gekommen ist, verstösst mithin nicht gegen Bundesrecht.
3.4
Auch die übrigen in der Berufung erhobenen Einwände helfen dem Beklagten nicht weiter, soweit es sich dabei nicht ohnehin um unzulässige neue Tatsachenbehauptungen oder um allgemein gehaltene Rechtserörterungen ohne konkreten Bezug zu den Erwägungen der Vorinstanz handelt, welche die Begründungsanforderungen von
Art. 55 Abs. 1 lit. c OG
nicht erfüllen (vgl. dazu
BGE 116 II 745
E. 3). So hat die Vorinstanz entgegen der Annahme des Beklagten keine generelle Pflicht statuiert, sämtliche Tierhaltungen so auszugestalten, dass kein Unbefugter in die Nähe der Tiere gelangen kann. Auf die diesbezüglichen Vorbringen des Beklagten ist deshalb nicht weiter einzugehen. Soweit er geltend macht, wenn man den Schlussfolgerungen der Vorinstanz folgte, würde die Tierhalterhaftung zur reinen Gefährdungshaftung mutieren, übergeht er offensichtlich, dass das Kantonsgericht seine Haftung gerade nicht mit der blossen Haltung der Pferde, sondern mit der Unterlassung der gebotenen Einzäunung begründete. Sein Hinweis auf die Kritik
BGE 131 III 115 S. 121
am Vorentwurf zur Revision des Haftpflichtrechts, soweit darin die Entlastungsbeweise abgeschafft werden sollen (vgl. NICOLE PAYLLIER, Der Tierhalter und dessen besondere Befreiungsmöglichkeiten [
Art. 56 Abs. 1 OR
], Diss. Zürich 2003, S. 139 ff.; a.M. ALFRED KELLER, Haftpflicht im Privatrecht, Bd. I, 6. Aufl., S. 189), fällt mithin ins Leere. Die Berufung erweist sich auch in diesem Punkt als unbegründet. | de |
4afba1db-5316-4370-a391-f4350cf42010 | Sachverhalt
ab Seite 97
BGE 130 I 96 S. 97
Anfangs 2000 stellte die Kantonale Steuerverwaltung Graubünden der Schweizerischen Bundesbahnen AG (im Folgenden: SBB AG) die Steuererklärung für die Steuerperiode 1999 zu und forderte sie auf, den Gewinn und das Kapital zu deklarieren. Sie verlangte ebenfalls die Nennung der Liegenschaften, die keine notwendige Beziehung zum Betrieb des Unternehmens haben. Die SBB AG bestritt ihre Steuerpflicht. Nach einem längeren Schriftenwechsel erliess die kantonale Steuerverwaltung am 25. November 2002 eine Feststellungsverfügung, wonach die SBB AG "im Kanton Graubünden für die nicht betriebsnotwendigen Liegenschaften der Gewinn- und der Kapitalsteuer, der Zuschlagssteuer gemäss FAG [Graubündner Gesetz vom 26. September 1993 über den interkommunalen Finanzausgleich] sowie der Kultussteuer unterliegt". Den hiegegen von der SBB AG erhobenen Sprungrekurs wies das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden mit Urteil vom 18. März 2003 ab.
Die SBB AG hat mit Postaufgabe vom 30. April 2003 beim Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerde eingereicht mit dem Antrag, das Urteil des Verwaltungsgerichts aufzuheben.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es auf sie eintritt. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
2.1
Gemäss
Art. 21 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 20. März 1998 über die Schweizerischen Bundesbahnen (SBBG; SR 742.31)
ist die Beschwerdeführerin "im Rahmen ihrer Aufgaben als
BGE 130 I 96 S. 98
Anbieterin der Eisenbahninfrastruktur und als Transportunternehmung von jeder Besteuerung durch die Kantone und Gemeinden befreit. Die Steuerbefreiung erstreckt sich auch auf Hilfs- und Nebenbetriebe wie Kraftwerke, Werkstätten und Lagerhäuser, jedoch nicht auf Liegenschaften, die keine notwendige Beziehung zum Betrieb des Unternehmens haben."
Vor dem Inkrafttreten des neuen SBBG am 1. Januar 1999 galt das Bundesgesetz vom 23. Juni 1944 über die Schweizerischen Bundesbahnen (aSBBG; BS 7 S. 195). In
Art. 6 Abs. 1 aSBBG
enthielt es ebenfalls eine Regelung zur Steuerbefreiung mit folgendem Wortlaut:
Die Bundesbahnen sind mit Einschluss der zu ihrer Aufgabe als Transportunternehmungen gehörenden Hilfs- und Nebenbetriebe, wie Kraftwerke, Werkstätten, Lagerhäuser und dergleichen, von jeder Besteuerung durch die Kantone und Gemeinden befreit. Die Befreiung erstreckt sich nicht auf Liegenschaften, die keine notwendige Beziehung zum Betrieb des Unternehmens haben."
2.2
Das Verwaltungsgericht hat festgehalten,
Art. 6 Abs. 1 aSBBG
sei vom Bundesgericht dahin ausgelegt worden, dass die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) von allen Steuern, einschliesslich der Grundstückgewinnsteuer, befreit waren und sich die Ausnahme von der Steuerbefreiung einzig auf besondere Objektsteuern bezog, namentlich auf Grund- oder Liegenschaftssteuern. Diese vom Gesetzeswortlaut abweichende Auslegung rechtfertige sich nicht mehr, seitdem die SBB als Aktiengesellschaft nicht mehr eine Anstalt und damit auch nicht mehr als Teil des Bundes zu betrachten seien. Es könne nicht länger gesagt werden, der Bund würde durch eine Besteuerung der Beschwerdeführerin seitens der Kantone (mittelbar) selber der Besteuerung durch diese Hoheitsträger unterworfen.
2.3
Die Beschwerdeführerin rügt die Verletzung des Grundsatzes der derogatorischen Kraft des Bundesrechts (
Art. 49 Abs. 1 BV
). Die kantonalen Instanzen hätten
Art. 21 Abs. 1 SBBG
wie
Art. 6 Abs. 1 aSBBG
auslegen müssen mit der Folge, dass sie die geforderten Steuern nicht schulde.
Wird mit staatsrechtlicher Beschwerde eine Verletzung von
Art. 49 Abs. 1 BV
gerügt, prüft das Bundesgericht frei, ob die beanstandete kantonale Verfügung mit dem Bundesrecht vereinbar ist (
BGE 126 I 76
E. 1 S. 78;
BGE 123 I 313
E. 2b S. 317).
BGE 130 I 96 S. 99
3.
3.1
Das Bundesgericht hat
Art. 6 Abs. 1 aSBBG
in Anlehnung an Art. 10 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 26. März 1934 über die politischen und polizeilichen Garantien zugunsten der Eidgenossenschaft (Garantiegesetz, GarG; SR 170.21, BS 1 S. 152, zuletzt in der Fassung gemäss AS 1977 S. 2249) ausgelegt und angewendet. Gemäss dieser Bestimmung, die seit 1. Dezember 2003 wortgleich in Art. 62d des Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetzes vom 21. März 1997 (RVOG; SR 172.010) weitergeführt wird (Anhang I Ziff. 1 und Anhang II Ziff. 3 zum Bundesgesetz über die Bundesversammlung [Parlamentsgesetz], vom 13. Dezember 2002 [AS 2003 S. 3543, 3593 ff.]; vgl. auch BBl 2001 S. 3615), sind die Eidgenossenschaft sowie ihre Anstalten, Betriebe und unselbständigen Stiftungen "von jeder Besteuerung durch die Kantone und Gemeinden befreit; ausgenommen sind Liegenschaften, die nicht unmittelbar öffentlichen Zwecken dienen." Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts zu
Art. 10 Abs. 1 GarG
und zum gleich verstandenen
Art. 6 aSBBG
ist der Bund unter Einschluss der Schweizerischen Bundesbahnen generell von den allgemeinen Einkommens-, Vermögens-, Ertrags- und Gewinnsteuern befreit, auch wenn es sich um Einkünfte aus Liegenschaftsbesitz handelt, und zwar unabhängig davon, ob die Liegenschaften öffentlichen Zwecken dienen (
BGE 103 Ib 257
E. 3 S. 259 f.). Als unzulässig gelten ebenso Grundstückgewinnsteuern und Handänderungsabgaben, weil damit nicht die Liegenschaft selber oder ein Recht daran besteuert wird, sondern der bei der Veräusserung erzielte Gewinn bzw. ein Verkehrsvorgang. Zulässig sind, sofern die Grundstücke nicht öffentlichen Zwecken dienen, besondere Objektsteuern, namentlich Grund- oder Liegenschaftssteuern (
BGE 111 Ib 6
E. 4c S. 9; Urteil 2P.283/1999 vom 13. Juni 2000, StR 55/2000 S. 561, E. 4b; Urteil A.540/1985 vom 10. Oktober 1986, die neue Steuerpraxis [NStP] 41/1987 S. 59, E. 3b; kritisch: MARCO GRETER, in: Martin Zweifel/Peter Athanas [Hrsg.], Kommentar zum Schweizerischen Steuerrecht, Bd. I/1, 2. Aufl., 2002, N. 5 zu
Art. 23 StHG
).
3.2
Der Wortlaut von
Art. 10 Abs. 1 GarG
und
Art. 6 Abs. 1 aSBBG
- aber auch von
Art. 21 Abs. 1 SBBG
- kann den Eindruck erwecken, auf Liegenschaften des Bundes bzw. der Beschwerdeführerin, die nicht unmittelbar öffentlichen Zwecken dienen, dürften jedwelche Steuern erhoben werden, also auch E
BGE 130 I 96 S. 100
inkommens- und Vermögenssteuern (vgl.
BGE 111 Ib 6
E. 4b S. 8; erwähntes Urteil in NStP 41/1987 S. 59, E. 3b). Das Bundesgericht hat die Steuerbefreiungsvorschrift jedoch, wie in Erwägung 3.1 ausgeführt, extensiv ausgelegt, weil die gegenseitige Besteuerung der verschiedenen Hoheitsträger ein wenig taugliches Mittel zur Deckung des öffentlichen Finanzbedarfs ist (
BGE 121 II 138
E. 2b S. 141;
BGE 111 Ib 6
E. 4b S. 8 f.). Laut Verwaltungsgericht wird diese Überlegung den bei der Beschwerdeführerin geänderten rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen allerdings nicht mehr gerecht. Hiegegen wendet die Beschwerdeführerin ein, der Gesetzgeber habe mit
Art. 21 Abs. 1 SBBG
die bisherige Steuerbefreiung bezüglich der Besteuerung durch Kantone und Gemeinden weiterführen wollen. Dies ergebe sich auch daraus, dass der Wortlaut von
Art. 21 Abs.1 SBBG
mit redaktionellen Anpassungen den Bestimmungen von
Art. 6 Abs. 1 aSBBG
und
Art. 10 Abs. 1 GarG
entspreche (in diesem Sinne auch AMÉDÉO WERMELINGER / SERGE STALDER, Der juristische Lebenslauf von SBB-Liegenschaften, in: Franz Werro/Bénédict Foëx [Hrsg.], La transmission du patrimoine, 1998, S. 193).
3.3
Zum Entwurf des
Art. 21 Abs. 1 SBBG
, der mit dem endgültigen Gesetzestext wörtlich übereinstimmt, hat der Bundesrat in seiner Botschaft zur Bahnreform vom 13. November 1996 bemerkt, die Steuerbefreiung entspreche dem geltenden Recht, soweit es um die Besteuerung durch Kantone und Gemeinden gehe. Sie sei weiterhin gerechtfertigt, da die SBB als Universalbahn unter den gegebenen Marktverhältnissen kaum eine Chance auf Erzielung eines Gewinnes hätten. Würde den SBB keine steuerliche Privilegierung eingeräumt, würden sie mit ihrem Gesamtgewinn und -vermögen den ordentlichen Ertrags- und Kapitalsteuern der einzelnen Kantone unterliegen. Dabei sei davon auszugehen, dass sie als gesamtschweizerische Unternehmung in allen Kantonen steuerliche Anknüpfungspunkte in unterschiedlichem Umfang hätten. Während die Ertragssteuerbelastung von der Höhe des steuerbaren Gewinns und der Steuerprogression abhänge, werde die Kapitalsteuer unabhängig vom wirtschaftlichen Erfolg der Unternehmung auf dem Aktienkapital und in der Regel auch auf den offenen Reserven erhoben. Die mit einer Steuerpflicht verbundene kostenmässige Zusatzbelastung wäre nicht unerheblich, abgesehen von dem damit verbundenen nicht zu unterschätzenden administrativen Mehraufwand (BBl 1997 I 909, insbes. S. 962).
BGE 130 I 96 S. 101
Für die Ansicht der Beschwerdeführerin spricht beim ersten Hinsehen die Erklärung in der Botschaft, die Steuerbefreiung solle dem geltenden Recht entsprechen. Die Botschaft äussert sich jedoch mit keinem Wort zur extensiven, über den Gesetzeswortlaut hinausgehenden Auslegung der Steuerbefreiung in
Art. 10 Abs. 1 GarG
und
Art. 6 Abs. 1 aSBBG
durch das Bundesgericht. Wäre sich der Gesetzgeber dieser Rechtsprechung bewusst gewesen und hätte er diese unverändert übernehmen wollen, hätte es nahe gelegen, den Wortlaut im Rahmen der Neuformulierung des Gesetzes redaktionell im Sinne einer Klarstellung anzupassen. Zumindest wäre eine ausdrückliche Bezugnahme auf die einschlägige Rechtsprechung in der Botschaft zu erwarten gewesen. Da weder das eine noch das andere geschehen ist, bleibt mit dem Verweis auf das "geltende Recht" letztlich offen, ob die für die Beschwerdeführerin ungünstigere strengere Interpretation des Gesetzeswortlauts oder die für sie grosszügigere Rechtsprechungspraxis gemeint ist. Die mit einer Besteuerung durch Kantone und Gemeinden zusammenhängenden Probleme, welche in der Botschaft aufgeführt sind, betreffen im Übrigen eher die Besteuerung des Gesamtbetriebs als die der Liegenschaften, die keine notwendige Beziehung zum Betrieb des Unternehmens haben. Somit kann aus den erwähnten Ausführungen in der Botschaft keine eindeutige Aussage zur Behandlung von Liegenschaften, die nicht öffentlichen Zwecken dienen, abgeleitet werden.
3.4
In der Botschaft zur Bahnreform wird bei den Bemerkungen zu
Art. 21 SBBG
im Weiteren ausgeführt, die SBB seien bisher als Anstalt von der direkten Bundessteuer befreit gewesen. Durch die Umwandlung in eine spezialgesetzliche Aktiengesellschaft sei diese Steuerbefreiung nicht mehr gerechtfertigt. Die SBB und die konzessionierten Transportunternehmungen sollten in Zukunft bei der direkten Bundessteuer gleich behandelt werden. Die SBB erhielten aber auch als Kapitalgesellschaft jene Steuervorteile, die den konzessionierten Transportunternehmungen ebenfalls zustünden und die für die direkte Bundessteuer in
Art. 56 lit. d des Bundesgesetzes vom 14. Dezember 1990 über die direkte Bundessteuer (DBG; SR 642.11)
verankert seien. Demnach würden verkehrspolitisch bedeutsame konzessionierte Verkehrsunternehmen, die im Steuerjahr keinen Reingewinn erzielt haben, von der Gewinn- und Kapitalsteuer befreit. Diese Steuerbefreiung greife auch dann, wenn im Steuerjahr und in den zwei vorangegangenen Jahren keine
BGE 130 I 96 S. 102
Dividenden oder ähnliche Gewinnanteile ausgerichtet worden seien (BBl 1997 I 963).
Demzufolge hat der Bundesgesetzgeber die Umwandlung der SBB in eine Aktiengesellschaft als Grund angesehen, die Beschwerdeführerin nicht mehr wie bisher vollumfänglich von der direkten Bundessteuer zu befreien. Damit wird aber auch dem für die extensive Auslegung der Steuerbefreiungsnormen wegleitenden Gedanken, dass die gegenseitige Besteuerung der verschiedenen Hoheitsträger ein wenig taugliches Mittel zur Deckung des öffentlichen Finanzbedarfs sei (s. oben E. 3.2), in Bezug auf die Beschwerdeführerin die Basis entzogen. Unbehelflich ist deren Einwand, es handle sich bei der direkten Bundessteuer um eine andere Steuer. Entscheidend ist, dass der Bundesgesetzgeber in Abkehr von der erwähnten Überlegung eine neue Besteuerung vorgesehen und gerade die geänderte Rechtsform als Grund für die neue Besteuerung genannt hat. Nach dem Gesagten trifft daher das Vorbringen der Beschwerdeführerin, aus den Materialien ergebe sich, dass sich am Status der Beschwerdeführerin trotz der Rechtsformumwandlung nichts geändert habe, nicht zu.
Im Übrigen ging der Bundesrat in seiner Botschaft sehr wohl davon aus, dass die Rechtsform der spezialgesetzlichen Aktiengesellschaft Änderungen mit sich bringen würde. Der Bundesrat sah darin gegenüber der bisherigen Rechtsform der öffentlichrechtlichen Anstalt "einige nicht zu unterschätzende Vorteile". Unter anderem werde die Möglichkeit geboten, mittel- oder langfristig neben dem Bund auch Kantone, Gemeinden und allenfalls Private an der Beschwerdeführerin zu beteiligen. Ausserdem könnten mit dem aktienrechtlichen Instrumentarium die unternehmerische Verantwortung sowie die Autonomie der Unternehmung gestärkt werden. Sodann sollte eine Angleichung an die Organisationsform der konzessionierten Transportunternehmungen und der ausländischen Bahnen erfolgen und damit die Gleichbehandlung aller Unternehmungen im öffentlichen Verkehr gefördert werden. Der Bundesrat bezeichnete denn auch die Gleichbehandlung der Beschwerdeführerin und der konzessionierten Transportunternehmungen als einen der wichtigsten Gründe für die Wahl der spezialgesetzlichen Aktiengesellschaft (BBl 1997 I 944). Dadurch kam der Gesetzgeber ebenfalls den Zielen des seither zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft am 21. Juni 1999 abgeschlossenen Abkommens über den Güter- und
BGE 130 I 96 S. 103
Personenverkehr auf Schiene und Strasse (SR 0.740.72) und der in dessen Art. 56 in Verbindung mit Anhang 1 Abschnitt 4 erwähnten Richtlinie des Rates der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 29. Juli 1991 zur Entwicklung der Eisenbahnunternehmen in der Gemeinschaft (Richtlinie 1991/440/EWG, Amtsblatt der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft [ABl.] Nr. L 237 vom 24. August 1991, S. 25) entgegen (vgl. AB 1997 S 861; BBl 1997 I 911): Zwecks eines effizienten Verkehrssystems soll unter anderem ein lauterer Wettbewerb zwischen den Verkehrsträgern gewährleistet und den über den Regionalverkehr hinaus tätigen Eisenbahnunternehmen ein Unabhängigkeitsstatus eingeräumt werden (vgl. Art. 30 f. des Abkommens sowie Art. 1 und 4 der Richtlinie). Insoweit ist in der Doktrin Kritik an der Steuerbefreiung der Beschwerdeführerin erhoben worden, weil sie weiter reiche bzw. nicht gleich geregelt sei wie für andere konzessionierte Verkehrsunternehmen, für die
Art. 23 Abs. 2 und 4 des Bundesgesetzes vom 14. Dezember 1990 über die Harmonisierung der direkten Steuern der Kantone und Gemeinden (StHG; SR 642.14)
gelten (RETO KUSTER, Steuerbefreiung von Institutionen mit öffentlichen Zwecken, Diss. Zürich 1997, S. 148 f.; vgl. allgemein auch MARCO GRETER, in: Martin Zweifel/Peter Athanas [Hrsg.], Kommentar zum Schweizerischen Steuerrecht, Bd. I/2a, 2000, N. 33 und 38 zu
Art. 56 DBG
; GAUDENZ SCHWITTER, Die Privatisierung von Kantonalbanken, Diss. Freiburg 2000, S. 166; MARKUS REICH, Gemeinnützigkeit als Steuerbefreiungsgrund, ASA 58 S. 488 ff.). Gewiss sind gemäss
Art. 191 BV
Bundesgesetze für das Bundesgericht massgebend; dies hindert das Bundesgericht jedoch nicht, die gesetzlichen Bestimmungen in verfassungs- und staatsvertragskonformer Weise auszulegen.
3.5
Soweit in der Bundesversammlung überhaupt zu
Art. 21 SBBG
debattiert wurde, ist vor allem festgehalten worden, dass die Beschwerdeführerin als neue spezialgesetzliche Aktiengesellschaft nicht von der Steuer befreit sein solle, wenn sie Energie aus einem Kraftwerk, an dem sie beteiligt ist, nicht für den Eigenbedarf nutzt, sondern an Dritte veräussert (AB 1997 S 891). Auch damit wurde einer Beschränkung der Steuerbefreiung das Wort geredet.
3.6
Schliesslich weicht der Wortlaut des
Art. 21 Abs. 1 SBBG
von demjenigen des
Art. 6 Abs. 1 aSBBG
und
Art. 10 Abs. 1 GarG
doch in dem wesentlichen Punkt ab, dass die Beschwerdeführerin jetzt nicht mehr als generell von jeder Besteuerung befreit bezeichnet wird, sondern lediglich "im Rahmen ihrer Aufgabe als
BGE 130 I 96 S. 104
Anbieterin der Eisenbahninfrastruktur und als Transportunternehmung" (ebenso MARCO GRETER, in: Martin Zweifel/Peter Athanas [Hrsg.], Kommentar zum Schweizerischen Steuerrecht, Bd. I/1, 2. Aufl., 2002, N. 6 zu
Art. 23 StHG
). Hierzu passen die erwähnten Äusserungen in der Bundesversammlung (vgl. E. 3.5).
Art. 21 Abs. 1 SBBG
geht der Regelung in
Art. 10 Abs. 1 GarG
(bzw. heute in
Art. 62d RVOG
) als Sondervorschrift vor.
3.7
Aus alledem ist zu folgern, dass die Beschwerdeführerin nur soweit gemäss
Art. 21 Abs. 1 SBBG
von den kantonalen Steuern befreit sein soll, wie sie Dienstleistungen im Zusammenhang mit dem öffentlichen Verkehr erbringt. Tätigt sie hingegen Geschäfte ausserhalb dieses Zweckes (vgl.
Art. 3 Abs. 1 SBBG
), soll die Steuerbefreiung grundsätzlich nicht mehr gelten. Dafür spricht auch, dass der Staat aus wirtschaftsverfassungsrechtlichen Gründen zur Wettbewerbsneutralität verpflichtet ist (vgl.
Art. 94 Abs. 4 BV
; erwähntes Urteil in StR 55/2000 S. 561, E. 5b/cc, mit Hinweisen). Auf Liegenschaften bezogen ist
Art. 21 Abs. 1 SBBG
daher - im Unterschied zur Praxis zu
Art. 6 Abs. 1 aSBBG
- so zu verstehen, dass für Liegenschaften, die keine notwendige Beziehung zum Eisenbahn- und Transportbetrieb haben, eine Besteuerung durch Kantone und Gemeinden zulässig ist (vgl. auch PETER LOCHER, Zur Auslegung der Steuerbefreiungsnorm von GarG 10, in: Peter Ruf/ Roland Pfäffli [Hrsg.], Festschrift 100 Jahre Verband bernischer Notare, 2003, S. 559, insbes. S. 586 f., mit Hinweis auf ein die Beschwerdeführerin betreffendes Urteil der Steuerrekurskommission III des Kantons Zürich vom 30. Mai 2000, publ. in: StR 55/2000 S. 822). Dies gilt unter anderem für Gewinn- und Kapitalsteuern.
Ergänzend sei bemerkt, dass auch die Post als selbständige Anstalt des öffentlichen Rechts für ihre Gewinne aus den Bereichen, in denen sie in Konkurrenz mit privaten Anbietern Leistungen erbringt (sog. Wettbewerbsdienste), besteuert werden kann (Art. 13 des Bundesgesetzes vom 30. April 1997 über die Organisation der Postunternehmung des Bundes [Postorganisationsgesetz, POG; SR 783.1]). Dass
Art. 21 Abs. 1 SBBG
nicht gleich lautend abgefasst wurde wie
Art. 13 POG
, spricht nicht gegen die vorstehende Auslegung. Auch mit
Art. 10 Abs. 1 GarG
bzw.
Art. 6 Abs. 1 aSBBG
besteht keine wörtliche Übereinstimmung. Unbeachtlich ist sodann, dass die Beschwerdeführerin die aus Liegenschaften erzielten Gewinne entsprechend den (bisher) vom Bundesrat erarbeiteten Leistungsvereinbarungen (vgl.
Art. 8 SBBG
) für ihre
BGE 130 I 96 S. 105
Kernaufgabe im öffentlichen Verkehr einsetzt. Auch die teilweise der Besteuerung unterliegende Post hat ihren Gewinn dem Bund abzuliefern (
Art. 12 Abs. 2 POG
). Dass sich sämtliche Aktien der Beschwerdeführerin (jetzt noch) im Besitz des Bundes befinden, kann ebenso wenig ausschlaggebend sein, nachdem die Möglichkeit besteht, insbesondere Private zu beteiligen (
Art. 7 Abs. 2 SBBG
). Unerheblich ist ferner, dass der Bund gemäss
Art. 7 Abs. 3 SBBG
zu jeder Zeit die kapital- und stimmenmässige Mehrheit der Aktien besitzen muss.
3.8
Nach dem Gesagten ist es den kantonalen Steuerbehörden nicht verwehrt, die Beschwerdeführerin für Liegenschaften der Gewinn- und der Kapitalsteuer, der Zuschlagsteuer gemäss FAG/GR sowie der Kultussteuer zu unterwerfen, sofern es sich bei den interessierenden Grundstücken um solche handelt, die keine notwendige Beziehung zum Betrieb des Unternehmens haben. Die derogatorische Kraft des Bundesrechts wird somit durch den angefochtenen Entscheid nicht verletzt. Ins Leere stösst in diesem Zusammenhang die Rüge der Beschwerdeführerin, das Verwaltungsgericht habe durch materielle Rechtsverweigerung das rechtliche Gehör verletzt. Entgegen ihrer Behauptung hat das Verwaltungsgericht
Art. 21 SBBG
insbesondere nicht ausschliesslich auf dessen Wortlaut abgestützt ausgelegt. | de |
0ba0270c-2a24-4b50-a4d5-bc3c8a64e1b0 | Sachverhalt
ab Seite 432
BGE 95 I 431 S. 432
A.-
Der Beschwerdeführer Emil Tobler wohnt in Zürich und betreibt dort eine Generalbauunternehmung mit einem Büro, in dem er einen Architekten und weiteres Personal beschäftigt. In den Jahren 1960/61 erwarb er in Biel drei Bauparzellen, die er im Jahre 1961 unüberbaut verkaufte und dann aufgrund besonderer, mit den Käufern abgeschlossener Werkverträge mit Wohnblöcken überbaute. Seit 1961 unterhält er in Biel in gemieteten Räumen ein Büro, das mit eigenem Mobiliar und einem Telephonanschluss ausgestattet ist. In diesem Büro sind ein Architekt und eine Sekretärin, beide vom Beschwerdeführer angestellt, ständig beschäftigt; ferner waren dort in den Jahren 1961/62 zwei weitere Angestellte tätig.
Die Festsetzung der Steuern aufgrund des im Jahre 1961 erzielten Geschäftsergebnisses des Beschwerdeführers verzögerte sich in beiden Kantonen.
a) Mit Veranlagung vom 7. Juli 1965 setzte das kantonale Steueramt Zürich das im Jahre 1961 erzielte Gesamtreineinkommen des Beschwerdeführers fest und beanspruchte hievon 2/3 als Anteil des Kantons Zürich.
b) Die Veranlagungsbehörde Seeland/BE nahm an, dass der Beschwerdeführer im Kanton Bern im Jahre 1961 nur für die bei
BGE 95 I 431 S. 433
[teilweise veröffentlicht in
BGE 92 I 198
] und i.S. Chevillat c. Kantone Basel-Stadt und -Land sowie Bern, beide abgedruckt bei LOCHER § 9 II Nr. 17 und 18;
BGE 92 I 464
ff.; vgl. auch
BGE 83 I 186
,
BGE 88 I 339
). Nach dieser Rechtsprechung darf das Unternehmen in den Kantonen, in denen es keine Betriebsstätten unterhält, nicht für einen Teil des Gesamtreingewinns besteuert werden, sondern nur für den beim Verkauf der Liegenschaften erzielten Gewinn; dabei haben diese Kantone, gleichgültig ob sie den Gewinn durch die allgemeine Einkommenssteuer oder durch eine besondere Wertzuwachs- oder Grundstückgewinnsteuer erfassen, von ihm alle Aufwendungen abzuziehen, die dem Unternehmen im Hinblick auf die Gewinnerzielung erwachsen sind, auch wenn das kantonale Recht diesen Abzug nicht vorsieht (vgl. im einzelnen
BGE 92 I 465
E. 2-4).
Gelegentlich unterhält ein Unternehmen der genannten Art indessen im Liegenschaftskanton eine (im Handelsregister eingetragene oder nicht eingetragene) Zweigniederlassung oder ein Büro, in dem sich ein Teil seiner Geschäftstätigkeit vollzieht (vgl.
BGE 62 I 139
E. 2). Sofern es sich dabei um eine Betriebsstätte im Sinne des Doppelbesteuerungsrechtes handelt, hat man es mit einem interkantonalen Unternehmen zu tun. Das hat zur Folge, dass der Kanton, in dem sich die Betriebsstätte befindet, das Unternehmen für eine Quote des Gesamtreingewinns zu besteuern und in diesen Gewinn auch die Liegenschaftsgewinne einzubeziehen hat, sofern er solche Gewinne nicht mit einer besondern Steuer, sondern mit der allgemeinen Reineinkommens- oder Reingewinnsteuer erfasst und der Gewinn im Zusammenhang mit der Geschäftstätigkeit erzielt wurde, was dann nicht der Fall ist, wenn das Grundstück lediglich der Vermögensanlage diente (vgl.
BGE 83 I 264
/67, wo ein nicht mit der Geschäftstätigkeit zusammenhängender Gewinn in Frage stand; SCHLUMPF, Bundesgerichtspraxis zum Doppelbesteuerungsverbot 3. A. S. 262 zieht aus diesem und andern Urteilen zu Unrecht den Schluss, dass der zur Betriebsstätte einer interkantonalen Unternehmung gehörige Liegenschaftsgewinn stets aus dem nach Quoten zu verteilenden Geschäftsgewinn auszuscheiden und dem Liegenschaftskanton zuzuweisen sei; vgl. auch STUDER, Die Behandlung von Grundstücken eines Unternehmens und von Baustellen im interkant. Doppelbesteuerungsrecht, ZBl 59/1958 S. 42/3).
BGE 95 I 431 S. 434
den Grundstückverkäufen erzielten Gewinne steuerpflichtig sei und diese mit Rücksicht auf seine Berufstätigkeit als Einkommen zu versteuern habe. Mit Einspracheentscheid vom 26. September 1966 setzte sie das für 1961 im Kanton Bern steuerbare Einkommen des Beschwerdeführers auf mehr als das Doppelte des vom Kantonalen Steueramt Zürich berechneten Gesamtreineinkommens fest. Diese Veranlagung wurde vom Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 25. November 1968 bestätigt.
B.- Innert 30 Tagen nach Eröffnung dieses Entscheids hat Emil Tobler staatsrechtliche Beschwerde wegen Doppelbesteuerung erhoben. Die Begründung der Beschwerde ergibt sich, soweit wesentlich, aus den nachstehenden Erwägungen.
C.-
Regierungsrat und Verwaltungsgericht des Kantons Bern beantragen Abweisung der Beschwerde, soweit sie sich gegen den Kanton Bern richtet. Der Regierungsrat des Kantons Zürich schliesst auf Abweisung der Beschwerde, soweit sie gegen diesen Kanton gerichtet ist. - Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gegenüber beiden Kantonen gut und weist sie an, im Sinne der Erwägungen für 1961 eine neue Veranlagung vorzunehmen.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Unternehmen, die sich mit dem An- und Verkauf sowie mit der Überbauung von Liegenschaften befassen, beschränken ihre Tätigkeit häufig nicht auf den Kanton, in welchem sich ihr Sitz befindet, sondern dehnen sie auf andere Kantone aus. Dabei können sich die für die interkantonale Steuerausscheidung massgebenden Beziehungen zu diesen andern Kantonen verschieden gestalten.
a) Meistens betreiben die Unternehmen ihre Tätigkeit vom Sitze aus und unterhalten in den andern Kantonen keine Zweigniederlassungen oder Büros, die ein sekundäres Steuerdomizil begründen. Das Bundesgericht hatte in letzter Zeit wiederholt darüber zu befinden, wo und wie ein solches Unternehmen die bei der Veräusserung von (überbauten oder unüberbauten) Grundstücken erzielten Gewinne zu versteuern hat (Urteil vom 18. Dezember 1963 i.S. Werthmüller AG c. Kantone Bern und Solothurn, abgedruckt bei LOCHER, Doppelbesteuerungsrecht § 7 I B Nr. 20; Urteile vom 27. April 1966 i.S. Theurillat Bau AG gegen Kantone Basel-Stadt und -Land
BGE 95 I 431 S. 435
b) Der Beschwerdeführer befasst sich als sogenannter Generalunternehmer mit dem An- und Verkauf und insbesondere mit der Überbauung von Liegenschaften. Da er sein Unternehmen gewerbsmässig betreibt, unterliegen die Gewinne, die er im Jahre 1961 bei der Veräusserung von Liegenschaften in Biel erzielt hat, wie im Urteil des Verwaltungsgerichts festgestellt wird und unbestritten ist, auch im Kanton Bern der Einkommenssteuer. Streitig ist dagegen, ob der Beschwerdeführer, der seinen Wohn- und Geschäftssitz in Zürich hat, im Jahre 1961 in Biel eine Betriebsstätte unterhielt oder nicht. Fehlte es an einer solchen, wie die bernischen Behörden annehmen, so steht die bernische Veranlagung mit den genannten Grundsätzen des Doppelbesteuerungsrechts im Einklang und fragt sich lediglich, ob die bei der Überbauung der Liegenschaften angeblich erlittenen Verluste von den Gewinnen abzuziehen sind; dagegen wäre die zürcherische Veranlagung in dem Sinne abzuändern, dass der Kanton Zürich nicht eine Quote, sondern grundsätzlich den gesamten Reingewinn zu besteuern, von diesem aber den im Kanton Bern steuerbaren Grundstückgewinn abzuziehen hätte. Sollte jedoch in Biel eine Betriebsstätte bestanden haben, so wäre die in der zürcherischen Veranlagung vorgenommene Aufteilung des Gesamtreingewinns nach Quoten grundsätzlich richtig und wäre nur noch die Bemessung der Quoten zu überprüfen.
3.
Zur Begründung einer Betriebsstätte bedarf es nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung keiner eigentlichen Geschäftsniederlassung (Filiale) im handelsrechtlichen Sinne; es genügt, dass das Unternehmen an einem Orte ständige körperliche Anlagen oder Einrichtungen besitzt, mittels derer sich ein qualitativ und quantitativ wesentlicher Teil seines Betriebs vollzieht (
BGE 80 I 196
/7 mit Hinweisen auf frühere Urteile; LOCHER a.a.O. § 8 I B 2).
Der Beschwerdeführer hatte im Jahre 1961 in Biel ein Baubüro, in dem er einen Architekten, zwei Angestellte und eine Sekretärin beschäftigte. Das Büro befand sich in gemieteten Räumen und war mit eigenem Mobiliar ausgestattet. Das Erfordernis der körperlichen Anlage ist somit offensichtlich erfüllt. Dass sich dort im Jahre 1961 ein sehr wesentlicher Teil des Geschäftsbetriebes des Beschwerdeführers abwickelte, ist unbestritten. Streitig ist einzig, ob es sich bei diesem Baubüro um eine ständige Anlage handelte. Während das Verwaltungsgericht
BGE 95 I 431 S. 436
des Kantons Bern im angefochtenen Entscheid behauptet, das Erfordernis der Ständigkeit fehle offensichtlich, bezeichnet der Regierungsrat des Kantons Zürich diese Auffassung in seiner Beschwerdeantwort als unverständlich.
Der Beschwerdeführer hat zum Beweis dafür, dass es sich beim fraglichen Baubüro um eine dauernde Anlage handelt, im bundesgerichtlichen Verfahren Urkunden eingelegt, die den kantonalen Behörden nicht vorlagen. Bei staatsrechtlichen Beschwerden wegen Verletzung von
Art. 46 Abs. 2 BV
, die die Erschöpfung des kantonalen Instanzenzuges nicht voraussetzen, können nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts auch neue Tatsachen und Beweismittel vorgebracht werden (
BGE 93 I 22
E. 3; LOCHER a.a.O. § 12 III A 1 Nr. 26, B 3 Nr. 2 und 6). Die neu eingelegten Beweismittel sind daher bei der Beurteilung der Frage, ob es sich beim Bieler Baubüro des Beschwerdeführers um eine ständige Anlage handelte, mitzuberücksichtigen.
Das Büro besteht seit 1961 bis heute und im gleichen Gebäude, wobei auch jetzt der Architekt, der es schon 1961 leitete, dort mit einer Sekretärin (seiner Ehefrau) zusammen tätig ist. Das Verwaltungsgericht erklärt in seiner Vernehmlassung, das Baubüro sei 1960/61 eingerichtet worden zur Durchführung der seinerzeit vorgesehenen Bauten, also auf eine zeitlich beschränkte Dauer; dass es wegen weiterer Überbauungen längere Zeit bestanden habe und noch heute bestehe, ändere prinzipiell nichts. Massgebend ist in der Tat, ob die Anlage schon 1961 auf die Dauer berechnet war. Der Beschwerdeführer hat das Büro im Attikageschoss eines von ihm in den Jahren 1960/61 für einen Dritten erstellten Wohnblockes eingerichtet und hat nach der Fertigstellung des Gebäudes Ende Januar 1962 einen Mietvertrag über die Räumlichkeiten abgeschlossen, nach welchem die Miete bis Ende April 1963 dauerte, der Vertrag aber mangels Kündigung sich jeweils um weitere 6 Monate verlängerte. Er hat bis heute gedauert, was ein Indiz für die Ständigkeit der Anlage ist. Es darf zudem aus dem Umstand, das nach 1961 in Biel und Nidau weitere Überbauungen durchgeführt wurden und das Baubüro seit Jahren in gleicher Weise und mit den gleichen Angestellten betrieben wurde, geschlossen werden, dass es sich bereits 1961 um eine auf die Dauer berechnete Anlage und damit, da auch die übrigen Erfordernisse erfüllt sind, um eine Betriebsstätte handelte (
BGE 34 I 494
E. 1,
BGE 95 I 431 S. 437
BGE 62 I 139
E. 2). Es wäre wirklichkeitsfremd, die Augen vor der seitherigen Entwicklung zu verschliessen, die klar zeigt, dass das Büro über Jahre hin in gleicher Weise dem Zwecke diente, für den es 1961 errichtet wurde. Es ist freilich denkbar, dass das Baubüro aufgehoben wird, wenn die verschiedenen Liegenschaften einmal überbaut sind, die dem Beschwerdeführer in Biel und Umgebung noch gehören. Das wird aber auf jeden Fall noch erhebliche Zeit dauern. Das Bundesgericht hat das Erfordernis der Ständigkeit verneint in einem Falle, wo eine Baustelle für ein Elektrizitätswerk angelegt worden war, dessen Bauzeit länger als 3 Jahre dauern sollte, und es hat in späteren, in
BGE 62 I 139
und
BGE 67 I 95
angeführten sowie in weiteren, bei LOCHER a.a.O. § 8 I D 2 Nr. 10 und 11 erwähnten Urteilen erklärt, bei Bauunternehmungen seien Einrichtungen nicht als ständig zu betrachten, wenn sie bloss zur Erstellung eines einzelnen Werkes verwendet würden, selbst wenn der Bau eine Zeit von 3 oder mehr Jahren beanspruche. Im vorliegenden Falle dienten die Anlagen aber nicht bloss zur Erstellung eines einzelnen Werkes, sondern, wie das bernische Verwaltungsgericht in seiner Vernehmlassung selber anerkennt, auch für weitere Überbauungen, welche denen des Jahres 1961 folgten. Das rechtfertigt die Annahme, dass es sich von Anfang an um ein ständiges Baubüro handelte, das nicht nur der Ausführung eines einzelnen Werkvertrages zu dienen hatte, sondern seinem Zwecke und seiner Verwendung nach einen dauerden Bestandteil der Geschäftsorganisation des Beschwerdeführers bildete und noch bildet (vgl.
BGE 34 I 494
E. 1). So zu entscheiden rechtfertigt sich umso mehr, als die Rechtsprechung, wonach eine Baustelle unbekümmert um die Dauer der Bauzeit ein und desselben Werkes keine Betriebsstätte bildet, in der Literatur angefochten worden ist und das Bundesgericht selber erklärt hat, es sei nicht ausgeschlossen, dass die Praxis eines Tages geändert werde (
BGE 94 I 332
).
Der Regierungsrat des Kantons Bern scheint anzunehmen, dass von einer dauernden Anlage nur gesprochen werden könne, wenn es am Sitz des Baubüros zur "Bildung eines festen, dauerhaften Kundenkreises" gekommen sei. Es kann offen bleiben, ob es bei bestimmten Gewerbebetrieben eines solchen Kundenkreises bedarf, damit von einer Betriebsstätte zu sprechen ist; in der bisherigen Rechtsprechung ist dieses Erfordernis nie aufgestellt worden. Von ihm die Annahme der Ständigkeit
BGE 95 I 431 S. 438
von Anlagen abhängig zu machen, rechtfertigt sich auf jeden Fall bei Liegenschaftshändlern und Generalbauunternehmern nicht, die verhältnismässig wenig Geschäfte abschliessen und im allgemeinen keinen festen Kundenkreis haben, sondern nach Abschluss eines Geschäftes wieder nach neuen Kunden Umschau halten. Dass ein Baubüro, wie der Regierungsrat weiter geltend macht, mit geringem Aufwand rasch etabliert und wieder aufgehoben werden kann, ist für den Entscheid darüber, ob eine Anlage dauernden Charakter hat, unerheblich. Das ergibt sich klar aus der bundesgerichtlichen Rechtsprechung.
Das Baubüro des Beschwerdeführers in Biel ist demnach schon 1961 als Betriebsstätte seiner Generalbauunternehmung zu betrachten.
4.
Da die in diesem Jahre erfolgten Veräusserungen von Grundstücken in Biel und die dabei erzielten Gewinne mit der Geschäftstätigkeit dieser Betriebsstätte im Zusammenhang standen, ist der Kanton Bern nach dem in Erw. 2 a Gesagten nicht befugt, diese Gewinne gesondert zu besteuern; vielmehr ist der Gesamtreingewinn des Beschwerdeführers zwischen den Kantonen Bern und Zürich nach Quoten aufzuteilen. Die Beschwerde ist daher jedenfalls gegenüber dem Kanton Bern gutzuheissen. Zu prüfen bleibt, wie die auf die beiden Kantone entfallenden Quoten zu bestimmen sind.
Bei der Bestimmung des Verteilers für die Ertragsbesteuerung eines interkantonalen Unternehmens handelt es sich darum, unter Berücksichtigung der Verhältnisse des Einzelfalles einen Massstab zu finden, welcher die Bedeutung der einzelnen Niederlassung im Rahmen des Gesamtunternehmens, ihren Anteil an der Erzielung des Gesamtertrages am besten zum Ausdruck bringt (
BGE 93 I 422
mit Hinweisen auf frühere Urteile). Der Beschwerdeführer ist Liegenschaftshändler und Generalbauunternehmer. Bei einem solchen gemischten Betrieb führt weder die Aufteilung nach Erwerbsfaktoren noch jene nach dem Umsatz zu einem richtigen und billigen Ergebnis, während die direkte Methode schon deshalb ausser Betracht fällt, weil das Baubüro in Biel keine eigenen Bücher führt. Unter diesen Umständen erscheint es als richtig, das Einkommen des Beschwerdeführers nach freiem Ermessen aufzuteilen. So ist auch die Zürcher Steuerverwaltung vorgegangen, als sie 1965 einen Anteil von 2/3 des Gesamtreineinkommens zur Besteuerung beanspruchte. Diese Aufteilung ist
BGE 95 I 431 S. 439
aber keineswegs angemessen. Es ist unbestritten, dass im Jahre 1961 nur Liegenschaften in Biel verkauft und überbaut und dass die gesamten Bruttoeinkünfte dort erzielt wurden. Der zuständige Zürcher Steuerkommissär hat denn auch in einer an die Rechtsabteilung des kantonalen Steueramts gerichteten Vernehmlassung vom 17. Februar 1969 zur staatsrechtlichen Beschwerde beantragt, dem Kanton Bern 2/3 und dem Kanton Zürich nur 1/3 des Gesamtreineinkommens zur Besteuerung zuzuweisen. Allein auch ein Anteil des Kantons Zürich von 1/3 erscheint als zu hoch. Mehr als 25% wären nur gerechtfertigt, wenn dargetan wäre, dass nicht nur der Beschwerdeführer persönlich das Baubüro in Biel von Zürich aus geleitet und beaufsichtigt und An- und Verkaufsverhandlungen von dort aus geführt hat, sondern dass auch die Angestellten seines Büros in Zürich in einem ins Gewicht fallenden Masse an der Ausarbeitung und Verwirklichung der für die Überbauung in Biel erforderlichen Pläne teilgenommen hätten. Nach dieser Richtung haben jedoch der Beschwerdeführer und die Zürcher Steuerbehörden nichts vorgebracht, noch ist den Akten etwas hierüber zu entnehmen. Die staatsrechtliche Beschwerde ist daher auch gutzuheissen, soweit sie sich gegen die zürcherische Veranlagung vom 7. Juli 1965 richtet. Vom Gesamtreinertrag sind 75% dem Kanton Bern und 25% dem Kanton Zürich zur Besteuerung zuzuweisen. | de |
1855775c-f868-4c56-bc14-4ad56bb102e0 | Sachverhalt
ab Seite 426
BGE 135 V 425 S. 426
A.
A.a
T. und P., beide italienische Staatsangehörige, heirateten 1984 in Italien. In der Folge wohnte das Ehepaar zeitweise in der Schweiz, wo der Ehemann eine berufsvorsorgeversicherte Erwerbstätigkeit ausübte. Mit Urteil des Tribunale Civile di X., Italien, vom 13. März 2004, in Rechtskraft erwachsen am 16. März 2004, wurde die Ehe geschieden. Bezüglich der beruflichen Vorsorge enthielt das Urteil die Genehmigung folgender Vereinbarung: "i coniugi chiedono reciprocamente che quanto accumulato in Svizzera durante il periodo previdenziale e rapportato agli anni di matrimonio sia suddiviso in parti uguali, o compensato tra gli stessi secondo le previsioni della legge federale svizzera". In der Folge unterblieb eine Teilung der Vorsorgeguthaben.
A.b
Am 31. Mai 2005 trat T. aus seiner bisherigen Pensionskasse aus, worauf sein Freizügigkeitsguthaben im Betrag von Fr. 44'647.85 per 21. Juni 2005 an die Freizügigkeitsstiftung 2. Säule der Neuen Aargauer Bank (im Folgenden: NAB-2) überwiesen wurde. Am 10. Juli/18. August 2005 stellte T. bei der NAB-2 einen Antrag auf Vorbezug des Freizügigkeitskapitals zum Erwerb von Wohneigentum. Auf dem Antragsformular gab er als Zivilstand "geschieden" an. Die NAB-2 bezahlte das gesamte Freizügigkeitsguthaben in der Höhe von Fr. 44'776.20 per 2. September 2005 an T. und liess beim Grundbuchamt Y. eine Veräusserungsbeschränkung gemäss
Art. 30e BVG
(SR 831.40) auf dem Grundstück Nr. 1553 Z. anmerken.
B.
Am 5. Dezember 2007 erhob P. beim Versicherungsgericht des Kantons Solothurn Klage gegen T. und die NAB-2 mit dem Antrag:
"Es wird festgestellt, dass die zu teilende Austrittsleistung der Einrichtungen der beruflichen Vorsorge CHF (...) beträgt;
Die Freizügigkeitsstiftung 2. Säule der Neuen Aargauer Bank (NAB-2) wird angewiesen, der aktuellen Pensionskasse von Frau P., Basilese, Assicurazione n
o
51/2.052.404-3, AHV-Nr. XY (bzw. einer allfälligen Nachfolge-Einrichtung) CHF (...) zu überweisen."
Mit Urteil vom 3. Juni 2009 hiess das Versicherungsgericht die Klage gut und verpflichtete die NAB-2, auf das Vorsorgekonto von P. Fr. 20'139.- zu überweisen.
BGE 135 V 425 S. 427
C.
Die NAB-2 erhebt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag, in Aufhebung des angefochtenen Urteils sei die Klage abzuweisen. Zudem beantragt sie aufschiebende Wirkung.
P. beantragt Abweisung der Beschwerde, während T. und das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) auf eine Vernehmlassung verzichten.
D.
Mit Verfügung des Instruktionsrichters vom 17. September 2009 wurde der Beschwerde aufschiebende Wirkung zuerkannt.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
1.1
Da das in der Schweiz anzuerkennende (
Art. 65 IPRG
[SR 291];
Art. 26 LugÜ
[SR 0.275.11]) italienische Scheidungsurteil für die Durchführung des Vorsorgeausgleichs in Bezug auf das in der Schweiz erworbene Vorsorgeguthaben ausdrücklich auf das schweizerische Recht verweist, ist dieses anwendbar, ohne dass zu prüfen wäre, welches Recht ohne solche Verweisung anzuwenden wäre (vgl. dazu
Art. 64 Abs. 2 IPRG
sowie
BGE 131 III 289
E. 2.4 und 2.5;
BGE 134 III 661
E. 3.1).
1.2
Liegt im ausländischen Scheidungsverfahren nicht analog zu
Art. 141 ZGB
eine Einigung der Parteien und eine Durchführbarkeitserklärung der Einrichtungen der beruflichen Vorsorge vor, so kann das ausländische Gericht nur den Grundsatz und das Ausmass der Teilung, also den Teilungsschlüssel, festlegen, während die eigentliche Berechnung der Leistungen von dem gemäss
Art. 73 BVG
in Verbindung mit
Art. 25a FZG
(SR 831.42) zuständigen Gericht in der Schweiz durchzuführen ist (
BGE 130 III 336
E. 2.5). Dabei kann sich freilich die örtliche Zuständigkeit nicht - wie in
Art. 25a FZG
vorgesehen - nach dem Ort der Scheidung richten, wenn dieser im Ausland liegt. Es muss daher lückenfüllend ein schweizerischer Gerichtsstand bestimmt werden. Die Vorinstanz hat ihre Zuständigkeit auf
Art. 73 Abs. 3 BVG
gestützt, da der ehemalige Ehemann der Beschwerdegegnerin als Beklagter im Zeitpunkt der Klageanhebung im Kanton Solothurn Wohnsitz hatte. Das stimmt überein mit dem Gerichtsstand, der für die Scheidungsklage gegeben wäre, wenn die Scheidung in jenem Zeitpunkt angehoben worden wäre (
Art. 15 Abs. 1 lit. b GestG
[SR 272]). Die Vorinstanz hat mit Recht ihre Zuständigkeit bejaht.
BGE 135 V 425 S. 428
2.
Gemäss dem Scheidungsurteil ist die Austrittsleistung "in parti uguali" aufzuteilen, was mit
Art. 122 Abs. 1 ZGB
übereinstimmt. Weder lag dem Scheidungsrichter eine Einigung und Durchführungsbestätigung im Sinne von
Art. 141 ZGB
vor noch wurde die Sache gemäss
Art. 142 Abs. 2 ZGB
und
Art. 25a Abs. 1 FZG
dem Berufsvorsorgegericht zur Durchführung der Teilung übertragen. Die Ehegatten haben auch sonst im Nachgang zur Scheidung bis zu der vorliegend zu beurteilenden Klage offenbar keine Schritte in die Wege geleitet, um die Durchführung der Teilung vorzunehmen, so dass diese unterblieb. Der an den ehemaligen Ehemann der Beschwerdegegnerin ausbezahlte Vorbezug seines gesamten Freizügigkeitsguthabens umfasste deshalb auch denjenigen Anteil, welcher der Beschwerdegegnerin zustehen würde. Streitig ist, ob - wie die Vorinstanz erkannt hat - in dieser Situation die Freizügigkeitseinrichtung verpflichtet ist, der Beschwerdegegnerin ihren Anteil zu bezahlen, obwohl sie den entsprechenden Betrag bereits an den Ex-Ehemann geleistet hat.
3.
Der Anspruch auf Vorsorgeausgleich richtet sich gegen den pflichtigen Ehegatten. Soweit die zu teilende Masse bei einer Vorsorge- oder Freizügigkeitseinrichtung liegt, wird der Anspruch so erfüllt, dass die Vorsorge- oder Freizügigkeitseinrichtung des schuldnerischen Ehegatten den entsprechenden Betrag an diejenige des Gläubigers überträgt. Deshalb werden die Einrichtungen der beruflichen Vorsorge in das Verfahren vor dem Berufsvorsorgegericht einbezogen, damit das Urteil auch für sie verbindlich wird (
Art. 25a Abs. 2 FZG
; Botschaft vom 15. November 1995 über die Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches [Personenstand, etc.], BBl 1996 I 111 f. Ziff. 233.46; vgl.
BGE 128 V 41
E. 3b;
BGE 129 V 444
E. 5.2). Das gilt auch dann, wenn bei der Vorsorgeeinrichtung des pflichtigen Ehegatten trotz einem Vorbezug noch genügend Austrittsleistung vorhanden ist, um die Forderung des berechtigten Ehegatten zu decken (ANDREA BÄDER FEDERSPIEL, Wohneigentumsförderung und Scheidung, 2008, S. 303 f.; THOMAS GEISER, Vorsorgeausgleich: Aufteilung bei Vorbezug für Wohneigentumserwerb und nach Eintreten eines Vorsorgefalls, FamPra.ch 2002 S. 83 ff., 90; DANIEL R. TRACHSEL, Spezialfragen im Umfeld des scheidungsrechtlichen Vorsorgeausgleiches: Vorbezüge für den Erwerb selbstbenutzten Wohneigentums und Barauszahlungen nach
Art. 5 FZG
, FamPra.ch 2005 S. 529 ff., 536). Soweit jedoch bei der Vorsorge- oder Freizügigkeitseinrichtung des pflichtigen Ehegatten infolge eines Vorbezugs
BGE 135 V 425 S. 429
nicht mehr genügend Mittel vorhanden sind, um den Anspruch des anderen Ehegatten zu befriedigen (und der pflichtige Ehegatte nicht durch eine Rückzahlung [
Art. 30d BVG
] des Vorbezugs seiner Einrichtung diese Mittel wieder verschafft), kann sich der Teilungsanspruch vorbehältlich einer allfälligen Schadenersatzpflicht (E. 4.1 nachstehend) nicht mehr gegen die Einrichtung richten; vielmehr hat der pflichtige Ehegatte den geschuldeten Betrag auf die Vorsorge- oder Freizügigkeitseinrichtung des berechtigten Ehegatten zu übertragen (
BGE 135 V 324
E. 5.2.2; GEISER, a.a.O., S. 90; SCHNEIDER/BRUCHEZ, La prévoyance professionnelle et le divorce, in: Le nouveau droit du divorce, 2000, S. 193 ff., 231). Das ist auch nicht anders, wenn man davon ausgeht, dass eine Übertragung freier Mittel auf eine Freizügigkeitseinrichtung unzulässig sei (BÄDER FEDERSPIEL, a.a.O., S. 305 Rz. 625; THOMAS KOLLER, Wohin mit der angemessenen Entschädigung nach
Art. 124 ZGB
? - oder: Von der Mühe der Zivilgerichte im Umgang mit vorsorgerechtlichen Fragen, ZBJV 138/2002 S. 1 ff., 10; TRACHSEL, a.a.O., S. 537 f.). Denn der Vorbezug gilt von Gesetzes wegen im Falle der Scheidung vor Eintritt des Vorsorgefalls als Freizügigkeitsleistung (
Art. 30c Abs. 6 BVG
;
Art. 331e Abs. 6 OR
), so dass jedenfalls bis zu diesem Betrag eine Überweisung auch an eine Freizügigkeitseinrichtung zulässig ist.
4.
4.1
Während der Ehe ist der Vorbezug nur mit schriftlicher Zustimmung des Ehegatten zulässig (
Art. 30c Abs. 5 BVG
;
Art. 331e Abs. 5 OR
). Das Gesetz regelt nicht ausdrücklich, was die Rechtsfolge ist, wenn ein Vorbezug ohne diese Zustimmung erfolgt ist. Im analogen Falle der ohne Zustimmung des Ehegatten erfolgten Barauszahlung (
Art. 5 Abs. 2 FZG
) hat die Rechtsprechung erkannt, dass darin eine nicht gehörige Erbringung der Austrittsleistung liegt, welche zu einer Schadenersatzpflicht der Vorsorgeeinrichtung führt, wenn diese nicht nachzuweisen vermag, dass ihr kein Verschulden zur Last fällt (
BGE 133 V 205
E. 4.3;
BGE 130 V 103
E. 3.3). Dies gilt gleichermassen für den Vorbezug für Wohneigentum (
BGE 132 V 347
E. 3.3 S. 351).
4.2
Die Vorinstanz hat erwogen, der Vorbezug sei unzulässig gewesen, weil er erfolgt sei, bevor die im Scheidungsurteil angeordnete Teilung der Austrittsleistung vorgenommen worden sei. Analog zur Rechtsprechung im Falle der ohne Zustimmung der Ehefrau erfolgten Barauszahlung habe sich der berechtigte Ehegatte in erster Linie an den anderen Ehegatten zu wenden; in zweiter Linie könne er sich
BGE 135 V 425 S. 430
an die Vorsorgeeinrichtung halten, wenn dieser im Zusammenhang mit der Auszahlung eine Sorgfaltspflichtverletzung zur Last gelegt werden könne. In casu verfüge der Ehemann nicht mehr über liquide Austrittsleistungen. Es bleibe nur die Verwertung der Liegenschaft. Weiter erwog die Vorinstanz unter Hinweis auf
BGE 132 V 347
E. 3.3, nur der Erlös aus einem Liegenschaftsverkauf sei zu teilen, was zu einem Verlust der Ehefrau führen könne; diese Lösung sei im vorliegenden Fall mit Blick auf die Tatsache, dass der Vorbezug ungültig gewesen sei, nicht sachgerecht. Die Beschwerdeführerin sei zudem ihrer Sorgfaltspflicht nicht nachgekommen, weil sie bei der Auszahlung des Vorbezugs nicht überprüft habe, ob allenfalls noch Ansprüche der geschiedenen Ehefrau bestünden bzw. ob eine allfällige Teilung der Austrittsleistung bereits erfolgt sei. Nachdem damit sowohl die Ungültigkeit der Barauszahlung (recte: des Vorbezugs) als auch eine Sorgfaltspflichtverletzung durch die Vorsorgeeinrichtung zu bejahen seien, sei die Barauszahlung (recte: der Vorbezug) so zu behandeln, wie wenn sie nicht aus dem Kreislauf der 2. Säule ausgeschieden wäre; die Zahlung sei daher wie noch vorhanden bei der vorzunehmenden Teilung der Austrittsleistung zu berücksichtigen. In der Folge stellte die Vorinstanz fest, dass während der Ehe (nur) der Ehemann ein Vorsorgeguthaben von Fr. 40'278.- erworben habe, so dass die Ehefrau einen Anspruch auf die Hälfte davon, nämlich Fr. 20'139.-, habe, den die Beschwerdeführerin zu begleichen habe.
5.
(Sachverhaltsfeststellung)
6.
Frei zu prüfende Rechtsfrage ist jedoch, ob der festgestellte Sachverhalt zur Unzulässigkeit des Vorbezugs führt oder eine Sorgfaltspflichtverletzung der Beschwerdeführerin darstellt.
6.1
Die vorliegende Fallkonstellation unterscheidet sich wesentlich von den von der Vorinstanz zitierten Barauszahlungsfällen. Zutreffend ist zwar, dass eine Analogie besteht zwischen den Fällen der Barauszahlung und dem Vorbezug, indem gemäss
Art. 5 Abs. 2 FZG
,
Art. 30c Abs. 5 BVG
und
Art. 331e Abs. 5 OR
beide bei verheirateten Versicherten ohne Zustimmung des Ehegatten nicht "zulässig" sind (vgl.
BGE 132 V 347
E. 3.3). Im Verstoss gegen diese Gesetzesbestimmungen liegt der Rechtsgrund für die Schadenersatzpflicht der Einrichtung der beruflichen Vorsorge (E. 4.1 hievor). Vorliegend war jedoch der Versicherte im Zeitpunkt des Vorbezugs geschieden; der ohne Zustimmung der Beschwerdegegnerin
BGE 135 V 425 S. 431
erfolgte Vorbezug stand nicht in Widerspruch zu
Art. 30c Abs. 5 BVG
bzw.
Art. 331e Abs. 5 OR
. Mit diesen Bestimmungen kann die Unzulässigkeit des Vorbezugs nicht begründet werden.
6.2
Auch die vorinstanzliche Argumentation, die ungültige Barauszahlung (recte: Vorbezug) sei so zu behandeln, wie wenn sie nicht aus dem Kreislauf der 2. Säule ausgeschieden sei, ist nicht entscheidwesentlich. Der Teilungsanspruch berechnet sich nach dem Stichtag der Rechtskraft des Scheidungsurteils (hier: 16. März 2004). In jenem Zeitpunkt war der Vorbezug noch nicht erfolgt und die entsprechende Summe bei der (damaligen) Vorsorgeeinrichtung noch vorhanden. Die Vorinstanz hat übrigens korrekt den Ausgleichsanspruch per Rechtskraft des Scheidungsurteils mit Fr. 20'139.- errechnet. Der (erst nachher getätigte) Vorbezug spielte für diese Rechnung keine Rolle.
6.3
Nicht zutreffend ist sodann der vorinstanzliche Hinweis auf
BGE 132 V 347
, soweit damit gemeint sein sollte, dass der Anspruch der Beschwerdegegnerin durch den Vorbezug geschmälert werde. Zwar ist im Falle der Veräusserung der mittels Vorbezug erworbenen Liegenschaft die Rückzahlungspflicht auf den Erlös beschränkt (
Art. 30d Abs. 5 BVG
), so dass auch nur dieser Erlös vorsorgeausgleichsrechtlich zu teilen ist (
Art. 30c Abs. 6 BVG
i.V.m.
Art. 22 FZG
;
BGE 132 V 332
E. 4.2,
BGE 132 V 347
E. 3.3). Das bezieht sich jedoch auf denjenigen Teilungsanspruch, der auf den massgebenden Stichtag (Rechtskraft des Scheidungsurteils) berechnet wird und kann zur Folge haben, dass ein
während
der Ehe getätigter Vorbezug verloren ist und demzufolge nicht mehr geteilt wird. Der hier erst
nach
dem Stichtag erfolgte Vorbezug kann hingegen auf die Höhe des der Beschwerdegegnerin zustehenden (per Scheidungsdatum berechneten) Anspruchs von vornherein keinen Einfluss mehr haben. In dem von der Vorinstanz errechneten (E. 6.2 hievor), im Quantitativ nicht angefochtenen Umfang hat die Beschwerdegegnerin einen Rechtsanspruch gegenüber ihrem ehemaligen Ehemann (E. 3 hievor; vgl. die Situation bei einer ohne Zustimmung erfolgten Barauszahlung, Urteil B 93/05 vom 21. März 2007, E. 4.4 in: SVR 2007 BVG Nr. 31 S. 112).
6.4
Beeinträchtigt durch den Vorbezug wird somit nicht der
Rechtsanspruch
der Beschwerdegegnerin, sondern höchstens das
Vollstreckungssubstrat
für diesen Rechtsanspruch: Hat der frühere Ehemann keine freien Mittel, um den Ausgleichsanspruch der Beschwerdegegnerin zu erfüllen, so kann er allenfalls das mittels des Vorbezugs
BGE 135 V 425 S. 432
gekaufte Wohneigentum hypothekarisch belasten(BÄDER FEDERSPIEL, a.a.O., S. 304 Rz. 624; LAURE THONNEY, Prévoyance professionnelle et acquisition immobilière, in: Mélanges Association des Notaires Vaudois, 2005, S. 173 ff., 175). Gelingt ihm dies nicht, so kann die Liegenschaft im Betreibungsverfahren verwertet und auf diese Weise der Anspruch der Beschwerdegegnerin befriedigt werden. Es ist allerdings nicht auszuschliessen, dass im Rahmen eines allfälligen Verwertungsverfahrens faktisch der Erlös nicht ausreichen wird, um die Forderung der Beschwerdegegnerin zu decken. Insofern besteht ein gewisses Ausfallrisiko.
6.5
Rechtshandlungen, welche das Vollstreckungssubstrat einer Forderung beeinträchtigen, können nach den
Art. 285 ff. SchKG
angefochten werden. Abgesehen von diesen Anfechtungsmöglichkeiten kann aber eine Rechtshandlung nicht schon deshalb als unzulässig qualifiziert werden, weil sie möglicherweise dazu führen könnte, dass der Schuldner nicht mehr genügend Mittel hat, um seine Schulden zu begleichen.
6.6
Zudem ist entgegen der Auffassung der Vorinstanz auch eine Sorgfaltspflichtverletzung der Beschwerdeführerin zu verneinen:
6.6.1
Nach Auffassung von Vorinstanz und Beschwerdegegnerin liegt die Sorgfaltspflichtverletzung darin, dass die Beschwerdeführerin nicht überprüft hat, ob bezüglich des auszuzahlenden Freizügigkeitsguthabens allenfalls noch Ansprüche der geschiedenen Ehefrau betreffend Vorsorgeausgleich bestehen. Es wäre ihr möglich und zumutbar gewesen, das Scheidungsurteil einzuverlangen. Zudem hätte sie von der vorherigen Pensionskasse einen Kontoauszug einfordern können, worin erkennbar gewesen wäre, dass bislang keine Kontenbewegungen zwecks Vorsorgeausgleich erfolgt waren.
6.6.2
Die
Art. 30c BVG
und 331e OR regeln nicht näher, was die Einrichtung im Falle eines Begehrens um Vorbezug prüfen muss. Gemäss
Art. 6 Abs. 1 der Verordnung vom 3. Oktober 1994 über die Wohneigentumsförderung mit Mitteln der beruflichen Vorsorge (WEFV; SR 831.411)
zahlt die Vorsorgeeinrichtung den Vorbezug spätestens nach sechs Monaten aus, nachdem die versicherte Person ihren Anspruch geltend gemacht hat. Sie zahlt ihn gemäss Abs. 2 gegen Vorweis der entsprechenden Belege und im Einverständnis der versicherten Person direkt an den Verkäufer, Ersteller, Darlehensgeber oder den am Wohneigentum Beteiligten aus. Gemäss
Art. 10 WEFV
hat die versicherte Person, die ihren Anspruch auf
BGE 135 V 425 S. 433
Vorbezug oder Verpfändung geltend macht, gegenüber der Vorsorgeeinrichtung den Nachweis zu erbringen, dass die Voraussetzungen "dafür" (frz.: "les conditions de leur réalisation"; ital.: "le relative condizioni") erfüllt sind. Dies bezieht sich nach dem Wortlaut der Bestimmung auf die Voraussetzungen, die für den Vorbezug bzw. die Verpfändung gelten, mithin die sich aus dem Gesetz (namentlich
Art. 30c Abs. 5 BVG
und
Art. 331e Abs. 5 OR
) ergebenden sowie die in den
Art. 1-9 WEFV
genannten Voraussetzungen (Mitteilungen des BSV über die berufliche Vorsorge Nr. 30 vom 5. Oktober 1994, S. 38 f.; HANS-ULRICH STAUFFER, Berufliche Vorsorge, 2005, S. 371). Eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage für eine Überprüfungspflicht in dem von der Vorinstanz angenommenen Sinne besteht indessen nicht.
6.6.3
Auch aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen rechtfertigt es sich nicht, der Vorsorgeeinrichtung die Pflicht aufzuerlegen, bei geschiedenen Versicherten das Scheidungsurteil einzuverlangen und den Vollzug einer darin allenfalls angeordneten Vorsorgeausgleichsteilung zu überprüfen, zumindest dann nicht, wenn keine konkreten Hinweise bestehen, dass der Vorbezug die Durchführung eines Vorsorgeausgleichs behindern könnte. Die hier vorliegende Konstellation, in der sich ex post gesehen eine solche Überprüfung gerechtfertigt hätte, dürfte selten sein. Zudem wäre auch im hier vorliegenden Falle eines Vorbezugs zwischen Scheidungsurteil und Durchführung der Teilung der Anspruch des ehemaligen Ehepartners nicht beeinträchtigt, wenn nur ein Teil des Freizügigkeitsguthabens vorbezogen wird und der verbleibende Teil ausreicht, um die Forderung zu decken. Dasselbe würde gelten, wenn der vorbeziehende Versicherte neben dem Guthaben bei der betreffenden Vorsorgeeinrichtung weitere Vorsorge- oder Freizügigkeitsguthaben bei anderen Einrichtungen hätte und diese ausreichen würden, um die Forderung der Beschwerdegegnerin zu decken (E. 3 hievor). In den meisten Fällen wäre also eine Überprüfung in dem von der Vorinstanz angenommenen Sinne unnötig. Sie routinemässig trotzdem bei allen geschiedenen Antragstellern vorzunehmen, würde einen erheblichen Aufwand für die Vorsorgeeinrichtungen darstellen. Zudem würde dies wohl von den meisten Versicherten als unnötige und unerwünschte Einmischung in persönliche Angelegenheiten empfunden, zumal wenn dafür noch Gebühren verlangt werden, was mit entsprechender reglementarischer Grundlage zulässig wäre (
BGE 124 II 570
). Auch die Analogie zu den Fällen von
Art. 5 Abs. 2 FZG
BGE 135 V 425 S. 434
rechtfertigt eine solche Ausdehnung der Nachforschungspflicht nicht: Eine Sorgfaltspflichtverletzung wurde in solchen Fällen etwa darin gesehen, dass die Vorsorgeeinrichtung den Zivilstand gar nicht überprüfte oder erfragte (Urteile des ehemaligen Eidg. Versicherungsgerichts B 87/00 vom 10. Februar 2004 E. 2.3; B 19/03 vom 30. Januar 2004 E. 4.4 und B 98/04 vom 17. März 2005 E. 2.4) oder die Auszahlung ohne Vorliegen der Zustimmungserklärung leistete, obwohl aus dem Antrag und den Unterlagen ersichtlich war, dass der Gesuchsteller noch verheiratet war (Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts B 126/04 vom 20. März 2006 E. 2.4). Im Falle einer gefälschten Unterschrift der Ehefrau wurde eine Sorgfaltspflichtverletzung je nach den Umständen verneint (
BGE 130 V 103
E. 3.4) oder bejaht (Urteile des Eidg. Versicherungsgerichts B 58/01 vom 7. Januar 2004 E. 3.3 und B 45/00 vom 2. Februar 2004 E. 3.3). Verlangt wird somit eine Überprüfung des Zivilstandes und der Angaben auf dem Antragsformular, was die Beschwerdeführerin vorliegend getan hat, aber nicht weiter gehende Nachforschungen zu allen denkbaren Problemsituationen, die sich im Zusammenhang mit der Auszahlung allenfalls ergeben könnten. Zu berücksichtigen ist sodann auch, dass es die berechtigten Ehegatten in der Hand haben, im Rahmen des Scheidungsverfahrens (
Art. 137 Abs. 2 ZGB
) oder des Verfahrens nach
Art. 25a FZG
mittels vorsorglicher Massnahmen eine unzulässige Verfügung über das Vorsorgeguthaben zwischen dem Scheidungszeitpunkt und der Durchführung der Teilung zu verhindern. Vorliegend war dieser Weg allerdings für die Beschwerdegegnerin kaum gangbar, weil das Scheidungsverfahren in Italien erfolgte und ein Verfahren nach
Art. 25a FZG
nicht in die Wege geleitet wurde. Andererseits hätte ihr genügend Zeit zur Verfügung gestanden, um ihren Teilungsanspruch in der Schweiz geltend zu machen, erfolgte der Vorbezug doch erst rund siebzehn Monate nach rechtskräftig gewordener Scheidung. Umgekehrt war aber auch für die Beschwerdeführerin diese aussergewöhnliche Situation nicht ersichtlich. Zudem hatte diese keine Kenntnis vom Scheidungsvorgang an sich, eröffnete doch der ehemalige Ehemann das Freizügigkeitskonto bei ihr erst in einem Zeitpunkt, in welchem er bereits geschieden war. Auch sonst sind keine Verdachtsindizien ersichtlich, welche allenfalls die Beschwerdeführerin nach Treu und Glauben hätten veranlassen müssen, eine nähere Prüfung vorzunehmen. Unter diesen Umständen könnte eine Sorgfaltspflichtverletzung der Beschwerdeführerin nur bejaht werden, wenn generell eine Pflicht bestünde,
BGE 135 V 425 S. 435
bei allen geschiedenen Versicherten den Vollzug einer allfälligen Vorsorgeausgleichsanordnung zu überprüfen, was jedoch - wie dargelegt - nicht der Fall ist.
7.
Insgesamt hat die Beschwerdeführerin mit der Auszahlung des Vorbezugs an den ehemaligen Ehemann der Beschwerdegegnerin nicht unrechtmässig gehandelt. Die gegen sie gerichtete Klage ist daher abzuweisen. Das ändert nichts daran, dass der Beschwerdegegnerin ein Anspruch gegen ihren ehemaligen Ehemann auf Durchführung der Teilung zusteht (E. 6.3 hievor). Dieser Anspruch ist bei der Vorinstanz geltend zu machen (E. 1 hievor). Im Falle eines schweizerischen Scheidungsurteils wäre die Sache von Amtes wegen an die Vorinstanz überwiesen worden, welche unter Anhörung der Ehegatten und der Einrichtungen der beruflichen Vorsorge von Amtes wegen die Teilung durchzuführen hätte (
Art. 142 ZGB
und
Art. 25a FZG
), d.h. namentlich ohne Bindung an die Parteianträge (vgl. Urteil 9C_137/2007 vom 21. April 2008 E. 4.2). Die Überweisung seitens des Scheidungsgerichts ist hier unterblieben, weil dieses im Ausland liegt. Das ändert aber an den übrigen Verfahrensvorschriften von
Art. 25a FZG
nichts. Diese sind anwendbar, sobald die Beschwerdegegnerin die Vorinstanz mit ihrer Klage befasst hat. Ungeachtet des Umstandes, dass in der Klage (die übrigens gemäss ihrem Rubrum sowohl gegen den ehemaligen Ehemann als auch gegen die Beschwerdeführerin gerichtet ist) beantragt wurde, die Beschwerdeführerin sei zur Zahlung des streitigen Betrags zu verpflichten, hätte die Vorinstanz daher auch von Amtes wegen einen Anspruch gegenüber dem ehemaligen Ehemann prüfen und beurteilen müssen. Die Sache ist an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie dies nachholt. | de |
139760b5-0e4c-4a80-ae16-0de9893e8f5b | Erwägungen
ab Seite 390
BGE 130 V 388 S. 390
Aus den Erwägungen:
2.
2.1
Nach den zutreffenden Erwägungen der Vorinstanz sind die am 1. Januar 2003 in Kraft getretenen, auch für das Arbeitslosenversicherungsrecht geltenden verfahrensrechtlichen Neuerungen des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 vorbehältlich abweichender Bestimmungen des AVIG (
Art. 2 ATSG
in Verbindung mit
Art. 1 Abs. 1 AVIG
) auf den hier zu beurteilenden Fall anwendbar (vgl.
BGE 129 V 115
Erw. 2.2,
BGE 117 V 93
Erw. 6b,
BGE 112 V 360
Erw. 4a; RKUV 1998 Nr. KV 37 S. 316 Erw. 3b).
2.2
Nach
Art. 49 Abs. 1 ATSG
hat der Versicherungsträger über Leistungen, Forderungen und Anordnungen, die erheblich sind oder mit denen die betroffene Person nicht einverstanden ist, schriftlich Verfügungen zu erlassen. Leistungen, Forderungen und Anordnungen, die nicht unter
Art. 49 Abs. 1 ATSG
fallen, können nach
Art. 51 Abs. 1 ATSG
in einem formlosen Verfahren behandelt werden; diesfalls räumt Abs. 2 dieser Bestimmung der betroffenen Person die Möglichkeit ein, den Erlass einer Verfügung zu verlangen. Nach
Art. 52 Abs. 1 ATSG
kann gegen Verfügungen bei der verfügenden Stelle Einsprache erhoben werden, und gegen Einspracheentscheide steht gestützt auf Art. 56 Abs. 1 in Verbindung mit
Art. 57 ATSG
der Beschwerdeweg an das kantonale Versicherungsgericht offen; vorausgesetzt ist, dass die Beschwerde führende Person durch die angefochtene Verfügung oder den Einspracheentscheid berührt ist und ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung hat (
Art. 59 ATSG
), wobei der Begriff des schutzwürdigen Interesses für das kantonale Beschwerdeverfahren
BGE 130 V 388 S. 391
materiellrechtlich gleich auszulegen ist wie derjenige nach
Art. 103 lit. a OG
für das bundesrechtliche Verwaltungsgerichtsbeschwerdeverfahren (Bericht der Kommission des Nationalrates für soziale Sicherheit und Gesundheit vom 26. März 1999, BBl 1999 4622 f.; UELI KIESER, ATSG-Kommentar: Kommentar zum Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts vom 6. Oktober 2000, Zürich 2003, N 2 zu Art. 59; MEYER-BLASER, Die Rechtspflegebestimmungen des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts [ATSG], in: Haftung und Versicherung [HAVE] 2002 S. 329; siehe auch
BGE 122 V 373
Erw. 2a; RKUV 2002 Nr. KV 211 S. 176 f. Erw. 1c mit Hinweisen; Urteil M. vom 18. Dezember 2003 [C 221/03] Erw. 2).
2.3
Auch unter der Herrschaft des ATSG bildet im System der nachträglichen Verwaltungsrechtspflege der Erlass einer Verfügung unabdingbare Sachurteilsvoraussetzung im nachfolgenden Verwaltungs- oder Verwaltungsgerichtsbeschwerdeverfahren, ohne die auf ein Rechtsmittel nicht eingetreten werden darf (vgl. GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl., Bern 1983, S. 73 Ziff. 2.2. und S. 127; MEYER-BLASER, a.a.O., S. 327). Der Begriff der Verfügung bestimmt sich dabei mangels näherer Konkretisierung in
Art. 49 Abs. 1 ATSG
nach Massgabe von
Art. 5 Abs. 1 VwVG
(vgl.
Art. 55 ATSG
; siehe auch KIESER, a.a.O., N 2 zu Art. 49). Als Verfügungen im Sinne von
Art. 5 Abs. 1 VwVG
gelten Anordnungen der Behörden im Einzelfall, die sich auf öffentliches Recht des Bundes stützen (oder richtigerweise hätten stützen sollen;
BGE 116 Ia 266
Erw. 2a) und zum Gegenstand haben: Begründung, Änderung oder Aufhebung von Rechten oder Pflichten, Feststellung des Bestehens, Nichtbestehens oder Umfanges von Rechten oder Pflichten, Abweisung von Begehren auf Begründung, Änderung, Aufhebung oder Feststellung von Rechten oder Pflichten, oder Nichteintreten auf solche Begehren (
BGE 124 V 20
Erw. 1,
BGE 123 V 296
Erw. 3a, je mit Hinweisen). Der Verfügung gleichgestellt sind gemäss
Art. 5 Abs. 2 VwVG
(rechtsgestaltende oder feststellende) Einspracheentscheide.
2.4
Der Erlass einer Feststellungsverfügung setzt gemäss
Art. 49 Abs. 2 ATSG
- analog zu Art. 25 Abs. 2 in Verbindung mit
Art. 5 Abs. 1 lit. b VwVG
- ein schützenswertes Interesse voraus, worunter rechtsprechungsgemäss ein rechtliches oder tatsächliches und aktuelles Interesse an der sofortigen Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses zu verstehen ist,
BGE 130 V 388 S. 392
dem keine erheblichen öffentlichen oder privaten Interessen entgegenstehen, und welches nicht durch eine rechtsgestaltende Verfügung gewahrt werden kann (
BGE 126 II 303
Erw. 2c,
BGE 125 V 24
Erw. 1b,
BGE 121 V 317
Erw. 4a mit Hinweisen). Nach der zu
Art. 25 Abs. 2 VwVG
ergangenen, auch auf
Art. 49 Abs. 2 ATSG
anwendbaren Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts gilt das Erfordernis des schützenswerten Interesses auch für den Erlass von Feststellungsverfügungen, welche ein Hoheitsträger nicht auf Ersuchen, sondern von Amtes wegen (vgl.
Art. 25 Abs. 1 VwVG
) erlässt (RKUV 1990 Nr. U 106 S. 275).
2.5
Feststellungsverfügungen im Sinne von
Art. 5 Abs. 1 lit. b VwVG
und
Art. 49 Abs. 2 ATSG
haben - gleich wie bei Gestaltungs- und Leistungsverfügungen - stets individuelle und konkrete Rechte und Pflichten, d.h. Rechtsfolgen zum Gegenstand. Auch mit Feststellungsverfügungen können mithin nur Rechtsfragen geklärt, nicht aber Tatsachenfeststellungen getroffen werden (GYGI, a.a.O., S. 144 Ziff. 10; KÖLZ/HÄNER, Verwaltungsverfahren und Verwaltungsrechtspflege des Bundes, 2. Aufl., Zürich 1998, Rz 209). Nicht feststellungsfähig ist namentlich auch eine abstrakte Rechtslage, wie sie sich aus einem Rechtssatz für eine Vielzahl von Personen und Tatbeständen ergibt (ASA 71 S. 641 Erw. 1; RHINOW/ KOLLER/KISS, Öffentliches Prozessrecht und Justizverfassungsrecht des Bundes, Basel 1996, S. 229 Rz 1189; vgl.
BGE 108 Ib 22
Erw. 1). Ferner werden mit behördlichen Zusicherungen, Auskünften, Empfehlungen oder Belehrungen keine Rechtsfolgen verbindlich festgelegt; solche Mitteilungen stellen demnach keine Verfügungen dar und sind folglich nicht anfechtbar (
BGE 121 II 479
Erw. 2c und 482 Erw. 3a; GYGI, a.a.O., S. 136). | de |
3d98a50c-9251-4ece-b339-c66a4f078634 | Sachverhalt
ab Seite 218
BGE 147 III 218 S. 218
A.
A.a
Mit Mietvertrag vom 19. September 2017 mietete die A. GmbH (Mieterin, Beschwerdeführerin) von der B. AG (Vermieterin, Beschwerdegegnerin) einen Lagerraum im 2. Untergeschoss an der U.strasse in V. Der Nettomietzins von Fr. 425.- und die Nebenkosten in der Höhe von Fr. 25.- waren jeweils im Voraus auf den 1. des Monats zahlbar.
A.b
Am 25. September 2018 setzte die Mieterin der Vermieterin eine Frist zur Behebung von Mängeln am Mietobjekt und drohte ihr an, künftige Mietzinse bis zur Mängelbehebung bei der Schlichtungsstelle zu hinterlegen. Die Mängel wurden in der Folge nicht behoben.
A.c
Am 2. November 2018 mahnte die Vermieterin die Mieterin zur Bezahlung der Mietzinse der Monate Oktober und November 2018 und setzte ihr unter Androhung der Kündigung wegen Zahlungsverzugs eine Frist von 30 Tagen zur Zahlung der ausstehenden Mietzinse.
BGE 147 III 218 S. 219
A.d
Am 5. und 8. November 2018 hinterlegte die Mieterin die Mietzinse für die Monate Oktober und November 2018 bei der Schlichtungsstelle. Mit Schreiben vom 12. Dezember 2018 kündigte die Vermieterin den Mietvertrag wegen Zahlungsrückstands per 31. Januar 2019. Am 31. Januar 2019 ersuchte die Vermieterin beim Zivilgericht Basel-Stadt um Rechtsschutz in klaren Fällen und beantragte, die Mieterin sei zu verurteilen, den gemieteten Lagerraum sofort zu verlassen. Mit Entscheid vom 27. Februar 2019 wies das Zivilgericht die Mieterin an, den Lagerraum bis spätestens am 15. März 2019 zu räumen. Auf Berufung der Mieterin hin hob das Appellationsgericht Basel-Stadt den Entscheid auf, da die Rechtslage nicht klar sei.
B.
B.a
Nachdem das Schlichtungsverfahren keine Einigung gebracht hatte, gelangte die Vermieterin am 14. November 2019 an das Zivilgericht Basel-Stadt und beantragte, die Mieterin sei zu verurteilen, den Lagerraum sofort, eventualiter innert einer gerichtlich festzusetzenden Frist, zu räumen. Sollte die Mieterin den Lagerraum nicht fristgerecht verlassen, sei die Vermieterin zu ermächtigen, die amtliche Räumung zu verlangen.
Mit Entscheid vom 14. Mai 2020 wies das Zivilgericht die Mieterin an, den Lagerraum bis spätestens am 25. Mai 2020 um 11.30 Uhr zu räumen, widrigenfalls der Vermieterin auf Antrag hin die Ermächtigung zur Räumung erteilt werde.
B.b
Gegen diesen Entscheid erhob die Mieterin am 12. Juli 2020 Berufung beim Appellationsgericht Basel-Stadt und verlangte die Aufhebung des Entscheids des Zivilgerichts und die Abweisung der Klage. Am 24. September 2020 wies das Appellationsgericht die Berufung ab. Es erwog, die Mieterin habe den Mietzins innerhalb der angesetzten Zahlungsfrist weder bezahlt noch mit befreiender Wirkung hinterlegt. Das Zufallen nicht gültig hinterlegter Mietzinse an die Vermieterin gemäss
Art. 259h Abs. 1 OR
könne nicht mit einer Zahlung gleichgesetzt werden, die eine Zahlungsverzugskündigung ausschliessen würde.
C.
Mit Beschwerde in Zivilsachen vom 2. November 2020 beantragt die Beschwerdeführerin, den Entscheid des Appellationsgerichts kostenfällig aufzuheben und die Klage der Beschwerdegegnerin abzuweisen. Es wurden keine Vernehmlassungen eingeholt. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
BGE 147 III 218 S. 220 Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
(...)
3.3
3.3.1
Die Hinterlegung des Mietzinses ist gemäss
Art. 259g Abs. 1 OR
zulässig, wenn (1.) ein Mangel an der (unbeweglichen) Mietsache vorliegt, (2.) der Mieter vom Vermieter die Beseitigung des Mangels verlangt hat sowie ihm dazu (3.) schriftlich eine angemessene Frist angesetzt und (4.) die Hinterlegung angedroht hat. Weiter hat die Hinterlegung (5.) bei einer vom Kanton bezeichneten Stelle zu erfolgen und kann (6.) ausschliesslich in Zukunft fällige Mietzinse betreffen. Überdies hat der Mieter (7.) die Hinterlegung dem Vermieter schriftlich anzukündigen. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, gelten die Mietzinse mit der Hinterlegung als bezahlt (
Art. 259g Abs. 2 OR
). Die Hinterlegung ist diesfalls Erfüllungssurrogat (
BGE 125 III 120
E. 2a S. 121; HANS GIGER, Berner Kommentar, 2015, N. 23 zu
Art. 259g OR
; HIGI/WILDISEN, in: Zürcher Kommentar, 5. Aufl. 2019, N. 12 zu
Art. 259g OR
; MARIUS SCHRANER, Zürcher Kommentar, 3. Aufl. 2000, N. 98 zu
Art. 92 OR
).
3.3.2
Eine fehlerhafte Hinterlegung soll gemäss herrschender Lehre die Erfüllungswirkung grundsätzlich ausschliessen (GIGER, a.a.O., N. 23 zu
Art. 259g OR
; HIGI/WILDISEN, a.a.O., N. 11 und 43 zu
Art. 259g OR
; HULLIGER/HEINRICH, in: Vertragsverhältnisse, Handkommentar zum Schweizer Privatrecht, 3. Aufl. 2016, N. 7 zu
Art. 259g-i OR
; MATTHIAS TSCHUDI, in: Das schweizerische Mietrecht, 4. Aufl. 2018, N. 39 und 41 f. zu
Art. 259g OR
; ROGER WEBER, in: Basler Kommentar, Obligationenrecht, Bd. I, 6. Aufl. 2015, N. 14 zu
Art. 259g OR
; zur Ausnahme der Hinterlegung bei gutgläubiger, aber irriger, Annahme eines Mangels durch den Mieter:
BGE 125 III 120
E. 2b S. 122; Urteil 4A_739/2011 vom 3. April 2012 E. 2.4). Wird ein bereits fälliger Mietzins hinterlegt, tritt die Befreiungswirkung von
Art. 259g Abs. 2 OR
dieser Ansicht zufolge nicht ein (statt vieler HIGI/WILDISEN, a.a.O., N. 57 zu
Art. 259g OR
; CLAUDE ROY, in: Mietrecht für die Praxis, 9. Aufl. 2016, S. 268; TSCHUDI, a.a.O., N. 31 zu
Art. 259g OR
).
Ein Teil der Lehre und der Rechtsprechung spricht sich - zumindest für jenen Fall, da sich der Mieter mit den Mietzinsen im Zahlungsrückstand befindet und ihm der Vermieter eine Zahlungsfrist nach
Art. 257d Abs. 1 OR
angesetzt hat - demgegenüber dafür aus, dass der Mietzins bei Hinterlegung innert der Zahlungsfrist von
Art. 257d
BGE 147 III 218 S. 221
Abs. 1 OR
als bezahlt gelte, was eine ausserordentliche Kündigung wegen Zahlungsverzugs ausschliesse. Begründet wird dies damit, dass kein Grund ersichtlich sei, den Mieter, der den Mietzins verspätet hinterlege, anders zu behandeln als denjenigen, der den Mietzins zu spät (aber noch innert der Zahlungsfrist von
Art. 257d Abs. 1 OR
) bezahle (Urteil der Cour de Justice des Kantons Genf vom 10. Mai 2004, in: mp 2005 S. 279; HIGI/WILDISEN, a.a.O., N. 58 zu
Art. 259g OR
).
Das Bundesgericht hat sich mit dieser Frage bisher zwar noch nicht näher auseinandergesetzt, äusserte sich indes trotzdem verschiedentlich dazu - und zwar uneinheitlich: Im Urteil 4A_368/2007 vom 7. November 2007 E. 2.4 hielt es fest, dass sich aus dem klar umschriebenen Zweck der Hinterlegung ergebe, dass mit dieser keine Tilgung bereits fällig gewordener Mietzinse erreicht werden könne, sondern nur künftig fälliger. Demgegenüber erwog es im Urteil 4A_140/2014 vom 6. August 2014 E. 5.2, in: SJ 2015 I S. 1, unter Verweis auf DAVID LACHAT, Le bail à loyer, 2008, S. 668 f., dass der Mieter nach Erhalt der Kündigungsandrohung die Auflösung des Mietvertrags durch Zahlung des geschuldeten (fälligen) Mietzinses oder durch dessen Hinterlegung abwenden könne. Nachfolgend gilt es zu klären, welche Ansicht vorzuziehen ist.
3.3.2.1
Das Gesetz ist in erster Linie nach seinem Wortlaut auszulegen (sprachlich-grammatikalisches Element). Ist der Text nicht ganz klar und sind verschiedene Auslegungen möglich, so muss das Gericht unter Berücksichtigung aller Auslegungselemente nach der wahren Tragweite der Norm suchen. Dabei hat es insbesondere den Willen des Gesetzgebers zu berücksichtigen, wie er sich namentlich aus den Gesetzesmaterialien ergibt (historisches Auslegungselement). Weiter hat das Gericht nach dem Zweck und den dem Text zu Grunde liegenden Wertungen zu forschen, namentlich nach dem durch die Norm geschützten Interesse (teleologisches Element). Zu berücksichtigen ist ferner die systematische Stellung der Norm im Kontext und das Verhältnis, in welchem sie zu anderen Gesetzesvorschriften steht (systematisches Element). Das Bundesgericht befolgt bei der Auslegung von Gesetzesnormen einen pragmatischen Methodenpluralismus und lehnt es ab, die einzelnen Auslegungselemente einer Prioritätsordnung zu unterstellen (
BGE 146 III 217
E. 5 S. 218 f.;
BGE 145 III 324
E. 6.6 S. 334;
BGE 144 III 29
E. 4.4.1 S. 34 f.;
BGE 131 III 314
E. 2.2 S. 315 f.;
BGE 121 III 460
E. 4a/bb S. 465; je mit Hinweisen).
BGE 147 III 218 S. 222
3.3.2.2
Der
Wortlaut
von
Art. 259g Abs. 2 OR
beantwortet nicht eindeutig, ob auch die Hinterlegung bereits fälliger Mietzinse schuldtilgend wirkt. Eine Hinterlegung ist auch in diesem Fall möglich. Allerdings genügt sie diesfalls nicht den Voraussetzungen von
Art. 259g Abs. 1 OR
, dessen klarem Wortlaut zufolge die Hinterlegung nur für "Mietzinse[,] die künftig fällig werden"zulässig ist (siehe auch Botschaft vom 27. März 1985 zur Revision des Miet- und Pachtrechts, BBl 1985 I 1415 Ziff. 412.1 und 1437 Ziff. 421.106). Betrachtet man den Wortlaut des gesamten
Art. 259g OR
, spricht dieser eher dafür, dass die Hinterlegung bereits fälliger Mietzinse nicht schuldtilgend ist.
3.3.2.3
Gemäss der Botschaft des Bundesrates im Hinblick auf den Erlass von
Art. 259g OR
(und weiterer Bestimmungen) sollte mit der Einführung des Rechts zur Hinterlegung künftig fällig werdender Mietzinse bei Mangelhaftigkeit der Mietsache ein Dreifaches erreicht werden: Erstens werde dem Mieter damit "ein Druckmittel" in die Hand gegeben, "um vom Vermieter die Beseitigung des Mangels zu verlangen"; zweitens werde damit vermieden, "dass illiquide, schikanös handelnde Mieter dieses Recht einsetzen können"; und drittens werde damit "das Gespräch zwischen Mieter und Vermieter gefördert" (BBl 1985 I 1416 Ziff. 412.1). Der zweitgenannte Zweck bezieht sich dabei offenkundig auf die den zitierten Passagen in der Botschaft vorangegangene Aufzählung der Voraussetzungen der Zulässigkeit der Hinterlegung (schriftliche Benachrichtigung des Vermieters, Ausschluss der Hinterlegbarkeit bereits fälliger Mietzinse sowie Anrufung der Schlichtungsbehörde innert 30 Tagen; vgl. BBl 1985 I 1415 f. Ziff. 412.1). Während sowohl dem ersten (Druckmittel) als auch dem dritten Zweck (Förderung der Gesprächsbereitschaft) auch dann Genüge getan werden könnte, wenn die Erfüllungswirkung durch die Hinterlegung bereits fälliger Mietzinse eintreten würde, würde diese der zweiterwähnten Zweckbestimmung zumindest dann entgegenstehen, wenn der Mieter den Mietzins lediglich hinterlegt, um den Vermieter zu schikanieren. In der Botschaft wird weiter mehrfach ausdrücklich erwähnt, dass die Hinterlegung bereits fälliger Mietzinse ausgeschlossen sein soll (siehe BBl 1985 I 1415 Ziff. 412.1, 1437 Ziff. 421.106). Des Weiteren erklärt die Botschaft, Abs. 2 von
Art. 259g OR
präzisiere
, dass hinterlegte Mietzinse als bezahlt gelten (BBl 1985 I 1437 Ziff. 421.106). Indem der Bundesrat von einer Präzisierung sprach, wird deutlich, dass er
Art. 259g Abs. 2 OR
als auf
Art. 259g Abs. 1 OR
aufbauend betrachtete. Nach
BGE 147 III 218 S. 223
dem
Willen des Gesetzgebers
sollte demzufolge die Hinterlegung lediglich dann befreiend wirken, wenn die Voraussetzungen von
Art. 259g Abs. 1 OR
, zu welchen - wie erwähnt - auch die fehlende Fälligkeit zählt, gegeben sind.
3.3.2.4
Zu demselben Ergebnis gelangt man bei Berücksichtigung der
Gesetzessystematik
: Während in
Art. 259g Abs. 1 OR
die Voraussetzungen der Hinterlegung aufgezählt werden, regelt der zweite Absatz, welche Wirkung die Hinterlegung zeitigt, sofern deren Voraussetzungen erfüllt sind. Letztere Bestimmung ist systematisch lediglich eine Weiterführung von Abs. 1, weshalb sie in Berücksichtigung der in Abs. 1 statuierten Voraussetzungen zu lesen ist.
3.3.2.5
Die Einführung des Hinterlegungsrechts war eine Mittellösung zwischen dem weitergehenden Vorschlag der Expertenkommission, der dem Mieter das Recht einräumen wollte, ohne Weiteres den Mietzins herabzusetzen, und dem damals geltenden Recht, das dem Mieter weder den einen noch den anderen Rechtsbehelf einräumte (Bl 1985 I 1437 Ziff. 421.106). Das Hinterlegungsrecht bezweckt damit zum einen, das Inkassorisiko von Mieter und Vermieter zu reduzieren - sei es weil Ersterem ein Anspruch auf teilweise Rückerstattung des Mietzinses zusteht oder Letzterem ein Anspruch auf Bezahlung eines reduzierten Mietzinses. Andererseits verleiht die Möglichkeit der Hinterlegung dem Mieter ein - im Vergleich zur direkten Anrufung des Gerichts - leicht verfügbares Druckmittel, um den Vermieter zum Tätigwerden zu bewegen. Indem
Art. 259g Abs. 2 OR
die Erfüllungswirkung vorsieht, wird gleichzeitig verhindert, dass der untätige Vermieter den Mietvertrag wegen Zahlungsverzugs kündigen könnte. Würde die Erfüllungswirkung auch bei Hinterlegung bereits fällig gewordener Mietzinse bejaht, führte dies zwar zu einer Schlechterstellung des Vermieters, doch widerspräche eine derartige Auslegung nicht dem
Zweckge
danken
des Instituts der (mietrechtlichen) Hinterlegung.
3.3.2.6
Die Auslegung hat gezeigt, dass das sprachlich-grammatikalische Element keinen eindeutigen Aufschluss darüber gibt, ob die Erfüllungswirkung von
Art. 259g Abs. 2 OR
auch bei der Hinterlegung bereits fälliger Mietzinse eintritt. Das teleologische Auslegungselement führt zwar zu keiner positiven Erkenntnis, doch wäre eine weite Auslegung von
Art. 259g Abs. 2 OR
unter Einschluss bereits fälliger Mietzinse jedenfalls mit dem Zweck der Hinterlegung vereinbar. Demgegenüber spricht sowohl das historische als
BGE 147 III 218 S. 224
auch das systematische Element gegen eine derartige Annahme. Im Ergebnis ist damit festzuhalten, dass der Eintritt der Erfüllungswirkung nach
Art. 259g Abs. 2 OR
verlangt, dass die Voraussetzungen von
Art. 259g Abs. 1 OR
erfüllt sind. Hinterlegt ein Mieter im Zeitpunkt der Hinterlegung bereits fällige Mietzinse, vermag die Hinterlegung keine Tilgung der Mietzinsschuld zu bewirken.
3.3.3
Die Beschwerdeführerin behauptete zu Recht nicht, die Hinterlegung sei trotzdem gültig gewesen, weil sie gutgläubig davon ausgegangen sei, die von ihr hinterlegten Beträge seien noch nicht fällig gewesen, musste ihr doch aufgrund des Mietvertrags bekannt sein, dass die Mietzinse jeweils auf den ersten des Monats fällig werden.
3.3.4
Von
Art. 259g Abs. 2 OR
zu unterscheiden ist das Zufallen hinterlegter Mietzinse an den Vermieter nach
Art. 259h OR
: Diese Bestimmung beschlägt nicht die Erfüllungswirkung bei der Hinterlegung, sondern regelt - so die Marginalie - die Frage der "Herausgabe der hinterlegten Mietzinse". Sie ist mithin als Fortsetzung von
Art. 259g OR
zu sehen (GIGER, a.a.O., N. 6 zu
Art. 259h OR
). Hinterlegt der Mieter - sei es zu Recht oder ungerechtfertigt - Mietzinse, macht er seine Ansprüche jedoch nicht innert der Frist von
Art. 259h Abs. 1 OR
geltend, "fallen diese [Mietzinse] demVermieter zu", was in der Lehre dahingehend verstanden wird, als die Hinterlegungsstelle diesem die hinterlegten Beträge von Amtes wegen zu überweisen hat (GIGER, a.a.O., N. 9 zu
Art. 259h OR
; HULLIGER/HEINRICH, a.a.O., N. 14 zu
Art. 259g-i OR
; TSCHUDI, a.a.O., N. 6 zu
Art. 259h OR
). Waren die Voraussetzungen von
Art. 259g Abs. 1 OR
im Zeitpunkt der Hinterlegung erfüllt, ändert der Umstand, dass der Mieter seine Ansprüche nicht, zu spät oder in fehlerhafter Weise bei der Schlichtungsbehörde geltend macht, nichts an der (bereits vorher eingetretenen) Erfüllungswirkung von
Art. 259g Abs. 2 OR
(Urteil 4C.331/2004 vom 17. März 2005 E. 2.3; GIGER, a.a.O., N. 9 zu
Art. 259h OR
; TSCHUDI, a.a.O., N. 43 zu
Art. 259g OR
;
derselbe
, a.a.O., N. 7 zu
Art. 259h OR
). Waren die erwähnten Voraussetzungen demgegenüber
nicht
erfüllt, bewirkt das blosse Zufallen der hinterlegten Mietzinse an den Vermieter nach
Art. 259h Abs. 1 OR
nicht die Erfüllung der Mietzinsschuld. In diesem Fall ist die Schuld erst dann getilgt, wenn dem Vermieter die hinterlegte Summe ausgehändigt oder auf seinem Konto gutgeschrieben wurde.
3.3.5
Vorliegend hinterlegte die Beschwerdeführerin bereits fällig gewordene Mietzinse. Damit genügte sie den vorstehend
BGE 147 III 218 S. 225
aufgezählten Voraussetzungen für den Eintritt der Erfüllungswirkung nach
Art. 259g Abs. 2 OR
nicht. Da eine solche nach
Art. 259h Abs. 1 OR
nicht eintreten konnte und - entsprechend den ungerügt gebliebenen vorinstanzlichen Feststellungen - weder eine Weiterleitung der hinterlegten Beträge an die Beschwerdegegnerin noch eine anderweitige direkte Zahlung an diese innert der 30-tägigen Zahlungsfrist stattfand, ist der angefochtene Entscheid nicht zu beanstanden. | de |
07265982-bf2d-4aab-98cd-5f2386d9fb5c | 613.21 1 / 65 Verordnung über den Finanz- und Lastenausgleich (FiLaV) vom 7. November 2007 (Stand am 1. Januar 2023) Der Schweizerische Bundesrat, gestützt auf das Bundesgesetz vom 3. Oktober 20031 über den Finanz- und Lastenausgleich (FiLaG), verordnet: 1. Titel: Ressourcenausgleich durch Bund und Kantone 1. Kapitel: Ressourcenpotenzial 1. Abschnitt: Begriffe Art. 1 Ressourcenpotenzial und aggregierte Steuerbemessungsgrundlage 1 Das Ressourcenpotenzial eines Kantons ist in Anhang 1 festgelegt. Es basiert auf der aggregierten Steuerbemessungsgrundlage des Kantons. Diese entspricht der Summe: a. der massgebenden Einkommen der natürlichen Personen; b. der massgebenden quellenbesteuerten Einkommen; c. der massgebenden Vermögen der natürlichen Personen; d. der massgebenden Gewinne der juristischen Personen ohne besonderen Steu- erstatus; e. der massgebenden Gewinne der juristischen Personen mit besonderem Steuerstatus; f. der massgebenden Steuerrepartitionen der direkten Bundessteuer. 2 Das Ressourcenpotenzial der Schweiz entspricht der Summe der Ressourcenpoten- ziale aller Kantone. Art. 2 Referenz- und Bemessungsjahr 1 Das Referenzjahr des Ressourcenpotenzials ist das Jahr, für welches das Ressour- cenpotenzial als Grundlage für den Ressourcenausgleich dient. 2 Das Ressourcenpotenzial eines Referenzjahres entspricht dem Durchschnitt der ag- gregierten Steuerbemessungsgrundlage aus drei aufeinander folgenden Jahren (Be- messungsjahre). AS 2007 5887 1 SR 613.2 613.21 Finanzausgleich 2 / 65 613.21 3 Das erste Bemessungsjahr liegt gegenüber dem Referenzjahr um sechs, das letzte um vier Jahre zurück. Art. 32 Ressourcenpotenzial pro Kopf der Einwohnerinnen und Einwohner Das Ressourcenpotenzial pro Kopf der Einwohnerinnen und Einwohner ist in An- hang 1 festgelegt. Es entspricht dem Verhältnis zwischen dem Ressourcenpotenzial und dem Durchschnitt der mittleren ständigen und nichtständigen Wohnbevölkerung in den Bemessungsjahren des Ressourcenpotenzials. Art. 4 Ressourcenindex 1 Der Ressourcenindex eines Kantons ist in Anhang 1 festgelegt. Er entspricht dem mit Faktor 100 multiplizierten Verhältnis zwischen dem Ressourcenpotenzial pro Kopf der Einwohnerinnen und Einwohner des Kantons und dem Ressourcenpotenzial pro Kopf der Einwohnerinnen und Einwohner der gesamten Schweiz. 2 …3 3 Der Ressourcenindex der gesamten Schweiz beträgt 100 Indexpunkte. 4 Kantone, deren Ressourcenindex den Wert von 100 übersteigt, gelten als ressour- censtark. Die übrigen Kantone gelten als ressourcenschwach. Art. 5 Standardisierter Steuerertrag und Steuersatz 1 Der standardisierte Steuerertrag eines Kantons entspricht seinen massgebenden ei- genen Ressourcen. Dieser Ertrag ergibt sich aus der Anwendung eines für alle Kan- tone einheitlichen proportionalen Steuersatzes (standardisierter Steuersatz) auf das Ressourcenpotenzial.4 2 Der standardisierte Steuerertrag der Schweiz umfasst:5 a.6 die Steuereinnahmen, die alle Kantone und Gemeinden im Durchschnitt der Bemessungsjahre laut Finanzstatistik der öffentlichen Haushalte nach Statis- tikerhebungsverordnung vom 30. Juni 19937 erzielt haben; b. die Anteile der Kantone an den Einnahmen der direkten Bundessteuer gemäss Artikel 196 Absatz 1 des Bundesgesetzes vom 14. Dezember 19908 über die direkte Bundessteuer (DBG) im Durchschnitt der Bemessungsjahre. 2 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 4. Nov. 2015, in Kraft seit 1. Jan. 2016 (AS 2015 4753). 3 Aufgehoben durch Ziff. I der V vom 30. Okt. 2013, mit Wirkung seit 1. Jan. 2014 (AS 2013 3809). 4 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 4. Nov. 2015, in Kraft seit 1. Jan. 2016 (AS 2015 4753). 5 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 4. Nov. 2015, in Kraft seit 1. Jan. 2016 (AS 2015 4753). 6 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 6. Nov. 2019, in Kraft seit 1. Jan. 2020 (AS 2019 3823). 7 SR 431.012.1 8 SR 642.11 Finanz- und Lastenausgleich. V 3 / 65 613.21 3 Der standardisierte Steuersatz entspricht dem Verhältnis zwischen dem standardi- sierten Steuerertrag und dem Ressourcenpotenzial der Schweiz. 4 Der Index der standardisierten Steuererträge pro Einwohnerin und Einwohner ent- spricht dem Ressourcenindex. 5 Die Berechnung des standardisierten Steuerertrags sowie der standardisierte Steuer- satz sind in Anhang 1 festgelegt.9 2. Abschnitt: Massgebende Einkommen der natürlichen Personen Art. 6 Berechnungsgrundlage für die einzelne natürliche Person 1 Das massgebende Einkommen einer natürlichen steuerpflichtigen Person entspricht ihrem steuerbaren Einkommen nach DBG10 abzüglich eines einheitlichen Freibetrags. 2 Der Freibetrag entspricht dem tiefsten steuerbaren Betrag für Ehepaare nach Artikel 36 Absätze 2 und 3 DBG des entsprechenden Bemessungsjahres.11 3 Ist das steuerbare Einkommen einer steuerpflichtigen Person kleiner als der Freibe- trag, so ist ihr massgebendes Einkommen Null. Art. 7 Berechnungsgrundlage für den Kanton Das massgebende Einkommen der natürlichen Personen eines Kantons ist in An- hang 2 festgelegt. Es entspricht der Summe der massgebenden Einkommen der im betreffenden Kanton steuerpflichtigen natürlichen Personen gemäss DBG12. 3. Abschnitt: Massgebende quellenbesteuerte Einkommen Art. 8 Berechnungsgrundlage Das massgebende quellenbesteuerte Einkommens wird aufgrund der jährlichen Erhe- bung der Bruttolöhne der an der Quelle besteuerten natürlichen Personen und der An- zahl steuerpflichtige Personen gemäss den Artikeln 83 ff. und 91 ff. DBG13 berechnet. Art. 9 Zusammensetzung Das massgebende quellenbesteuerte Einkommen eines Kantons ist in Anhang 3 fest- gelegt. Es setzt sich zusammen aus der Summe der massgebenden quellenbesteuerten Einkommen: 9 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 4. Nov. 2015, in Kraft seit 1. Jan. 2016 (AS 2015 4753). 10 SR 642.11 11 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 6. Nov. 2019, in Kraft seit 1. Jan. 2020 (AS 2019 3823). 12 SR 642.11 13 SR 642.11 Finanzausgleich 4 / 65 613.21 a. der gebietsansässigen Ausländerinnen und Ausländer gemäss Artikel 83 DBG14; b. der ausländischen Verwaltungsrätinnen und Verwaltungsräte gemäss Arti- kel 93 DBG; c. der vollständig besteuerten Grenzgängerinnen und Grenzgänger gemäss Arti- kel 91 DBG; d. der begrenzt besteuerten Grenzgängerinnen und Grenzgänger gemäss Arti- kel 83 DBG und den Doppelbesteuerungsabkommen mit Österreich, Deutsch- land, Frankreich und Italien. Art. 1015 Berechnung 1 Die massgebenden quellenbesteuerten Einkommen eines Kantons werden nach An- hang 3 berechnet. Die Umrechnung der Bruttolöhne auf das Niveau der ordentlich besteuerten Einkommen erfolgt mittels des Faktors Gamma. 2 Der Faktor Gamma entspricht dem Verhältnis zwischen dem massgebenden Ein- kommen der natürlichen Personen der Schweiz und dem Primäreinkommen der pri- vaten Haushalte der Schweiz. Grundlage für die Berechnung ist das Verhältnis im letzten verfügbaren Bemessungsjahr. Der Faktor wird auf drei Kommastellen gerun- det. 3 Der Faktor Gamma wird jeweils für das letzte Bemessungsjahr nach Artikel 2 Ab- satz 3 neu berechnet. Für die anderen Bemessungsjahre werden die Faktoren Gamma aus dem Vorjahr übernommen. 4. Abschnitt: Massgebende Vermögen der natürlichen Personen Art. 11 Berechnungsgrundlage 1 Das massgebende Vermögen der natürlichen Personen wird aufgrund der Steuerbe- messungsgrundlage für die kantonale Vermögenssteuer berechnet. 2 In die Berechnung miteinbezogen werden: a. das Reinvermögen der unbeschränkt steuerpflichtigen Personen mit Wohnsitz im Kanton, abzüglich des Anteils, welcher anderen Kantonen oder dem Aus- land zusteht; und b. das Reinvermögen der beschränkt steuerpflichtigen Personen im Liegen- schafts- oder Betriebsstättenkanton, einschliesslich der vom Kanton steuerlich erfassten Reinvermögensteile von Personen mit Wohnsitz im Ausland. 14 SR 642.11 15 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 6. Nov. 2019, in Kraft seit 1. Jan. 2020 (AS 2019 3823). Finanz- und Lastenausgleich. V 5 / 65 613.21 Art. 12 Massgebendes Vermögen einer steuerpflichtigen Person 1 Das massgebende Vermögen einer steuerpflichtigen Person ist das mit dem Gewich- tungsfaktor Alpha multiplizierte Reinvermögen der steuerpflichtigen Person. 2 Ist das Reinvermögen einer steuerpflichtigen Person negativ, so ist das massgebende Vermögen Null. Art. 1316 Berechnung des Faktors Alpha 1 Der Faktor Alpha entspricht der steuerlichen Ausschöpfung der Vermögen im Ver- hältnis zur steuerlichen Ausschöpfung der Einkommen. Grundlage für die Berech- nung ist der Durchschnitt dieses Verhältnisses in den letzten verfügbaren sechs Be- messungsjahren. Der Faktor wird auf drei Kommastellen gerundet. Die Berechnung richtet sich nach Anhang 4. 2 Der Faktor Alpha wird jeweils für das letzte Bemessungsjahr nach Artikel 2 Absatz 3 neu berechnet. Für die anderen Bemessungsjahre werden die Faktoren Alpha aus den jeweiligen Vorjahren übernommen. Art. 14 Massgebendes Vermögen der natürlichen Personen eines Kantons Das massgebende Vermögen der natürlichen Personen eines Kantons ist in Anhang 4 festgelegt. Es entspricht der Summe der massgebenden Vermögen der im betreffenden Kanton beschränkt und unbeschränkt steuerpflichtigen natürlichen Personen. 5. Abschnitt: Massgebende Gewinne der juristischen Personen ohne besonderen Steuerstatus Art. 15 Berechnung für die einzelne juristische Person 1 Der massgebende Gewinn einer juristischen Person ohne besonderen Steuerstatus entspricht dem steuerbaren Reingewinn nach Artikel 58 DBG17 abzüglich des Netto- ertrags aus Beteiligungen gemäss DBG. 2 Ist der Nettoertrag aus Beteiligungen grösser als der steuerbare Reingewinn, so ist der massgebende Gewinn null. Art. 16 Berechnung für den Kanton Die massgebenden Gewinne der juristischen Personen ohne besonderen Steuerstatus eines Kantons sind in Anhang 5 festgelegt. Sie entsprechen der Summe der massge- benden Gewinne der im Kanton steuerpflichtigen juristischen Personen ohne beson- deren Steuerstatus. 16 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 6. Nov. 2019, in Kraft seit 1. Jan. 2020 (AS 2019 3823). 17 SR 642.11 Finanzausgleich 6 / 65 613.21 6. Abschnitt: Massgebende Gewinne der juristischen Personen mit besonderem Steuerstatus Art. 17 Berechnung für die einzelne juristische Person Der massgebende Gewinn einer juristischen Person mit besonderem Steuerstatus ent- spricht der Summe: a. des steuerbaren Gewinns aus den Einkünften aus der Schweiz gemäss Artikel 28 Absätze 2–4 des Bundesgesetzes vom 14. Dezember 199018 über die Har- monisierung der direkten Steuern der Kantone und Gemeinden (StHG); b. des steuerbaren Reingewinns gemäss Artikel 58 DBG19, abzüglich des Netto- ertrags aus Beteiligungen gemäss DBG und des steuerbaren Gewinns aus der Schweiz gemäss Buchstabe a, gewichtet mit dem Faktor Beta. Art. 18 Berechnung für den Kanton Der massgebende Gewinn der juristischen Personen mit besonderem Steuerstatus ei- nes Kantons ist in Anhang 6 festgelegt. Er entspricht der Summe der massgebenden Gewinne der im Kanton steuerpflichtigen juristischen Personen mit besonderem Steu- erstatus. Art. 19 Berechnung der Faktoren Beta 1 Es wird für juristische Personen nach Artikel 28 Absätze 2–4 StHG20 je ein Faktor Beta berechnet. Sie sind in Anhang 6 festgelegt. 2 Die Faktoren Beta sind für alle Kantone gleich. 3 Die Faktoren Beta gelten für eine Vierjahresperiode des Ressourcenausgleichs. Grundlage sind die Zahlen der Bemessungsjahre der vergangenen Vierjahresperiode des Ressourcenausgleichs. 4 Die Faktoren Beta entsprechen der Summe aus je einem Basisfaktor und je einem Zuschlagsfaktor. 5 Für juristische Personen mit besonderem Steuerstatus, die nicht definitiv veranlagt sind, beträgt der Faktor Beta 1, es sei denn, dass provisorische Angaben in gleichwer- tiger Qualität wie die definitiv veranlagten Angaben geliefert werden können.21 6 Eine provisorische Angabe ist von gleichwertiger Qualität, wenn im Zeitpunkt, in dem die Daten eines Bemessungsjahres erhoben werden, aufgrund der Steuererklä- rung die steuerbaren Einkünfte nach Artikel 17 bekannt sind.22 18 SR 642.14 19 SR 642.11 20 SR 642.14 21 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 4. Nov. 2015, in Kraft seit 1. Jan. 2016 (AS 2015 4753). 22 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 4. Nov. 2015, in Kraft seit 1. Jan. 2016 (AS 2015 4753). Finanz- und Lastenausgleich. V 7 / 65 613.21 Art. 20 Basis- und Zusatzfaktor 1 Der Basisfaktor entspricht für: a. juristische Personen mit besonderem Steuerstatus gemäss Artikel 28 Absatz 2 StHG23: 0; b. juristische Personen mit besonderem Steuerstatus gemäss Artikel 28 Absatz 3 StHG: dem ersten Quartil der steuerbaren Anteile der übrigen Einkünfte aus dem Ausland aller juristischen Personen in der Schweiz, die gemäss Artikel 28 Absatz 3 StHG besteuert werden. c. juristische Personen mit besonderem Steuerstatus gemäss Artikel 28 Absatz 4 StHG: dem ersten Quartil der steuerbaren Anteile der übrigen Einkünfte aus dem Ausland aller juristischen Personen in der Schweiz, die gemäss Artikel 28 Absatz 4 StHG besteuert werden. 2 Die Berechnung der Zuschlagsfaktoren richtet sich nach Anhang 6. 7. Abschnitt: Massgebende Steuerrepartitionen Art. 21 1 Die massgebenden Steuerrepartitionen eines Kantons (Anhang 7) entsprechen dem gewichteten Saldo zwischen: a. der Summe der Gutschriften der direkten Bundessteuer, die in den Bemes- sungsjahren in anderen Kantonen zu seinen Gunsten verbucht wurden; und b. der Summe der Gutschriften der direkten Bundessteuer, die er in den Bemes- sungsjahren zugunsten anderer Kantone verbucht hat. 2 Der Gewichtungsfaktor eines Kantons entspricht dem Verhältnis zwischen der Summe der massgebenden Einkommen und Gewinne des Kantons gemäss den Ab- schnitten 2, 3, 5 und 6 und dem Steueraufkommen der direkten Bundessteuer des Kan- tons in den Bemessungsjahren. 8. Abschnitt: Datenerhebung Art. 22 Das EFD erlässt Weisungen für die Erhebung und die Lieferung der erforderlichen Daten durch die Kantone sowie für deren Verarbeitung durch die Bundesämter. Es lädt die Kantone und die eidgenössische Finanzkontrolle zur Stellungnahme ein. 23 SR 642.14 Finanzausgleich 8 / 65 613.21 2. Kapitel: Ausgleichszahlungen Art. 22a24 Beiträge an die ressourcenschwachen Kantone 1 Die Progression nach Artikel 3a Absatz 2 Buchstabe b FiLaG wird so festgelegt, dass: a. die garantierte Mindestausstattung (Art. 3a Abs. 2 Bst. a FiLaG) mit möglichst wenig finanziellen Mitteln erreicht werden kann; b. die Rangfolge der Kantone bezüglich der standardisierten Steuererträge pro Einwohnerin und Einwohner zuzüglich dem Beitrag aus dem Ressourcenaus- gleich pro Einwohnerin und Einwohner nicht verändert wird. 2 Die Berechnung der Beiträge an die ressourcenschwachen Kantone richtet sich nach Anhang 7a. Art. 2325 Leistung des Bundes Der Bund leistet 60 Prozent der notwendigen Mittel nach Artikel 22a. Art. 2426 Leistung der ressourcenstarken Kantone 1 Die Gesamtleistung der ressourcenstarken Kantone entspricht 40 Prozent der not- wendigen Mittel nach Artikel 22a. 2 Der Beitrag pro Einwohnerin und Einwohner eines ressourcenstarken Kantons ist proportional zur Differenz zwischen seinem Ressourcenindex und dem Ressourcen- index der gesamten Schweiz. 3 Die Berechnung der Beiträge der ressourcenstarken Kantone richtet sich nach An- hang 8. Art. 25 und 2627 24 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 6. Nov. 2019, in Kraft seit 1. Jan. 2020 (AS 2019 3823). 25 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 6. Nov. 2019, in Kraft seit 1. Jan. 2020 (AS 2019 3823). 26 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 6. Nov. 2019, in Kraft seit 1. Jan. 2020 (AS 2019 3823). 27 Aufgehoben durch Ziff. I der V vom 6. Nov. 2019, mit Wirkung seit 1. Jan. 2020 (AS 2019 3823). Finanz- und Lastenausgleich. V 9 / 65 613.21 2. Titel: Lastenausgleich durch den Bund 1. Kapitel: Datengrundlagen Art. 27 Datengrundlage Datengrundlage sind Statistiken des Bundes gemäss dem Bundesstatistikgesetz vom 9. Oktober 199228, dem Bundesgesetz vom 26. Juni 199829 über die eidgenössische Volkszählung und den dazugehörigen Verordnungen des jeweils letzten verfügbaren Jahres. Art. 28 Datenlieferungspflicht 1 Die Kantone sorgen dafür, dass die Daten zur Verfügung gestellt werden. 2 Das Eidgenössische Departement des Innern erlässt Weisungen für die Erhebung und Lieferung der Daten durch die Kantone. Es lädt die Kantone zur Stellungnahme ein. 2. Kapitel: Geografisch-topografischer Lastenausgleich 1. Abschnitt: Massgebende Sonderlasten Art. 29 Teilindikatoren 1 Der geografisch-topografische Lastenausgleich basiert auf folgenden vier Teilindi- katoren der Kantone: a.30 Siedlungshöhe: Anteil der ständigen Wohnbevölkerung mit einer Wohnhöhe von über 800 Metern über Meer an der gesamten ständigen Wohnbevölke- rung; b. Steilheit des Geländes: Höhenmedian der produktiven Fläche gemäss Areal- statistik; c.31 Siedlungsstruktur: Anteil der ständigen Wohnbevölkerung mit Wohnsitz aus- serhalb des Hauptsiedlungsgebietes (Anhang 10) an der gesamten ständigen Wohnbevölkerung; d.32 geringe Bevölkerungsdichte: Gesamtfläche in Hektaren pro Kopf der ständi- gen Einwohnerinnen und Einwohner gemäss Arealstatistik. 2 …33 28 SR 431.01 29 [AS 1999 917. 2007 6743 Art. 16]. Siehe heute: das BG vom 22. Juni 2007 (SR 431.112). 30 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 30. Okt. 2013, in Kraft seit 1. Jan. 2014 (AS 2013 3809). 31 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 30. Okt. 2013, in Kraft seit 1. Jan. 2014 (AS 2013 3809). 32 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 4. Nov. 2015, in Kraft seit 1. Jan. 2016 (AS 2015 4753). 33 Aufgehoben durch Ziff. I der V vom 4. Nov. 2015, mit Wirkung seit 1. Jan. 2016 (AS 2015 4753). Finanzausgleich 10 / 65 613.21 Art. 30 Lastenindizes und massgebende Sonderlasten 1 Für jeden Teilindikator werden ein Lastenindex und die massgebenden Sonderlasten der Kantone berechnet. 2 Der Lastenindex eines Kantons entspricht dem mit dem Faktor 100 multiplizierten Verhältnis zwischen dem Teilindikatorwert des Kantons und dem entsprechenden Teilindikatorwert der gesamten Schweiz. Er wird auf eine Kommastelle gerundet. 3 Der Lastenindex der gesamten Schweiz beträgt 100 Indexpunkte. 4 Die massgebenden Sonderlasten eines Kantons entsprechen der gewichteten Diffe- renz zwischen dem Lastenindex des Kantons und dem entsprechenden Lastenindex der gesamten Schweiz. Die Gewichte unterscheiden sich nach dem zu Grunde liegen- den Teilindikator und lauten wie folgt: a.34 für den Teilindikator Siedlungshöhe: ständige Wohnbevölkerung des Kantons mit Wohnhöhe von über 800 Metern über Meer; b. für den Teilindikator Steilheit des Geländes: produktive Fläche des Kantons gemäss Arealstatistik; c.35 für den Teilindikator Siedlungsstruktur: ständige Wohnbevölkerung mit Wohnsitz ausserhalb der Hauptsiedlungsgebiete des Kantons; d.36 für den Teilindikator geringe Bevölkerungsdichte: ständige Wohnbevölke- rung des Kantons. 5 Ist der Lastenindex eines Kantons kleiner als der Lastenindex der gesamten Schweiz, so sind die massgebenden Sonderlasten des Kantons Null. 6 …37 2. Abschnitt: Ausgleichszahlungen Art. 3138 Festlegung Der Ausgleichsbetrag für den geografisch-topografischen Lastenausgleich entspricht dem Ausgleichsbetrag des Vorjahres angepasst gemäss der Veränderungsrate des Landesindexes der Konsumentenpreise gegenüber dem Vorjahresmonat zum Zeit- punkt der Berechnung. 34 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 30. Okt. 2013, in Kraft seit 1. Jan. 2014 (AS 2013 3809). 35 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 30. Okt. 2013, in Kraft seit 1. Jan. 2014 (AS 2013 3809). 36 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 4. Nov. 2015, in Kraft seit 1. Jan. 2016 (AS 2015 4753). 37 Aufgehoben durch Ziff. I der V vom 4. Nov. 2015, mit Wirkung seit 1. Jan. 2016 (AS 2015 4753). 38 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 6. Nov. 2019, in Kraft seit 1. Jan. 2020 (AS 2019 3823). Finanz- und Lastenausgleich. V 11 / 65 613.21 Art. 32 Verwendung Der Ausgleichsbetrag wird wie folgt verwendet: a. ein Drittel für die Abgeltung der massgebenden Sonderlasten aufgrund der Siedlungshöhe; b. ein Drittel für die Abgeltung der massgebenden Sonderlasten aufgrund der Steilheit des Geländes; c. ein Sechstel für die Abgeltung der massgebenden Sonderlasten aufgrund der Siedlungsstruktur; d.39 ein Sechstel für die Abgeltung der massgebenden Sonderlasten aufgrund der geringen Bevölkerungsdichte. Art. 33 Beiträge an die Kantone 1 Die Beiträge an einen Kanton für die einzelnen Sonderlasten sind proportional zu seinem Anteil an der Summe der entsprechenden Sonderlasten aller Kantone. 2 Sie sind in Anhang 12 aufgelistet. 3. Kapitel: Soziodemografischer Lastenausgleich 1. Abschnitt: Massgebende Sonderlasten aufgrund der Bevölkerungsstruktur Art. 34 Teilindikatoren 1 Der Ausgleich von soziodemografischen Sonderlasten aufgrund der Bevölkerungs- struktur basiert auf folgenden drei Teilindikatoren der Kantone: a. Armut: Anteil der Empfängerinnen und Empfänger von Leistungen der Sozi- alhilfe im weiteren Sinne an der ständigen Wohnbevölkerung; b. Altersstruktur: Anteil der Einwohnerinnen und Einwohner mit einem Alter von 80 Jahren und mehr an der ständigen Wohnbevölkerung; c. Ausländerintegration: Anteil der ausländischen Einwohnerinnen und Ein- wohner, die nicht aus Nachbarstaaten stammen und maximal seit 12 Jahren in der Schweiz leben, an der ständigen Wohnbevölkerung. 2 Als Leistungen der Sozialhilfe im weiteren Sinn gelten bedarfsorientierte Geldleis- tungen, sofern sie personen- beziehungsweise haushaltsbezogen gewährt werden und soweit sie in der Statistik der Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger gemäss Statistikerhebungsverordnung vom 30. Juni 199340 aufgeführt sind. Dazu ge- hören insbesondere: a. wirtschaftliche Sozialhilfe gemäss den kantonalen Sozialhilfegesetzen; 39 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 4. Nov. 2015, in Kraft seit 1. Jan. 2016 (AS 2015 4753). 40 SR 431.012.1 Finanzausgleich 12 / 65 613.21 b. kantonal geregelte Bevorschussung von Alimenten; c. Ergänzungsleistungen des Bundes, gewichtet mit dem kantonalen Finanzie- rungsanteil gemäss Artikel 13 Absatz 1 des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 200641 über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invaliden- versicherung; d. kantonale Alters- und Invaliditätsbeihilfen; e. kantonale Bedarfsleistungen im Zusammenhang mit Arbeitslosigkeit; f. kantonale Mutterschaftsbeihilfen sowie Unterhaltszuschüsse an Familien mit Kindern; g. kantonale Wohngelder beziehungsweise Wohnkostenzuschüsse.42 3 Weist eine Leistung der Sozialhilfe im weiteren Sinn einen im gesamtschweizeri- schen Vergleich tiefen jährlichen Unterstützungsbeitrag pro Kopf der Empfängerin- nen und Empfänger auf, so wird die Anzahl der Empfängerinnen und Empfänger die- ser Leistung gewichtet. Die Finanzstatistik der Sozialhilfe im weiteren Sinn nach Statistikerhebungsverordnung bildet die Datengrundlage für die Gewichtung.43 4 Mehrfachbezüge werden einfach gezählt.44 Art. 35 Lastenindex und massgebende Sonderlasten 1 Die Teilindikatoren der Kantone werden standardisiert und mit Hilfe von Gewichten zu einem Lastenindex zusammengefasst. Die Gewichte werden mit der Hauptkompo- nentenanalyse festgelegt und jedes Jahr überprüft. Die Berechnung richtet sich nach Anhang 13. 2 Der Lastenindex eines Kantons wird auf drei Kommastellen gerundet. 3 Aus dem Lastenindex eines Kantons wird eine Masszahl für die Lasten pro Einwoh- nerin und Einwohner berechnet. Diese Masszahl entspricht der Differenz zwischen dem Lastenindex des Kantons und dem Lastenindex desjenigen Kantons mit dem tiefsten Indexwert. 4 Die massgebenden Sonderlasten eines Kantons entsprechen der mit der ständigen Wohnbevölkerung gewichteten Differenz zwischen den Lasten pro Einwohnerin und Einwohner des Kantons und dem entsprechenden Mittelwert der Lasten pro Einwoh- nerin und Einwohner aller Kantone. Sind die Lasten pro Einwohnerin und Einwohner des Kantons kleiner als der Mittelwert, so sind die massgebenden Sonderlasten des Kantons Null. 5 …45 41 SR 831.30 42 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 4. Nov. 2015, in Kraft seit 1. Jan. 2017 (AS 2015 4753). 43 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 6. Nov. 2019, in Kraft seit 1. Jan. 2020 (AS 2019 3823). 44 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 4. Nov. 2015, in Kraft seit 1. Jan. 2017 (AS 2015 4753). 45 Aufgehoben durch Ziff. I der V vom 4. Nov. 2015, mit Wirkung seit 1. Jan. 2016 (AS 2015 4753). Finanz- und Lastenausgleich. V 13 / 65 613.21 2. Abschnitt: Massgebende Sonderlasten der Kernstädte Art. 36 Teilindikatoren Die Sonderlasten der Kernstädte werden aufgrund folgender drei Teilindikatoren der Gemeinden ausgeglichen: a. Gemeindegrösse: ständige Wohnbevölkerung; b. Siedlungsdichte: ständige Wohnbevölkerung und Anzahl Beschäftigte im Verhältnis zur produktiven Fläche der Gemeinde; c. Beschäftigungsquote: Anzahl Beschäftigte im Verhältnis zur ständigen Wohnbevölkerung der Gemeinde. Art. 37 Lastenindex und massgebende Sonderlasten 1 Die Teilindikatoren werden standardisiert und mit Hilfe einer Hauptkomponenten- analyse zu einem Lastenindex zusammengefasst. Der Lastenindex einer Gemeinde entspricht der ersten standardisierten Hauptkomponente der standardisierten Teilindi- katoren. Die Berechnung richtet sich nach Anhang 14. 2 Der Lastenindex eines Kantons entspricht dem gewichteten Mittelwert der Lasten- indizes seiner Gemeinden. Als Gewicht dient die ständige Wohnbevölkerung der Ge- meinden. Der Lastenindex des Kantons wird auf drei Kommastellen gerundet. 3 Aus dem Lastenindex eines Kantons wird eine Masszahl für die Lasten pro Einwoh- nerin und Einwohner des Kantons berechnet. Diese Masszahl entspricht der Differenz zwischen dem Lastenindex des Kantons und dem Lastenindex desjenigen Kantons mit dem tiefsten Indexwert. 4 Die für einen Kanton massgebenden Sonderlasten der Kernstädte entsprechen der mit der ständigen Wohnbevölkerung gewichteten Differenz zwischen den Lasten pro Einwohnerin und Einwohner des Kantons und dem Mittelwert der Lasten pro Ein- wohnerin und Einwohner aller Kantone. Sind die Lasten pro Einwohnerin und Ein- wohner des Kantons kleiner als der Mittelwert der Kantone, so sind die massgebenden Sonderlasten des Kantons Null. 5 …46 46 Aufgehoben durch Ziff. I der V vom 4. Nov. 2015, mit Wirkung seit 1. Jan. 2016 (AS 2015 4753). Finanzausgleich 14 / 65 613.21 3. Abschnitt: Ausgleichszahlungen Art. 3847 Festlegung 1 Der Ausgleichsbetrag für den soziodemografischen Lastenausgleich entspricht dem Ausgleichsbetrag des Vorjahres angepasst gemäss der Veränderungsrate des Landes- indexes der Konsumentenpreise gegenüber dem Vorjahresmonat zum Zeitpunkt der Berechnung. 2 Die Erhöhung der Beiträge nach Artikel 9 Absatz 2bis FiLaG wird nicht der Teuerung angepasst. Art. 39 Verwendung Der Ausgleichsbetrag wird wie folgt verwendet: a. zwei Drittel für die Abgeltung der massgebenden Sonderlasten aufgrund der Bevölkerungsstruktur; b. ein Drittel für die Abgeltung der massgebenden Sonderlasten der Kernstädte. Art. 40 Beiträge an die Kantone 1 Die Beiträge, die ein Kanton für Sonderlasten aufgrund der Bevölkerungsstruktur und der Kernstädte erhält, sind proportional zu seinem Anteil an der Summe der ent- sprechenden Sonderlasten aller Kantone. 2 Die Beiträge an die Kantone sind in Anhang 15 aufgelistet. 3. Titel: Qualitätssicherung Art. 41 Datenkontrolle und Berichterstattung 1 Das für die Erhebung der Daten zuständige Bundesamt plausibilisiert die Daten. 2 Stellt es bei den Daten Mängel fest, so weist es die Daten zur Überarbeitung inner- halb einer angemessenen Frist an den betroffenen Kanton zurück. 3 Anschliessend übermittelt es die Daten der eidgenössischen Finanzverwaltung (EFV) und erstattet Bericht über die Erhebung, Plausibilisierung und Überarbeitung der Daten. Art. 42 Massnahmen bei ungenügender Datenqualität 1 Bei fehlerhaften, fehlenden oder nicht weiter verwertbaren Daten zum Ressourcen- potenzial treffen die eidgenössische Steuerverwaltung (ESTV) und die EFV folgende Massnahmen: 47 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 6. Nov. 2019, in Kraft seit 1. Jan. 2020 (AS 2019 3823). Finanz- und Lastenausgleich. V 15 / 65 613.21 a. Die ESTV korrigiert angemessen qualitativ ungenügende, aber weiterverwert- bare Daten. b. Bei fehlenden oder nicht weiterverwertbaren Daten schätzt die EFV das Res- sourcenpotenzial gemäss Anhang 16. 2 Bei fehlerhaften, fehlenden oder nicht weiter verwertbaren Daten zu den Lastenin- dizes nimmt das Bundesamt für Statistik (BFS) in Zusammenarbeit mit der EFV Kor- rekturen oder Schätzungen vor. 3 Die Erkenntnisse zur Datenqualität und die getroffenen Massnahmen werden dem betroffenen Kanton und der Konferenz der kantonalen Finanzdirektorinnen und -di- rektoren (FDK) mitgeteilt. Der betroffene Kanton hat Gelegenheit, sich innerhalb ei- ner kurzen Frist zu den vorgenommenen Korrekturen und Schätzungen zu äussern. Art. 42a48 Nachträgliche Berichtigung von Ausgleichszahlungen 1 Die Ausgleichszahlungen werden nachträglich berichtigt, wenn der Fehler der Aus- gleichszahlungen bei einem Kanton pro Einwohnerin oder Einwohner mindestens 0,17 Prozent des durchschnittlichen Pro-Kopf-Ressourcenpotenzials der Schweiz ent- spricht (Erheblichkeitsgrenze).49 2 Für die Berechnung der Erheblichkeitsgrenze ist das Ressourcenpotenzial des vom Fehler betroffenen Referenzjahres massgebend. 3 Ausgleichszahlungen werden nur für ein Referenzjahr berichtigt, in welchem der Fehler die Erheblichkeitsgrenze erreicht. Art. 43 Dokumentation Die Korrekturen der Daten und die Schätzungen sind zu dokumentieren. Die Nach- vollziehbarkeit ist sicherzustellen. Art. 44 Fachgruppe Qualitätssicherung 1 Das EFD setzt zur Qualitätssicherung der Berechnungsgrundlagen für das Ressour- cenpotenzial und die Lastenindizes eine begleitende, zwischen Bund und Kantonen paritätisch zusammengesetzte Fachgruppe ein. 2 Die Fachgruppe setzt sich zusammen aus: a. zwei Vertreterinnen oder Vertretern der EFV; b. je einer Vertreterin oder einem Vertreter der ESTV und des BFS; c. je zwei Vertreterinnen oder Vertretern der ressourcenstarken und der ressour- censchwachen Kantone. 48 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 16. Nov. 2011, in Kraft seit 1. Jan. 2012 (AS 2011 5823). 49 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 7. Nov. 2018, in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 4653). Finanzausgleich 16 / 65 613.21 3 Von den Vertreterinnen oder Vertretern der Kantone gemäss Absatz 2 Buchstabe c stammen mindestens eine Vertreterin oder ein Vertreter aus einem Kanton mit geo- grafisch-topografischen Sonderlasten und einem Kanton mit soziodemografischen Sonderlasten. 4 Die eidgenössische Finanzkontrolle ist mit einer Beobachterin oder einem Beobach- ter in der Fachgruppe vertreten. 5 Die Sekretärin oder der Sekretär der FDK nimmt als Beobachterin bzw. als Beob- achter Einsitz in die Fachgruppe. 6 Die Fachgruppe wird von einer Vertreterin oder einem Vertreter der Kantone gemäss Absatz 2 Buchstabe c geleitet. 7 Die EFV führt ihr Sekretariat. Art. 45 Aufgaben der Fachgruppe 1 Die Fachgruppe begleitet die zuständigen Bundesstellen bei folgenden Aufgaben: a. Kontrolle der Datenerfassung des Ressourcen- und Lastenausgleichs in den Kantonen; b. Plausibilisierung und Überarbeitung der Daten; c. Korrekturen oder Schätzungen bei fehlerhaften, fehlenden oder nicht weiter- verwertbaren Daten. 2 Die Fachgruppe erstattet dem EFD und den Kantonen jährlich Bericht über ihre Tä- tigkeit. 4. Titel: Wirksamkeitsbericht Art. 46 Inhalt 1 Der Wirksamkeitsbericht hat folgenden Inhalt: a. Er gibt Auskunft über: 1. den Vollzug des Finanzausgleichs, insbesondere die Beschaffung der Daten für den Ressourcen- und Lastenausgleich, 2. die jährliche Volatilität der Beiträge der ressourcenstarken Kantone an den horizontalen Ressourcenausgleich und der Ausgleichszahlungen an die ressourcenschwachen Kantone innerhalb der Berichtsperiode. b. Er analysiert, inwieweit die Ziele des Finanz- und Lastenausgleichs in der Be- richtsperiode erreicht wurden. c.50 Er erörtert mögliche Massnahmen, namentlich: 1. die Anpassung der garantierten Mindestausstattung des Ressourcenaus- gleichs (Art. 3a Abs. 2 Bst. a FiLaG), 50 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 6. Nov. 2019, in Kraft seit 1. Jan. 2020 (AS 2019 3823). Finanz- und Lastenausgleich. V 17 / 65 613.21 2. die Anpassung der Dotation des Lastenausgleichs (Art. 9 FiLaG), 3. die vollständige oder teilweise Aufhebung des Härteausgleichs (Art. 19 Abs. 4 FiLaG). 2 Er kann Empfehlungen für die Überprüfung der Bemessungsgrundlagen des Res- sourcen- und Lastenausgleichs enthalten. 3 Er enthält zudem in einer gesonderten Darstellung Angaben über die Wirkungen der interkantonalen Zusammenarbeit mit Lastenausgleich gemäss Artikel 18 Absatz 3 in Verbindung mit Artikel 11 FiLaG. 4 Der Wirksamkeitsbericht stützt sich bei der Beurteilung der Ziele insbesondere auf die Kriterien gemäss Anhang 17 ab und berücksichtigt anerkannte Standards der Eva- luation. 5 Er gibt allfällige abweichende Meinungen innerhalb der paritätischen Fachgruppe wieder. Art. 47 Datengrundlagen 1 Für die Überprüfung der Wirksamkeit werden Statistiken des Bundes und der Kan- tone sowie, soweit zweckmässig, verwaltungsexterne Daten und Analysen herange- zogen. 2 Die Kantone stellen dem Bund die notwendigen Daten zur Verfügung. Art. 48 Fachgruppe Wirksamkeitsbericht 1 Eine Fachgruppe, die sich paritätisch aus Vertreterinnen und Vertretern von Bund und Kantonen zusammensetzt, begleitet die Erarbeitung des Wirksamkeitsberichts. Sie äussert sich namentlich zur Auftragsvergabe an externe Gutachterinnen und Gut- achter und zur Erarbeitung von Empfehlungen für den Ressourcen-, Lasten- und Här- teausgleich. 2 Die Kantone sorgen für eine ausgewogene Zusammensetzung ihrer Delegation in der Fachgruppe, insbesondere sind die verschiedenen Sprachgruppen, Stadt- und Landregionen sowie die ressourcenstarken und ressourcenschwachen Kantone ange- messen zu berücksichtigen. 3 Das EFD bestimmt die Zusammensetzung der Bundesdelegation, darunter die Ver- treterinnen und Vertreter der EFV. Eine Vertreterin oder ein Vertreter der EFV leitet die Fachgruppe. 4 Das Sekretariat der Fachgruppe wird durch die EFV wahrgenommen. Art. 4951 Vernehmlassung Der Wirksamkeitsbericht wird den Kantonen in die Vernehmlassung gegeben. 51 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 6. Nov. 2019, in Kraft seit 1. Jan. 2020 (AS 2019 3823). Finanzausgleich 18 / 65 613.21 5. Titel: Fälligkeit der Beiträge Art. 50 Die Beiträge des Ressourcen-, Lasten- und Härteausgleichs sind halbjährlich jeweils am Ende des Halbjahres zu bezahlen. 6. Titel: Übergangsbestimmungen 1. Abschnitt: … Art. 51–5352 Art. 5453 2. Abschnitt: Härteausgleich Art. 55 Globalbilanz 1 Grundlage für die Ausgleichszahlungen des Härteausgleichs ist die Globalbilanz der Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA). 2 Die Globalbilanz der NFA zeigt die geschätzte finanzielle Nettobelastung oder Net- toentlastung des Bundes und der Kantone, die sich im Durchschnitt der Jahre 2004 und 2005 ergibt gemäss: a. dem Bundesbeschluss vom 3. Oktober 200354 zur Neugestaltung des Finanz- ausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen; b. dem Bundesgesetz vom 6. Oktober 200655 über die Schaffung und die Ände- rungen von Erlassen zur Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufga- benteilung zwischen Bund und Kantonen; c. den Artikeln 3–9 und 23 FiLaG. Art. 56 Beiträge an die Kantone 1 Mit dem Härteausgleich wird angestrebt, dass in der Globalbilanz jeder Kanton, des- sen Ressourcenindex im Durchschnitt der Jahre 2004 und 2005 unter dem Wert von 100 liegt, eine finanzielle Nettoentlastung in Prozent des standardisierten Steuerer- trags aufweist, die mindestens so gross ist wie der Grenzwert des Kantons. 52 Aufgehoben durch Ziff. I der V vom 6. Nov. 2019, mit Wirkung seit 1. Jan. 2020 (AS 2019 3823). 53 Aufgehoben durch Ziff. I der V vom 4. Nov. 2015, mit Wirkung seit 1. Jan. 2016 (AS 2015 4753). 54 AS 2007 5765 55 AS 2007 5779 Finanz- und Lastenausgleich. V 19 / 65 613.21 2 Der Grenzwert des Kantons ist abhängig von seinem Ressourcenindex im Durch- schnitt der Jahre 2004 und 2005 und dem für den Härteausgleich zur Verfügung ste- henden Gesamtbetrag. Er berechnet sich nach Anhang 18. 3 Kantone, deren Ressourcenindex im Durchschnitt der Jahre 2004 und 2005 tiefer ist als 100 Punkte und deren Nettoentlastung in Prozent des standardisierten Steuerer- trags in der Globalbilanz tiefer ist als der Grenzwert, erhalten in den Jahren 2008 bis 2015 einen Beitrag in der Höhe der Differenz zwischen der Nettoentlastung und dem Grenzwert (Anhang 18). Die restlichen Kantone erhalten keinen Beitrag. 4 Ab dem neunten Jahr ab Inkrafttreten der Verordnung reduziert sich der Beitrag um jährlich fünf Prozent des Anfangsbetrags. 5 Ein Kanton verliert seinen Anspruch auf den Härteausgleich ab dem Referenzjahr, in welchem sein Ressourcenindex auf über 100 Punkte steigt. Die Gesamtsumme des Härteausgleichs reduziert sich entsprechend. 2a. Abschnitt:56 Temporäre Abfederungsmassnahmen Art. 56a 1 Der Anteil eines berechtigten Kantons an den Mitteln nach Artikel 19c Absatz 2 FiLaG entspricht der Anzahl der Einwohnerinnen und Einwohner des Kantons, divi- diert durch die Summe der Einwohnerinnen und Einwohner aller berechtigten Kan- tone. 2 Die Ausgleichsbeiträge der Abfederungsmassnahmen richten sich nach Anhang 19. 3. Abschnitt: Wirksamkeitsbericht Art. 5757 1 Der Wirksamkeitsbericht für die Periode 2020–2025 umfasst eine zusätzliche Dar- stellung zur Umsetzung des Bundesgesetzes vom 28. September 201858 über die Steu- erreform und die AHV-Finanzierung in den Kantonen, namentlich der Instrumente des Abzugs von Forschungs- und Entwicklungsaufwand und des Abzugs für Eigenfi- nanzierung. 2 Die Kantone stellen dem Bund die notwendigen Informationen zur Verfügung. 56 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 6. Nov. 2019, in Kraft seit 1. Jan. 2021 (AS 2019 3823). 57 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 6. Nov. 2019, in Kraft seit 1. Jan. 2020 (AS 2019 3823). 58 AS 2019 2395 Finanzausgleich 20 / 65 613.21 3a. Abschnitt:59 Berechnung der massgebenden Gewinne der juristischen Personen Art. 57a60 Art. 57b Weiteranwendung der Faktoren Beta 1 Bei Gesellschaften, die ihren besonderen Steuerstatus nach Artikel 28 Absätze 2–4 StHG61 in der bis 31. Dezember 2019 geltenden Fassung verloren haben, werden in den Bemessungsjahren 2020–2024 die Faktoren Beta nach Artikel 23a Absatz 1 Fi- LaG auf den Gewinnanteil nach Artikel 17 Buchstabe b dieser Verordnung in der bis 31. Dezember 2025 geltenden Fassung angewendet. Dies gilt ebenso für Gesellschaf- ten, die auf ihren Steuerstatus verzichtet haben, für die Bemessungsjahre 2017–2024. Die Gewinnanteile aus den Einkünften aus der Schweiz fliessen zu 100 Prozent in die Bemessungsgrundlage ein. 2 und 3 …62 Art. 57c Datenerhebung zur Weiteranwendung der Faktoren Beta 1 Die Kantone identifizieren die juristischen Personen, für die nach Artikel 57b die Faktoren Beta weiter angewendet werden. 2 Für den Gewinn dieser juristischen Personen richtet sich die Berechnung des mit dem entsprechenden Faktor Beta multiplizierten Gewinnanteils nach Artikel 57b Ab- satz 1 nach dem gewichteten Durchschnitt der letzten drei Jahre als juristische Person mit besonderem Steuerstatus. 2bis Der nach Absatz 2 berechnete Gewinnanteil gilt für nicht definitiv veranlagte Gesellschaften in den Bemessungsjahren 2020–2024 als von gleichwertiger Qualität wie definitiv veranlagte Angaben nach Artikel 19 Absätze 5 und 6 in der Fassung vom 1. Januar 201663.64 3 Ist eine juristische Person mit besonderem Steuerstatus Gegenstand einer Umstruk- turierung, so wird die Gewichtung nach Artikel 57b anteilsmässig berücksichtigt. Art. 57d65 59 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 6. Nov. 2019, in Kraft seit 1. Jan. 2020 (AS 2019 3823). 60 Tritt am 1. Jan. 2024 in Kraft. 61 SR 642.14 62 Treten am 1. Jan. 2024 in Kraft. 63 AS 2015 4753 64 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 16. Nov. 2022, in Kraft seit 1. Jan. 2023 (AS 2022 761). 65 Tritt am 1. Jan. 2024 in Kraft. Finanz- und Lastenausgleich. V 21 / 65 613.21 7. Titel: Schlussbestimmungen Art. 58 Aufhebung bisherigen Rechts Folgende Verordnungen werden aufgehoben: 1. Verordnung vom 21. Dezember 197366 über die Abstufung der Bundesbei- träge nach der Finanzkraft der Kantone. 2. Verordnung vom 27. November 198967 über den Finanzausgleich mit dem Kantonsanteil an der direkten Bundessteuer. Art. 59 Inkrafttreten Diese Verordnung tritt am 1. Januar 2008 in Kraft. 66 [AS 1974 146] 67 [AS 1989 2470; 2002 3069] Finanzausgleich 22 / 65 613.21 Anhang 168 (Art. 1–5) Ressourcenpotenzial und standardisierter Steuerertrag 1. Ressourcenpotenzial Kantonswerte für das Referenzjahr 2023 Kanton Ressourcen- potenzial (in 1000 Fr.) Mittlere ständige und nichtständige Wohnbevölkerung (Mittelwert 2017–2019) Ressourcen- potenzial pro Kopf (in Fr.) Ressourcen- index Zürich 69 182 707 1 525 010 45 365 123.1 Bern 29 768 654 1 039 193 28 646 77.7 Luzern 14 016 079 411 013 34 101 92.5 Uri 961 307 36 759 26 152 70.9 Schwyz 10 158 921 159 089 63 857 173.2 Obwalden 1 500 687 38 005 39 486 107.1 Nidwalden 2 522 194 43 266 58 295 158.1 Glarus 1 093 947 40 701 26 878 72.9 Zug 12 527 255 127 783 98 035 265.9 Freiburg 8 251 171 318 643 25 895 70.2 Solothurn 7 168 242 274 582 26 106 70.8 Basel-Stadt 11 145 764 197 452 56 448 153.1 Basel-Landschaft 10 387 196 289 116 35 927 97.5 Schaffhausen 3 004 225 82 402 36 458 98.9 Appenzell A.Rh. 1 738 787 55 338 31 421 85.2 Appenzell I.Rh. 603 622 16 184 37 297 101.2 St. Gallen 15 704 348 509 307 30 835 83.6 Graubünden 6 303 254 205 542 30 667 83.2 Aargau 20 303 296 679 361 29 886 81.1 Thurgau 8 179 394 276 932 29 536 80.1 Tessin 12 264 236 356 063 34 444 93.4 Waadt 29 365 257 804 975 36 480 99.0 Wallis 8 238 757 350 426 23 511 63.8 Neuenburg 5 101 221 178 639 28 556 77.5 Genf 25 372 555 500 784 50 666 137.4 68 Fassung gemäss Ziff. I 1 der V vom 5. Nov. 2014 (AS 2014 3825). Bereinigt gemäss Ziff. II Abs. 2 der V vom 4. Nov. 2015 (AS 2015 4753) und vom 16. Nov. 2022, in Kraft seit 1. Jan. 2023 (AS 2022 761). Finanz- und Lastenausgleich. V 23 / 65 613.21 Kanton Ressourcen- potenzial (in 1000 Fr.) Mittlere ständige und nichtständige Wohnbevölkerung (Mittelwert 2017–2019) Ressourcen- potenzial pro Kopf (in Fr.) Ressourcen- index Jura 1 810 473 73 589 24 602 66.7 Total Kantone 316 673 548 8 590 152 36 865 100.0 2. Standardisierter Steuerertrag Kommentar zur Berechnung Der standardisierte Steuerertrag der Schweiz entspricht den durchschnittlichen Steu- ereinnahmen aller Kantone und Gemeinden. Diese bestehen aus dem gesamten Fis- kalertrag der Kantone und Gemeinden abzüglich der Debitorenverluste und zuzüglich des Kantonsanteils am Ertrag der direkten Bundessteuer (17 %). Der standardisierte Steuersatz ist für alle Kantone gleich hoch und basiert auf dem Ressourcenpotenzial und den Steuereinnahmen der Gesamtheit der Kantone. Wert des standardisierten Steuersatzes für das Referenzjahr 2023 Standardisierter Steuersatz für das Referenzjahr 2023 = 25,5 % Finanzausgleich 24 / 65 613.21 Anhang 269 (Art. 7) Massgebendes Einkommen der natürlichen Personen Kantonswerte für das Referenzjahr 2023 Kanton Massgebendes Einkommen der natürlichen Personen (in 1000 Fr.) Zürich 41 879 649 Bern 18 652 985 Luzern 8 316 781 Uri 606 134 Schwyz 6 289 793 Obwalden 934 750 Nidwalden 1 360 070 Glarus 659 908 Zug 5 839 667 Freiburg 5 679 614 Solothurn 5 251 403 Basel-Stadt 5 382 247 Basel-Landschaft 7 445 778 Schaffhausen 1 504 128 Appenzell A.Rh. 1 100 122 Appenzell I.Rh. 360 810 St. Gallen 9 010 956 Graubünden 3 768 523 Aargau 14 018 312 Thurgau 5 325 537 Tessin 7 172 369 Waadt 18 638 884 Wallis 5 580 338 Neuenburg 3 052 640 Genf 13 553 044 Jura 1 061 266 Total Kantone 192 445 705 69 Fassung gemäss Ziff. II Abs. 1 der V vom 16. Nov. 2022, in Kraft seit 1. Jan. 2023 (AS 2022 761). Finanz- und Lastenausgleich. V 25 / 65 613.21 Anhang 370 (Art. 9 und 10) Massgebendes quellenbesteuertes Einkommen 1. Definition der Variablen und Parameter BQA Bruttoeinkommen der gebietsansässigen Ausländerinnen und Ausländer und der ausländischen Verwaltungsrätinnen und Verwaltungsräte BQB Bruttoeinkommen der vollständig besteuerten Grenzgängerinnen und Grenzgänger BQC Bruttoeinkommen der begrenzt besteuerten Grenzgängerinnen und Grenz- gänger aus Österreich BQD Bruttoeinkommen der begrenzt besteuerten Grenzgängerinnen und Grenz- gänger aus Deutschland BQE Bruttoeinkommen der begrenzt besteuerten Grenzgängerinnen und Grenz- gänger aus Frankreich mit Besteuerung durch den Kanton Genf BQF Bruttoeinkommen der begrenzt besteuerten Grenzgängerinnen und Grenz- gänger aus Frankreich mit Besteuerung durch Frankreich BQG Bruttoeinkommen der begrenzt besteuerten Grenzgängerinnen und Grenz- gänger aus Italien TC Anteil des Österreich zustehenden Fiskalausgleichs gemäss DBA-A TD Maximaler Schweizer Steuersatz auf den Bruttoeinkünften der begrenzt be- steuerten Grenzgängerinnen und Grenzgänger aus Deutschland gemäss Ar- tikel 15a DBA-D TE Anteil der durch den Kanton Genf an Frankreich zurückerstatteten Brutto- lohnsumme der begrenzt besteuerten Grenzgängerinnen und Grenzgänger aus Frankreich mit Besteuerung durch den Kanton Genf gemäss Abkommen des Kantons Genf mit Frankreich vom 29.1.1973 TF Maximaler Anteil (Steuersatz) der durch Frankreich zurückerstatteten Brut- tolohnsumme der begrenzt besteuerten Grenzgängerinnen und Grenzgänger aus Frankreich mit Besteuerung durch Frankreich gemäss dem Abkommen der Kantone Bern, Solothurn, Basel-Stadt, Basel-Landschaft, Waadt, Wallis und Neuenburg vom 11.4.1983 TG Anteil der an Italien zurückerstatteten Bruttosteuereinnahmen von begrenzt besteuerten Grenzgängerinnen und Grenzgängern aus Italien gemäss Arti- kel 14a DBA-I und der Vereinbarung der Kantone Graubünden, Tessin und Wallis mit Italien 70 Fassung gemäss Ziff. II Abs. 3 der V vom 6. Nov. 2019 (AS 2019 3823). Bereinigt ge- mäss Ziff. II Abs. 2 der V vom 16. Nov. 2022, in Kraft seit 1. Jan. 2023 (AS 2022 761). Finanzausgleich 26 / 65 613.21 Letzter verfügbarer standardisierter Steuersatz für das Bemessungsjahr t (d.h. Bemessungsjahr + 3 Jahre) γ Faktor Gamma: Auf drei Stellen gerundetes Verhältnis zwischen dem mas- sgebenden Einkommen der natürlichen Personen der Schweiz und dem Pri- märeinkommen der privaten Haushalte der Schweiz in den Bemessungsjah- ren. Der Faktor Gamma wird jährlich berechnet. δ Faktor Delta: Faktor, der die Lasten der Grenzgänger berücksichtigt und de- ren Einkommen BQB, BQC, BQD, BQE, BQF und BQG tiefer gewichtet. 2. Berechnungsformeln (1) Massgebendes quellenbesteuertes Einkommen der gebietsansässigen Aus- länderinnen und Ausländer und ausländischen Verwaltungsrätinnen und Verwaltungsräte eines Kantons: γ · BQA (2) Massgebendes quellenbesteuertes Einkommen der vollständig besteuerten Grenzgängerinnen und Grenzgänger eines Kantons: γ · δ ·BQB (3) Massgebendes quellenbesteuertes Einkommen der begrenzt besteuerten Grenzgängerinnen und Grenzgänger aus Österreich: (4) Massgebendes quellenbesteuertes Einkommen der begrenzt besteuerten Grenzgängerinnen und Grenzgänger aus Deutschland: (5) Massgebendes quellenbesteuertes Einkommen der begrenzt besteuerten Grenzgängerinnen und Grenzgänger aus Frankreich mit Besteuerung durch den Kanton Genf: (6) Massgebendes quellenbesteuertes Einkommen der begrenzt besteuerten Grenzgängerinnen und Grenzgänger aus Frankreich mit Besteuerung durch Frankreich: (7) Massgebendes quellenbesteuertes Einkommen der begrenzt besteuerten Grenzgängerinnen und Grenzgänger aus Italien: 𝑆𝑆𝑇𝑡+3 BQCTC 1 𝑇𝐷 𝑆𝑆𝑇𝑡+3 ∙ 𝛿 ∙ 𝐵𝑄𝐷 𝛾 ∙ 𝛿 ∙ 𝐵𝑄𝐸 − 𝑇𝐸 𝑆𝑆𝑇𝑡+3 ∙ 𝛿 ∙ 𝐵𝑄𝐸 𝑇𝐹 𝑆𝑆𝑇𝑡+3 ∙ 𝛿 ∙ 𝐵𝑄𝐹 BQGTG 1 Finanz- und Lastenausgleich. V 27 / 65 613.21 3. Parameterwerte für das Referenzjahr 2023 Parameter Wert γ2017 0.379 γ2018 0.381 γ2019 0.385 δ 0.750 SST2020 0.261 SST2021 0.259 SST2022 0.258 TC 0.125 TD 0.045 TE 0.035 TF 0.045 TG 0.4 4. Kommentar zur Berechnung 4.1 Das massgebende quellenbesteuerte Einkommen setzt sich zusammen aus dem Einkommen der gebietsansässigen Ausländerinnen und Ausländer und der ausländischen Verwaltungsrätinnen und Verwaltungsräte (BQA), dem Einkommen der vollständig besteuerten Grenzgängerinnen und Grenzgänger (BQB) sowie dem Einkommen der begrenzt besteuerten Grenzgängerinnen und Grenzgänger (BQC, BQD, BQE, BQF und BQG). 4.2 Erfasst werden die entsprechenden Bruttoeinkommen. Mit dem Faktor wer- den die Bruttoeinkommen in eine mit dem steuerbaren Einkommen vergleich- bare Grösse umgerechnet. Bei den gebietsansässigen Ausländerinnen und Ausländern und den ausländischen Verwaltungsrätinnen und Verwaltungsrä- ten ist zur Bestimmung des massgebenden Einkommens lediglich eine Multi- plikation der entsprechenden Bruttoeinkommen mit dem Faktor erforderlich [Berechnungsformel (1)]. 4.3 Zusätzlich zum Faktor werden die Bruttolöhne der Grenzgängerinnen und Grenzgänger mit einem Faktor δ von 0,75 gewichtet. Damit fliessen die mit dem Faktor δ gewichteten Bruttolöhne der Grenzgängerinnen und Grenzgän- ger nur zu 75 Prozent in die Berechnung der massgebenden quellenbesteuer- ten Einkommen ein. Dies gilt für sämtliche Grenzgänger-Kategorien. 4.3.1 Formel (2), vollständig besteuerte Grenzgängerinnen und Grenzgänger: Das massgebende steuerbare Einkommen beträgt γ δ . BQB. 4.4 Mit den Berechnungsformeln (3)–(7) werden die begrenzt besteuerten Grenz- gängereinkommen auf der Basis der entsprechenden Doppelbesteuerungsab- kommen mit Österreich, Deutschland, Frankreich und Italien umgerechnet. Finanzausgleich 28 / 65 613.21 4.4.1 Formel (3), Grenzgängerinnen und Grenzgänger aus Österreich: Die Brutto- einkommen werden in der Schweiz besteuert und davon Österreich ein Fiska- lausgleich in der Höhe von 12,5 Prozent ihres Steueraufkommens geleistet. Das massgebende steuerbare Einkommen, γ δ . BQC, wird um den Österreich zustehenden Anteil, TC, korrigiert. 4.4.2 Formel (4), Grenzgängerinnen und Grenzgänger aus Deutschland: Die Brut- toeinkommen der Grenzgängerinnen und Grenzgänger werden zu einem Satz von maximal 4,5 Prozent besteuert. Der in der Schweiz steuerbare Einkom- mensanteil wird durch Division des Steuerertrags, TD δ . BQD, mit dem ent- sprechenden standardisierten Steuersatz, SSTt+3, ermittelt. 4.4.3 Formel (5), Grenzgängerinnen und Grenzgänger aus Frankreich in Genf: Die Besteuerung erfolgt in der Schweiz mit einer Rückerstattung an Frankreich von 3,5 Prozent der Bruttolohnsumme. Vom massgebenden steuerbaren Ein- kommen bei vollständiger Besteuerung durch Genf, γ δ . BQE, wird der An- teil abgezogen, der Frankreich abzuliefern ist. Dieser Anteil wird berechnet, indem die an Frankreich abzuliefernde Steuer, TE δ . BQE, durch Division mit dem entsprechenden standardisierten Steuersatz, SSTt+3, auf das steuer- bare Einkommen hochgerechnet wird. 4.4.4 Formel (6), Grenzgängerinnen und Grenzgänger aus Frankreich (ohne Grenzgängerinnen und Grenzgänger aus Frankreich in Genf): Die Besteue- rung erfolgt durch Frankreich, die Schweiz erhält maximal 4,5 Prozent des Bruttoeinkommens. Der in der Schweiz steuerlich ausgeschöpfte Einkom- mensanteil wird durch Division des Steuerertrags, TF δ . BQF, mit dem ent- sprechenden standardisierten Steuersatz, SSTt+3, ermittelt. 4.4.5 Formel (7), Grenzgängerinnen und Grenzgänger aus Italien: Rückvergütung von 40 Prozent der Steuereinnahmen an Italien. Das massgebende steuerbare Einkommen, γ δ . BQG, wird um den Italien zustehenden Anteil, TG, korri- giert. 5. Kantonswerte für das Referenzjahr 2023 Kanton Massgebende quellenbesteuerte Einkommen (in 1000 Fr.) Zürich 2 240 150 Bern 648 672 Luzern 325 679 Uri 32 605 Schwyz 166 161 Obwalden 41 015 Nidwalden 44 873 Glarus 46 987 Zug 255 480 Freiburg 264 683 Finanz- und Lastenausgleich. V 29 / 65 613.21 Kanton Massgebende quellenbesteuerte Einkommen (in 1000 Fr.) Solothurn 230 905 Basel-Stadt 811 957 Basel-Landschaft 431 747 Schaffhausen 162 691 Appenzell A.Rh. 18 554 Appenzell I.Rh. 9 831 St. Gallen 503 958 Graubünden 432 239 Aargau 764 852 Thurgau 324 755 Tessin 1 173 651 Waadt 1 377 616 Wallis 435 256 Neuenburg 284 132 Genf 2 676 292 Jura 111 223 Total Kantone 13 815 964 Finanzausgleich 30 / 65 613.21 Anhang 471 (Art. 13 und 14) Massgebendes Vermögen der natürlichen Personen 1. Definition der Variablen und Parameter Vermögenssteuereinnahmen der Kantone und Gemeinden Reinvermögen Einkommenssteuereinnahmen der Kantone und Gemeinden Quellensteuereinnahmen der Kantone und Gemeinden Kantonsanteil an der direkten Bundessteuer nach Artikel 196 Absatz 1 DBG72 Einkommenssteuereinnahmen der direkten Bundessteuer Massgebende Einkommen der natürlichen Personen Massgebende quellenbesteuerte Einkommen der natürlichen Personen 2. Berechnung des Faktors Alpha 2.1 Der Faktor Alpha nach Artikel 13 wird gemäss folgender Formel berechnet: 2.2 Der Faktor Alpha wird jährlich berechnet und basiert auf den letzten verfüg- baren sechs Bemessungsjahren. 3. Faktor Alpha für die Bemessungsjahre 2017–2019 2017 2018 2019 Faktor Alpha 0.014 0.015 0.015 71 Fassung gemäss Ziff. II Abs. 3 der V vom 6. Nov. 2019 (AS 2019 3823). Bereinigt ge- mäss Ziff. II Abs. 2 der V vom 16. Nov. 2022, in Kraft seit 1. Jan. 2023 (AS 2022 761). 72 SR 642.11 𝑉𝑀𝐶𝐻 𝑅𝑉𝐶𝐻 𝐸𝐾𝐶𝐻 𝑄𝑆𝐶𝐻 𝜋 𝐸𝐾𝐷𝐵𝐺 𝑀𝐸𝐶𝐻 𝑀𝑄𝐶𝐻 𝑉𝑀𝐶𝐻 𝑅𝑉𝐶𝐻 𝐸𝐾𝐶𝐻 + 𝑄𝑆𝐶𝐻 + 𝜋 ∙ 𝐸𝐾𝐷𝐵𝐺 𝑀𝐸𝐶𝐻 + 𝑀𝑄𝐶𝐻 Finanz- und Lastenausgleich. V 31 / 65 613.21 4. Kommentar zur Berechnung des Faktors Alpha Der Faktor Alpha berechnet sich, indem die Ausschöpfung der Vermögen durch die Ausschöpfung der Einkommen dividiert wird. Die Ausschöpfung der Vermögen ent- spricht den gesamten Vermögenssteuereinnahmen der Kantone und Gemeinden divi- diert durch die gesamten Reinvermögen der Schweiz. Für die Ausschöpfung der Ein- kommen werden die gesamten Einkommens- und Quellensteuereinnahmen der Kantone und Gemeinden inklusive dem Kantonsanteil an der direkten Bundessteuer auf Einkommen verwendet und durch die massgebenden Einkommen der natürlichen Personen gemäss Anhang 2 und den massgebenden quellenbesteuerten Einkommen gemäss Anhang 3 dividiert. 5. Kantonswerte für das Referenzjahr 2023 Kanton Massgebendes Vermögen der natürlichen Personen (in 1000 Fr.) Zürich 6 459 471 Bern 2 698 759 Luzern 1 473 459 Uri 110 961 Schwyz 1 871 038 Obwalden 216 994 Nidwalden 557 012 Glarus 121 629 Zug 1 155 943 Freiburg 480 726 Solothurn 424 631 Basel-Stadt 955 042 Basel-Landschaft 703 753 Schaffhausen 225 049 Appenzell A.Rh. 225 759 Appenzell I.Rh. 95 375 St. Gallen 1 745 420 Graubünden 994 345 Aargau 1 885 740 Thurgau 929 357 Tessin 1 149 468 Waadt 2 307 878 Wallis 856 490 Neuenburg 294 011 Genf 2 104 537 Finanzausgleich 32 / 65 613.21 Kanton Massgebendes Vermögen der natürlichen Personen (in 1000 Fr.) Jura 111 698 Total Kantone 30 154 544 Finanz- und Lastenausgleich. V 33 / 65 613.21 Anhang 573 (Art. 16) Massgebende Gewinne der juristischen Personen ohne besonderen Steuerstatus Kantonswerte für das Referenzjahr 2023 Kanton Massgebende Gewinne der juristischen Personen ohne besonderen Steuerstatus (in 1000 Fr.) Zürich 17 400 346 Bern 7 304 781 Luzern 3 542 833 Uri 207 465 Schwyz 1 643 385 Obwalden 285 955 Nidwalden 516 748 Glarus 218 145 Zug 3 447 976 Freiburg 1 547 695 Solothurn 1 183 877 Basel-Stadt 3 449 679 Basel-Landschaft 1 362 684 Schaffhausen 467 739 Appenzell A.Rh. 376 731 Appenzell I.Rh. 136 039 St. Gallen 4 086 815 Graubünden 892 055 Aargau 3 387 100 Thurgau 1 577 950 Tessin 2 558 404 Waadt 4 399 493 Wallis 1 253 414 Neuenburg 1 040 130 Genf 5 030 796 Jura 487 548 Total Kantone 67 805 781 73 Fassung gemäss Ziff. II Abs. 1 der V vom 16. Nov. 2022, in Kraft seit 1. Jan. 2023 (AS 2022 761). Finanzausgleich 34 / 65 613.21 Anhang 674 (Art. 18–20) Massgebende Gewinne der juristischen Personen mit besonderem Steuerstatus Zuschlagsfaktoren für die Berechnungen der Faktoren Beta 1. Definition der Variablen und Parameter π Kantonsanteil an der direkten Bundessteuer gemäss Artikel 196 Absatz 1 DBG75 TDBG Gewinnsteuersatz der direkten Bundessteuer gemäss Artikel 68 DBG β* Basisfaktor gemäss Artikel 20 Absatz 1 ω Reduktionsfaktor (Entgelt an die Kantone für die Erhebung der direkten Bundessteuer) SST2019 Standardisierter Steuersatz für das Referenzjahr 2019 2. Berechnung der Zuschlagsfaktoren Die Zuschlagsfaktoren gemäss Artikel 20 Absatz 2 werden gemäss folgender Formel berechnet: 3. Parameterwerte für Referenzjahre ab 2020 Parameter Wert π 0.17 TDBG 0.085 SST2019 0.261 ω 0.5 74 Fassung gemäss Ziff. II Abs. 3 der V vom 6. Nov. 2019, in Kraft bis zum 31. Dez. 2025 (AS 2019 3823). Bereinigt gemäss Ziff. II Abs. 2 der V vom 16. Nov. 2022, in Kraft seit 1. Jan. 2023 (AS 2022 761). 75 SR 642.11 𝜋 ∙ 𝑇𝐷𝐵𝐺 𝑆𝑆𝑇2019 ∙ 1 −𝛽∗ ∙ 1 −𝜔 Finanz- und Lastenausgleich. V 35 / 65 613.21 4. Faktoren Beta für Referenzjahre ab 2020 Basisfaktor β* Zuschlagsfaktor Faktor β Holdinggesellschaften 0.0 % 2.8 % 2.8 % Domizilgesellschaften 9.9 % 2.5 % 12.4 % gemischte Gesellschaften 10.0 % 2.5 % 12.5 % 5. Kommentar zur Berechnung der Zuschlagsfaktoren Die Faktoren Beta berechnen sich aus einem Basisfaktor β* und einem Zuschlagsfak- tor. Der Zuschlagsfaktor berechnet sich wie folgt: In einem ersten Schritt wird der Gewinnsteuersatz der direkten Bundessteuer, TDBG, mit dem Kantonsanteil, , mul- tipliziert (TDBG · π). Anschliessend erfolgt eine Korrektur um den Teil, der bereits im Basisfaktor enthalten ist (1–β*). Mit einer weiteren Korrektur (1–) wird dem Umstand Rechnung getragen, dass der Kantonsanteil an der direkten Bundessteuer zumindest teilweise einer Bezugsprovision an die Kantone gleichkommt. In einem letzten Schritt wird dieser bereinigte Steuersatz durch die Division mit dem standar- disierten Steuersatz des Jahres 2019, SST2019, auf einen auf die Gewinne anwendbaren Faktor hochgerechnet. 6. Kantonswerte für das Referenzjahr 2023 Kanton Massgebende Gewinne der juristischen Personen mit besonderem Steuerstatus (in 1000 Fr.) Zürich 1 263 060 Bern 792 505 Luzern 426 943 Uri 874 Schwyz 199 861 Obwalden 19 455 Nidwalden 44 441 Glarus 40 247 Zug 1 863 924 Freiburg 388 577 Solothurn 30 110 Basel-Stadt 683 283 Basel-Landschaft 445 667 Schaffhausen 626 788 Appenzell A.Rh. 22 603 Appenzell I.Rh. 785 Finanzausgleich 36 / 65 613.21 Kanton Massgebende Gewinne der juristischen Personen mit besonderem Steuerstatus (in 1000 Fr.) St. Gallen 347 162 Graubünden 109 601 Aargau 63 311 Thurgau 14 320 Tessin 138 213 Waadt 2 592 476 Wallis 7 314 Neuenburg 363 272 Genf 1 921 417 Jura 20 108 Total Kantone 12 426 318 Finanz- und Lastenausgleich. V 37 / 65 613.21 Anhang 776 (Art. 21) Massgebende Steuerrepartitionen der direkten Bundessteuer Kantonswerte für das Referenzjahr 2023 Kanton Massgebende Steuerrepartitionen der direkten Bundessteuer (in 1000 Fr.) Zürich –59 968 Bern –329 048 Luzern –69 616 Uri 3 268 Schwyz –11 317 Obwalden 2 519 Nidwalden –950 Glarus 7 031 Zug –35 735 Freiburg –110 125 Solothurn 47 315 Basel-Stadt –136 444 Basel-Landschaft –2 432 Schaffhausen 17 829 Appenzell A.Rh. –4 982 Appenzell I.Rh. 783 St. Gallen 10 037 Graubünden 106 491 Aargau 183 981 Thurgau 7 475 Tessin 72 131 Waadt 48 911 Wallis 105 946 Neuenburg 67 036 Genf 86 469 Jura 18 631 Total Kantone 25 236 76 Fassung gemäss Ziff. II Abs. 1 der V vom 16. Nov. 2022, in Kraft seit 1. Jan. 2023 (AS 2022 761). Finanzausgleich 38 / 65 613.21 Anhang 7a77 (Art. 22a) Beiträge an die ressourcenschwachen Kantone 1. Definition der Variablen und Parameter Beitrag an den ressourcenschwachen Kanton r durchschnittliche mittlere ständige und nichtständige Wohnbevölkerung des ressourcenschwachen Kantons r in den Bemessungsjahren Ressourcenindex des ressourcenschwachen Kantons r Indexwert der garantierten Mindestausstattung Standardisierter Steuerertrag der Schweiz pro Einwohnerin und Einwohner 2. Berechnung 2.1 Der Beitrag an einen ressourcenschwachen Kanton r berechnet sich wie folgt: 2.2 Der Werte der Parameter p und t werden wie folgt berechnet: 3. Parameterwerte für das Referenzjahr 2023 Parameter Wert 9 418 86.5 4. Kommentar zur Berechnung 4.1 Die Berechnung richtet sich nach der Höhe des Ressourcenindexes. Bei einem Ressourcenindex von kleiner als 70 Punkten wird der Ausgleichsbetrag so 77 Eingefügt durch Ziff. II Abs. 2 der V vom 6. Nov. 2019 (AS 2019 3823). Bereinigt ge- mäss Ziff. II Abs. 2 der V vom 16. Nov. 2022, in Kraft seit 1. Jan. 2023 (AS 2022 761). 𝐵𝑟 𝑒𝑟 𝑅𝐼𝑟 𝑀 𝑠𝑠𝑒𝐶𝐻 𝐵𝑟 = 𝑠𝑠𝑒𝐶𝐻 ∙ 𝑒𝑟 100 ∙ 𝑡 ∙ 100 − 𝑅𝐼𝑟 𝑝 𝑓ü𝑟 100 ≥ 𝑅𝐼𝑟 ≥ 70 𝑀 − 𝑅𝐼𝑟 𝑓ü𝑟 70 > 𝑅𝐼𝑟 𝑝 = (100 − 70) ∙ 0,9 𝑀 − 70 𝑡 = 𝑀 − 70 (100 − 70)𝑝 𝑠𝑠𝑒𝐶𝐻 𝑀 Finanz- und Lastenausgleich. V 39 / 65 613.21 festgelegt, dass der Kanton nach Ausgleich genau die garantierte Mindestaus- stattung erreicht. 4.2 Bei Ressourcenindizes ab 70 Punkten steigt der resultierende Index nach Aus- gleich progressiv an. Bei einem Ressourcenindex von genau 70 Punkten soll eine Erhöhung des standardisierten Steuerertrags um eine Einheit den Aus- gleichsbetrag um 90 Prozent dieser Einheit reduzieren (Grenzabschöpfung). Die Stärke der Progression wird durch die Parameter p und t definiert, welche abhängig sind von der Höhe der garantierten Mindestausstattung , der Grenze von 70 Punkten, ab der die Progression beginnt, und der Grenz- abschöpfung von 90 Prozent. 5. Auszahlung für das Jahr 2023 Kanton Ressourcen- index Ressourcenausgleich in Franken horizontal vertikal Total Zürich 123.1 0 0 0 Bern 77.7 397 383 676 596 075 515 993 459 191 Luzern 92.5 26 410 462 39 615 692 66 026 154 Uri 70.9 21 687 429 32 531 144 54 218 573 Schwyz 173.2 0 0 0 Obwalden 107.1 0 0 0 Nidwalden 158.1 0 0 0 Glarus 72.9 21 409 496 32 114 245 53 523 741 Zug 265.9 0 0 0 Freiburg 70.2 195 440 993 293 161 490 488 602 483 Solothurn 70.8 163 140 263 244 710 394 407 850 657 Basel-Stadt 153.1 0 0 0 Basel-Landschaft 97.5 3 166 662 4 749 993 7 916 655 Schaffhausen 98.9 230 019 345 029 575 048 Appenzell A.Rh. 85.2 10 782 157 16 173 235 26 955 392 Appenzell I.Rh. 101.2 0 0 0 St. Gallen 83.6 117 331 224 175 996 836 293 328 060 Graubünden 83.2 49 532 238 74 298 356 123 830 594 Aargau 81.1 198 788 930 298 183 396 496 972 326 Thurgau 80.1 87 792 071 131 688 106 219 480 177 Tessin 93.4 18 423 191 27 634 786 46 057 977 Waadt 99.0 2 055 893 3 083 839 5 139 732 Wallis 63.8 299 977 880 449 966 820 749 944 700 Neuenburg 77.5 69 538 978 104 308 467 173 847 445 Genf 137.4 0 0 0 𝑀 𝑀 Finanzausgleich 40 / 65 613.21 Kanton Ressourcen- index Ressourcenausgleich in Franken horizontal vertikal Total Jura 66.7 54 785 220 82 177 830 136 963 050 Total Kantone 100.0 1 737 876 782 2 606 815 173 4 344 691 955 Finanz- und Lastenausgleich. V 41 / 65 613.21 Anhang 878 (Art. 24) Beiträge der ressourcenstarken Kantone 1. Definition der Variablen und Parameter A gesamter Beitrag der ressourcenstarken Kantone Aq Beitrag eines ressourcenstarken Kantons q eq durchschnittliche mittlere ständige und nichtständige Wohnbevölkerung eines ressourcenstarken Kantons q in den Bemessungsjahren RIq Ressourcenindex eines ressourcenstarken Kantons q n Anzahl ressourcenstarke Kantone 2. Berechnung Der Beitrag eines ressourcenstarken Kantons q berechnet sich wie folgt: 3. Kommentar zur Berechnung Zur Festlegung des Beitrags eines ressourcenstarken Kantons q wird sein 100 Punkte übersteigender Ressourcenindex, RIq-100, mit seiner mittleren ständigen und nicht- ständigen Wohnbevölkerung, eq, multipliziert. Dieser Wert wird anschliessend in Be- ziehung gesetzt zur Summe der Werte aller n ressourcenstarken Kantone, Daraus ergibt sich sein Anteil am gesamten Beitrag der ressourcenstarken Kantone, A. 78 Bereinigt gemäss Ziff. II Abs. 2 der V vom 4. Nov. 2015 (AS 2015 4753), Ziff. II Abs. 4 der V vom 6. Nov. 2019 (AS 2019 3823) und Ziff. II Abs. 2 der V vom 16. Nov. 2022, in Kraft seit 1. Jan. 2023 (AS 2022 761). qqn 1q qq q e100RI e100RI A A n 1q qq e100RI Finanzausgleich 42 / 65 613.21 4. Einzahlung für das Jahr 2023 Kanton Ressourcenindex Beiträge in Franken Zürich 123.1 610 776 298 Bern 77.7 0 Luzern 92.5 0 Uri 70.9 0 Schwyz 173.2 202 316 780 Obwalden 107.1 4 694 363 Nidwalden 158.1 43 684 545 Glarus 72.9 0 Zug 265.9 368 273 367 Freiburg 70.2 0 Solothurn 70.8 0 Basel-Stadt 153.1 182 180 409 Basel-Landschaft 97.5 0 Schaffhausen 98.9 0 Appenzell A.Rh. 85.2 0 Appenzell I.Rh. 101.2 329 363 St. Gallen 83.6 0 Graubünden 83.2 0 Aargau 81.1 0 Thurgau 80.1 0 Tessin 93.4 0 Waadt 99.0 0 Wallis 63.8 0 Neuenburg 77.5 0 Genf 137.4 325 621 657 Jura 66.7 0 Total Kantone 100.0 1 737 876 782 Finanz- und Lastenausgleich. V 43 / 65 613.21 Anhang 979 79 Aufgehoben durch Ziff. II Abs. 1 der V vom 6. Nov. 2019, mit Wirkung seit 1. Jan. 2020 (AS 2019 3823). Finanzausgleich 44 / 65 613.21 Anhang 1080 (Art. 29) Definition des Begriffs Hauptsiedlungsgebiet und Datenbasis 1. Im Rahmen des geografisch-topografischen Lastenausgleichs werden als Hauptsiedlungsgebiet zusammenhängende Ortsteile mit einer Mindestbevöl- kerung von 200 Personen bezeichnet. 2. Datenbasis für die Bestimmung des Hauptsiedlungsgebiets sind die Hektarda- ten der Volkszählung. 3. Als zusammenhängende Ortsteile werden aneinandergrenzende bewohnte Hektaren bezeichnet. 80 Fassung gemäss Ziff. II der V vom 30. Okt. 2013, in Kraft seit 1. Jan. 2014 (AS 2013 3809). Finanz- und Lastenausgleich. V 45 / 65 613.21 Anhang 1181 81 Aufgehoben durch Ziff. II Abs. 3 der V vom 4. Nov. 2015, mit Wirkung seit 1. Jan. 2016 (AS 2015 4753). Finanzausgleich 46 / 65 613.21 Anhang 1282 (Art. 33) Geografisch-topografischer Lastenausgleich: Ausgleichszahlungen 2023 Kanton Ausgleichsbeträge in Franken Siedlungshöhe Steilheit des Geländes Siedlungsstruktur Geringe Bevöl- kerungsdichte Total Zürich 0 0 0 0 0 Bern 1 984 196 1 168 953 21 615 176 4 242 346 29 010 670 Luzern 0 0 5 739 963 0 5 739 963 Uri 556 565 5 803 205 1 533 667 3 848 326 11 741 764 Schwyz 2 614 151 2 127 118 1 559 489 580 344 6 881 102 Obwalden 511 710 2 896 288 1 470 776 1 319 677 6 198 452 Nidwalden 0 532 859 587 764 292 923 1 413 547 Glarus 0 3 349 311 0 2 095 833 5 445 144 Zug 0 0 0 0 0 Freiburg 2 142 545 0 6 817 046 516 270 9 475 862 Solothurn 0 0 0 0 0 Basel-Stadt 0 0 0 0 0 Basel-Landschaft 0 0 0 0 0 Schaffhausen 0 0 0 0 0 Appenzell A.Rh. 18 262 879 190 744 2 287 107 0 20 740 730 Appenzell I.Rh. 5 301 325 377 692 3 066 082 405 195 9 150 295 St. Gallen 0 0 1 867 261 0 1 867 261 Graubünden 40 025 227 64 609 966 9 667 858 26 268 709 140 571 760 Aargau 0 0 0 0 0 Thurgau 0 0 3 295 617 0 3 295 617 Tessin 0 10 173 334 0 4 867 556 15 040 890 Waadt 142 156 0 0 0 142 156 Wallis 30 158 663 30 137 509 586 631 15 222 206 76 105 009 Neuenburg 20 803 475 2 115 588 75 371 0 22 994 434 Genf 0 0 0 0 0 Jura 979 675 0 1 571 474 2 081 899 4 633 047 Total Kantone 123 482 568 123 482 568 61 741 284 61 741 284 370 447 703 82 Fassung gemäss Ziff. II Abs. 1 der V vom 16. Nov. 2022, in Kraft seit 1. Jan. 2023 (AS 2022 761). Finanz- und Lastenausgleich. V 47 / 65 613.21 Anhang 1383 (Art. 35) Massgebende Sonderlasten aufgrund der Bevölkerungsstruktur Berechnung des Lastenindex a) Variablen und Parameter: Teilindikator «Armut» des Kantons k Teilindikator «Altersstruktur» des Kantons k Teilindikator «Ausländerintegration» des Kantons k Mittelwert der Teilindikatoren «Armut» der Kantone Mittelwert der Teilindikatoren «Altersstruktur» der Kantone Mittelwert der Teilindikatoren «Ausländerintegration» der Kantone Standardabweichung der Teilindikatoren «Armut» der Kantone Standardabweichung der Teilindikatoren «Altersstruktur» der Kantone Standardabweichung der Teilindikatoren «Ausländerintegration» der Kan- tone Standardisierter Teilindikator «Armut» des Kantons k Standardisierter Teilindikator «Altersstruktur» des Kantons k Standardisierter Teilindikator «Ausländerintegration» des Kantons k Gewicht für den standardisierten Teilindikator «Armut» Gewicht für den standardisierten Teilindikator «Altersstruktur» Gewicht für den standardisierten Teilindikator «Ausländerintegration» Lastenindex für Sonderlasten der Bevölkerungsstruktur des Kantons k b) Die standardisierten Teilindikatoren werden wie folgt berechnet: , , . 83 Bereinigt gemäss Ziff. II Abs. 2 der V vom 4. Nov. 2015 (AS 2015 4753) und vom 16. Nov. 2022, in Kraft seit 1. Jan. 2023 (AS 2022 761). kTSA kTSS kTSI TSA TSS TSI TSAs TSSs TSIs kZSA kZSS kZSI ZSA ZSS ZSI kLS TSA k k s TSATSA ZSA TSS k k s TSSTSS ZSS TSI k k s TSITSI ZSI Finanzausgleich 48 / 65 613.21 Die Standardisierung erfolgt, indem die Abweichungen der Teilindikatoren zum je- weiligen Schweizer Mittelwert mit der Standardabweichung dividiert werden. c) Der Lastenindex für Sonderlasten der Bevölkerungsstruktur eines Kantons k be- rechnet sich wie folgt: d) Die Gewichte werden mit Hilfe einer Hauptkomponentenanalyse berechnet. Für die Gewichte gilt deshalb: , mit µLS Vektor der Gewichte λZS höchster Eigenwert der Korrelationsmatrix der standardisierten Teilindika- toren xZS Eigenvektor des Eigenwerts λZS e) Gewichte für das Jahr 2023: μZSA 0.56 μZSS 0.04 μZSI 0.54 kZSIkZSSkZSAk ZSIZSSZSALS ZSZS ZSI ZSS ZSA ZS ZSI ZSS ZSA x x x 1 xμ Finanz- und Lastenausgleich. V 49 / 65 613.21 Anhang 1484 (Art. 37) Massgebende Sonderlasten der Kernstädte 1. Berechnung des Lastenindex der Gemeinden a) Variablen und Parameter: Teilindikator «Gemeindegrösse» der Gemeinde g Teilindikator «Siedlungsdichte» der Gemeinde g Teilindikator «Beschäftigungsquote» der Gemeinde g Mittelwert der Teilindikatoren «Gemeindegrösse» der Gemeinden Mittelwert der Teilindikatoren «Siedlungsdichte» der Gemeinden Mittelwert der Teilindikatoren «Beschäftigungsquote» der Gemeinden Standardabweichung der Teilindikatoren «Gemeindegrösse» der Gemeinden Standardabweichung der Teilindikatoren «Siedlungsdichte» der Gemeinden Standardabweichung der Teilindikatoren «Beschäftigungsquote» der Ge- meinden Standardisierter Teilindikator «Gemeindegrösse» der Gemeinde g Standardisierter Teilindikator «Siedlungsdichte» der Gemeinde g Standardisierter Teilindikator «Beschäftigungsquote» der Gemeinde g Gewicht für den standardisierten Teilindikator «Gemeindegrösse» Gewicht für den standardisierten Teilindikator «Siedlungsdichte» Gewicht für den standardisierten Teilindikator «Beschäftigungsquote» Lastenindex für Sonderlasten der Kernstädte für Gemeinde g b) Die standardisierten Teilindikatoren werden wie folgt berechnet: , , 84 Bereinigt gemäss Ziff. II Abs. 2 der V vom 4. Nov. 2015 (AS 2015 4753) und vom 16. Nov. 2022, in Kraft seit 1. Jan. 2023 (AS 2022 761). gTFG gTFS gTFB TFG TFS TFB TFGs TFSs TSBs gZFG gZFS gZFB ZFG ZFS ZFB gLF TFG k g s TFGTFG ZFG TFS k g s TFSTFS ZFS Finanzausgleich 50 / 65 613.21 . Die Standardisierung erfolgt, indem die Abweichungen der Teilindikatoren zum je- weiligen Schweizer Mittelwert mit der Standardabweichung dividiert werden. c) Der Lastenindex für Sonderlasten der Kernstädte einer Gemeinde berechnet sich wie folgt: d) Die Gewichte werden mit Hilfe einer Hauptkomponentenanalyse berechnet. Für die Gewichte gilt deshalb: , mit µZF Vektor der Gewichte λZF höchster Eigenwert der Korrelationsmatrix der standardisierten Teilindika- toren xZF Eigenvektor des Eigenwerts λZF e) Gewichte für das Jahr 2023: μZFG 0.48 μZFS 0.50 μZFB 0.33 2. Berechnung des Lastenindex der Kantone a) Variablen und Parameter: LFg,k Lastenindex für Sonderlasten der Kernstädte für Gemeinde g im Kanton k LFk Lastenindex für Sonderlasten der Kernstädte für Kanton k eg,k Ständige Wohnbevölkerung der Gemeinde g im Kanton k ek Ständige Wohnbevölkerung des Kantons k Gk Anzahl Gemeinden im Kanton k TFB k g s TFBTFB ZFB gZFBgZFSgZFGg ZFBZFSZFGLF ZFZF ZFB ZFS ZFG ZF ZFB ZFS ZFG x x x 1 xμ Finanz- und Lastenausgleich. V 51 / 65 613.21 b) Berechnung: Der Lastenindex eines Kantons ist der mit der Bevölkerung gewichtete Durchschnitt der Lastenindizes seiner Gemeinden. Er ist somit gegeben durch die Summe der mit der ständigen Wohnbevölkerung multiplizierten Lastenindizes der Gemeinden im Kanton, dividiert durch die ständige Wohnbevölkerung des Kantons: kG 1k,g k,gk,gk e eLFLF k Finanzausgleich 52 / 65 613.21 Anhang 1585 (Art. 40) Soziodemografischer Lastenausgleich: Ausgleichszahlungen 2023 Kanton Ausgleichsbeträge in Franken Sonderlasten der Bevölkerungsstruktur Sonderlasten der Kernstädte Total Zürich 29 963 948 95 479 434 125 443 382 Bern 0 0 0 Luzern 0 0 0 Uri 0 0 0 Schwyz 0 0 0 Obwalden 0 0 0 Nidwalden 0 0 0 Glarus 0 0 0 Zug 3 279 987 0 3 279 987 Freiburg 1 044 649 0 1 044 649 Solothurn 9 249 877 0 9 249 877 Basel-Stadt 41 972 247 24 352 435 66 324 682 Basel-Landschaft 0 0 0 Schaffhausen 0 0 0 Appenzell A.Rh. 0 0 0 Appenzell I.Rh. 0 0 0 St. Gallen 0 0 0 Graubünden 0 0 0 Aargau 0 0 0 Thurgau 0 0 0 Tessin 383 863 0 383 863 Waadt 119 420 906 5 019 327 124 440 233 Wallis 9 671 626 0 9 671 626 Neuenburg 13 515 156 0 13 515 156 Genf 111 796 210 45 298 038 157 094 248 Jura 0 0 0 Total Kantone 340 298 469 170 149 234 510 447 703 85 Fassung gemäss Ziff. II Abs. 1 der V vom 16. Nov. 2022, in Kraft seit 1. Jan. 2023 (AS 2022 761). Finanz- und Lastenausgleich. V 53 / 65 613.21 Anhang 1686 (Art. 42) Schätzung des Ressourcenpotenzials bei fehlenden oder nicht weiterverwertbaren Daten Bei fehlenden oder nicht weiterverwertbaren Daten werden die Bestandteile des Res- sourcenpotenzials geschätzt. Zur Bestimmung der Koeffizienten der Schätzgleichun- gen werden Regressionsanalysen mit den Daten der korrekt liefernden Kantone durch- geführt. Als Ersatzwert für fehlende Daten ab dem Bemessungsjahr 2003 wird die obere Grenze des 95 % Vertrauensintervalls verwendet. Als Ersatzwert für fehlende Daten der Globalbilanz (Bemessungsjahre 1998–2001) wird der Schätzwert verwen- det. Die Koeffizienten für die Bemessungsjahre der Globalbilanz für das massgebende quellenbesteuerte Einkommen, das massgebende Vermögen sowie die massgebenden Gewinne der juristischen Personen werden auf der Basis des Mittelwerts der Daten der Jahre 2003 und 2004 berechnet. 1. Variablen MEk,t Massgebendes Einkommen der natürlichen Personen pro Einwohner des Kantons k im Bemessungsjahr t GMEt Wachstumsrate des massgebenden Einkommens pro Einwohner der gesamten Schweiz im Jahr t RMk,T Verhältnis zwischen massgebendem quellenbesteuertem Einkommen und massgebendem Einkommen der natürlichen Personen des Kantons k im Bemessungsjahr T EAk,T Anzahl der Aufenthalter (inklusive Kurzaufenthalter >12 Monate) des Kantons k im Bemessungsjahr T EKk,T Anzahl der Kurzaufenthalter (<12 Monate oder Saisonniers) des Kantons k im Bemessungsjahr T ECHk,T Anzahl der Schweizer Einwohner der ständigen Wohnbevölkerung des Kantons k im Bemessungsjahr T ENk,T Anzahl der niedergelassenen Ausländer des Kantons k im Bemessungsjahr T Gewichtung der Bruttoeinkommen von Grenzgängern aus dem Nachbar- staat X des Kantons k im Bemessungsjahr T gemäss Anhang 3 Bruttoeinkommen von Grenzgängern aus dem Nachbarstaat X des Kan- tons k im Bemessungsjahr T gemäss Anhang 3 RVk,T Reinvermögen pro Einwohner des Kantons k im Bemessungsjahr T EVk,T Ertrag der Vermögenssteuer pro Einwohner des Kantons k im Bemessungsjahr T 86 Bereinigt gemäss Ziff. III der V vom 16. Nov. 2011, in Kraft seit 1. Jan. 2012 (AS 2011 5823). X T,k X T,kBQ Finanzausgleich 54 / 65 613.21 tvk,T Durchschnittliche Vermögenssteuerbelastung des Kantons k im Bemessungsjahr T GKk,T Summe der vollständig besteuerten Gewinne der juristischen Personen pro Einwohner des Kantons k im Bemessungsjahr T EJPk,T Ertrag der Gewinnsteuer pro Einwohner des Kantons k im Bemessungs- jahr T GDBk,T Gewinne gemäss direkter Bundessteuer (nach Beteiligungsabzug) pro Ein- wohner des Kantons k im Bemessungsjahr T g T β Faktor Beta des Gesellschaftstyps gemischte Gesellschaft im Bemessungs- jahr T gemäss Anhang 6 WGDBt Wachstumsrate der Gewinne gemäss direkter Bundessteuer der gesamten Schweiz im Jahr t 2. Zu schätzende Parameter a Konstante b, c, d Koeffizienten für die unabhängigen Variablen vk Zeitkonstante (strukturelle) kantonale Effekte (fixe Effekte) bei Schätz- gleichungen, die Daten aus mehreren Zeitperioden umfassen («Panel»-Da- ten) uk,t Residuen (Schätzfehler) 3. Schätzgleichungen: Fall Bestandteil Ressourcenpotenzial Regressionsgleichung zur Bestimmung der Koeffizienten 1 Massgebendes Einkommen natürliche Personen für 2 Massgebende quellenbesteuerte Einkommen mit t,kkt1t,kt,k uvGMEcMElogbaMElog T,...,10Tt T,kT,kT,kT,kT,k uIMEdREBcREVbaRM T,kT,k T,kT,k T,k ENECH EKEA REV T,kT,k T,kT,k T,k ENECH EG REB I,F,D,AX X T,k I,F,D,AX X T,k X T,kT,k BQBQ 1T,kT,k MEIME Finanz- und Lastenausgleich. V 55 / 65 613.21 Fall Bestandteil Ressourcenpotenzial Regressionsgleichung zur Bestimmung der Koeffizienten 3 Massgebendes Vermögen natürliche Personen mit 4 Massgebende Gewinne juristische Personen Schritt 1: Tk u Tk TPc Tk EJPba Tk GK , 5.0 ,,, mit T,kT,kT,k GDBEJPTP Schritt 2: Tk GK Tk GDB g TTk GK Tk MJ ,,,, 5 Gewinne gemäss direkter Bundessteuer für T,kT,kT,kT,k uWAIcSKVbaRV T,kT,kT,k tvEVSKV 1T,kT,kT,k tvMEWAI t,kkt1t,kt,k uvWGDBcGDBlogbaGDBlog T,...,10Tt Finanzausgleich 56 / 65 613.21 Anhang 1787 (Art. 46) Wirksamkeitsbericht Kriterien und Messgrössen zur Beurteilung der Wirksamkeit – Verhältnis zwischen zweckgebundenen und zweckfreien Transferzahlungen des Bundes an die Kantone – Transferzahlungen der Kantone an den Bund – Verhältnis zwischen Kostenbeiträgen und Pauschal- und Globalbeiträgen – Unterschiede beim Ressourcenpotenzial pro Einwohner der Kantone – Unterschiede beim standardisierten Steuerertrag pro Einwohnerin und Ein- wohner der Kantone vor und nach erfolgtem Ressourcenausgleich – Standardisierter Steuerertrag pro Einwohnerin und Einwohner des ressourcen- schwächsten Kantons im Verhältnis zum Schweizer Mittelwert vor und nach erfolgtem Ressourcenausgleich – Höhe des Freibetrags zur Berechnung der massgebenden Einkommen der na- türlichen Personen – Sonderlasten pro Einwohnerin und Einwohner – Verhältnis zwischen Lastenausgleich und Sonderlasten – Einnahmen, Ausgaben und Schulden der Kantone – Unterschiede in der Steuerbelastung – Staats- und Fiskalquoten der Kantone und Gemeinden im nationalen und in- ternationalen Vergleich – Steuererleichterungen aufgrund des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 199588 zugunsten wirtschaftlicher Erneuerungsgebiete («Lex Bonny») – Zu- und Abwanderungen von Steuerpflichtigen im nationalen und internatio- nalen Verhältnis – Effektive Grenz- und Durchschnittssteuerbelastungen der Kantone im natio- nalen und internationalen Vergleich – Anzahl Gesellschaften mit ermässigter Besteuerung von Gewinnen aus Paten- ten und vergleichbaren Rechten nach Artikel 24b Absatz 1 StHG89 – Interdependenz zwischen Steuerbelastung in einem Kanton und dem Immo- bilienmarkt in diesem Kanton 87 Bereinigt gemäss Ziff. II Abs. 4 der V vom 6. Nov. 2019, in Kraft seit 1. Jan. 2020 (AS 2019 3823). 88 [AS 1996 1918, 2001 1911, 2006 2197 Anhang Ziff. 144 4301. AS 2007 681 Anhang Ziff. I 4]. Siehe heute: das BG vom 6. Okt. 2006 über die Regionalpolitik (SR 901.0). 89 SR 642.14 Finanz- und Lastenausgleich. V 57 / 65 613.21 – Auswirkungen wichtiger fiskalpolitischer Entscheide auf andere Kantone – Auswirkungen des Härteausgleichs auf die standardisierten Steuererträge der Kantone – Entwicklung des Volumens der interkantonalen Lastenausgleichszahlungen und Anteil der Abgeltung der Spillovers Finanzausgleich 58 / 65 613.21 Anhang 1890 (Art. 56) Härteausgleich 1. Variablen und Parameter gwk Grenzwert für die zu erreichende Mindestentlastung eines Kantons in Pro- zent des standardisierten Steuerertrags des Kantons k ε Faktor zur Bestimmung der mit dem Härteausgleich angestrebten Entlastung in Abhängigkeit des Ressourcenindex Standardisierter Steuerertrag des Kantons k des Jahres 2004 Standardisierter Steuerertrag des Kantons k des Jahres 2005 Ressourcenindex des Kantons k des Jahres 2004 Ressourcenindex des Kantons k des Jahres 2005 Nettoergebnis des Kantons k in der Globalbilanz 2004 (positive Werte: Be- lastung, negative Werte: Entlastung) Nettoergebnis des Kantons k in der Globalbilanz 2005 (positive Werte: Be- lastung, negative Werte: Entlastung) nesk Nettoergebnis des Kantons k in Prozent des standardisierten Steuerertrags des Kantons k (positive Werte: Belastung, negative Werte: Entlastung) HAk Anfangsbeitrag aus dem Härteausgleich für den Kanton k 2. Grenzwert für den Bezug von Härteausgleich Der Grenzwert für den Bezug von Härteausgleich berechnet sich wie folgt: Der Grenzwert eines Kantons berechnet sich durch die Multiplikation des Faktors Ep- silon, , mit der durchschnittlichen Abweichung des Ressourcenindex des Kantons vom Schweizer Durchschnitt in den Jahren 2004 und 2005. Negative Werte bedeuten eine Entlastung, positive Werte eine Belastung. Aus der Formel ergibt sich, dass der Grenzwert für einen durchschnittlich ressourcenschwachen Kanton negativ ist, d.h. dass eine Entlastung angestrebt wird. 90 Bereinigt gemäss Ziff. I 2 der V vom 15. Nov. 2017 (AS 2017 6287) und Ziff. II Abs. 2 der V vom 16. Nov. 2022, in Kraft seit 1. Jan. 2023 (AS 2022 761). 04 kSSE 05 kSSE 04 kRI 05 kRI 04 kNE 05 kNE 2 100RI100RI gw 05 k 04 k k Finanz- und Lastenausgleich. V 59 / 65 613.21 3. Nettoergebnis in Prozent des standardisierten Steuerertrags Das Nettoergebnis der Globalbilanz eines Kantons in Prozent des standardisierten Steuerertrags wird wie folgt berechnet: Negative Werte bedeuten eine Nettoentlastung, positive Werte eine Nettobelastung. 4. Anfangsbeitrag aus dem Härteausgleich Der Anfangsbeitrag eines Kantons k aus dem Härteausgleich richtet sich nach folgen- der Tabelle: Bedingungen (wenn …,) Härteausgleich (… dann) HAk = 0 nesk ≤ gwk HAk = 0 nesk > gwk Bedingung 1: Ist der durchschnittliche Ressourcenindex in den Jahren 2004 und 2005 grösser als der Schweizer Durchschnitt, , so erhält der Kanton keinen Härteausgleich. Bedingung 2: Ist der durchschnittliche Ressourcenindex in den Jahren 2004 und 2005 kleiner als der Schweizer Durchschnitt, , so muss zwischen zwei Fällen unterschieden werden: Fall 2a: Ist das Nettoergebnis der Globalbilanz in Prozent des standardisierten Steu- erertrags kleiner als der Grenzwert (d.h. ist die Nettoentlastung grösser als die ange- strebte Entlastung), so erhält der Kanton keinen Härteausgleich. all 2b: Ist das Nettoergebnis der Globalbilanz in Prozent des standardisierten Steuer- ertrags grösser als der Grenzwert (d.h. ist die Nettoentlastung kleiner als die ange- strebte Entlastung oder weist der Kanton eine Nettobelastung auf), so erhält der Kan- ton Härteausgleich in der Höhe der Differenz zwischen dem Nettoergebnis und dem 05 k 04 k 05 k 04 k k SSESSE NENE nes 100 2 RIRI 05 k 04 k 100 2 RIRI 05 k 04 k 2 SSESSE gwnesHA 05 k 04 k kkk 100 2 RIRI 05 k 04 k 100 2 RIRI 05 k 04 k Finanzausgleich 60 / 65 613.21 Grenzwert, multipliziert mit seinem durchschnittlichen standardisierten Steuerertrag in den Jahren 2004 und 2005: 5. Bestimmung des Faktors Epsilon Der Faktor wird so bestimmt, dass die Summe aller Ausgleichszahlungen für die h im Härteausgleich anspruchsberechtigten Kantone z gleich dem für den Härteaus- gleich zur Verfügung stehenden Gesamtbetrag H entspricht: . Mit z werden jene ressourcenschwachen Kantone bezeichnet, welche Anspruch auf Härteausgleich haben, d.h. alle Kantone k, für welche das Nettoergebnis in Prozent des standardisierten Steuerertrags einen höheren Wert aufweist als der Grenzwert: . Der Faktor und die Kantone z werden mit einem Iterationsverfahren bestimmt. 6. Beiträge auf der Basis der Globalbilanz 2004/2005 + = Belastung; – = Entlastung des Kantone Kanton Durch- schnittlicher Ressourcen- index 2004/05 Grenzwert für den Bezug von Härteausgleich (in Prozent der standardisierten Steuererträge) Nettoergebnis der Globalbilanz 2004/05 (in Prozent der standardisierten Steuererträge) Differenz zwi- schen Nettoergebnis der Globalbilanz und Grenzwert (in Prozent der standardisierten Steuererträge) Ausgleichsbetrag in Franken Zürich 132.1 0.0 % 0.9 % 0.9 % 0 Bern 74.0 –1.9 % –0.8 % 1.1 % 52 134 660 Luzern 77.0 –1.7 % –0.4 % 1.3 % 23 692 069 Uri 67.0 –2.4 % –15.1 % –12.7 % 0 Schwyz 135.6 0.0 % 3.9 % 3.9 % 0 Obwalden 67.0 –2.4 % 3.8 % 6.2 % 9 441 566 Nidwalden 124.6 0.0 % 0.2 % 0.2 % 0 Glarus 96.1 –0.3 % 2.9 % 3.1 % 8 168 757 Zug 204.0 0.0 % 6.8 % 6.8 % 0 Freiburg 74.9 –1.8 % 9.1 % 11.0 % 137 280 030 2 SSESSE gwnesHA 05 k 04 k kkk H 2 SSESSE 2 100RI100RI nes h 1z 05 z 04 z 05 z 04 z z 2 100RI100RI nes 05 k 04 k k Finanz- und Lastenausgleich. V 61 / 65 613.21 Kanton Durch- schnittlicher Ressourcen- index 2004/05 Grenzwert für den Bezug von Härteausgleich (in Prozent der standardisierten Steuererträge) Nettoergebnis der Globalbilanz 2004/05 (in Prozent der standardisierten Steuererträge) Differenz zwi- schen Nettoergebnis der Globalbilanz und Grenzwert (in Prozent der standardisierten Steuererträge) Ausgleichsbetrag in Franken Solothurn 75.8 –1.8 % –6.8 % –5.1 % 0 Basel-Stadt 148.6 0.0 % 0.0 % 0.0 % 0 Basel-Landschaft 110.2 0.0 % 0.4 % 0.4 % 0 Schaffhausen 92.9 –0.5 % 0.9 % 1.4 % 6 640 279 Appenzell A.Rh. 79.8 –1.5 % –3.3 % –1.8 % 0 Appenzell I.Rh. 82.7 –1.3 % –6.1 % –4.8 % 0 St. Gallen 77.0 –1.7 % –7.4 % –5.7 % 0 Graubünden 84.9 –1.1 % –1.3 % –0.2 % 0 Aargau 87.8 –0.9 % –4.4 % –3.5 % 0 Thurgau 76.5 –1.7 % –5.3 % –3.6 % 0 Tessin 102.8 0.0 % 0.2 % 0.2 % 0 Waadt 96.7 –0.2 % 1.3 % 1.5 % 64 876 643 Wallis 61.6 –2.8 % –4.5 % –1.7 % 0 Neuenburg 91.0 –0.7 % 9.5 % 10.2 % 108 832 726 Genf 155.4 0.0 % 1.9 % 1.9 % 0 Jura 66.5 –2.4 % 3.7 % 6.1 % 19 387 554 Total Kantone 100.0 430 454 285 7. Beiträge für das Jahr 2023: Bereinigung der Anspruchsberechtigung aufgrund des Ressourcenindex 2023 + = Belastung Kanton; – = Entlastung Kanton Kanton Ressourcen- index Bereinigter Härteausgleich in Franken Auszahlung Einzahlung Saldo Zürich 123.1 0 11 831 061 11 831 061 Bern 77.7 –31 280 796 9 231 208 –22 049 588 Luzern 92.5 –14 215 241 3 347 022 –10 868 219 Uri 70.9 0 335 513 335 513 Schwyz 173.2 0 1 238 623 1 238 623 Obwalden 107.1 0 311 708 311 708 Nidwalden 158.1 0 357 517 357 517 Glarus 72.9 –4 901 254 371 387 –4 529 867 Zug 265.9 0 951 063 951 063 Finanzausgleich 62 / 65 613.21 Kanton Ressourcen- index Bereinigter Härteausgleich in Franken Auszahlung Einzahlung Saldo Freiburg 70.2 –82 368 018 2 298 209 –80 069 809 Solothurn 70.8 0 2 350 916 2 350 916 Basel-Stadt 153.1 0 1 865 068 1 865 068 Basel-Landschaft 97.5 0 2 491 254 2 491 254 Schaffhausen 98.9 0 710 116 710 116 Appenzell A.Rh. 85.2 0 517 393 517 393 Appenzell I.Rh. 101.2 0 141 805 141 805 St. Gallen 83.6 0 4 345 421 4 345 421 Graubünden 83.2 0 1 827 433 1 827 433 Aargau 81.1 0 5 238 644 5 238 644 Thurgau 80.1 0 2 204 107 2 204 107 Tessin 93.4 0 2 975 058 2 975 058 Waadt 99.0 0 6 087 575 6 087 575 Wallis 63.8 0 2 645 868 2 645 868 Neuenburg 77.5 –65 299 636 1 614 792 –63 684 844 Genf 137.4 0 3 956 112 3 956 112 Jura 66.7 –11 632 533 654 286 –10 978 247 Total Kantone 100.0 –209 697 478 69 899 159 –139 798 319 Finanz- und Lastenausgleich. V 63 / 65 613.21 Anhang 1991 (Art. 56a) Temporäre Abfederungsmassnahmen 1. Berechnung der Ausgleichszahlungen 1.1 Beitragsberechtigt sind alle Kantone, welche in den Jahren 2021 bis zum ak- tuellen Referenzjahr nie einen Ressourcenindex ≥ 100 Punkten erreicht haben. 1.2 Alle beitragsberechtigten Kantone erhalten in den Jahren 2021–2025 einen einheitlichen Beitrag pro Einwohnerin und Einwohner. Dieser Beitrag wird so berechnet, dass die Gesamtsumme den Mitteln nach Artikel 19c Absatz 2 FiLaG entspricht. 2. Beiträge für das Jahr 2023 Kanton Massgebende Bevölkerung Abfederungsmass- nahme in Franken Zürich 0 0 Bern 1 039 193 32 113 468 Luzern 411 013 12 701 254 Uri 36 759 1 135 923 Schwyz 0 0 Obwalden 0 0 Nidwalden 0 0 Glarus 40 701 1 257 756 Zug 0 0 Freiburg 318 643 9 846 800 Solothurn 274 582 8 485 213 Basel-Stadt 0 0 Basel-Landschaft 289 116 8 934 358 Schaffhausen 82 402 2 546 408 Appenzell A.Rh. 55 338 1 710 058 Appenzell I.Rh. 0 0 St. Gallen 509 307 15 738 757 Graubünden 205 542 6 351 716 Aargau 679 361 20 993 821 Thurgau 276 932 8 557 844 Tessin 356 063 11 003 186 91 Eingefügt durch Ziff. II Abs. 2 der V vom 6. Nov. 2019 (AS 2019 3823). Bereinigt ge- mäss Ziff. II Abs. 2 der V vom 16. Nov. 2022, in Kraft seit 1. Jan. 2023 (AS 2022 761). Finanzausgleich 64 / 65 613.21 Kanton Massgebende Bevölkerung Abfederungsmass- nahme in Franken Waadt 0 0 Wallis 350 426 10 828 990 Neuenburg 178 639 5 520 371 Genf 0 0 Jura 73 589 2 274 077 Total Kantone 5 177 603 160 000 000 Finanz- und Lastenausgleich. V 65 / 65 613.21 1. Titel: Ressourcenausgleich durch Bund und Kantone 1. Kapitel: Ressourcenpotenzial 1. Abschnitt: Begriffe Art. 1 Ressourcenpotenzial und aggregierte Steuerbemessungsgrundlage Art. 2 Referenz- und Bemessungsjahr Art. 3 Ressourcenpotenzial pro Kopf der Einwohnerinnen und Einwohner Art. 4 Ressourcenindex Art. 5 Standardisierter Steuerertrag und Steuersatz 2. Abschnitt: Massgebende Einkommen der natürlichen Personen Art. 6 Berechnungsgrundlage für die einzelne natürliche Person Art. 7 Berechnungsgrundlage für den Kanton 3. Abschnitt: Massgebende quellenbesteuerte Einkommen Art. 8 Berechnungsgrundlage Art. 9 Zusammensetzung Art. 10 Berechnung 4. Abschnitt: Massgebende Vermögen der natürlichen Personen Art. 11 Berechnungsgrundlage Art. 12 Massgebendes Vermögen einer steuerpflichtigen Person Art. 13 Berechnung des Faktors Alpha Art. 14 Massgebendes Vermögen der natürlichen Personen eines Kantons 5. Abschnitt: Massgebende Gewinne der juristischen Personen ohne besonderen Steuerstatus Art. 15 Berechnung für die einzelne juristische Person Art. 16 Berechnung für den Kanton 6. Abschnitt: Massgebende Gewinne der juristischen Personen mit besonderem Steuerstatus Art. 17 Berechnung für die einzelne juristische Person Art. 18 Berechnung für den Kanton Art. 19 Berechnung der Faktoren Beta Art. 20 Basis- und Zusatzfaktor 7. Abschnitt: Massgebende Steuerrepartitionen Art. 21 8. Abschnitt: Datenerhebung Art. 22 2. Kapitel: Ausgleichszahlungen Art. 22a Beiträge an die ressourcenschwachen Kantone Art. 23 Leistung des Bundes Art. 24 Leistung der ressourcenstarken Kantone Art. 25 und 26 2. Titel: Lastenausgleich durch den Bund 1. Kapitel: Datengrundlagen Art. 27 Datengrundlage Art. 28 Datenlieferungspflicht 2. Kapitel: Geografisch-topografischer Lastenausgleich 1. Abschnitt: Massgebende Sonderlasten Art. 29 Teilindikatoren Art. 30 Lastenindizes und massgebende Sonderlasten 2. Abschnitt: Ausgleichszahlungen Art. 31 Festlegung Art. 32 Verwendung Art. 33 Beiträge an die Kantone 3. Kapitel: Soziodemografischer Lastenausgleich 1. Abschnitt: Massgebende Sonderlasten aufgrund der Bevölkerungsstruktur Art. 34 Teilindikatoren Art. 35 Lastenindex und massgebende Sonderlasten 2. Abschnitt: Massgebende Sonderlasten der Kernstädte Art. 36 Teilindikatoren Art. 37 Lastenindex und massgebende Sonderlasten 3. Abschnitt: Ausgleichszahlungen Art. 38 Festlegung Art. 39 Verwendung Art. 40 Beiträge an die Kantone 3. Titel: Qualitätssicherung Art. 41 Datenkontrolle und Berichterstattung Art. 42 Massnahmen bei ungenügender Datenqualität Art. 42a Nachträgliche Berichtigung von Ausgleichszahlungen Art. 43 Dokumentation Art. 44 Fachgruppe Qualitätssicherung Art. 45 Aufgaben der Fachgruppe 4. Titel: Wirksamkeitsbericht Art. 46 Inhalt Art. 47 Datengrundlagen Art. 48 Fachgruppe Wirksamkeitsbericht Art. 49 Vernehmlassung 5. Titel: Fälligkeit der Beiträge Art. 50 6. Titel: Übergangsbestimmungen 1. Abschnitt: … Art. 51–53 Art. 54 2. Abschnitt: Härteausgleich Art. 55 Globalbilanz Art. 56 Beiträge an die Kantone 2a. Abschnitt: Temporäre Abfederungsmassnahmen Art. 56a 3. Abschnitt: Wirksamkeitsbericht Art. 57 3a. Abschnitt: Berechnung der massgebenden Gewinne der juristischen Personen Art. 57a Art. 57b Weiteranwendung der Faktoren Beta Art. 57c Datenerhebung zur Weiteranwendung der Faktoren Beta Art. 57d 7. Titel: Schlussbestimmungen Art. 58 Aufhebung bisherigen Rechts Art. 59 Inkrafttreten Anhang 1 Ressourcenpotenzial und standardisierter Steuerertrag 1. Ressourcenpotenzial 2. Standardisierter Steuerertrag Anhang 2 Massgebendes Einkommen der natürlichen Personen Anhang 3 Massgebendes quellenbesteuertes Einkommen 1. Definition der Variablen und Parameter 2. Berechnungsformeln 3. Parameterwerte für das Referenzjahr 2023 4. Kommentar zur Berechnung 5. Kantonswerte für das Referenzjahr 2023 Anhang 4 Massgebendes Vermögen der natürlichen Personen 1. Definition der Variablen und Parameter 2. Berechnung des Faktors Alpha 3. Faktor Alpha für die Bemessungsjahre 2017–2019 4. Kommentar zur Berechnung des Faktors Alpha 5. Kantonswerte für das Referenzjahr 2023 Anhang 5 Massgebende Gewinne der juristischen Personen ohne besonderen Steuerstatus Anhang 6 Massgebende Gewinne der juristischen Personen mit besonderem Steuerstatus Zuschlagsfaktoren für die Berechnungen der Faktoren Beta 1. Definition der Variablen und Parameter 2. Berechnung der Zuschlagsfaktoren 3. Parameterwerte für Referenzjahre ab 2020 4. Faktoren Beta für Referenzjahre ab 2020 5. Kommentar zur Berechnung der Zuschlagsfaktoren 6. Kantonswerte für das Referenzjahr 2023 Anhang 7 Massgebende Steuerrepartitionen der direkten Bundessteuer Anhang 7a Beiträge an die ressourcenschwachen Kantone 1. Definition der Variablen und Parameter 2. Berechnung 3. Parameterwerte für das Referenzjahr 2023 4. Kommentar zur Berechnung 5. Auszahlung für das Jahr 2023 Anhang 8 Beiträge der ressourcenstarken Kantone 1. Definition der Variablen und Parameter 2. Berechnung 3. Kommentar zur Berechnung 4. Einzahlung für das Jahr 2023 Anhang 9 Anhang 10 Definition des Begriffs Hauptsiedlungsgebiet und Datenbasis Anhang 11 Anhang 12 Geografisch-topografischer Lastenausgleich: Ausgleichszahlungen 2023 Anhang 13 Massgebende Sonderlasten aufgrund der Bevölkerungsstruktur Anhang 14 Massgebende Sonderlasten der Kernstädte 1. Berechnung des Lastenindex der Gemeinden 2. Berechnung des Lastenindex der Kantone Anhang 15 Soziodemografischer Lastenausgleich: Ausgleichszahlungen 2023 Anhang 16 Schätzung des Ressourcenpotenzials bei fehlenden oder nicht weiterverwertbaren Daten Anhang 17 Wirksamkeitsbericht Anhang 18 Härteausgleich 1. Variablen und Parameter 2. Grenzwert für den Bezug von Härteausgleich 3. Nettoergebnis in Prozent des standardisierten Steuerertrags 4. Anfangsbeitrag aus dem Härteausgleich 5. Bestimmung des Faktors Epsilon 6. Beiträge auf der Basis der Globalbilanz 2004/2005 7. Beiträge für das Jahr 2023: Bereinigung der Anspruchsberechtigung aufgrund des Ressourcenindex 2023 Anhang 19 Temporäre Abfederungsmassnahmen 1. Berechnung der Ausgleichszahlungen 2. Beiträge für das Jahr 2023 | de |
049fa66e-5b00-42de-8ad7-b43421322598 | Sachverhalt
ab Seite 40
BGE 101 III 40 S. 40
A.-
In der von der W. AG gegen die K. AG beim Betreibungsamt Lugnez eingeleiteten Betreibung Nr. 355/74 erhob die Schuldnerin Rechtsvorschlag, worauf die Gläubigerin beim Kreisamt Lugnez die provisorische Rechtsöffnung erwirkte. Der Rechtsöffnungsentscheid ging den Parteien am 12. November 1974 zu. Am 22. November 1974 stellte die W. AG das Fortsetzungsbegehren, dem sie den Rechtsöffnungsentscheid beilegte und auf welchem sie vermerkte: "Es ist keine Aberkennungsklage erhoben worden". Gestützt darauf stellte das Betreibungsamt der Schuldnerin am 26. November 1974 die Konkursandrohung zu. Inzwischen hatte die Betriebene am 15. November 1974 gegen den Rechtsöffnungsentscheid Beschwerde an den Kantonsgerichtsausschuss von Graubünden eingereicht. Diese wurde an der Sitzung vom 28. November 1974 behandelt und abgewiesen. Bevor der Beschwerdeentscheid schriftlich mitgeteilt werden konnte, stellte die Betriebene
BGE 101 III 40 S. 41
am 3. Dezember 1974 beim Kantonsgerichtspräsidenten das Gesuch, der Rechtsöffnungsbeschwerde aufschiebende Wirkung zu erteilen. In Vertretung des abwesenden Präsidenten entsprach der Vizepräsident diesem Gesuch, offenbar in Unkenntnis der Tatsache, dass die Beschwerde bereits entschieden war. Am 12. Dezember 1974 wurde der Beschwerdeentscheid den Parteien zugestellt, und mit Entscheid vom 21. März 1975 hiess der Kantonsgerichtsausschuss eine Beschwerde gegen die vom Vizepräsidenten erteilte aufschiebende Wirkung gut und hob dessen Verfügung vom 3. Dezember 1974 auf.
B.-
Gegen die Konkursandrohung vom 26. November 1974 reichte die Betriebene am 6. Dezember 1974 beim Kantonsgerichtsausschuss als Aufsichtsbehörde über Schuldbetreibung und Konkurs Beschwerde ein. Diese wurde mit Entscheid vom 17. Dezember 1974, mitgeteilt am 15. April 1975, gutgeheissen und die Konkursandrohung aufgehoben.
C.-
Mit dem vorliegenden Rekurs an die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer des Bundesgerichts beantragt die Gläubigerin, der Entscheid des Kantonsgerichtsausschusses sei aufzuheben. Die Betriebene beantragt Abweisung des Rekurses. Erwägungen
Die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer zieht in Erwägung:
1.
Die Vorinstanz hat ihren Entscheid in erster Linie damit begründet, die betreibende Gläubigerin habe die auf der Rückseite des Formulars Nr. 4 "Begehren um Fortsetzung der Betreibung" aufgeführten Erläuterungen insofern nicht beachtet, als sie dem Fortsetzungsbegehren weder eine Bescheinigung über die Rechtskraft des Rechtsöffnungsentscheides noch eine solche über die Nichteinreichung einer Aberkennungsklage beigelegt habe. Diese Erläuterungen besitzen indessen keine Gesetzeskraft, sondern stellen blosse Ordnungsvorschriften dar. Zwar ist das Betreibungsamt befugt, die Beibringung der erwähnten Bescheinigungen zu verlangen und gegebenenfalls den Erlass der Konkursandrohung davon abhängig zu machen. Tut es das jedoch nicht, sondern gibt es dem Fortsetzungsbegehren durch Zustellung der Konkursandrohung Folge, so ist diese deswegen nicht ohne weiteres ungültig oder gar nichtig. Das ist nur dann der Fall, wenn sich
BGE 101 III 40 S. 42
nachträglich herausstellt, dass der Rechtsöffnungsentscheid im Zeitpunkt der Zustellung der Konkursandrohung noch nicht in Rechtskraft erwachsen war oder dass rechtzeitig eine Aberkennungsklage eingereicht wurde. Diese Fragen sind allenfalls in einem Beschwerdeverfahren von den Aufsichtsbehörden zu prüfen. Indem die Vorinstanz eine solche Prüfung unterliess und einfach deswegen, weil die Rekurrentin dem Fortsetzungsbegehren die entsprechenden Bescheinigungen nicht beigelegt hatte, die Konkursandrohung für ungültig erklärte und aufhob, hat sie daher Bundesrecht verletzt. Eine Rückweisung des Falles an den Kantonsgerichtsausschuss zur Nachholung der unterlassenen Prüfung erübrigt sich indessen, weil der Sachverhalt soweit abgeklärt ist, dass das Bundesgericht die Sache selbst entscheiden kann.
2.
Ein erstinstanzlicher Rechtsöffnungsentscheid erwächst nur dann nicht mit seiner Mitteilung in Rechtskraft, wenn das kantonale Prozessrecht einen Weiterzug vorsieht, dem von Gesetzes wegen aufschiebende Wirkung zukommt (
BGE 55 III 175
Erw. 3,
BGE 47 III 68
). Ein solches Rechtsmittel ist die Rechtsöffnungsbeschwerde im Sinne von Art. 265 der bündnerischen ZPO nicht. während der Beschwerde wegen Gesetzesverletzung gemäss
Art. 263 Abs. 3 ZPO
von Gesetzes wegen aufschiebende Wirkung zukommt, ist das bei der Rechtsöffnungsbeschwerde nicht der Fall; sie hat nur dann aufschiebende Wirkung, wenn ihr diese vom Kantonsgerichtspräsidenten verliehen wird (
Art. 265 Abs. 2 ZPO
). Somit war der Rechtsöffnungsentscheid im Zeitpunkt der Stellung des Fortsetzungsbegehrens (22. November 1974) und am Tage der Zustellung der Konkursandrohung (26. November 1974) rechtskräftig, da für die Rechtsöffnungsbeschwerde aufschiebende Wirkung weder verlangt noch bewilligt worden war. Die erst am 3. Dezember 1974 zu Unrecht ergangene und am 21. März 1975 wieder aufgehobene Suspensivverfügung vermochte daran nichts zu ändern. Die Beschwerde stand demzufolge der Konkursandrohung nicht im Wege.
3.
Kam der Rechtsöffnungsbeschwerde somit keine aufschiebende Wirkung zu und war ihr eine solche auch nicht durch besondere Suspensivverfügung erteilt worden, so begann die Frist für die Aberkennungsklage mit der Mitteilung des Rechtsöffnungsentscheides am 12. November 1974 zu laufen und lief am 22. November 1974 ab (
BGE 47 III 68
,
BGE 77 III 138
;
BGE 101 III 40 S. 43
FAVRE, Droit des poursuites, 3. Aufl., S. 159). Diese Frist hat die Schuldnerin unbestrittenermassen unbenützt verstreichen lassen, da sie der Ansicht war, die Klagefrist beginne erst mit der Zustellung des Entscheides über die Rechtsöffnungsbeschwerde zu laufen. Sie hat deshalb den Aberkennungsprozess erst nach Abschluss des Beschwerdeverfahrens eingeleitet. Zwar ist es grundsätzlich Sache des Richters, über die Rechtzeitigkeit einer Aberkennungsklage zu befinden. Wo indessen wie hier zum vornherein unzweideutig feststeht, dass die Klagefrist nicht gewahrt ist, können die Betreibungsbehörden die Betreibung fortsetzen, ohne den gerichtlichen Entscheid abzuwarten (
BGE 91 III 17
,
BGE 65 III 91
,
BGE 53 III 68
). Die am 26. November 1974 erlassene Konkursandrohung ist daher gültig. | de |
72fbddbe-4f9a-4e46-8a57-06b6ff8e0df2 | Sachverhalt
ab Seite 208
BGE 124 III 207 S. 208
In zwei Betreibungen der B. AG gegen A. erhob dieser Aberkennungsklage; überdies verlangte A. seinerseits von der Gläubigerin Schadenersatz. Auf diese Schadenersatzklage trat das Obergericht des Kantons Solothurn mit Entscheid vom 18. November 1997 nicht ein, weil die in Bern domizilierte Gläubigerin sich gestützt auf
Art. 59 BV
dieser Klage widersetzte. A. hat dagegen Berufung eingelegt und beantragt, dieses Urteil sei aufzuheben und das Richteramt Olten-Gösgen anzuweisen, auf die Forderungsklage einzutreten.
Das Bundesgericht weist die Berufung ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Der Kläger wirft dem Obergericht in verschiedener Hinsicht eine Verletzung von
Art. 83 Abs. 2 SchKG
vor.
a) Vorab unbegründet ist die Rüge, die Vorinstanz habe bundesrechtswidrig angenommen, eine Widerklage sei allein dem formell Beklagten vorbehalten. Die Widerklage ist weder Angriffs- noch Verteidigungsmittel, sondern Klage wie die Vorklage, ein gegen den Angriff geführter Gegenangriff, mit welchem die Beklagtenseite ein selbständiges Ziel verfolgt, indem sie einen von der Vorklage nicht erfassten, unabhängigen Anspruch ins Recht legt (
BGE 123 III 35
E. 3c S. 47). Im Aberkennungsprozess wird über Bestand und Fälligkeit der in Betreibung gesetzten Forderung gestritten, und das Urteil entfaltet für die Parteien definitive Rechtskraft über die Zwecke der Betreibung hinaus. Die Aberkennungsklage ist, obschon sie mit dem Betreibungsverfahren im Zusammenhang steht, nicht betreibungsrechtlicher, sondern materiellrechtlicher Natur (
BGE 118 III 40
E. 2a S. 41/42). Als negative Feststellungsklage materiellen Rechts stellt sie das Spiegelbild der in
Art. 79 SchKG
geregelten
BGE 124 III 207 S. 209
Anerkennungsklage (Leistungsklage) dar, mit welcher die Zahlung der durch Rechtsvorschlag bestrittenen Forderung mit Hilfe des Richters durchgesetzt werden soll (HINDERLING, Fragen aus dem Grenzbereich zwischen Privat- und Verfahrensrecht, in ZSR 83/1964, Bd. I, S. 126/127; AMONN/GASSER, Grundriss des Schuldbetreibungs- und Konkursrechts, 6. Aufl. 1997, § 19 Rz. 95, S. 134). Die vom Schuldner gleichzeitig mit der Aberkennungsklage eingereichte Klage auf Schadenersatz kann somit keine Widerklage darstellen. Verbindet - wie vorliegend - der Aberkennungskläger mit dem Begehren um Aberkennung der Forderung einen Anspruch gegenüber dem Aberkennungsbeklagten, handelt es sich um Klagenhäufung, obwohl sich wegen der vertauschten Parteirollen Forderung und Gegenforderung entgegenstehen (LEUCH/MARBACH/KELLERHALS, Die Zivilprozessordnung für den Kanton Bern, 2. Aufl., 1995, N. 1b zu Art. 170, die sich wie auch EICHENBERGER, Zivilrechtspflegegesetz des Kantons Aargau, N. 2 zu § 180, ausdrücklich auf
BGE 58 I 165
E. 3 beziehen; gleicher Meinung: FRANK/STRÄULI/MESSMER, Kommentar zur zürcherischen Zivilprozessordnung, 3. Auflage 1997, N. 6b zu § 60, S. 276).
b) Das Obergericht ist auf die Schadenersatzklage des Aberkennungsklägers nicht eingetreten, weil eine objektive Klagenhäufung vorliege; damit werde
Art. 59 BV
verletzt, da die Parteien nicht im gleichen Kanton wohnten. Es hat sich dabei vorwiegend auf
BGE 58 I 165
ff. abgestützt. Der Kläger erachtet dieses Urteil als nicht mehr zeitgemäss.
aa) Gemäss
Art. 83 Abs. 2 SchKG
hat der Betriebene eine Aberkennungsklage beim Gericht des Betreibungsortes einzureichen. Der Wohnsitz des Schuldners bildet den allgemeinen Betreibungsstand (
Art. 46 Abs. 1 SchKG
), und dieser gilt immer, wo nicht das Gesetz in beschränkter Zahl Sonderbetreibungsstände aufgestellt hat. Wie in der Gerichtsstandsgarantie des
Art. 59 BV
, liegt darin in erster Linie eine Schutzbestimmung für den Schuldner (FRITZSCHE, Schuldbetreibung und Konkurs, Bd. I, 2. Auflage, Zürich 1967, S. 79).
Art. 59 BV
hat jedoch im Verhältnis zu den bundesrechtlich geregelten Betreibungsorten keine selbständige Bedeutung (JAEGER/WALDER/KULL/KOTTMANN, SchKG, 4. Auflage 1997, N. 7 zu Art. 46, S. 197). Auch im Vorentwurf zum Bundesgesetz über den Gerichtsstand in Zivilsachen [GestG] (publiziert bei VOGEL, Grundriss des Zivilprozessrechts, 5. Auflage 1997, Anhang, S. 413) werden in
Art. 1 Abs. 2 lit. a GestG
die Bestimmungen des SchKG ausdrücklich vorbehalten.
BGE 124 III 207 S. 210
bb) Das Bundesgericht hat in
BGE 58 I 165
E. 2 befunden, der Aberkennungskläger könne am Forum der Aberkennungsklage andere Begehren als diejenigen auf Befreiung von der in Betreibung gesetzten Forderung nur stellen, wenn sie zum Zwecke der Verrechnung erhoben würden oder nur Akzessorien zur eigentlichen Aberkennungsklage darstellten; eine zusätzliche Klage sei jedoch nur dann zulässig, wenn ihr
Art. 59 BV
nicht entgegenstehe (
BGE 58 I 165
E. 4 und 5; vgl. auch
BGE 116 II 131
E. 2,
BGE 68 III 85
).
Art. 59 BV
wird durch Einreden - insbesondere die Verrechnungseinrede - in keiner Weise tangiert, da der Richter der Klage immer auch über die gegen diese erhobenen Einreden entscheidet ("Le juge de l'action est le juge de l'exception"); denn Einreden dienen nicht dazu, einen Anspruch selbständig und angriffsweise durchzusetzen, sondern sie stellen lediglich ein Verteidigungsmittel gegenüber der Klage dar, die damit zu Fall gebracht werden soll (
BGE 63 II 133
E. 3c S. 141/142). Und allein darin liegt der Grund für die grundsätzlich unbeschränkte Zulassung von Einreden im Aberkennungsprozess, was vom Kläger offensichtlich übersehen wird.
Die Lehre äussert sich, soweit sie eine mögliche Ausweitung oder Ergänzung des Aberkennungsverfahrens überhaupt in Betracht zieht, zum Teil nur zur eigentlichen Widerklage des Gläubigers und Aberkennungsbeklagten, über die hier nicht zu befinden ist (AMONN/GASSER, a.a.O., Rz. 101, S. 136 und JAEGER/WALDER/KULL/KOTTMANN, a.a.O., N. 14 zu Art. 83). Jene Autoren, die sich auch mit der objektiven Klagehäufung in der Form des Hinzutritts einer Forderungsklage des Betreibungsschuldners zu seiner Aberkennungsklage befassen, verhalten sich dazu reserviert. JAEGER/DAENIKER (Schuldbetreibungs- und Konkurspraxis der Jahre 1911-1945, Zürich 1947, Bd. I, N. 8 zu
Art. 83 SchKG
) schliessen in Anknüpfung an
BGE 58 I 165
eine über die Kompensation mit der Betreibungsforderung hinausgehende Forderungsklage schlechthin aus. Auch FAVRE (Schuldbetreibungs- und Konkursrecht, Freiburg 1956, S. 140 f.) pflichtet jenem Entscheid bei. Gleicher Meinung ist Syz (Aberkennungsklage und Aberkennungsprozess gemäss
Art. 83 Abs. 2 SchKG
, Diss. Zürich 1971, S. 80 ff.). Selbst für Fälle, in denen eine mit dem Aberkennungsprozess übereinstimmende örtliche und sachliche Zuständigkeit besteht, meldet er gegen die Vereinigung der beiden Klagen zu einem einzigen Verfahren Bedenken an, die in der Natur des Aberkennungsverfahrens begründet sind: die mit der Aberkennungsklage angestrebte Feststellung von Existenz oder Nichtexistenz der in Betreibung gesetzten Forderung
BGE 124 III 207 S. 211
soll nicht durch die mit der Klagenhäufung verursachte Weiterung erschwert oder verzögert werden (a.a.O., S. 82 f.).
Dem ist beizupflichten und an der in
BGE 58 I 165
zum Ausdruck kommenden Meinung festzuhalten. Demnach bleibt von Bundesrechts wegen die Aberkennungsklage als solche allein auf die in Betreibung gesetzte Forderung bezogen. Eine Vereinigung dieser Aberkennungsklage mit einer zusätzlich erhobenen Forderungsklage fällt nur bei übereinstimmender sachlicher und örtlicher Zuständigkeit überhaupt in Betracht. Nach dem angefochtenen Urteil ist nur die erste Voraussetzung - die Konnexität der Forderungen - gegeben, die örtliche Zuständigkeit hingegen nicht. Das Obergericht ist deshalb zu Recht auf die Schadenersatzklage nicht eingetreten (vgl. dazu LEUCH/MARBACH/KELLERHALS, a.a.O., N. 1e zu
Art. 33 ZPO
/BE). Ob und wann das Bundesrecht die Klagenvereinigung und ihre Fortdauer zum Schutz der Aberkennungsklage weiteren Einschränkungen unterwirft, kann daher offen bleiben. | de |
2f12b044-258a-4250-9ef1-b6207edd7319 | Sachverhalt
ab Seite 366
BGE 94 I 365 S. 366
A.-
Die Firma Heinrich Denzler AG leitete anfangs Januar 1968 für den Betrag von Fr. 20, 108.-- nebst Zins Betreibung ein gegen die Firma "A.J. Dietziker & Co." in Baar und verlangte, als Rechtsvorschlag erhoben wurde, am 22. Januar 1968 beim Kantonsgerichtspräsidium Zug gestützt auf eine Vereinbarung vom 8. Februar 1967 provisorische Rechtsöffnung. In der am 29. Januar 1968 eingereichten Antwort auf das Begehren führte A.J. Dietziker aus, die Firma A.J. Dietziker & Co. existiere nicht und sei im Handelsregister nicht eingetragen, weshalb sich die Rechtsöffnung gegen ihn, Albert J. Dietziker in Baar, richte; im übrigen machte er geltend, die Vereinbarung, aus welcher die Gläubigerin ihre Forderung ableite, bilde keinen Rechtsöffnungstitel.
Am 29. Februar 1968 erteilte das Kantonsgerichtspräsidium "im Rechtsöffnungsverfahren Nr. 25 des Klägers Heinrich Denzler AG ... gegen den Beklagten A.J. Dietziker" für den Betrag von Fr. 20'108.-- nebst Zins die provisorische Rechtsöffnung.
Gegen diesen Entscheid erhob A.J. Dietziker Beschwerde bei der Justizkommission des Kantons Zug. Zur Begründung machte er u.a. geltend, die Erteilung der Rechtsöffnung gegen A.J. Dietziker stütze sich weder auf einen Zahlungsbefehl noch auf ein Rechtsöffungsgesuch, da sich beide gegen die Firma A.J. Dietziker & Co. richteten; sie sei daher ungesetzlich.
Die Justizkommission wies die Beschwerde am 1. April 1968 ab, inbezug auf den erwähnten Einwand mit folgender Begründung:
BGE 94 I 365 S. 367
Der Beschwerdeführer habe selber erklärt, dass die Firma "A.J. Dietziker & Co." nicht existiere und sich das Rechtsöffnungsgesuch daher gegen ihn, Albert J. Dietziker richte. Er habe alle in Frage stehenden Vereinbarungen mit der Gläubigerin mit seinem Namen, wenn auch unter der Firma der nicht existierenden "A.J. Dietziker & Co." unterschrieben und sich daher als Einzelperson verpflichtet. Der Zahlungsbefehl gebe zwar die Firma "A.J. Dietziker & Co." als Schuldnerin an, während der Rechtsöffnungsentscheid auf A.J. Dietziker als Schuldner laute. Diese Diskrepanz habe der Beschwerdeführer aber selber zu vertreten, und sie helfe ihm nicht, weil der Rechtsöffnungsentscheid für die Fortsetzung der Betreibung den Zahlungsbefehl ersetze (
BGE 67 III 141
) und somit für die Vollziehbarkeit keine Unsicherheit bestehen könne.
B.-
Mit der staatsrechtlichen Beschwerde stellt Albert J. Dietziker den Antrag, es sei der Entscheid der Justizkommission des Kantons Zug vom 1. April 1968 aufzuheben und das Rechtsöffnungsbegehren der Firma Heinrich Denzler AG abzuweisen; eventuell sei die Sache zur Neubeurteilung an die kantonale Instanz zurückzuweisen. Er macht Verletzung des
Art. 4 BV
geltend und rügt als willkürlich, dass gegenüber der Einzelperson Rechtsöffnung erteilt worden sei, obwohl sich Betreibung und Rechtsöffnungsbegehren gegen die Firma A.J. Dietziker & Co. gerichtet hätten.
C.- Die Justizkommission des Kantons Zug und die Heinrich Denzler AG beantragen unter Hinweis auf die Erwägungen des angefochtenen Entscheides Abweisung der Beschwerde.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
(Kassatorische Funktion der Beschwerde).
2.
Der Beschwerdeführerbemerkteinleitend, die Beschwerde sei "nach
Art. 87 OG
zulässig", setzt sich aber nicht auseinander mit der derzeitigen Rechtsprechung des Bundesgerichts. Dieses ist zwar während Jahrzehnten eingetreten auf staatsrechtliche Beschwerden wegen Verletzung des
Art. 4 BV
, die sich gegen letztinstanzliche kantonale Entscheide über Bewilligung oder Verweigerung der provisorischen Rechtsöffnung richteten (
BGE 26 I 4
,
BGE 30 I 300
,
BGE 59 I 255
,
BGE 75 I 3
,
BGE 78 I 56
und zahlreiche nicht veröffentlichte Urteile). Im Jahre 1953 hat es seine
BGE 94 I 365 S. 368
Rechtsprechung indes geändert und entschieden, dass es sich beim Entscheid über die provisorische Rechtsöffnung um einen blossen Zwischenentscheid im Sinne des
Art. 87 OG
handle; ferner hat es angenommen, dass die Erteilung der provisorischen Rechtsöffnung für den Schuldner und ihre Verweigerung jedenfalls in der Regel für den Gläubiger keinen nicht wiedergutzumachenden Nachteil zur Folge habe (
BGE 79 I 44
und 153). Angesichts der Kritik, welche die Rechtslehre an dieser Rechtsprechung vor und nach ihrer Bestätigung in
BGE 87 I 366
geübt hat (H. HUBER, SJZ 1954 S. 301 ff. und ZBJV 1955 S. 176/7; H. MARTI, ZSR 1962 II 51/2; BONNARD, ZSR 1962 II 412ff.; FRITZSCHE, Schuldbetreibung und Konkurs 2. Aufl. I S. 136; BRAND, SJK Nr. 1169 S. 1), erscheint eine nochmalige Überprüfung als geboten.
3.
Zunächst fragt sich, ob ein Rechtsöffnungsentscheid (wobei immer nur die provisorische Rechtsöffnung gemeint ist) als End- oder Zwischenentscheid im Sinne des
Art. 87 OG
zu gelten hat.
Kantonale Entscheide im Sinne des
Art. 84 OG
kommen regelmässig in einem bestimmten Verfahren (Prozessverfahren, Steuerveranlagungsverfahren usw.) zustande. Der Entscheid, der das Verfahren abschliesst, ist ein Endentscheid, mag er sich als Sachentscheid erweisen oder das Verfahren aus prozessualen Gründen beendigen (vgl.
BGE 93 I 452
,
BGE 87 I 172
; BIRCHMEIER, Bundesrechtspflege S. 353). Vor dem Endentscheid der letzten kantonalen Instanz sind im Laufe des Verfahrens häufig gewisse Entscheide zu treffen, welche Verfahrensfragen, mitunter auch vorausnehmend eine materielle Frage zum Gegenstand haben (
BGE 69 I 16
mit Hinweisen). Solche im Laufe des Verfahrens zu treffende Entscheide sind (von hier nicht zu erörternden Ausnahmen abgesehen; vgl.
BGE 87 I 177
/8 und dort angeführte frühere Urteile,
BGE 94 I 201
Erw. 1) Zwischenentscheide. Sie können nach
Art. 87 OG
nur dann mit staatsrechtlicher Beschwerde wegen Verletzung des
Art. 4 BV
angefochten werden, wenn sie für den Betroffenen einen nicht wiedergutzumachenden Nachteil zur Folge haben. Diese Ordnung geht auf die frühere Rechtsprechung des Bundesgerichts zurück, das vor der Revision des OG von 1943 auch ohne dahingehende Vorschrift die staatsrechtliche Beschwerde aus
Art. 4 BV
gegen einen Zwischenentscheid nur zuliess, wenn dieser für den Betroffenen Nachteile mit sich brachte, die auch
BGE 94 I 365 S. 369
durch einen für ihn günstigen Endentscheid nicht mehr behoben werden konnten (
BGE 63 I 76
und 313,
BGE 64 I 98
,
BGE 68 I 168
). Es sollte dadurch vermieden werden, dass das kantonale Verfahren durch die Anfechtung von Zwischenentscheiden auch in Fällen verlängert wird, in denen die kantonale Instanz selber den gerügten Mangel bis zum Endurteil oder durch dieses noch beseitigen kann.
Da Zwischen- und Endentscheide in
Art. 87 OG
Gegensätze bilden, lässt sich der Begriff des Zwischenentscheides nicht losgelöst von dem des Endentscheides fassen. Es ist vielmehr im Einzelfall zu prüfen, was Gegenstand des das Verfahren abschliessenden Endentscheids ist, und von daher ergibt sich, ob ein vorausgegangener Entscheid im Verhältnis zu ihm als Zwischenentscheid erscheint. Das ist in der Regel dann der Fall, wenn er im Laufe des gleichen Verfahrens getroffen wird, das durch den Endentscheid abgeschlossen wird, so dass er einen blossen Schritt auf dem Wege zum Endentscheid bildet. Der Begriff des gleichen Verfahrens darf freilich nicht rein formalistisch aufgefasst werden. Ein bestimmtes Verfahren kann derart auf ein anderes bezogen und ihm untergeordnet sein, dass beide Verfahren wenn nicht formell, so doch ihrem Gegenstand nach als Einheit erscheinen (vgl. BONNARD, a.a.O. S. 411 und 413, wo von einem "rapport nécessaire" gesprochen wird). So hat das Bundesgericht in der Bewilligung der Nachlassstundung einen blossen Zwischenentscheid erblickt (vgl. die in
BGE 87 I 369
angeführten nicht veröffentlichten Urteile). Betrachtet man das Verfahren über die Bewilligung der Nachlasstundung und über die Bestätigung des Nachlassvertrages nicht schon formell bloss als zwei Abschnitte eines und desselben Verfahrens, so ist das Bewilligungsverfahren jedenfalls derart auf das Bestätigungsverfahren bezogen und ihm zugeordnet, dass man beide ihrem Gegenstand nach als Einheit und damit die Bewilligung der Stundung als blossen Zwischenentscheid im Verhältnis zum Endurteil über die Bestätigung des Nachlassvertrages betrachten kann (vgl. auch
BGE 93 I 62
Erw. 2). Ähnliche Überlegungen mögen das Bundesgericht dazu geführt haben, den Rechtsöffnungsentscheid als blossen Zwischenentscheid zu betrachten im Verhältnis zum Urteil, durch das auf Forderungsklage (
Art. 79 SchKG
) oder Aberkennungsklage (
Art. 83 Abs. 2 SchKG
) hin über den materiellen Bestand der in Betreibung gesetzten Forderung
BGE 94 I 365 S. 370
entschieden wird (vgl.
BGE 79 I 45
,
BGE 87 I 368
). Hieran kann jedoch nicht festgehalten werden, weil Rechtsöffnungs- und Zivilprozessverfahren ihrem Gegenstand nach derart verschieden sind, dass es nicht angeht, sie als eine Einheit zu betrachten, innerhalb welcher der Rechtsöffnungsentscheid einen blossen Zwischenentscheid bilden würde. Richtig ist vielmehr, wie noch in
BGE 78 I 56
/7 ausgeführt wurde, dass es sich um getrennte Verfahren mit ganz verschiedenen Zielen handelt. Das Rechtsöffnungsverfahren ist, als Zwischenverfahren der Schuldbetreibung (
BGE 76 I 48
), rein vollstreckungsrechtlicher Natur (FRITZSCHE a.a.O. S. 137), während die Aberkennungsklage (und erst recht die Forderungsklage nach
Art. 79 SchKG
) sich in keiner wesentlichen Beziehung von einem mit dem Betreibungsverfahren überhaupt nicht zusammenhängenden Forderungsstreit unterscheidet (
BGE 83 III 77
,
BGE 91 II 111
b). An der Verschiedenartigkeit des Prozessgegenstandes und des Verfahrenszieles ändert auch der Umstand nichts, dass, wie das Bundesgericht in
BGE 87 I 369
hervorhob, in jenen materiellrechtlichen Verfahren "auch über die Vollstreckbarkeit im Sinne der definitiven Rechtsöffnung entschieden wird". Mit dieser Erwägung liesse sich regelmässig das Verhältnis von Zwischen- und Endentscheid konstruieren, wenn bloss der im einen Verfahren zu treffende Entscheid Auswirkungen auf die Rechtslage hat, wie sie durch irgendeinen im andern Verfahren getroffenen Entscheid geschaffen wurde. Das würde zu einer Ausweitung des Anwendungsbereichs des
Art. 87 OG
führen, die dem Sinn der Bestimmung widerspräche.
Dass es nicht angeht, den Entscheid über die provisorische Rechtsöffnung als blossen Zwischenentscheid zu behandeln, zeigt auch ein bisher unbeachtet gebliebener Gesichtspunkt. Die Aberkennungsklage kann auch durch ein Schiedsgericht beurteilt werden (
BGE 56 III 234
), und ebenso verhält es sich mit der Forderungsklage nach
Art. 79 SchKG
(vgl.
BGE 91 II 111
b). Würde auf eine gegen den Rechtsöffnungsentscheid gerichtete staatsrechtliche Beschwerde nicht eingetreten aus der Erwägung, dass es sich um einen Zwischenentscheid handle und der Schuldner den Mangel noch durch Anfechtung des im Aberkennungsprozess ergehenden Endentscheides rügen könne, so versagt diese Konstruktion gänzlich, wenn die Aberkennungsklage durch ein Schiedsgericht beurteilt wird, da nach ständiger Rechtsprechung gegen Schiedsgerichtsurteile die
BGE 94 I 365 S. 371
staatsrechtliche Beschwerde ausgeschlossen (
BGE 67 I 34
/5,
BGE 71 I 35
) und auch die Berufung unzulässig ist (
BGE 64 II 230
,
BGE 65 II 36
), der Schuldner also auf die ihm gar nicht zustehende Anfechtung des Endentscheides verwiesen würde.
Es ist somit die in
BGE 79 I 44
und 153 eingeleitete Rechtsprechung aufzugeben und der Entscheid über die provisorische Rechtsöffnung als Endentscheid im Sinne des
Art. 87 OG
zu betrachten. Bei dieser Sachlage stellt sich die in jenen Urteilen verneinte Frage nicht mehr, ob er (als Zwischenentscheid) für den Gläubiger bzw. Schuldner einen nicht wiedergutzumachenden Nachteil zur Folge hat. Dagegen ist noch zu prüfen, ob er als letztinstanzlich im Sinne des
Art. 87 OG
zu gelten hat, wenn er von derjenigen Instanz ausgeht, die als letzte des Kantons über Rechtsöffnungssachen zu befinden hat.
4.
Das Erfordernis der Letztinstanzlichkeit deckt sich mit dem der Erschöpfung der kantonalen Rechtsmittel, das
Art. 86 Abs. 2 OG
aufstellt (
BGE 84 I 234
,
BGE 93 I 63
Erw. 3 a). Der Begriff des Rechtsmittels umfasst neben den ordentlichen Rechtsmitteln auch die ausserordentlichen, mit denen die gerügte Verfassungsverletzung geltend gemacht werden kann (
BGE 89 I 126
Erw. 1 und dort angeführte frühere Urteile). Darüber hinaus hat das Bundesgericht als Rechtsmittel auch andere Rechtsbehelfe betrachtet, mit denen die Beseitigung des Rechtsnachteils erreicht werden kann, der mit der staatsrechtlichen Beschwerde angefochten wird. So hat es insbesondere staatsrechtliche Beschwerden gegen Entscheide der letzten kantonalen Verwaltungsbehörden wegen Nichterschöpfung der kantonalen Rechtsmittel als unzulässig erklärt, wenn zur Erreichung des Ziels, auf das sie gerichtet waren, die Zivilklage zur Verfügung stand (
BGE 78 I 250
,
BGE 81 I 61
,
BGE 83 I 166
/7; vgl. auch
BGE 82 I 81
). Inwieweit an dieser von BONNARD (a.a.O. S. 422/4) mit beachtlichen Gründen kritisierten Rechtsprechung festzuhalten ist, braucht hier nicht entschieden zu werden.
Die Justizkommission des Kantons Zug, die den mit der vorliegenden Beschwerde angefochtenen Entscheid gefällt hat, ist nach dem Prozessrecht des Kantons Zug die letzte kantonale Instanz in Rechtsöffnungssachen. Als Rechtsbehelf, der dem Beschwerdeführer zur Verfügung stände und mit dem sich der behauptete Rechtsnachteil beseitigen liesse, käme nur die Aberkennungsklage in Frage. Sie als ein gegenüber der provisorischen Rechtsöffnung zur Verfügung stehendes "Rechtsmittel" im
BGE 94 I 365 S. 372
Sinne des
Art. 86 Abs. 2 OG
zu betrachten, geht indes nicht an. Das Bundesgericht hat freilich in
BGE 90 I 204
Erw. 1 angenommen, die in
Art. 184 Abs. 2 SchKG
vorgesehene Klage auf Zahlung sei ein kantonales Rechtsmittel, von dem Gebrauch zu machen sei vor der Erhebung einer staatsrechtlichen Beschwerde gegen die aufgrund von
Art. 182 Ziff. 4 SchKG
erteilte Bewilligung des Rechtsvorschlags in einer Wechselbetreibung. Dieser Entscheid weitet jedoch den Begriff des Rechtsmittels in einem dem Sinn und Zweck der
Art. 86 und 87 OG
kaum mehr entsprechenden Masse aus und lässt sich, sofern daran überhaupt festzuhalten ist, jedenfalls nicht analogieweise auf das Rechtsöffnungsverfahren übertragen. Da Rechtsöffnungsverfahren einerseits, Forderungs- und Aberkennungsprozess anderseits ihrer Natur und ihrem Gegenstand nach durchaus verschieden sind, können Forderungs- und Aberkennungsklage nicht als "Rechtsmittel" bzw. Rechtsbehelfe eines Rechtsöffnungsverfahrens betrachtet werden. Dieses bildet ein in sich geschlossenes selbständiges Verfahren und wird letztinstanzlich abgeschlossen durch den Entscheid derjenigen kantonalen Behörde, die als letzte Instanz in Rechtsöffnungssachen zu befinden hat. Es ist demnach der Rechtsöffnungsentscheid der Justizkommission als letztinstanzlicher Endentscheid zu betrachten und auf die Beschwerde einzutreten, soweit damit die Aufhebung dieses Entscheids verlangt wird.
5.
Im Hinblick auf die Ausführungen in
BGE 87 I 367
Erw. 3 a rechtfertigt es sich, noch kurz zu prüfen, ob es einem Bedürfnis entspricht, die staatsrechtliche Beschwerde aus
Art. 4 BV
gegen Entscheide über die provisorische Rechtsöffnung zuzulassen. Die Frage ist zu bejahen. Lässt sich auch mit diesem Rechtsmittel keine einheitliche Praxis in Rechtsöffnungssachen erzielen, so kann das Bundesgericht doch wenigstens einschreiten, wenn eine kantonale Behörde den
Art. 82 SchKG
in unhaltbarer Weise auslegt oder anwendet. Es dient in bedeutendem Masse dem Rechtsschutzbedürfnis des Einzelnen, wenn er einen so groben Verstoss auf einfachem Wege rügen kann und nicht erst einen Prozess um den Bestand der Forderung austragen muss. Dazu kommt, dass mit der staatsrechtlichen Beschwerde aus
Art. 4 BV
nicht nur willkürliche Rechtsanwendung, sondern auch die Verweigerung des rechtlichen Gehörs und die rechtsungleiche Behandlung im engern
BGE 94 I 365 S. 373
Sinne gerügt werden kann, was nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichts nicht möglich war, aber ebenfalls einem nicht zu unterschätzenden Bedürfnis entspricht angesichts der praktischen Bedeutung des Rechtsöffnungsverfahrens im Rechtsleben. Freilich wird, wie H.U. WALDER in den Verhandlungen des Schweizerischen Juristenvereins der Kritik an der bundesgerichtlichen Rechtsprechung entgegenhielt (ZSR 1962 II 569 ff.), der Schuldner bei Bewilligung der provisorischen Rechtsöffnung im Hinblick auf die Möglichkeit der Abweisung der staatsrechtlichen Beschwerde gut tun, neben dieser vorsorglich auch die Aberkennungsklage binnen der Frist des
Art. 83 Abs. 2 SchKG
zu erheben. Er hat aber trotzdem ein Interesse daran, dass der Rechtsöffnungsentscheid im Rahmen des
Art. 4 BV
überprüft werden kann, was bei Gutheissung der staatsrechtlichen Beschwerde die Fortsetzung eines allenfalls langwierigen und kostspieligen Prozesses entbehrlich macht.
6.
Das Betreibungsbegehren und dementsprechend der Zahlungsbefehl richteten sich gegen die Firma "A.J. Dietziker & Co." in Baar, während der Entscheid, mit dem der Gläubigerin die provisorische Rechtsöffnung gewährt wurde, gegen A.J. Dietziker persönlich erging. Nach
Art. 82 Abs. 2 SchKG
spricht der Richter die Rechtsöffnung aus, sofern der Betriebene nicht bestimmte Einwendungen glaubhaft macht. Daraus ist zu schliessen, dass im Rechtsöffnungsverfahren der Betriebene passiv legitimiert ist und der Entscheid sich gegen ihn richten muss. Das ergibt sich auch aus der Natur des Rechtsöffnungsverfahrens als eines reinen Vollstreckungsverfahrens, in dem darüber entschieden wird, ob eine bestimmte Betreibung, die ein bestimmter Gläubiger für eine bestimmte Forderung gegen einen bestimmten Schuldner eingeleitet hat, fortgesetzt werden darf oder nicht. Die Justizkommission stellte im angefochtenen Entscheid fest, die Firma "A.J. Dietziker & Co." existiere nicht, was der Beschwerdeführer nicht bestreitet, entspricht dies doch seiner eigenen Darstellung. Existiert die Kollektiv- oder Kommanditgesellschaft aber nicht, so fehlt es an einer tauglichen Partei. Das Vorhandensein einer solchen ist eine wesentliche Voraussetzung einer Betreibung, bei deren Fehlen trotzdem vorgenommene Betreibungshandlungen nichtig sind und jederzeit aufgehoben werden können (
BGE 67 III 140
/1; FRITZSCHE a.a.O. S. 53). Es lässt sich daher die Ansicht vertreten, es hätte die gegen eine nicht existierende Gesellschaft eingeleitete
BGE 94 I 365 S. 374
Betreibung aufgehoben werden müssen und nicht durch Rechtsöffnung in eine solche gegen A.J. Dietziker umgewandelt werden dürfen, da dieser in dem der Rechtsöffnung vorangegangenen Verfahren nicht Betriebener war und sich der Rechtsöffnungsentscheid gegen den Betriebenen zu richten hat. Indessen lässt sich auch die gegenteilige Auffassung mit guten Gründen vertreten. Die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer hatte vor langem einen Fall zu entscheiden, dessen Sachverhalt mit dem vorliegenden weitgehend übereinstimmte (ZR 1905 Nr. 189 S. 304; vgl. dazu P. SCHWARTZ, BlSchK 1955 S. 10). Sie wies die Beschwerde, mit der Aufhebung der Betreibung verlangt worden war, im wesentlichen mit der Begründung ab, die Betreibung sei als gegen den Vertreter der nicht existierenden Gesellschaft gerichtet zu betrachten, es sei lediglich ein formeller Mangel, an welchem sie leide und auf den sich der Vertreter umsoweniger berufen könne, als er selbst den Anlass zu dieser ungenauen Schuldnerbezeichnung gegeben habe. Angesichts dieser von der Schuldbetreibungs- und Konkurskammer mit freier rechtlicher Überprüfung gefällten Entscheids kann der damit im Ergebnis übereinstimmende Entscheid der Justizkommission jedenfalls nicht als schlechthin unhaltbar, geradezu willkürlich bezeichnet werden. Es wäre stossend und widerspräche dem nach der neuern Rechtsprechung (
BGE 85 III 29
Erw. 3 a mit Hinweisen) auch im Betreibungsverfahren beachtlichen Grundsatz von Treu und Glauben, wenn der Gläubigerin ihre betreibungsrechtliche Stellung, die sie bereits erlangt hat, wieder entzogen würde wegen eines Mangels, den der Schuldner herbeiführte, indem er die in Frage stehende Vereinbarung namens der "A.J. Dietziker & Co." unterzeichnete und so die Existenz einer solchen Gesellschaft vorgab. | de |
6e7cb43c-bad0-40f7-bf7e-6f9f6a016cf2 | Sachverhalt
ab Seite 318
BGE 127 III 318 S. 318
A. arbeitete seit Februar 1995 als Hilfsarbeiter für die X. AG. Im April 1997 erlitt er am Arbeitsort einen Unfall und konnte danach keine Arbeitstätigkeit mehr ausüben. Nachdem die SUVA ihre bis dahin erbrachten Heilkosten- und Taggeldleistungen im November
BGE 127 III 318 S. 319
1997 mit der Begründung einstellte, dass keine behandlungsbedürftigen Unfallfolgen mehr vorlägen, bezog A. von der KollektivTaggeldversicherung SUPRA Krankentaggelder. Mit Wirkung ab 1. April 1998 wurde ihm sodann eine Invalidenrente zugesprochen, worauf die Arbeitgeberin das Arbeitsverhältnis auf den 31. Juli 1998 ordentlich kündigte. Auf diesen Zeitpunkt trat A. in eine Einzelversicherung der SUPRA über, welche bis 7. November 1999 die gleichen Taggelder wie die Kollektivversicherung erbrachte.
A. erhob im Februar 2000 beim Bezirksgericht Meilen Klage gegen die X. AG auf Zahlung von Fr. 10'635.05 nebst 5% Zins seit 1. April 1999. Der Kläger machte zur Begründung der Klage geltend, er sei gezwungen gewesen, die Prämien für die Einzelversicherung vom 1. August 1998 bis November 1999 selbst zu bezahlen, obschon im massgebenden Landesmantelvertrag vorgeschrieben werde, dass während der Krankheit keine Prämien bezahlt werden müssten. Die Beklagte bestritt die Richtigkeit dieses Standpunktes und beantragte die Abweisung der Klage.
Mit Entscheid vom 7. April 2000 wies der Einzelrichter im ordentlichen Verfahren des Bezirkes Meilen die Klage ab. Der Kläger gelangte mit Berufung an das Obergericht des Kantons Zürich, welches mit Beschluss vom 30. August 2000 gleich entschied wie die erste Instanz. Zur Begründung des Beschlusses verwies das Obergericht weitgehend auf jene des Entscheides des erstinstanzlichen Richters.
Das Bundesgericht heisst die Berufung des Klägers teilweise gut, hebt den Beschluss des Obergerichts auf und weist die Sache zu neuer Entscheidung an dieses zurück. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
a) Mit der Berufung wird geltend gemacht, der Landesmantelvertrag für das Schweizerische Bauhauptgewerbe 1998-2000 vom 13. Februar 1998 (nachfolgend: LMV; oder LMV 2000) sehe vor, dass der Arbeitgeber eine Krankentaggeldversicherung abschliessen müsse, welche im Krankheitsfall während 720 Tagen innerhalb von 900 aufeinander folgenden Tagen Taggelder ausrichte und überdies während der Krankheit die Prämienbefreiung des Arbeitnehmers gewähre. Die Versicherung müsse so ausgestaltet sein, dass durch einen Übertritt in die Einzeltaggeldversicherung nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses die Leistungen weiter erbracht werden. Davon seien nicht nur die Krankentaggelder
BGE 127 III 318 S. 320
erfasst, sondern auch die Befreiung von der Zahlung der Prämien. Die von der Arbeitgeberin abgeschlossene Kollektivversicherung habe den Übertritt nicht in dieser Weise ermöglicht. Der Kläger habe nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses trotz Krankheit die Prämien der Einzeltaggeldversicherung bezahlen müssen, um in den Genuss der Taggelder zu kommen; ihm stehe deshalb ein Ersatzanspruch in der entsprechenden Höhe gegenüber der Beklagten zu. Mit der Berufung wird gerügt, die gegenteilige Auffassung der Vorinstanz beruhe auf falscher Auslegung der massgebenden Bestimmungen des LMV.
b) Die für den vorliegenden Fall einschlägigen Bestimmungen des LMV lauten:
Art. 21 Kündigungsschutz
1 Grundsatz: Eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses nach Ablauf der Probezeit durch den Arbeitgeber ist unter Vorbehalt von Art. 21 Abs. 2 und 3 solange ausgeschlossen, wie die Krankentaggeld-Versicherung oder die obligatorische Unfallversicherung für den Arbeitnehmenden Taggeldleistungen erbringt.
2 Taggeldleistungen und Invalidenrente: Erhalten Arbeitnehmende neben Taggeldleistungen der Krankentaggeld-Versicherung eine Rente der Invalidenversicherung, darf ihnen ab Datum der Anspruchsberechtigung auf eine Invalidenrente unter Einhaltung der ordentlichen Kündigungsfristen gekündigt werden.
[...]
Art. 64 Krankentaggeld-Versicherung
1 Lohnfortzahlung durch Kollektivversicherung: Der Betrieb ist verpflichtet, die dem LMV unterstellten Arbeitnehmenden kollektiv für ein Taggeld von 80 % des wegen Krankheit ausfallenden, der normalen vertraglichen Arbeitszeit entsprechenden zuletzt bezahlten Lohnes zu versichern. Mit den Taggeldleistungen des Kollektivversicherers ist die Lohnfortzahlung des Arbeitgebers nach Art. 324a/b OR vollumfänglich abgegolten.
2 Prämien:
a) Prämientragung: Die Prämien für die Kollektivtaggeld-Versicherung werden vom Betrieb und den Arbeitnehmenden je zur Hälfte getragen;
b) [...]
3 Minimale Versicherungsbedingungen: Die Versicherungsbedingungen haben mindestens vorzusehen:
[...]
c) Entrichtung des Krankentaggeldes (Krankengeld) während 720 Tagen (Taggelder) innerhalb von 900 aufeinanderfolgenden Tagen.
BGE 127 III 318 S. 321
[...]
f) Prämienbefreiung während der Krankheitszeit,
[...]
h) Möglichkeit für die Arbeitnehmenden, nach Ausscheiden aus der Kollektivversicherung innert 90 Tagen gemäss
Art. 71 Abs. 2 KVG
in die Einzelversicherung überzutreten, wobei die Prämie der Einzelversicherung aufgrund des Alters bei Eintritt in die Kollektivversicherung bemessen wird. Ist eine Kollektivversicherung mit aufgeschobenem Krankentaggeld abgeschlossen worden, sind die Versicherungsbedingungen so zu gestalten, dass die aus der Kollektivversicherung ausscheidenden Arbeitnehmer nicht schlechter gestellt werden, als im Fall einer Kollektivversicherung ohne Aufschub, dass heisst, die Wartefrist darf höchstens einen Tag betragen.
[...]
6 Merkblatt: Es gelten im übrigen die im Einvernehmen mit den Vertragsparteien abgefassten Bestimmungen der Versicherer
"Ausführungsbestimmungen Krankentaggeld-Versicherung für das Die einschlägigen Bestimmungen des Merkblatts betreffend Krankentaggeld-Versicherung für das Bauhauptgewerbe vom 13. Februar 1998 lauten:
Art. 5 Dauer der Versicherungsleistungen
1 Die Leistungen werden höchstens für 720 Taggelder innert 900 aufeinanderfolgenden Tagen ausbezahlt. Bezüglich der Lohnfortzahlungspflicht des Arbeitgebers bzw. des Kündigungsschutzes gilt
Art. 64 LMV
bzw.
Art. 21 LMV
.
[...]
Art. 8 Erlöschen der Versicherung
Der Anspruch auf Leistungen erlischt in folgenden Fällen:
a) mit dem Austritt aus dem versicherten Personenkreis
b) wenn der Vertrag aufgehoben oder sistiert wird;
c) [...]
d) wenn das Leistungsmaximum erreicht ist.
Art. 9 Übertritte
1 [...]
2 In den Fällen Art. 8 lit. a) und b) dieses Merkblattes kann der Versicherte ohne erneute Gesundheitsprüfung in die Einzelversicherung des Trägers der Kollektivversicherung übertreten. Die Prämie der Einzelversicherung wird aufgrund des Alters bei Eintritt in die Kollektivversicherung berechnet.
Durch die Kollektivversicherung entschädigte Krankheitstage werden auf die Dauer der Genussberechtigung der Einzelversicherung angerechnet. Das in der Einzelversicherung versicherbare Krankentaggeld darf höchstens dem letzten versicherten Lohn vor dem Übertritt entsprechen.
BGE 127 III 318 S. 322
[...]
c) Der Unfall des Klägers hat sich 1997 ereignet, also zu einem Zeitpunkt, als der LMV 2000 weder abgeschlossen noch vom Bundesrat für allgemein verbindlich erklärt worden war. Die Frage, wie sich das in intertemporalrechtlicher Hinsicht auswirkt, ist von den kantonalen Gerichten nicht geprüft worden. Mit der Berufung wird behauptet, es spiele keine Rolle, ob der LMV 1995-1997 oder der LMV 2000 angewendet werde. Das trifft in der Tat zu, stimmen doch die oben zitierten Vorschriften des LMV 2000 inhaltlich mit jenen des Landesmantelvertrags vom 20. Dezember 1994 (LMV 1995-1997) überein. Die intertemporalrechtliche Frage kann somit offen bleiben. Festzuhalten ist schliesslich, dass die kantonalen Gerichte zutreffend davon ausgegangen sind, das Vertragsverhältnis der Parteien unterstehe nach den Bestimmungen über den räumlichen, betrieblichen und persönlichen Geltungsbereich (Art. 1, 2 und 3) dem Landesmantelvertrag.
2.
a) Nach herrschender Lehre und Rechtsprechung ist bezüglich der Auslegungsregeln bei einem Gesamtarbeitsvertrag zwischen den schuldrechtlichen und den normativen Bestimmungen zu unterscheiden. Während Erstere die Rechte und Pflichten der Tarifpartner unter sich regeln und gemäss den Grundsätzen über die Auslegung von Verträgen zu interpretieren sind, richtet sich die Auslegung der normativen Bestimmungen, welche auf die Vertragsbeziehungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern anwendbar sind, nach den für Gesetze geltenden Grundsätzen (Urteil des Bundesgerichts vom 8. Oktober 1997 E. 3a, publ. in: JAR 1998 S. 282 ff; VISCHER, Zürcher Kommentar, N. 110 zu
Art. 356 OR
; STÖCKLI, Berner Kommentar, N. 134 zu
Art. 356 OR
; REHBINDER, Basler Kommentar, 2. Aufl., N. 4 zu
Art. 356 OR
).
Zu Recht ist unbestritten, dass es sich bei den im vorliegenden Fall massgebenden Vorschriften des LMV um normative Bestimmungen handelt, regeln sie doch den Inhalt und die Beendigung des jeweiligen Einzelarbeitsverhältnisses (vgl. dazu VISCHER, a.a.O., N. 73 und 81 zu
Art. 356 OR
).
b) Gemäss ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts ist eine Gesetzesbestimmung in erster Linie nach ihrem Wortlaut auszulegen. An einen klaren und unzweideutigen Gesetzeswortlaut ist die rechtsanwendende Behörde gebunden, sofern dieser den wirklichen Sinn der Norm wiedergibt (
BGE 125 III 57
E. 2b;
BGE 120 II 112
E. 3a). Abweichungen von einem klaren Wortlaut sind indessen zulässig oder sogar geboten, wenn triftige Gründe zur Annahme bestehen, dass dieser nicht dem wahren Sinn der Bestimmung entspricht.
BGE 127 III 318 S. 323
Solche Gründe können sich aus der Entstehungsgeschichte der Bestimmung, aus ihrem Sinn und Zweck oder aus dem Zusammenhang mit anderen Vorschriften ergeben. Vom Wortlaut kann ferner abgewichen werden, wenn die wörtliche Auslegung zu einem Ergebnis führt, das der Gesetzgeber nicht gewollt haben kann. Im Übrigen sind bei der Auslegung alle herkömmlichen Auslegungselemente zu berücksichtigen (systematische, teleologische, historische und rechtsvergleichende), wobei das Bundesgericht einen pragmatischen Methodenpluralismus befolgt und es ablehnt, die einzelnen Auslegungselemente einer Prioritätsordnung zu unterstellen (
BGE 124 III 266
E. 4 S. 268 mit Hinweisen).
3.
Nach Wortlaut und Systematik des LMV gilt einerseits der Grundsatz, dass der Arbeitgeber während der Krankheit des Arbeitnehmenden bzw. während der Zeit, in welcher dieser Taggeldleistungen erhält, das Arbeitsverhältnis nicht kündigen darf und dafür sorgen muss, dass der Versicherer während mindestens 720 Tagen innerhalb von 900 aufeinander folgenden Tagen Taggelder bezahlt und den Arbeitnehmenden in dieser Zeit von der Zahlung der Versicherungsprämien befreit (Art. 21 Abs. 1 und
Art. 64 Abs. 3 lit. c und f LMV
). Mit den Taggeldleistungen der Kollektivversicherung wird die sich aus
Art. 324a Abs. 1 und 2 OR
ergebende Pflicht des Arbeitgebers zur Zahlung des Lohnes im Krankeitsfall abgegolten (
Art. 64 Abs. 1 LMV
). Als Ausnahme vom Kündigungsverbot wird andererseits in
Art. 21 Abs. 2 LMV
angeordnet, dass der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis unter Einhaltung der ordentlichen Kündigungsfristen kündigen darf, falls der Arbeitnehmende neben Taggeldleistungen des privaten Versicherers eine Rente der Invalidenversicherung erhält (
Art. 21 Abs. 2 LMV
).
Gemäss der Auffassung der kantonalen Gerichte endet mit dem Wirksamwerden der gestützt auf
Art. 21 Abs. 2 LMV
vorgenommenen Kündigung auch die Verpflichtung des Arbeitgebers, für die erwähnten Versicherungsleistungen zu Gunsten des Arbeitnehmenden zu sorgen. Das lässt sich jedoch weder aus dem Wortlaut noch der Systematik der zitierten Bestimmungen des LMV ableiten. So bezieht sich Absatz 2 von
Art. 21 LMV
unter diesen Gesichtspunkten betrachtet eindeutig auf die Frage der Kündigung des Arbeitsverhältnisses und nicht auch auf jene der Verpflichtung des Arbeitgebers in Bezug auf die Versicherungsleistungen. Sodann wird in lit. f des Absatzes 3 von
Art. 64 LMV
die "Prämienbefreiung während der Krankheitszeit" versprochen, ohne dass eine Einschränkung von Wortlaut oder Systematik her ersichtlich wäre. Schliesslich
BGE 127 III 318 S. 324
spricht auch der Verweis in Art. 5 Abs. 1 des Merkblattes, welchem die kantonalen Gerichte in diesem Zusammenhang besondere Bedeutung beimessen, nicht für die Richtigkeit ihrer Betrachtungsweise. Es wird dort unter dem Titel "Dauer der Versicherungsleistungen" zunächst inhaltlich die Aussage von Art. 64 Abs. 3 lit. c wiederholt und dann festgehalten, dass die Lohnfortzahlungspflicht und der Kündigungsschutz andernorts, nämlich in
Art. 21 und 64 LMV
geregelt würden. Mehr oder anderes lässt sich daraus nicht ableiten. Wortlaut und Systematik der zitierten Vorschriften von LMV und Merkblatt sprechen somit gegen das von den kantonalen Gerichten vertretene Auslegungsergebnis.
4.
Zu prüfen bleibt, ob die Auslegung der kantonalen Gerichte auf die Entstehungsgeschichte des LMV oder teleologische Überlegungen gestützt werden kann. Im Beschluss des Obergerichts wird zwar ausgeführt, dass kein historisches Auslegungskriterium bestehe, wonach die Frage einer Fortdauer oder eines Bruchs der Übereinstimmung zwischen Anspruch auf Versicherungsleistungen und Dauer des Kündigungsverbotes beantwortet werden könnte. Wie aus dem nachfolgenden Text des Beschlusses hervorgeht, ist damit aber lediglich gemeint, dass dem Obergericht keine Aufzeichnungen unterbreitet worden oder bekannt sind, welche Aufschluss über die Vorbereitung oder allgemein die Umstände des Abschlusses des LMV 2000 geben. Der Vergleich mit einem Vorgänger des LMV 2000, welchem die kantonalen Gerichte entscheidende Bedeutung für die Auslegung beimessen, gehört indessen ebenfalls zum historischen Element. Im vorliegenden Fall wurde dieses Element allerdings in enger Verbindung mit teleologischen Überlegungen verwendet, da es für sich allein in Bezug auf die zu beurteilende Auslegungsfrage wenig aussagt, wie sich im Folgenden zeigen wird.
a) Nach der Darstellung in den kantonalen Entscheiden gab es im Vorgänger des LMV 2000 keine inhaltlich dem Absatz 2 von
Art. 21 LMV
entsprechende Vorschrift. Es galt vielmehr ohne Einschränkung der Grundsatz, dass die Kündigung des Arbeitsverhältnisses ausgeschlossen war, solange die Krankentaggeld-Versicherung für den Arbeitnehmenden Taggeldleistungen erbrachte. Das hatte zur Folge, dass eine Kündigung erst mit der Einstellung der Taggeldleistungen der Versicherung zulässig war, somit ein Gleichlauf von Kündigungsverbot und Anspruch des
BGE 127 III 318 S. 325
Arbeitnehmenden auf Taggeldleistungen bestand. Dieses Prinzip des Gleichlaufs gilt nach den kantonalen Gerichten auch für den LMV 2000, weshalb mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses kein Anspruch des Arbeitnehmenden auf Taggeldleistungen und damit auch auf Prämienbefreiung mehr besteht.
Dazu ist zunächst anzumerken, dass der unmittelbare Vorgänger des LMV 2000 bereits die gleiche Regelung enthielt (vgl. oben E. 1c). Die von den kantonalen Gerichten dargestellte Änderung muss also schon vorher eingetreten sein. Dieser Umstand relativiert von vornherein die Überzeugungskraft der Argumente der kantonalen Gerichte. Deren Argumentation steht aber ohnehin auf schwachen Beinen, denn dem LMV 2000 lassen sich keinerlei Anhaltspunkte für die Geltung des Grundsatzes des Gleichlaufs im erwähnten Sinne entnehmen. Dieser macht vielmehr eine klare Unterscheidung zwischen der Regelung des Kündigungsschutzes und jener des Anspruchs auf Taggeldleistungen bzw. Prämienbefreiung, wie bereits festgehalten worden ist (vgl. oben E. 4). Der von den kantonalen Gerichten befürwortete Grundsatz des Gleichlaufs lässt sich somit nicht auf die Entstehungsgeschichte des LMV 2000 stützen.
b) In teleologischer Hinsicht orientieren sich die kantonalen Gerichte - ohne dies ausdrücklich zu sagen - am Grundsatz, dass die Lohnfortzahlungspflicht des Arbeitgebers im Fall der Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmenden wegen Krankheit mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses endet.
Zwar trifft zu, dass die Lohnfortzahlungspflicht gemäss
Art. 324a OR
grundsätzlich ohne weiteres zusammen mit dem Arbeitsverhältnis endet (STAEHELIN, Zürcher Kommentar, N. 51 f. zu
Art. 324a OR
; REHBINDER, Berner Kommentar, N. 26 zu
Art. 324a OR
). Da
Art. 324a OR
nur einseitig zwingender Natur ist, können die Parteien indessen eine für den Arbeitnehmenden günstigere Absprache treffen. Von einer solchen Absprache ist namentlich auszugehen, wenn sich der Arbeitgeber verpflichtet hat, eine Kollektivtaggeldversicherung mit einem Versicherer abzuschliessen, die ohne entsprechenden Vorbehalt während einer längeren Dauer den Lohnbetrag bzw. einen Teil davon weiter bezahlt (
BGE 124 III 126
E. 2b S. 132 f.). Zweck einer solchen Versicherung ist es, den Schutz zu verbessern, welchen
Art. 324a OR
dem Arbeitnehmenden gewährt. Dieser gesetzliche Schutz ist kein vollkommener. Der Anspruch gegenüber dem Arbeitgeber besteht nur für eine beschränkte Zeit, deren Länge von der Dauer der Anstellung abhängt. Überdies setzt dieser Anspruch - wie bereits erwähnt - das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses voraus. Das Risiko eines krankheitsbedingten Einkommensausfalls besteht aber in ganz besonderem Masse für Personen, die ihre Stelle verloren haben. Ihr
BGE 127 III 318 S. 326
Gesundheitszustand erschwert oder verunmöglicht die Stellensuche und verhindert, dass sie Arbeitslosengeld erhalten, weil sie wegen der Krankheit nicht vermittelbar sind.
Mit der Versicherung soll in erster Linie ein längerer als der gesetzliche Schutz erreicht werden, ohne den Arbeitgeber übermässig zu belasten. Entsprechend sieht der LMV wie viele andere Gesamtarbeitsverträge die Verpflichtung des Arbeitgebers vor, eine Kollektivtaggeldversicherung abzuschliessen, die während weit längerer Dauer Leistungen erbringt, als dies
Art. 324a OR
vorschreibt. In zweiter Linie erlauben es diese Versicherungen aber auch, das Risiko des Arbeitnehmenden abzudecken, dass sein Arbeitsverhältnis während der Arbeitsunfähigkeit endet. Für die Abdeckung dieses Risikos ist die Kollektivversicherung von ganz besonderer Bedeutung, denn es kann kaum vom einzelnen Arbeitnehmenden mit einer Einzelversicherung abgedeckt werden, da die entsprechenden Risiken schwierig zu berechnen wären. Genau für diese Risiken stellt die Verpflichtung des Arbeitgebers zum Abschluss einer Kollektivtaggeldversicherung mit einer den Kündigungsschutz überdauernden Leistungspflicht eine adäquate Massnahme dar.
Die vorangehenden Überlegungen zeigen, dass die sich aus
Art. 64 LMV
ergebenden Verpflichtungen des Arbeitgebers nach ihrem Sinn und Zweck das Ende des Arbeitsverhältnisses überdauern können. Bei der Auslegung darf somit nicht auf den eingangs erwähnten Grundsatz abgestellt werden. Es ist im Gegenteil davon auszugehen, dass die vom Arbeitgeber gemäss
Art. 64 LMV
zugesagten Versicherungsleistungen grundsätzlich unabhängig davon erbracht werden müssen, ob das Arbeitsverhältnis noch andauert oder beendet worden ist.
5.
Die Auslegung unter Berücksichtigung von Wortlaut, Systematik, Entstehungsgeschichte sowie Sinn und Zweck führt somit zum Ergebnis, dass die durch den LMV angeordnete Verpflichtung des Arbeitgebers, zu Gunsten der Arbeitnehmenden eine Kollektivversicherung mit bestimmten Leistungen abzuschliessen, auch nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses andauern kann. Zu diesen Leistungen gehört namentlich die Prämienbefreiung des Arbeitnehmenden während der Krankheitszeit (
Art. 64 Abs. 3 lit. f LMV
).
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts haftet ein Arbeitgeber, der seiner Verpflichtung zum Abschluss einer Kollektivversicherung mit den zugesicherten Leistungen nicht nachkommt,
BGE 127 III 318 S. 327
für den Schaden, welcher dem Arbeitnehmenden daraus entsteht. Dabei handelt es sich um eine Haftung wegen Verletzung vertraglicher Pflichten bzw. wegen Nichterfüllung im Sinne von
Art. 97 OR
(124 III 126 E. 4 S. 133;
115 II 251
E. 4b S. 254; JEAN-LOUIS DUC, Quelques aspects de la responsabilité de l'employeur qui n'a pas assuré un collaborateur contre la maladie, en violation de l'obligation qui lui incombait, in: Mélanges Guy Flattet, S. 201 f.). Nach - allerdings bestrittener - Darstellung des Klägers hat er die Versicherungsprämien vom 1. August 1998 bis November 1999 selbst bezahlen müssen. Würde dies tatsächlich zutreffen, könnte er den entsprechenden Schaden wegen Vertragsverletzung gegenüber der Beklagten geltend machen. Daran ändert nichts, dass damals kein Schutz der Kollektivversicherung mehr bestand, weil der Kläger nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses aus dieser Versicherung ausgeschieden war (vgl. Art. 8 des Merkblatts und Art. 67 Abs. 3 Bundesgesetz über die Krankenversicherung vom 18. März 1994; SR 832.10). Die Verpflichtung der Beklagten, für die Prämienbefreiung besorgt zu sein, bestand im vorliegenden Fall nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses weiter, wie bereits mehrmals festgehalten worden ist, und überdauerte damit auch das Ausscheiden des Klägers aus der Kollektivversicherung und den Eintritt in eine Einzelversicherung. | de |
e110bfaf-49f9-42a5-afa7-997ef9079ed6 | Sachverhalt
ab Seite 251
BGE 129 III 250 S. 251
A.P. und M.P., beide iranische Staatsangehörige, heirateten am 10. Mai 1996 in der Schweiz. Beide Eheleute wuchsen im Iran auf; der Ehemann, A.P., lebt seit rund 25 Jahren in der Schweiz, wo er über die Niederlassungsbewilligung verfügt. Die Ehefrau, M.P., kam Anfang 1996 in die Schweiz. Aus der Ehe ging der Sohn K., geb. 4. Dezember 1996, hervor. Am 4. August 1997 zog die Ehefrau aus der ehelichen Wohnung aus. Seither leben die Eheleute getrennt.
Mit Urteil vom 30. November 2000 wies das Bezirksgericht Bülach die Scheidungsklage der Ehefrau (nachfolgend: Klägerin) ab und schied die Ehe der Parteien in Gutheissung der Widerklage des Ehemannes (nachfolgend: Beklagter); es stellte den Sohn unter die elterliche Sorge der Klägerin. Auf Appellation des Beklagten bestätigte das Obergericht des Kantons Zürich mit Urteil vom 27. Mai 2002 das bezirksgerichtliche Urteil mit Bezug auf die Übertragung der elterlichen Sorge an die Klägerin. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, auf die Nebenfolgen der Scheidung sei grundsätzlich iranisches Recht anwendbar. In der Schweiz gelte aber der Vorrang des Kindeswohls in einem umfassenderen Sinne: Angestrebt sei eine altersgerechte Entfaltungsmöglichkeit des Kindes in
BGE 129 III 250 S. 252
geistig-psychischer, körperlicher und sozialer Hinsicht; diesem umfassend verstandenen Kindeswohl komme Ordre-public-Charakter zu. Werde in Beachtung des Ordre public von einer gleichberechtigten Stellung beider Elternteile und einem umfassend verstandenen Kindeswohl ausgegangen, so sei das Kindeswohl im vorliegenden Fall besser gewahrt, wenn die elterliche Sorge der Klägerin zugewiesen werde.
Mit eidgenössischer Berufung beantragt der Beklagte, das obergerichtliche Urteil aufzuheben und die elterliche Sorge ihm zu übertragen.
Das Bundesgericht weist die Berufung ab und bestätigt den angefochtenen Entscheid. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
3.1
Die Parteien sind iranische Staatsangehörige. Deshalb gelangt das Niederlassungsabkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und dem Kaiserreich Persien vom 25. April 1934 (SR 0.142.114.362; nachfolgend: Abkommen) zur Anwendung. Gemäss dessen Art. 8 Abs. 3 bleiben in Bezug auf das Personen-, Familien- und Erbrecht die Angehörigen jedes der hohen vertragschliessenden Teile im Gebiete des anderen Teils den Vorschriften ihrer Heimatgesetzgebung unterworfen (Satz 1); von der Anwendung dieser Gesetze kann nur in besonderen Fällen und insofern abgewichen werden, als dies allgemein gegenüber jedem anderen fremden Staat geschieht (Satz 2). Damit ist der Ordre public angesprochen, wie er sich für die Schweiz heute aus
Art. 17 IPRG
ergibt (
BGE 85 II 153
E. 7 S. 167 f.). Gemäss Art. 8 Abs. 4 des Abkommens umfasst das Personen-, Familien- und Erbrecht, d.h. das Personalstatut, folgende Materien: die Ehe, das eheliche Güterrecht, die Ehescheidung, die Trennung, die Mitgift, die Vaterschaft, die Abstammung, die Annahme an Kindes Statt, die Handlungsfähigkeit, die Volljährigkeit, die Vormundschaft und die Beiratschaft, die Entmündigung, (...), ferner alle andern Angelegenheiten des Familienrechts mit Einschluss aller den Personenstand betreffenden Fragen. Aufgrund dieser weiten Umschreibung ist vorliegend das iranische Heimatrecht für die Regelung des Sorgerechts massgebend. Daran ändert auch das Übereinkommen vom 5. Oktober 1961 über die Zuständigkeit der Behörden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von Minderjährigen (MSA; SR 0.211.231.01) nichts, welches die Bestimmungen anderer Übereinkünfte unberührt
BGE 129 III 250 S. 253
lässt, an welche die Vertragsstaaten im Zeitpunkt seines Inkrafttretens gebunden sind (
Art. 18 Abs. 2 MSA
).
3.2
Das iranische Familienrecht sieht für die Angehörigen der verschiedenen anerkannten Religionsgemeinschaften unterschiedliche Regelungen vor (vgl. Art. 12 und 13 der iranischen Verfassung, abgedruckt bei: BERGMANN/FERID, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Iran, S. 15). Für die familienrechtlichen Beziehungen der Schiiten, zu denen die Parteien gehören, ist das Zivilgesetzbuch massgebend (BERGMANN/FERID, a.a.O., Iran, S. 6). Nach Art. 1180 des iranischen Zivilgesetzbuches (IZGB) steht das minderjährige Kind unter dem "walayat" seines Vaters und der männlichen Vorfahren desselben. Sobald das Kind volljährig und verständig ist, scheidet es aus dem "walayat" aus (Art. 1193 IZGB). Das "walayat" entspricht in etwa der elterlichen Gewalt (BERGMANN/FERID, a.a.O., Iran, S. 30 Fn. 50). Dabei ist zu unterscheiden zwischen der Erziehungsgewalt und der Vermögenssorge (STAUDINGER/HENRICH, Kommentar zum BGB, 13. Aufl., 1994, S. 492, Rz. 298 zu Art. 19 EGBGB). Der Mutter kommt nach Art. 1169 IZGB das Recht der Sorge für die Person der Kinder während der ersten zwei Jahre nach der Geburt zu (Satz 1). Nach dieser Zeit gebührt die Sorge dem Vater, mit Ausnahme der weiblichen Kinder, über welche der Mutter bis zur Erreichung des Alters von sieben Jahren die Sorge zusteht (Satz 2). Bei diesem Recht der "hazanat", welches im arabischen Raum als "hadana" bekannt ist, handelt es sich um einen Teilausschnitt des Personensorgerechts, welcher die Erziehungsgewalt, die Sorge für die Gesundheit sowie sonstige Massnahmen der Betreuung des Minderjährigen erfasst (STAUDINGER/HENRICH, a.a.O., S. 491, Rz. 298 zu Art. 19 EGBGB). Während das "walayat" somit unabhängig vom Alter dem Vater zusteht, obliegt die Personensorge ("hazanat") bei Knaben bis zum zweiten Altersjahr und bei Mädchen bis zum siebten Altersjahr der Mutter, danach dem Vater. Von dieser Ordnung kann gemäss Art. 1173 IZGB abgewichen werden, wenn die körperliche Gesundheit oder die moralische Erziehung des Kindes durch Vernachlässigung des Sorgerechts oder durch unmoralisches Verhalten des Vaters oder der Mutter, unter deren Sorge es steht, gefährdet ist; diesfalls kann das Gericht jede Entscheidung treffen, die es zum Schutze des Kindes für erforderlich hält. Das Gesetz vom 12. Februar 1975 über den Schutz der Familie ermöglichte gemäss Art. 12 im Falle der Unmöglichkeit des ehelichen Zusammenlebens noch in allgemeiner Weise und ohne spezielle Einschränkungen, Entscheidungen über die Erziehung der Kinder zu treffen
BGE 129 III 250 S. 254
(vgl. BERGMANN/FERID, a.a.O., Iran, S. 36b). Doch soll dieses Gesetz im Zuge der politischen Umwälzungen ab 1979 ausser Kraft getreten sein, wie verschiedene, von deutschen Gerichten eingeholte Rechtsgutachten ergeben haben (Oberlandesgericht Bremen, FamRZ 1992, S. 344; Oberlandesgericht Zweibrücken, FamRZ 2001, S. 921, mit Hinweisen).
3.3
Das Obergericht hält in tatsächlicher Hinsicht dafür, der Beklagte verfüge über eine kindergerechte Infrastruktur. In der Zeit zwischen August 1998 und dem 28. Juli 2000 hätten sich Vater und Sohn jedoch kaum gesehen. Der Wiederaufbau der Beziehung sei indes im Rahmen eines vollständig begleiteten Besuchsrechts erfolgt. Das Besuchsrecht sei vom Beklagten regelmässig ausgeübt worden, und es werde ihm von der Beiständin sowie dem Besuchsbegleiter - zumindest für die Periode der begleiteten Ausübung des Besuchsrechts - ein kindgerechtes Verhalten attestiert. Für die Zeit danach (ab Juli 2001) behaupte die Klägerin neu, dass das Kind vom Beklagten misshandelt werde, was dieser bestreite und was Gegenstand eines Strafverfahrens sei. Das Kind befinde sich in einem guten Gesundheitszustand und pflege zu beiden Parteien eine gute Beziehung; dies gelte jedenfalls für den Zeitraum, in welchem die Besuche begleitet stattgefunden hätten. Nicht bestritten sei die klägerische Darstellung, dass die Betreuung des ersten Sohnes des Beklagten aus erster Ehe primär durch die damalige Ehefrau erfolgt sei, wobei die Ehe lediglich drei Jahre gedauert habe; die Erziehungserfahrung des Beklagten aus erster Ehe sei in diesem Lichte zu würdigen. Auf Seiten der Klägerin stehe fest, dass sie den ehelichen Sohn seit seiner Geburt betreue, wobei sie zwischenzeitlich eine Teilzeitstelle angenommen habe und der Sohn den Kindergarten besuche. Der Beklagte sei derzeit arbeitslos und auf Stellensuche; wenn er wieder eine Stelle antrete, so wäre auch er auf Drittbetreuung des Kindes angewiesen. Mit Bezug auf die Betreuungsmöglichkeiten seien die Verhältnisse somit in etwa ähnlich. Inwieweit die Parteien bereit seien, einen guten und unbelasteten Kontakt zum jeweils anderen Elternteil zu gewähren und zu fördern, sei ungewiss. Insbesondere aus der Befragung anlässlich der Berufungsverhandlung ergebe sich, dass dies durch die nach wie vor sehr belastete Beziehung zwischen den Parteien beidseitig erschwert sei. Erheblich belastet werde die Beziehung überdies durch das im Dezember 2001 eingeleitete Strafverfahren, in welchem dem Beklagten sexuelle Handlungen mit dem Sohn vorgeworfen würden. Aus den von der Klägerin eingeleiteten früheren Strafverfahren, die beide eingestellt worden seien,
BGE 129 III 250 S. 255
könne nur insoweit etwas abgeleitet werden, als sich daraus ergebe, dass die Beziehung zwischen den Parteien noch immer von einer Angst- und Bedrohungsatmosphäre geprägt sei, wovon auch das neue Strafverfahren zeuge, dessen Ausgang offen sei. Nichts zu Lasten der Klägerin ergebe sich daraus, dass sie sich in psychotherapeutischer Behandlung befinde, zumal auch der Beklagte hieraus nichts zu Ungunsten des Kindes ableite. Dasselbe gelte für die angebliche Beziehung der Klägerin zu einem Freund.
3.4
3.4.1
Legt man die tatsächlichen Feststellungen des Obergerichts der rechtlichen Beurteilung zugrunde, so lässt sich nicht sagen, der Beklagte verfüge nicht über die Voraussetzungen, seinen Sohn zu betreuen. Aufgrund des Alters des Knaben, der demnächst sechs Jahre alt sein wird, steht nach dem Gesagten (E. 3.2) die Personensorge ("hazanat") dem Vater zu. Es bestehen keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass die körperliche Gesundheit oder die moralische Erziehung des Kindes durch Vernachlässigung des Sorgerechts oder durch unmoralisches Verhalten des Vaters gefährdet wäre, was eine Kindesschutzmassnahme gemäss Art. 1173 IZGB angezeigt erscheinen lassen könnte. Dennoch fragt sich, ob eine Zuweisung der elterlichen Sorge an den Beklagten mit dem Ordre public der Schweiz vereinbar ist.
3.4.2
Der materielle Ordre public greift dann ein, wenn die Anwendung des fremden Rechts zu einem Ergebnis führt, welches das einheimische Rechtsgefühl in unerträglicher Weise verletzt und grundlegende Vorschriften der schweizerischen Rechtsordnung missachtet (
BGE 117 II 494
E. 7 S. 501;
119 II 264
E. 3b S. 266). In der Schweiz gilt der Vorrang des Kindeswohls in einem umfassenden Sinne. Angestrebt wird namentlich eine altersgerechte Entfaltungsmöglichkeit des Kindes in geistig-psychischer, körperlicher und sozialer Hinsicht, wobei in Beachtung aller konkreten Umstände nach der für das Kind bestmöglichen Lösung zu suchen ist (
BGE 115 II 206
E. 4a;
BGE 117 II 353
E. 3 S. 354 f.; HEGNAUER/BREITSCHMID, Grundriss des Eherechts, 4. Aufl., 2000, Rz. 11.62). Mit Inkrafttreten der neuen Bundesverfassung, gemäss deren Art. 11 Abs. 1 Kinder und Jugendliche Anspruch auf besonderen Schutz ihrer Unversehrtheit und auf Förderung ihrer Entwicklung haben, erhielt das Kindeswohl Verfassungsrang (KÄLIN, Grundrechte im Kulturkonflikt, 2000, S. 208). Auch das Übereinkommen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes (KRK; SR 0.107) verlangt, dass der Entscheid über den Aufenthaltsort des Kindes bei getrennt lebenden
BGE 129 III 250 S. 256
Eltern am Wohl des Kindes auszurichten ist (
Art. 9 Abs. 1 KRK
) und dass das Kindeswohl bei allen die Kinder betreffenden Entscheiden ein vorrangiger Gesichtspunkt zu sein hat (
Art. 3 Abs. 1 KRK
). Vor diesem Hintergrund und unter Beachtung des Gebotes der Gleichbehandlung von Ehemann und Ehefrau würde es zu kurz greifen, eine Ordre-public-Widrigkeit einfach damit zu verneinen, dass die Zuteilung der elterlichen Sorge an den Beklagten das Kindeswohl nicht gefährden würde. Die Vereinbarkeit mit dem Ordre public verlangt vielmehr, dass ein Kind jenem Elternteil zugewiesen wird, bei dem seine Entwicklung voraussichtlich mehr gefördert wird bzw. bei dem es in der Entfaltung sei8ner Persönlichkeit am meisten unterstützt wird (siehe auch: STAUDINGER/HENRICH, a.a.O., S. 494, Rz. 307).
Die Übertragung des Sorgerechts auf den Beklagten verstösst nach dem Gesagten (E. 3.4.2) im Ergebnis gegen den Ordre public, sofern nicht auch eine umfassende Beurteilung auf Grund des Kindeswohls die Übertragung nahe legt. Dies gilt es nachfolgend zu prüfen. | de |
39de8a2e-26e7-4f41-b458-885e2efa8456 | Sachverhalt
ab Seite 363
BGE 124 V 362 S. 363
A.-
Die 1901 bzw. 1906 geborenen Schwestern E.F. und H.F. leiden beide an starker Arteriosklerose und ausgeprägtem psychoorganischem Syndrom. Am 21. Juni 1996 wurden sie vom behandelnden Arzt Dr. med. U. apathisch im Bett bzw. am Boden liegend aufgefunden und notfallmässig ins Spital B. eingewiesen. Der Grund für die akute Verschlechterung des Gesundheitszustandes lag nach ärztlicher Feststellung vorab in einer ungenügenden Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme. Nach einem ersten Kostengutsprachegesuch vom 21. Juni 1996 stellte das Spital B. am 30. Juli 1996 je ein Verlängerungsgesuch für die Zeit ab 21. Juli 1996. Im Zusatzblatt zu den Gesuchen begründete Dr. U. die weitere Akutspitalbedürftigkeit mit einer intensiven Rehabilitation bei allgemeiner Arteriosklerose und gab an, dass Physiotherapie in Form von Selbständigkeits-Übungen und Gehübungen durchgeführt würde. Die Konkordia, Schweizerische Kranken- und Unfallversicherung (nachfolgend: Konkordia), bei welcher E.F. und H.F. versichert sind, nahm über ihren Vertrauensarzt Dr. med. L. Abklärungen vor und erteilte dem Spital B. am 29. Oktober 1996 Kostengutsprache nach dem Tarif für Akutspitalbehandlung für die Zeit vom 21. bis 27. Juni 1996 und nach den Ansätzen für Pflegeleistungen für die Zeit vom 28. Juni 1996 bis zum Spitalaustritt am 6. September 1996. Am 23. Juli 1997 erliess sie gleichlautende Verfügungen. Die vom Beirat der Versicherten erhobenen Einsprachen wurden von der Konkordia mit Einspracheentscheiden vom 29. September 1997 abgewiesen.
B.-
Der Beirat der Versicherten liess Beschwerde erheben und beantragen, in Aufhebung der Einspracheentscheide sei die Konkordia zu verpflichten, für die Zeit vom 28. Juni 1996 bis 6. September 1996, eventuell bis 20. Juli 1996, die Kosten für die Akutspitalbehandlung zu entschädigen; zur Frage,
BGE 124 V 362 S. 364
ob und wenn ja, wie lange Akutspitalbedürftigkeit bestanden habe, sei ein Gutachten einzuholen.
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau vereinigte die Verfahren und wies die Beschwerden mit Entscheid vom 28. Januar 1998 ab.
C.-
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt der Beirat der Versicherten das erstinstanzliche Beschwerdebegehren erneuern.
Die Konkordia beantragt Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
a) Gemäss
Art. 49 Abs. 3 KVG
richtet sich bei Spitalaufenthalten die Vergütung nach dem (für den Aufenthalt in Akutspitälern im Sinne von
Art. 39 Abs. 1 KVG
geltenden) Spitaltarif gemäss
Art. 49 Abs. 1 und 2 KVG
, solange der Patient oder die Patientin nach medizinischer Indikation der Behandlung und Pflege oder der medizinischen Rehabilitation im Spital bedarf. Ist diese Voraussetzung nicht mehr erfüllt, so kommt für den Spitalaufenthalt der Tarif nach
Art. 50 KVG
zur Anwendung. Gemäss dieser Bestimmung vergütet der Versicherer bei Aufenthalt in einem Pflegeheim (
Art. 39 Abs. 3 KVG
) die gleichen Leistungen wie bei ambulanter Krankenpflege und bei Krankenpflege zu Hause; er kann mit dem Pflegeheim pauschale Vergütungen vereinbaren.
b) Der Grundsatz von
Art. 49 Abs. 3 KVG
entspricht der Rechtsprechung, wie sie im Rahmen des Wirtschaftlichkeitsgebotes von
Art. 23 KUVG
entwickelt wurde (Botschaft über die Revision der Krankenversicherung vom 6. November 1991, BBl 1992 I 186, Separatausgabe S. 94). Danach hat der an sich spitalbedürftige Versicherte diejenige Heilanstalt oder Spitalabteilung zu wählen, in die er vom medizinischen Standpunkt aus gehört. So hat die Kasse aus der Grundversicherung nicht für Mehrkosten aufzukommen, die sich daraus ergeben, dass der Versicherte sich in eine für intensive Pflege und Behandlung spezialisierte und damit teure Klinik begibt, obwohl er einer solchen Behandlung nicht bedarf und ebensogut in einer einfacher eingerichteten und daher weniger kostspieligen Heilanstalt sachgerecht hätte behandelt werden können. Ebenso hat der spitalbedürftige Versicherte nicht mehr als die gesetzlichen bzw. statutarischen Leistungen zugute, wenn
BGE 124 V 362 S. 365
er gezwungenermassen in einer teuren Klinik hospitalisiert werden muss, weil in der Heilanstalt oder in der Spitalabteilung, die vom medizinischen Standpunkt aus genügen würde und billiger wäre, kein Bett frei ist. Ferner hat die Kasse nicht dafür aufzukommen, wenn ein Versicherter trotz nicht mehr bestehender Spitalbedürftigkeit weiterhin in einer Heilanstalt untergebracht ist, weil z.B. kein Platz in einem geeigneten und für den Versicherten genügenden Pflegeheim (ohne Spitalcharakter) vorhanden ist und mithin der Spitalaufenthalt nur noch auf sozialen Überlegungen beruht (
BGE 115 V 48
f. Erw. 3b/aa; vgl. auch
BGE 120 V 206
Erw. 6a).
Das KVG hat die Leistungen teilweise neu umschrieben, am Wirtschaftlichkeitsgebot und dessen Anwendung auf den Leistungsanspruch bei Spitalaufenthalt jedoch nichts geändert, so dass die genannte Rechtsprechung weiterhin Geltung hat (MAURER, Das neue Krankenversicherungsrecht, Basel/Frankfurt a.M. 1996, S. 71 Fn. 181; nicht veröffentlichtes Urteil in Sachen Erben der I. vom 4. Mai 1998). Aus Art. 56 in Verbindung mit
Art. 49 Abs. 3 KVG
folgt u.a., dass ein Aufenthalt im Akutspital zum Spitaltarif nach
Art. 49 Abs. 1 und 2 KVG
nur so lange durchgeführt werden darf, als vom Behandlungszweck her ein Aufenthalt im Akutspital notwendig ist (LOCHER, Grundriss des Sozialversicherungsrechts, 2. Aufl., Bern 1997, S. 165 N. 28).
2.
a) Die notfallmässige Einweisung der Beschwerdeführerinnen in das Spital B. am 21. Juni 1996 erfolgte nach den Angaben des behandelnden Arztes Dr. U. vom 18. Oktober 1996 wegen einer vorab auf eine ungenügende Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme zurückzuführenden Verschlechterung des Gesundheitszustandes der beiden arteriosklerotisch deutlich veränderten Versicherten. Dass jedenfalls bis zur Behebung des Nahrungs- und Flüssigkeitsdefizits eine Akutspitalbedürftigkeit bestanden hat, ist unbestritten. Nach den Feststellungen des Vertrauensarztes der Beschwerdegegnerin, Dr. L., vom 26. Oktober 1996, war der Mangelzustand jedoch verhältnismässig rasch behoben und vermag für sich allein eine über den 27. Juni 1996 hinausgehende Akutspitalbedürftigkeit nicht zu begründen. Etwas anderes wird auch von Dr. U. nicht geltend gemacht. In einer von den Beschwerdeführerinnen im letztinstanzlichen Verfahren nachgereichten Stellungnahme vom 27. April 1998 bestätigt dieser vielmehr, dass das für die notfallmässige Hospitalisierung ausschlaggebend gewesene Nahrungs- und Flüssigkeitsdefizit im Spital rasch habe behoben werden können.
BGE 124 V 362 S. 366
b) Im Gesuch um Verlängerung der Kostengutsprache vom 30. Juli 1996 wird die weiterbestehende Akutspitalbedürftigkeit mit einer "intensiven Rehabilitation bei allgemeiner Arteriosklerose" begründet, wobei die erforderlichen therapeutischen Massnahmen mit "Physiotherapie: Selbständigkeits-Übungen, Gehübungen" umschrieben werden.
Aus den von Dr. U. eingereichten Leistungsblättern des Spitals B. geht hervor, dass sich die Beschwerdeführerinnen im Juni 1996 an zwei und im Juli 1996 an insgesamt 16 bzw. 18 Tagen einer Gymnastik von jeweils 15 bis 35 Minuten unterzogen haben; für die Zeit ab 27. Juli 1996 enthalten die Leistungsblätter keine Eintragungen über durchgeführte Physiotherapie mehr. Im Begleitschreiben vom 13. September 1996 weist Dr. U. darauf hin, dass vom Pflegepersonal zusätzlich praktisch täglich Gehübungen im Gang, auf der Treppe und auch ausserhalb des Spitals durchgeführt worden seien. Auch unter Berücksichtigung dieser Massnahmen kann nicht von einer den Aufenthalt in einem Akutspital rechtfertigenden Behandlung gesprochen werden. Nach den unbestritten gebliebenen Feststellungen des Vertrauensarztes hätten die nach Behebung des Nahrungs- und Flüssigkeitsdefizits erforderlichen Massnahmen ebenso gut in einer Pflegeabteilung für Chronischkranke durchgeführt werden können. Dr. U. räumt denn auch ein, dass die Dauer der Akutspitalbedürftigkeit im vorliegenden Fall "diskutabel" sei. In einer Stellungnahme zuhanden der Beschwerdegegnerin vom 18. Oktober 1996 vertritt er die Auffassung, dass mit der Annahme einer Akutspitalbedürftigkeit von vier Wochen eine vernünftige, den heutigen Usanzen entsprechende Abgrenzung erreicht werden könnte. Mit einer allfälligen Usanz lässt sich ein weitergehender Anspruch jedoch nicht begründen. Wie die Beschwerdegegnerin zu Recht feststellt, macht
Art. 49 Abs. 3 KVG
die Anwendung des Spitaltarifs allein von der medizinischen Indikation der Behandlung und Pflege oder der medizinischen Rehabilitation im Spital abhängig; beim Fehlen dieser Indikation kommt zwingend der Tarif für das Pflegeheim nach
Art. 50 KVG
zur Anwendung.
c) Zu beachten ist indessen, dass sich die Begriffe "akute Krankheit" und "Akutspitalbedürftigkeit" einerseits sowie "chronische Leiden" und "Langzeitpflegebedürftigkeit" anderseits nicht streng voneinander abgrenzen lassen (BBl 1992 I 167; Separatausgabe S. 75). Insbesondere wenn es - wie hier - darum geht, die Akutspitalbedürftigkeit von einer anschliessenden blossen Pflegebedürftigkeit abzugrenzen, ist dem behandelnden Arzt ein
BGE 124 V 362 S. 367
gewisser Ermessensspielraum zuzugestehen. Entgegen MAURER (a.a.O., S. 89) rechtfertigt es sich, an der bisherigen Praxis (
BGE 115 V 52
Erw. 3d; RKUV 1991 Nr. K 853 S. 4 f. Erw. I/2) festzuhalten, wonach für den Übertritt vom Akutspital in ein Pflegeheim oder eine Pflegeabteilung eine angemessene Anpassungszeit einzuräumen ist.
Im vorliegenden Fall ist zu berücksichtigen, dass die hochbetagten Beschwerdeführerinnen an ausgeprägten psychoorganischen Syndromen bei allgemeiner Arteriosklerose sowie an Polyarthronose litten, welche bereits vor Eintritt des Notfalls zu erheblichen Beeinträchtigungen des Allgemeinzustandes geführt hatten. Wie in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde gestützt auf die ärztlichen Angaben zu Recht geltend gemacht wird, führte der Nahrungs- und Flüssigkeitsmangel zu einer zusätzlichen Schwächung des Gesamtbefindens, welche mit der blossen Beseitigung des Nahrungs- und Flüssigkeitsdefizits nicht behoben war. Aufgrund ihres prekären Allgemeinzustandes bedurften die Beschwerdeführerinnen darüber hinaus gezielter Massnahmen zur Rekonvaleszenz, verbunden mit einer aktivitätsfördernden Behandlung. Dabei ging es darum, den Gesundheitszustand so weit zu verbessern, dass die Verlegung in ein Chronischkrankenheim umgangen und die Beschwerdeführerinnen nach Hause entlassen werden konnten, was in der Folge auch erreicht wurde. Dass die erforderliche Rehabilitationsbehandlung noch unter den spezifischen Betreuungs- und Überwachungsbedingungen eines Akutspitals erfolgte, erscheint unter den besonderen (in der Beurteilung des Sachverhalts durch den Vertrauensarzt unberücksichtigt gebliebenen) medizinischen Umständen des vorliegenden Falles für eine begrenzte Übergangszeit als begründet. In Würdigung der konkreten Umstände rechtfertigt es sich, der Auffassung des behandelnden Arztes in der nachträglichen Stellungnahme vom 27. April 1998 zu folgen, wonach die Akutspitalbedürftigkeit drei bis vier Wochen gedauert hat, was zur teilweisen Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde im Umfang des Eventualantrags führt. Von der Einholung eines Gutachtens zur Frage der Dauer der Akutspitalbedürftigkeit, wie in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde eventualiter beantragt wird, ist abzusehen, da hievon kaum neue Erkenntnisse zu erwarten wären. | de |
3b358462-51d3-4aaf-91a9-1f027087ba8d | Sachverhalt
ab Seite 312
BGE 120 Ib 312 S. 312
A.-
F. fuhr am 31. August 1992, um ca. 19.55 Uhr, mit seinem Personenwagen der Marke VW Golf, auf der Autobahn N 1 von Wil in Richtung Zürich. Obwohl es zu jenem Zeitpunkt stark regnete, fuhr er mit einer Geschwindigkeit von etwa 120 km/h. In der Nähe von Bertschikon verlor F. die Herrschaft über sein Fahrzeug und geriet wegen Aquaplanings ins Schleudern. Er konnte seinen Wagen nicht mehr bremsen und kollidierte mit dem Mittelseil, wobei sowohl an seinem Fahrzeug wie auch an der Autobahneinrichtung erheblicher Sachschaden entstand.
B.-
Das Statthalteramt des Bezirks Winterthur sprach F. mit Verfügung vom 12. Oktober 1992 der einfachen Verletzung von Verkehrsregeln in Anwendung von
Art. 32 Abs. 1 und 90 Ziff. 1 SVG
(SR 741.01) schuldig und verurteilte ihn zu einer Busse von Fr. 350.--.
C.-
Mit Verfügung vom 2. Februar 1993 entzog das Strassenverkehrs- und Schiffahrtsamt des Kantons St. Gallen F. wegen schwerer Gefährdung des Verkehrs den Führerausweis für die Dauer von drei Monaten.
Die Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen wies einen gegen diese Verfügung geführten Rekurs mit Urteil vom 5. Juli 1994 ab.
BGE 120 Ib 312 S. 313
D.-
Gegen diesen Entscheid erhebt F. Verwaltungsgerichtsbeschwerde, mit der er beantragt, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und die Vorinstanz anzuweisen, einen Führerausweisentzug von höchstens einem Monat anzuordnen. Ausserdem ersucht er, seiner Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
a) Die Vorinstanz nahm an, der Beschwerdeführer habe die Herrschaft über sein Fahrzeug verloren und damit eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit aller nachfolgenden Fahrzeuge geschaffen. Seine Fahrweise sei verantwortungslos und sein Verschulden schwer gewesen. Die allgemeine Höchstgeschwindigkeit für Fahrzeuge betrage auf Autobahnen nur unter günstigen Strassen-, Verkehrs- und Sichtverhältnissen 120 km/h. Zum Unfallzeitpunkt habe es stark geregnet und stellenweise habe auch Wasser auf der Fahrbahn gelegen. Der Beschwerdeführer habe daher nicht von günstigen Strassenverhältnissen ausgehen können. Bei Regen und hoher Geschwindigkeit sei die Gefahr von Aquaplaning latent vorhanden, so dass die Vorsichtspflicht gebiete, die Geschwindigkeit zu reduzieren.
b) Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz habe ihr Ermessen verletzt. Ob beim Nichtanpassen der Geschwindigkeit an die gegebenen Verhältnisse der Verkehr in schwerer Weise gefährdet werde, hänge von der Würdigung der gesamten Umstände ab. Er sei mit seinem Fahrzeug auf einem völlig geraden, übersichtlichen, jedoch regennassen Autobahnteilstück mit einer bloss geschätzten Geschwindigkeit von ca. 120 km/h unterwegs gewesen. Die Verkehrsdichte sei zum kritischen Zeitpunkt bloss schwach gewesen. Geschätzte Geschwindigkeitsangaben seien bei der Würdigung des Fehlverhaltens mit Vorsicht zu geniessen. Die Annahme der Vorinstanz, er sei tatsächlich mit einem Tempo von 120 km/h gefahren, sei daher willkürlich. Es liesse sich lediglich sagen, dass er im Hinblick auf die örtlichen Verhältnisse etwas zu schnell gefahren sei. Ein grobes Verschulden liege darin jedoch nicht. Aquaplaning könne je nachdem schon bei Geschwindigkeiten unter 80 km/h oder auch erst weit über 100 km/h auftreten. Da vorliegend lediglich von einer nassen und nicht von einer überfluteten Fahrbahn die Rede sei, sei die Annahme eines schweren Verschuldens bzw. einer schweren Verkehrsgefährdung durch die Vorinstanz willkürlich. Es könne auch nicht gesagt werden, Aquaplaningfälle seien
BGE 120 Ib 312 S. 314
regelmässig zu den schweren Fällen im Sinne von
Art. 16 Abs. 3 SVG
zu zählen. Die Vorinstanz sei zudem grundlos von der Würdigung des Sachverhalts durch den Strafrichter abgewichen, der den Vorfall als einfache Verkehrsregelverletzung gemäss
Art. 90 Ziff. 1 SVG
beurteilt habe. Selbst wenn man ein schweres Verschulden und eine schwere Gefährdung annehmen wollte, sei die von der Vorinstanz bestätigte dreimonatige Entzugsdauer des Führerausweises gleichwohl eine willkürliche Massnahme. Er sei seit dem 30. August 1990 im Besitze seines Führerausweises und weise einen bislang ungetrübten Leumund als Fahrzeugführer auf. Dieser müsse bei der Bemessung der Massnahmedauer berücksichtigt werden. Schliesslich sei er als Automechaniker in einem Kleinbetrieb auf die Möglichkeit, Motorfahrzeuge zu führen, angewiesen. Ein Führerausweisentzug von mehreren Monaten bewirke mit grösster Wahrscheinlichkeit die Auflösung seines Arbeitsverhältnisses und verursache derartig beachtliche Kosten, dass die Massnahme im Verhältnis zum finanziellen Verlust als offensichtlich unverhältnismässig erscheine.
2.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde kann beim Bundesgericht die Verletzung von Bundesrecht, einschliesslich der Überschreitung oder des Missbrauchs des Ermessens, gerügt sowie eine unrichtige und unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts geltend gemacht werden (
Art. 104 lit. a und b OG
). Nicht überprüfen kann das Bundesgericht grundsätzlich die Angemessenheit des angefochtenen Entscheides (
Art. 104 lit. c OG
). Gemäss
Art. 105 Abs. 2 OG
ist das Bundesgericht an die Feststellung des Sachverhalts gebunden, wenn eine richterliche Behörde als Vorinstanz den Sachverhalt nicht offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt hat.
3.
Gemäss
Art. 16 Abs. 2 SVG
kann der Führerausweis entzogen werden, wenn der Fahrzeugführer Verkehrsregeln verletzt und dadurch den Verkehr gefährdet oder andere belästigt hat. Der Ausweis muss entzogen werden, wenn der Führer den Verkehr in schwerer Weise gefährdet hat (
Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG
). Dies ist der Fall, wenn der Fahrzeugführer durch grobe Verletzung der Verkehrsregeln eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft oder in Kauf nimmt (
Art. 32 Abs. 2 VZV
[SR 741.51];
BGE 120 Ib 286
E. 1 mit Hinweisen). Die Dauer des Entzugs ist nach den Umständen festzusetzen; sie beträgt jedoch mindestens einen Monat (
Art. 17 Abs. 1 lit. a SVG
). Die Dauer des Warnungsentzugs richtet sich vor allem nach der Schwere
BGE 120 Ib 312 S. 315
des Verschuldens, dem Leumund als Fahrzeugführer sowie nach der beruflichen Notwendigkeit, ein Motorfahrzeug zu führen (
Art. 33 Abs. 2 VZV
).
4.
a) Die Vorinstanz nahm an, der Beschwerdeführer sei mit einer Geschwindigkeit von "ca. 120 km/h" gefahren. Sie stützte sich hiefür auf dessen Aussagen anlässlich der Aufnahme des Verkehrsunfalls durch die Kantonspolizei Zürich, bei der er auch angegeben hatte, es sei ihm bewusst gewesen, dass er in Anbetracht der herrschenden Wetterverhältnisse zu schnell unterwegs gewesen sei. Aufgrund dieser Aussagen kam die Vorinstanz zum Schluss, das Schleudern des Fahrzeugs sei auf die den Strassen- und Witterungsverhältnissen nicht angepasste Geschwindigkeit zurückzuführen. Dies wäre nach ihrer Auffassung selbst dann der Fall, wenn man annehmen wollte, der Beschwerdeführer sei mit einer Geschwindigkeit von bloss 90 - 120 km/h gefahren. Es trifft somit nicht zu, dass die Vorinstanz angenommen hat, der Beschwerdeführer sei effektiv mit 120 km/h unterwegs gewesen. Eine offensichtlich unrichtige Feststellung des Sachverhalts ist nicht ersichtlich, so dass das Bundesgericht daran gebunden ist (
Art. 105 Abs. 2 OG
).
b) Die Vorinstanz wich nicht von den tatsächlichen Feststellungen in der Bussenverfügung des Statthalteramtes des Bezirkes Winterthur ab. Hingegen würdigte sie das Verhalten des Beschwerdeführers - anders als das Statthalteramt, das eine bloss einfache Verkehrsregelverletzung im Sinne von
Art. 90 Ziff. 1 SVG
angenommen hatte, - als schwere Gefährdung des Verkehrs. Dies ist nicht zu beanstanden. Die Verwaltungsbehörde ist nur dann in bezug auf die Rechtsanwendung an die rechtliche Qualifikation des Sachverhaltes durch das Strafurteil gebunden, wenn die rechtliche Würdigung sehr stark von der Würdigung von Tatsachen abhängt, die der Strafrichter besser kennt als die Verwaltungsbehörde (
BGE 119 Ib 158
E. 3 c/bb). Dies ist hier nicht der Fall, da die Strafbehörde ebenfalls bloss aufgrund der Akten entschieden und der Beschwerdeführer keine gerichtliche Beurteilung verlangt hatte.
c) Die Vorinstanz wertete das Verhalten des Beschwerdeführers als schwere Gefährdung des Verkehrs. Der Beschwerdeführer habe, indem er die Herrschaft über sein Fahrzeug verloren habe, eine erhebliche Gefahr für die Sicherheit anderer Verkehrsteilnehmer geschaffen.
Nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz ist der Beschwerdeführer auf der Autobahn bei starkem Regen und einer Geschwindigkeit von ca. 120 km/h ins Schleudern geraten und gegen das
BGE 120 Ib 312 S. 316
Mittelseil geprallt. Wie die Vorinstanz zu Recht ausführt, bedeutet ein vom Lenker nicht mehr beherrschtes Fahrzeug insbesondere auf Autobahnen, wo ausschliesslich mit relativ hohen Geschwindigkeiten gefahren wird, immer eine ernstliche Gefahr für andere Verkehrsteilnehmer. Für nachfolgende Fahrzeuge besteht besonders die Gefahr von Auffahrunfällen mit erheblichen Folgen für die Beteiligten. Das krasse Nichtanpassen der Geschwindigkeit bei der Gefahr von Aquaplaning, d.h. einem Aufschwimmen der Reifen auf einem Wasserkeil mit Verlust der Steuer- und Bremsmöglichkeit, bedeutet daher im zu beurteilenden Fall eine schwere Gefährdung des Verkehrs. Ob Aquaplaningfälle regelmässig zu den schweren Fällen im Sinne von
Art. 16 Abs. 3 SVG
zu zählen sind, braucht nicht entschieden zu werden (vgl. hiezu
BGE 103 IV 41
E. 2a).
Ebenfalls nicht zu beanstanden ist, dass die Vorinstanz das Verschulden des Beschwerdeführers als schwer gewertet hat. Nach
Art. 32 Abs. 1 SVG
ist die Geschwindigkeit stets den Umständen, namentlich den Strassen-, Verkehrs- und Sichtverhältnissen anzupassen. Wie die Vorinstanz zu Recht erkannt hat, muss die Gefahr von Aquaplaning bei starkem Regen als bekannt vorausgesetzt werden. Es wird denn auch in diesem Zusammenhang empfohlen, bei starkem Regen 80 km/h nicht zu überschreiten (
BGE 103 IV 41
E. 2a). Dies war auch dem Beschwerdeführer klar, der nach den Feststellungen der Vorinstanz gegenüber der Polizei ausgesagt hatte, es sei ihm bewusst gewesen, dass er in Anbetracht der herrschenden Wetterverhältnisse zu schnell gefahren sei (vgl. E. 4a). Das Ausschöpfen der nur unter günstigen Verhältnissen auf Autobahnen zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h (
Art. 4a Abs. 1 lit. d VRV
), das zu einem Schleuderunfall führt, ist unter diesen Umständen grobfahrlässig und wiegt verschuldensmässig schwer, da sich der Beschwerdeführer der Gefährlichkeit seiner verkehrswidrigen Fahrweise bewusst sein musste und es auch war.
d) Die Vorinstanz erachtete den Entzug des Führerausweises für die Dauer von drei Monaten als angemessen. Sie nahm an, das bisher klaglose Verhalten des Beschwerdeführers im Strassenverkehr begründe keinen Anspruch auf Herabsetzung der Entzugsdauer. Sie verneinte zudem die berufliche Notwendigkeit für den Beschwerdeführer, ein Motorfahrzeug zu führen, da das Autofahren nicht zu den primären Aufgaben eines Automechanikers gehöre.
Der Behörde steht bei der Festsetzung der Dauer des Führerausweisentzuges ein Ermessensspielraum zu. Dies bedeutet indessen nicht, dass sie nach Belieben entscheiden könnte. Vielmehr hat sie nach pflichtgemässem Ermessen
BGE 120 Ib 312 S. 317
zu urteilen und alle in der Sache erheblichen Interessen zu berücksichtigen und sorgfältig gegeneinander abzuwägen. Diesen Anforderungen ist die Vorinstanz nachgekommen. Sie hat sich nicht von sachfremden Motiven leiten lassen und ihr Ermessen auch nicht überschritten oder missbraucht. Dies gilt ebenfalls für die Frage der Massnahmeempfindlichkeit. Die Vorinstanz hat zu Recht angenommen, das Führen eines Motorfahrzeugs gehöre nicht zu den primären Aufgaben eines Automechanikers und der Beschwerdeführer sei daher nicht im selben Mass von der Massnahme betroffen wie etwa ein Chauffeur. Sie verneinte daher zutreffend eine erhöhte Massnahmeempfindlichkeit. Dass sodann der automobilistische Leumund bei der Festsetzung der Entzugsdauer berücksichtigt werden muss, wie der Beschwerdeführer einwendet, trifft zu. Dies hat die Vorinstanz indes getan. Sie hat lediglich den ungetrübten Leumund als Fahrzeuglenker nicht zusätzlich als Herabsetzungsgrund gewürdigt, was nicht zu beanstanden ist. Die Massnahme erweist sich daher nicht als unverhältnismässig und die Vorinstanz hat somit ihr Ermessen nicht überschritten. | de |
0d68c24c-51b1-4e3e-8e91-42ff74e2454c | Sachverhalt
ab Seite 143
BGE 92 IV 143 S. 143
A.-
Als Hürlimann am 10. Februar 1965, ca. 13.50 Uhr, mit seinem neuerworbenen Personenwagen Chevrolet-Corvair, auf nasser Strasse, durch das Sihltal Richtung Langnau fuhr, kam er in der sog. Risletenkurve ins Schleudern und geriet über die Sicherheitslinie hinaus. Er kollidierte mit dem korrekt aus der Gegenrichtung kommenden Anhängerzug des Willi Möckli, wodurch beide Fahrzeuge beschädigt wurden.
B.-
Am 9. Mai 1966 erklärte das Obergericht des Kantons Zürich Hürlimann des Führens eines nicht betriebssicheren Fahrzeugs (
Art. 29 SVG
), des Nichtbeherrschens des Fahrzeugs (
Art. 31 Abs. 1 SVG
), des Nichtanpassens der Geschwindigkeit (
Art. 32 Abs. 1 SVG
) und der Verletzung des Gebots des Rechtsfahrens (
Art. 34 Abs. 1 und 2 SVG
) schuldig und verurteilte ihn in Anwendung von
Art. 90 Ziff. 1 SVG
zu einer Busse von Fr. 200.--.
Das Urteil erachtet das Führen eines nicht betriebssicheren Fahrzeugs objektiv als schwerwiegende Verfehlung; doch könne Hürlimann subjektiv nicht der Vorwurf der Rücksichtslosigkeit gemacht werden, denn er habe nicht gewusst dass der linke hintere Pneu auf der Innenseite abgenützt war. Als Fahrlässigkeit falle ihm daher einzig zur Last, dass er den von seinem Einkäufer gekauften Wagen vor der ersten Fahrt nicht gründlich auf den Zustand der Pneus untersuchte. Auch seine Geschwindigkeit von 70-80 km/h zeige keine Rücksichtslosigkeit, sei sie
BGE 92 IV 143 S. 144
doch nicht an sich zu hoch gewesen, sondern nur darum, weil Hürlimann (unbekannterweise) mit mangelhaftem Pneu und (bewusst) mit einem ihm noch unvertrauten, hecklastigen und mit automatischem Getriebe versehenen Wagen gefahren sei. Daher liege weder direkt- oder eventualvorsätzliche noch grobfahrlässige Verletzung von Verkehrsregeln vor, weshalb eine Bestrafung nach
Art. 90 Ziff. 2 SVG
nicht in Frage komme. Das Verhalten Hürlimanns entspringe bloss leichter Fahrlässigkeit, sodass Ziff. 1 von
Art. 90 SVG
anzuwenden sei.
C.-
Gegen diesen Entscheid führt die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, er sei aufzuheben und die Sache zur Beurteilung gemäss Ziff. 2 von
Art. 90 SVG
an die Vorinstanz zurückzuweisen. Sie macht geltend, diese Bestimmung sei auch bei fahrlässiger Begehung stets anzuwenden, wenn ein objektiv schwerwiegender Sachverhalt gegeben, eine erhebliche Gefährdung Dritter gesetzt worden sei, unbekümmert darum, ob die Fahrlässigkeit grob oder leicht war. Erwägungen
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
I.
Wer Verkehrsregeln verletzt, ist nach
Art. 90 SVG
zu bestrafen, wenn die Regelwidrigkeit nicht durch eine andere Bestimmung des SVG unter Strafe gestellt wird. Das Letztere trifft zu auf das Führen eines nicht betriebssicheren Fahrzeugs, welches durch
Art. 93 Ziff. 2 Abs. 1 SVG
mit Strafe bedroht ist. Dass die Vorinstanz das Führen des nicht betriebssicheren Chevrolet durch Hürlimann nach
Art. 90 SVG
bestraft hat, wird von der Beschwerdeführerin indessen mit Recht nicht angefochten, denn die vom Obergericht angewendete Ziffer 1 von
Art. 90 und
Art. 93 Ziff. 2 Abs. 1 SVG
sehen die gleiche Strafdrohung vor. Da somit die Subsumtion die ausgesprochene Strafe nicht zu beeinflussen vermochte, ist eidgenössisches Recht nicht verletzt worden (Art. 269 Abs. 1, 277 bis Abs. 1 BStP;
BGE 81 IV 76
).
II.
1.
Die einfache Übertretung von Verkehrsregeln ist nach Ziff. 1 von
Art. 90 SVG
mit Haft oder Busse zu bestrafen. Der Vergehenstatbestand von Ziff. 2 Abs. 1 des Art. 90 ist nur erfüllt durch eine grobe Verletzung von Verkehrsregeln, die eine ernstliche, konkrete oder abstrakte Gefahr für die Sicherheit anderer verursacht. Beide Ziffern sind auch bei fahrlässiger Begehung anwendbar (
BGE 90 IV 152
).
BGE 92 IV 143 S. 145
2.
Es ist unangefochten, dass Hürlimann gegen die Verkehrsregeln der Art. 29, 31 Abs. 1, 32 Abs. 1 sowie 34 Abs. 1 und 2 SVG verstossen hat. Die Gefahr, die er dadurch für Leib und Gesundheit anderer hervorrief, war eine ernstliche, zwang er doch den Anhängerzugführer Möckli zu brüskem Bremsen und stiess er frontal mit dessen Fahrzeug zusammen.
3.
Wann eine Verletzung der Verkehrsregeln grob ist, sagt das Gesetz nicht. Wesentliche Hinweise für die Auslegung gibt die Entstehungsgerichte. Der erste Entwurf des heutigen
Art. 90 Ziff. 2 Abs. 1 SVG
bedrohte mit Gefängnis, "wer in rücksichtsloser Weise die Verkehrsregeln verletzt oder andere gefährdet" (Antrag Kistler, Prot. Komm. NR S. 368). Die nationalrätliche Kommission sprach in einer ersten Fassung in ähnlicher Weise von der Verletzung von Verkehrsregeln "ohne Rücksicht auf die Sicherheit anderer" (Prot. S. 386). Erst in einer späteren Kommissionssitzung wurde der Wortlaut beschlossen, welcher in
Art. 90 Ziff. 2 Abs. 1 SVG
Gesetz geworden ist. Pfister teilte jedoch in seinen Erläuterungen in Übereinstimmung mit Nationalrat Kistler mit, dass mit dieser Bestimmung nur schwere Fälle erfasst werden sollten, weshalb die Wendungen grobe Verletzung von Verkehrsregeln und ernstliche Gefahr gewählt worden seien (Prot. S. 423). Im Nationalrat führte der deutsche Berichterstatter Eggenberger aus, der Antrag der Kommission wolle im Sinne des Vorschlags Kistler den rücksichtslosen Verkehrssünder schärfer bestrafen (StenBull NR 1957 S. 269). Auf die zunächst ablehnende Haltung des Ständerates, der die unklare Formulierung der Vorschrift und ihre Unterbringung im SVG statt bei
Art. 237 StGB
beanstandete (StenBull StR 1958 S. 131 f.), antworteten Eggenberger sowie der französische Berichterstatter Guinand im Nationalrat, die Bestimmung sei notwendig, um die schweren Widerhandlungen im Strassenverkehr richtig erfassen zu können (StenBull NR 1958 S. 472 f.). Danach muss also dem
Art. 90 Ziff. 2 Abs. 1 SVG
ein rücksichtsloses oder sonst schwerwiegend regelwidriges Verhalten zugrundeliegen. Das setzt ein schweres Verschulden voraus, bei fahrlässigem Handeln grobe Fahrlässigkeit.
Eine andere Auslegung ist nicht ersichtlich. Insbesondere kann nicht auf die Natur der verletzten Verkehrsregel abgestellt werden, etwa darauf, ob es sich um eine grundlegende Vorschrift über das Verhalten im Strassenverkehr handle. Eine
BGE 92 IV 143 S. 146
solche Interpretation findet in dem in dieser Hinsicht klaren Wortlaut des
Art. 90 Ziff. 2 Abs. 1 SVG
keine Stütze. Danach kann dieser Strafnorm vielmehr die Verletzung irgendeiner Verkehrsregel zugrundeliegen. Hingegen muss der Verstoss im konkreten Fall besonders schwer gewesen sein (ebenso SCHULTZ, Strafbestimmungen des SVG S. 162 f.). Je nach den Umständen und damit dem Verschulden kann etwa unerlaubtes Parkieren ein schwerer Verstoss, anderseits das Überfahren einer Sicherheitslinie eine leichte Regelwidrigkeit sein. Einer zu weiten Ausdehnung des Anwendungsbereichs von Ziff. 2 des
Art. 90 SVG
steht das zusätzliche Erfordernis der ernstlichen Gefährdung der Sicherheit anderer entgegen. So können unnötige und übermässige Warnsignale zur Nachtzeit eine schwere Widerhandlung gegen
Art. 40 SVG
darstellen. Sie fallen indessen nur dann unter Ziff. 2 von Art. 90, wenn durch sie eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer geschaffen wurde.
Die Beschwerdeführerin wendet ein, wenn schon
Art. 90 Ziff. 2 Abs. 1 SVG
bei fahrlässiger Begehung anwendbar sei, so sei nicht einzusehen, weshalb das nur bei grober Fahrlässigkeit möglich sein sollte. Es sei der zu einer bestimmten Subsumierung führende objektive Tatbestand streng vom Grad des Verschuldens zu trennen. Eine fahrlässige Tötung z.B. sei als solche zu bestrafen, wenn überhaupt ein Verschulden und der Kausalzusammenhang zum Tod gegeben seien, gleichgültig ob das Verschulden ein schweres oder nur ein ganz leichtes war.
Das hätte zur Folge, dass sich die Ziff. 2 des
Art. 90 SVG
von der Ziff. 1 nur noch durch den Erfolg, die ernstliche Gefährdung anderer, unterscheiden würde. Damit wird übersehen, dass in
Art. 90 Ziff. 2 SVG
, im Gegensatz zur Ziff. 1 wie zum Tatbestand der fahrlässigen Tötung des
Art. 117 StGB
, das deliktische Verhalten qualifiziert umschrieben, eine grobe Verletzung der Verkehrsregeln gefordert wird. Dieses Tatbestandserfordernis kann nicht einfach ausser Acht gelassen werden. Wenn leichte Fahrlässigkeit genügte, würde Art. 90 Ziff. 2 Abs. 1 in bezug auf die Qualifikation dem Formaldelikt angenähert. Mit dem Ausdruck grobe Verletzung verlangt das Gesetz somit eine grobe Verletzung der Sorgfaltspflicht.
4.
Dazu, dass Hürlimann in der Kurve nicht rechts, namentlich nicht rechts der Sicherheitslinie gefahren und deshalb mit Möckli zusammengestossen ist, kam es nach den Feststellungen der Vorinstanz einerseits, weil er ein wegen eines
BGE 92 IV 143 S. 147
abgefahrenen Pneus nicht betriebssicheres Fahrzeug führte. Dieser Mangel war ihm indes nicht bekannt. Wie das Obergericht zutreffend ausführt, fällt ihm in diesem Punkt als Fahrlässigkeit lediglich zur Last, dass er vor der ersten Fahrt mit dem Wagen diesen nicht gründlich auf den Zustand der Pneus untersucht hatte. Diese Unterlassung wiegt insofern nicht schwer, als Hürlimann den Wagen kurz zuvor von seinem Einkäufer übernommen hatte, der ihn gekauft und gefahren hatte. Anderseits trifft den Beschwerdegegner der Vorwurf, dass er entgegen
Art. 32 Abs. 1 SVG
die Geschwindigkeit nicht den Umständen anpasste, nämlich an seine Unvertrautheit mit dem Wagen und an dessen Besonderheiten der Hecklastigkeit und des automatischen Getriebes. Seine Geschwindigkeit von 70-80 km/h war jedoch, wie sich aus den obergerichtlichen Feststellungen ergibt, nicht in hohem Masse unangepasst. Sein Verschulden wiegt somit nicht schwer. Es fällt ihm nicht grobe, sondern lediglich leichte Fahrlässigkeit zur Last. Das strafbare Verhalten des Beschwerdegegners ist deshalb mitRecht nach
Art. 90 Ziff. 1 SVG
geahndet worden, und die Nichtigkeitsbeschwerde ist abzuweisen. | de |
4ac4f5f8-a66f-48af-9e80-b648e929fcdc | Sachverhalt
ab Seite 461
BGE 140 II 460 S. 461
A.
Die B. AG, Club C.B., ersuchte am 19. April 2012 beim Amt für Migration des Kantons Luzern um eine Kurzaufenthaltsbewilligung (19. April 2012 bis 26. Mai 2012) für die rumänische Staatsangehörige A. (geb. 1990) als Masseuse (Prostituierte). Einen Nachweis, dass für die betreffende Erwerbstätigkeit keine inländischen Arbeitskräfte gefunden werden konnten, legte der Club C.B. nicht bei.
B.
Nachdem das Gesuch zurückgewiesen worden war, verlangte A. eine beschwerdefähige Verfügung. Am 10. Mai 2012 lehnte das Amt für Migration das Gesuch um Erteilung einer Kurzaufenthaltsbewilligung an A. förmlich ab und wies sie an, die Schweiz nach ihrer bewilligungsfreien Aufenthaltsdauer wieder zu verlassen. Die gegen diese Verfügung beim Justiz- und Sicherheitsdepartement des
BGE 140 II 460 S. 462
Kantons Luzern geführte Verwaltungsbeschwerde wurde am 9. April 2013 abgewiesen. Eine hiergegen erhobene Beschwerde beim Kantonsgericht des Kantons Luzern lehnte dieses mit Urteil vom 25. Juli 2013 ab.
C.
Mit Eingabe vom 4. September 2013 beantragt A. dem Bundesgericht, den Entscheid des Kantonsgerichts vom 25. Juli 2013 aufzuheben. Es sei festzustellen, dass sie als selbstständige Erwerbstätige zu gelten und Anspruch auf Erteilung einer entsprechenden Bewilligung habe.
(...)
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
(Auszug) Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Das Freizügigkeitsabkommen (FZA; SR 0.142.112.681) bestimmt im Rahmen seines sachlichen Anwendungsbereichs das Recht der EU-Ausländer auf Aufenthalt und Zugang zu einer Erwerbstätigkeit nach Massgabe der folgenden Bestimmungen:
3.1
Art. 4 FZA
in Verbindung mit
Art. 12 Abs. 1 Anhang I FZA
gewährt selbstständig Erwerbstätigen eine Aufenthaltsberechtigung mit einer Gültigkeitsdauer von mindestens fünf Jahren, wenn sich diese zum Zweck der Ausübung einer selbstständigen Erwerbstätigkeit in der Schweiz niederlassen. Die Aufenthaltserlaubnis wird automatisch um mindestens fünf Jahre verlängert, sofern der Selbstständige den zuständigen nationalen Behörden nachweist, dass er eine entsprechende Erwerbstätigkeit ausübt (
Art. 12 Abs. 2 Anhang I FZA
). Aufenthaltsunterbrechungen, die sechs aufeinanderfolgende Monate nicht überschreiten, berühren die Gültigkeit einer solchen Aufenthaltserlaubnis nicht (
Art. 4 Abs. 1 und
Art. 12 Abs. 5 Anhang I FZA
; vgl. Urteil 2C_471/2012 vom 18. Januar 2013 E. 4.4). Selbstständige Erwerbstätige, die sich in der Schweiz niederlassen wollen, sind hinsichtlich des Zugangs zu einer Erwerbstätigkeit und deren Ausübung nicht weniger günstig zu behandeln als schweizerische Staatsangehörige (
Art. 15 Anhang I FZA
; vgl. auch
Art. 7 lit. a FZA
; "Inländerbehandlung").
3.2
Gemäss
Art. 4 FZA
in Verbindung mit
Art. 6 Abs. 1 Anhang I FZA
hat ein Staatsangehöriger einer Vertragspartei, der mit einem Arbeitgeber des Aufnahmestaates ein Arbeitsverhältnis mit einer Dauer von mindestens einem Jahr eingegangen ist, Anspruch auf
BGE 140 II 460 S. 463
Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis mit einer Gültigkeitsdauer von mindestens fünf Jahren. Ein Arbeitnehmer, der mit einem Arbeitgeber des Aufnahmestaates ein Arbeitsverhältnis mit einer Dauer von mehr als drei Monaten und weniger als einem Jahr eingegangen ist, erhält eine Aufenthaltserlaubnis mit einer Gültigkeitsdauer, die der Dauer des Arbeitsvertrags entspricht (Art. 6 Abs. 2 Unterabs. 1 Anhang I FZA). Ein Arbeitnehmer, der ein Arbeitsverhältnis mit einer Dauer von höchstens drei Monaten eingeht, benötigt keine Aufenthaltserlaubnis (Art. 6 Abs. 2 Unterabs. 2 Anhang I FZA). Ein EU-ausländischer Arbeitnehmer darf in der Schweiz hinsichtlich der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, insbesondere im Hinblick auf Entlöhnung, Kündigung und, falls er arbeitslos geworden ist, im Hinblick auf berufliche Wiedereingliederung oder Wiedereinstellung nicht anders behandelt werden als die inländischen Arbeitnehmer (
Art. 9 Abs. 1 Anhang I FZA
).
3.3
Sind die oben genannten Voraussetzungen erfüllt, besteht ein Anspruch für Angehörige von Bulgarien und Rumänien auf Aufnahme der selbstständigen oder aber unselbstständigen Erwerbstätigkeit sowie auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis. Dieser Anspruch steht jedoch unter dem Vorbehalt der Zulassung zum Arbeitsmarkt (
Art. 4 FZA
), d.h. der übergangsrechtlichen Beschränkungen im Sinne von
Art. 10 FZA
(vgl. Urteil 2C_244/2011 vom 3. Februar 2012 E. 4.2.2):
3.3.1
Der Zugang zum Arbeitsmarkt wird für Angehörige von Rumänien und Bulgarien zunächst mittels Höchstzahlen beschränkt. Gemäss
Art. 10 Abs. 1b FZA
kann die Schweiz bis zwei Jahre nach Inkrafttreten des Protokolls im Hinblick auf die Aufnahme der Republik Bulgarien und Rumäniens als Vertragsparteien vom 27. Mai 2008 (Protokoll II; Inkrafttreten: 1. Juni 2009) für die Kategorie der Aufenthalte von mehr als 4 Monaten und weniger als einem Jahr und die Kategorie der Aufenthalte von einem Jahr und mehr weiterhin Höchstzahlen für den Zugang zu einer Erwerbstätigkeit von Arbeitnehmern und Selbstständigen aufrechterhalten. Aufenthalte von weniger als vier Monaten unterliegen nach dem Abkommenstext keinen Höchstzahl-Beschränkungen (Art. 10 Abs. 1b Unterabs. 1 FZA).
Beschränkungen hinsichtlich des Zugangs zum Arbeitsmarkt sieht das Abkommen für Angehörige von Rumänien und Bulgarien sodann in Form einer - von den Höchstzahlen grundsätzlich unabhängigen -
Vorzugsregelung
für inländische Arbeitnehmer vor: Nach Art. 10 Abs. 2b Unterabs. 1 FZA kann die Schweiz während eines Zeitraums von zwei Jahren nach Inkrafttreten des Protokolls für
BGE 140 II 460 S. 464
Arbeitnehmer
"die Kontrolle der Einhaltung des Vorrangs der in den regulären Arbeitsmarkt integrierten Arbeitnehmer und die Kontrolle der Entlohnungs- und Arbeitsbedingungen für die Staatsangehörigen der betreffenden Vertragspartei beibehalten". Das Abkommen ermächtigt die Schweiz, die Kontrollen nach Art. 10 Abs. 2b Unterabs. 2 FZA bis maximal 5 Jahre nach dem Inkrafttreten des Protokolls vom 28. Mai 2008 gegenüber rumänischen und bulgarischen Arbeitnehmern weiterhin anzuwenden.
Art. 10 Abs. 4c FZA
sieht sodann vor, dass die in den Absätzen 2b (sowie 1b und 3b) genannten Massnahmen bei ernsthaften Störungen auf ihrem Arbeitsmarkt oder bei Gefahr solcher Störungen bis 7 Jahre nach Inkrafttreten des Protokolls II angewendet werden dürfen.
3.3.2
Mit Beschluss vom 28. Mai 2014 hat der Bundesrat die Übergangsfrist für Beschränkungen für unselbstständig Erwerbstätige aus Bulgarien und Rumänien bis zum 31. Mai 2016 verlängert (AS 2014 1893 f.; die vorgesehene Maximalfrist von 5 Jahren in Art. 10 Abs. 4c in Verbindung mit Abs. 1b Unterabs. 2 sowie Abs. 2b Unterabs. 2 FZA wird ausgeschöpft). Für unselbstständig Erwerbstätige aus Rumänien und Bulgarien finden demnach - wie die Vorinstanz korrekt darlegt - weiterhin Beschränkungen hinsichtlich der Zulassung zum Arbeitsmarkt im Sinne von
Art. 10 FZA
Anwendung, namentlich die Prüfung der "Einhaltung des Vorrangs der in den regulären Arbeitsmarkt integrierten [inländischen] Arbeitnehmer" im Sinne von
Art. 10 Abs. 2b FZA
(vgl. Urteil 2C_434/2014 vom 7. August 2014 E. 1.1). Aufgrund der Anwendbarkeit von übergangsrechtlichen Beschränkungen gilt für unselbstständig Erwerbstätige aus Rumänien und Bulgarien namentlich auch keine Bewilligungsfreiheit von Arbeitsaufenthalten von weniger als drei Monaten (
Art. 10 FZA
; Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Unterabs. 2 Anhang I FZA; vgl. oben E. 3.2).
3.3.3
Art. 27 der Verordnung vom 22. Mai 2002 über die Einführung des freien Personenverkehrs (VEP; SR 142.203), welche Art. 10 des Freizügigkeitsabkommens konkretisiert (
Art. 1 VEP
; Urteil 2C_217/2009 vom 11. September 2009 E. 2.1), sieht für Angehörige aus Rumänien und Bulgarien entsprechend vor, dass die kantonale Arbeitsmarktbehörde (
Art. 26 VEP
) vor einem allfälligen Bewilligungsentscheid darüber befindet, ob die "arbeitsmarktlichen Voraussetzungen" für die Erteilung der Bewilligung zur unselbstständigen Erwerbstätigkeit erfüllt sind. Unter die arbeitsmarktrechtlichen Voraussetzungen fallen namentlich die Prüfung des
BGE 140 II 460 S. 465
Inländervorrangs im Sinne von
Art. 21 AuG
(SR 142.20) sowie die Kontrolle der Lohn- und Arbeitsbedingungen (vgl. Urteil 2C_434/2014 vom 7. August 2014 E. 1.1 und 2.2 mit Hinweis; vgl. auch die Weisungen des Bundesamts für Migration vom Mai 2014 zur Verordnung über die Einführung des freien Personenverkehrs, S.15 ff., 36).
Die Vorinstanz durfte demnach annehmen, die Beschwerdeführerin unterliege der Bewilligungspflicht und hätte nur Anspruch auf Erteilung der Bewilligung, wenn sie selbstständig erwerbstätig wäre. Sie durfte namentlich davon ausgehen, der Zugang zum Arbeitsmarkt sei bei unselbstständig erwerbstätigen Rumänen oder Bulgaren gestützt auf die Übergangsbestimmungen vom (Nicht-)Vorhandensein von inländischen Arbeitnehmenden abhängig (
Art. 10 Abs. 2b FZA
in Verbindung mit
Art. 21 AuG
). Da der Club C.B. nicht nachgewiesen hat, dass für die beabsichtige Tätigkeit keine inländische Arbeitskraft gefunden werden konnte, durfte die Vorinstanz davon ausgehen, der Beschwerdeführerin könne unter dem Titel der Arbeitnehmerfreizügigkeit derzeit keine Bewilligung erteilt werden.
4.
Die Beschwerdeführerin anerkennt grundsätzlich diese übergangsrechtlichen Beschränkungen. Sie bringt jedoch vor, das Kantonsgericht sei zu Unrecht davon ausgegangen, die Übergangsbestimmungen wären auch auf sie anwendbar. Die Beschwerdeführerin selbst führe - entgegen der Auffassung der Vorinstanz - eine selbstständige Erwerbstätigkeit aus.
Es stellt sich demnach die Frage, ob die Beschwerdeführerin von der Vorinstanz zu Recht als unselbstständige Erwerbstätige im Sinne des FZA betrachtet wurde.
4.1
Die Interpretation des Begriffs der Arbeitnehmertätigkeit bestimmt sich entgegen der Auffassung der Vorinstanz nicht (ausschliesslich) nach nationalem Recht (
Art. 5 Abs. 4 BV
;
Art. 27 VRK
[SR 0.111];
BGE 138 II 524
E. 5.1 S. 533;
BGE 125 II 417
E. 4d S. 424 f.;
BGE 122 II 234
E. 4e S. 239). Ausgangspunkt der Interpretation ist vielmehr der Begriff des Arbeitnehmers im Sinne von
Art. 10 FZA
, der materiell dem Begriff der unselbstständigen Erwerbstätigkeit im Sinne von
Art. 1 lit. a FZA
bzw. des Arbeitnehmers nach
Art. 6 ff. Anhang I FZA
entspricht. Der Begriff des Arbeitnehmers wird im FZA (gleich wie im Primär- und Sekundärrecht der EU) nicht definiert, ist jedoch ein unionsrechtlicher (vgl.
BGE 131 II 339
E. 3.1 S. 344 f.; MINH SON NGUYEN, Le travailleur, l'indépendant, le prestataire de services et le travailleur détaché en droit suisse des migrations économiques,
BGE 140 II 460 S. 466
in: Migrations et économie, Cesla Amarelle und andere [Hrsg.], 2010, S. 67 ff.; CHRISTINA SCHNELL, Arbeitnehmerfreizügigkeit in der Schweiz, 2010, S. 133 ff.). Für dessen Auslegung - insbesondere mit Blick auf die Abgrenzung zur selbstständigen Erwerbstätigkeit nach
Art. 12 ff. Anhang I FZA
- ist die hierfür einschlägige Rechtsprechung des EuGH zu berücksichtigen (
Art. 16 Abs. 2 FZA
;
BGE 140 II 112
E. 3.2 S. 117 f. mit zahlreichen Hinweisen). Dabei ist die Rechtsprechung des EuGH vor dem Zeitpunkt der Unterzeichnung (21. Juni 1999) massgebend. Da es Ziel des Abkommens ist, die Freizügigkeit auf der Grundlage der in der Europäischen Union geltenden Bestimmungen zu verwirklichen (Präambel), und die Vertragsstaaten übereingekommen sind, in den vom Abkommen erfassten Bereichen alle erforderlichen Massnahmen zu treffen, damit in ihren Beziehungen eine möglichst parallele Rechtslage besteht (
Art. 16 Abs. 1 FZA
), weicht das Bundesgericht praxisgemäss von der Auslegung abkommensrelevanter unionsrechtlicher Bestimmungen durch den EuGH nach dem Unterzeichnungsdatum nicht leichthin, sondern nur beim Vorliegen "triftiger" Gründe ab (
BGE 140 II 112
E. 3.2 S. 117;
BGE 139 II 393
E. 4.1.1 S. 397 f.;
BGE 136 II 65
E. 3.1 S. 70 f.).
4.1.1
Nach der Rechtsprechung des EuGH steht der Arbeitnehmer bzw. der unselbstständig Erwerbende in einem weisungsgebundenen Abhängigkeitsverhältnis, wobei er eine (tatsächliche und echte) Tätigkeit für einen anderen für eine bestimmte Zeit verrichtet und dafür ein Entgelt bezieht (Urteile des EuGH vom 3. Juli 1986 66/85
Lawrie-Blum
, Slg. 1986 02121 Randnr. 12, 18; vom 21. Juni 1988 197/86
Brown
, Slg. 1988 3205 Randnr. 21; vom 8. Juni 1999 C-337/97
Meeusen
, Slg. 1999 I-03289 Randnr. 13). Der Begriff des Arbeitnehmers wird vom EuGH weit ausgelegt, um den Schutzbereich dieser Grundfreiheit möglichst vielen Personen zugutekommen zu lassen (vgl. Urteile des EuGH vom 3. Juni 1986 139/85
Kempf
, Slg. 1986 01741 Randnr. 13;
Lawrie-Blum
, Randnr. 21; vom 23. März 1982 53/81
Levin
, Slg. 1982 1035 Randnr. 17; vgl. auch vom 12. Mai 1998 C-85/96
Martínez Sala
, Slg. 1998 I-02691 Randnr. 32). Demgegenüber sind Anhaltspunkte für eine selbstständige Erwerbstätigkeit die Beteiligung an den geschäftlichen Risiken, die freie Bestimmung der Arbeitszeit, die Weisungsfreiheit und die Auswahl der Mitarbeiter (Urteile des EuGH vom 28. Januar 1986 270/83
Kommission gegen Frankreich
, Slg. 1986 273, Randnr. 13; vom 7. September 2004 C-456/02
Trojani
, Slg. 2004 I-07573 Randnr. 27 [zurNiederlassungsfreiheit];WINFRIED BRECHMANN, in: EUV/AEUV,
BGE 140 II 460 S. 467
Kommentar, Calliess/Ruffert [Hrsg.], 4. Aufl. 2011, N. 14 zu Art. 45AEUV; ULRICH FORSTHOFF, in: Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Grabitz/Hilf/Nettesheim [Hrsg.],Stand Juli 2010, N. 69, 73 und 77 zu Art. 45 AEUV). Arbeitnehmer im Sinne von Art. 45 AEUV (bzw. Art. 39 EGV) können auch Geschäftsführer sein (Urteil des EuGH vom 7. Mai 1998 C-350/96
Clean Car
, Slg. 1998 I-2521 Randnr. 9 ff., 30); die Arbeitnehmereigenschaft ist auch nicht bereits dadurch ausgeschlossen, dass die betreffende Person im Wege einer Ertragsbeteiligung entlöhnt wird (Urteil des EuGH vom 14. Dezember 1989 C-3/87
Agegate
, Slg. 1989 4459 Randnr. 36). Auch der Umstand, dass ein Arbeitsverhältnis nur von kurzer Dauer oder befristet war, schliesst die Arbeitnehmereigenschaft nicht aus (Urteile vom 26. Februar 1992 C-3/90
Bernini
, Slg. 1992 I-1071 Randnr. 16; vom 26. Februar 1992 C-357/89
Raulin
, Slg. 1992 I-1027 Randnr. 13). In einem neueren Urteil bezieht sich der EuGH für die Abgrenzung der Arbeitnehmereigenschaft von derjenigen des Arbeitgebers auf das Über- und Unterordnungsverhältnis (Urteil vom 15. Dezember 2012 C-151/04 / C-152/04
Nadin
, Slg. 2005 I-11203 Randnr. 10, 31 f.). Die Arbeitnehmereigenschaft untersteht dabei einer Gesamtbetrachtung nach objektiven Gesichtspunkten (vgl. Urteile
Agegate
, Randnr. 36 ff.; vom 6. November 2003 C-413/01
Ninni-Orasche
, Slg. 2003 I-13187 Randnr. 27), wobei für die Einordnung der Tätigkeit die Unternehmensorganisation entscheidend ist (vgl. FORSTHOFF, a.a.O., N. 72 zu Art. 45 AEUV; BRECHMANN, a.a.O., N. 12 ff. zu Art. 45 AEUV).
4.1.2
Unter dem Vorbehalt der Inländergleichbehandlung fällt die Prostitution als selbstständig oder unselbstständig ausgeübte Erwerbstätigkeit in den Schutzbereich der Grundfreiheiten (Urteil des EuGH vom 20. November 2001 C-268/99
Jany und andere
, Slg. 2001 I-8615 Randnr. 56 ff.; vgl. bereits vom 18. Mai 1982 115/81 und 116/81
Adoui und Cornuaille
, Slg. 1982 1665 Randnr. 6, 8). Dabei lässt der EuGH die Mitgliedstaaten die Frage, ob die Prostitution von der betreffenden Person selbstständig (oder unselbstständig) ausgeübt wird, anhand der Beweisvoraussetzungen prüfen, ob die Ausübung
ohne
Vorliegen eines Unterordnungsverhältnisses erfolgt "in Bezug auf die Wahl dieser Tätigkeit, die Arbeitsbedingungen und das Entgelt (sowie) in eigener Verantwortung und gegen ein Entgelt, das der betreffenden Person vollständig und unmittelbar gezahlt wird" (Urteil
Jany und andere
, Randnr. 71). Nur wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, kann die Prostitution als eine von Selbstständigen
BGE 140 II 460 S. 468
ausgeübte Erwerbstätigkeit gelten (Urteil
Jany und andere
, Randnr. 70 f. im Zusammenhang mit der Dienstleistungsfreiheit; die Beschwerdeführerinnen hatten für die Erwerbstätigkeit eigenständig je eine Räumlichkeit gemietet; es bestanden keine sachverhaltlichen Hinweise auf einen Bordell-/Clubbetrieb; vgl. Randnr. 17; vgl. zu den Kriterien im Allgemeinen auch die Schlussanträge des Generalanwalts Poiares Maduro vom 19. Februar 2004 zu C-327/02
Panayotova und andere
, Slg. 2004 I-11055 Randnr. 83).
4.1.3
Auf ähnliche Kriterien zur Bestimmung der Art der (selbstständigen oder unselbstständigen) Tätigkeit stützt sich denn auch das nationale Recht: Gemäss
Art. 11 Abs. 1 AuG
benötigen Ausländerinnen und Ausländer, die in der Schweiz eine Erwerbstätigkeit ausüben wollen, eine Bewilligung (vgl. oben E. 3.3.2). Als Erwerbstätigkeit gilt hierbei jede üblicherweise gegen Entgelt ausgeübte unselbstständige oder selbstständige Tätigkeit, selbst wenn sie unentgeltlich erfolgt (
Art. 11 Abs. 2 AuG
). Als
unselbstständige
Erwerbstätigkeit (Art. 1a der Verordnung vom 24. Oktober 2007 über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit[VZAE; SR 142.201]) gilt jede Tätigkeit für einen Arbeitgeber mit Sitz in der Schweiz oder im Ausland, wobei es ohne Belang ist, ob der Lohn im In- oder Ausland ausbezahlt wird und eine Beschäftigung nur stunden- oder tageweise oder vorübergehend ausgeübt wird (
Art. 1a Abs. 1 VZAE
). Als
selbstständige
Erwerbstätigkeit gilt demgegenüber die Ausübung einer Tätigkeit im Rahmen einer eigenen, frei gewählten Organisation, die auf die Einkommenserzielung ausgerichtet ist, wobei der Erwerbende unter eigener Weisungsgewalt steht und das unternehmerische Risiko selbst trägt. Diese frei gewählte Organisation tritt nach aussen in Erscheinung, indem beispielsweise ein Handels-, Fabrikations-, Dienstleistungs-, Gewerbe- oder anderer Geschäftsbetrieb geführt wird (
Art. 2 Abs. 1 VZAE
).
4.2
Prostitution kann in der Schweiz sowohl als selbstständige als auch als unselbstständige Form von Erwerbstätigkeit ausgeübt werden (Urteile 9C_347/2013 vom 3. Juli 2013 E. 5.3; 9C_246/2011 vom 22. November 2011 E. 3 und 6; vgl. Bundesamt für Migration, Bericht vom Januar 2012 zur Rotlichtproblematik, S. 6 ff., 10). Die Beschwerdeführerin sieht die von ihr angestrebte Tätigkeit als
selbstständige
Prostitution an. Nach ihrer Ansicht zeige sich dies namentlich anhand der Benutzungsvereinbarung, welche sie mit dem Club C.B. abgeschlossen habe. Aus dieser gehe hervor, dass ihr für ein Entgelt von Fr. 90.- täglich "selbstständig und auf freiwilliger Basis und
BGE 140 II 460 S. 469
ohne jeglichen Zwang die Infrastruktur des Clubs" zur Verfügung gestellt werde. Der Club C.B. garantiere ihr weder, dass sie Kunden bedienen könne, noch schreibe er ihr vor, zu welchen Preisen sie Dienstleistungen anbietet oder wie lange sie sich in dessen Räumlichkeiten aufzuhalten habe. Sie sei demnach vom Club
unabhängig
erwerbstätig. Dass sie selbst nach aussen kaum in Erscheinung trete, liege am durch sie ausgeübten Beruf und sei kein Hinweis auf eine unselbstständige Tätigkeit.
4.3
Gestützt auf die vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen, die von der Beschwerdeführerin nicht substanziiert bestritten werden, durfte das Kantonsgericht - entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin - von einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit ausgehen:
4.3.1
Zwar trifft es zu, dass zahlreiche selbstständig Erwerbende mit der Situation konfrontiert sind, dass sie ihre Tätigkeit in Räumen ausüben, über welche einer anderen Person das Hausrecht zusteht. Auch können Prostituierte, die etwa eigenständig eine Räumlichkeit mieten oder Freier in einer Bar treffen, gleich wie Ärzte oder Anwälte als selbstständig Erwerbende gelten (vgl. Urteil des EuGH
Jany und andere
, Randnr. 56 ff.). Demgegenüber gestaltet sich die Erwerbstätigkeit vorliegend trotz der zur Verfügung gestellten Infrastruktur nicht entsprechend unabhängig: Die Beschwerdeführerin ist im Rahmen der Benutzungsverordnung an die Weisungen des Club C.B. gebunden. Gemäss den vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen entscheidet der Club C.B. darüber, wer als Prostituierte im Salon arbeitet. Er wählt die Interessentinnen zum einzigen Zweck aus, dass sie in den Räumlichkeiten des Clubs als Prostituierte tätig sind (vgl. bereits den Sachverhalt in Urteil 6B_412/2009 vom 24. August 2009 E. 1.3.4). Der Club C.B. kann demnach die Prostituierten auswählen und über den verlangten Tageseintritt die Anwesenheit der Prostituierten
steuern
.
Nach den vorinstanzlichen Feststellungen erfolgt eine gewisse
Eingliederung
in den Club C.B. auch dahin gehend, dass die Prostituierten auf der Homepage des Clubs C.B. vorgestellt werden und abrufbar ist, wer am jeweiligen Tag im Club C.B. anzutreffen sei. So kann beispielsweise eine Kontaktaufnahme nur über die Homepage des Clubs bzw. erst nach Betreten desselben erfolgen. Ein direkter Kontakt zwischen potenziellen Kunden und der Beschwerdeführerin ist nicht möglich, sondern erfolgt vielmehr über die Vermittlungstätigkeit des Clubs. Die Beschwerdeführerin ist zur Erzielung ihres Erwerbseinkommens auf die Kundschaft im Club C.B. angewiesen,
BGE 140 II 460 S. 470
was zu einem gewissen Abhängigkeitsverhältnis gegenüber dem Club führt. Sodann tritt
nach aussen
nicht die Beschwerdeführerin, sondern vielmehr der Club C.B. in Erscheinung, der im Übrigen dem Amt für Migration auch das die Beschwerdeführerin betreffende Gesuch eingereicht hat. Nach den vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen finden sich sodann auf der Homepage Hinweise auf Tarife und Sonderangebote. Dies durfte die Vorinstanz als weiteres Indiz werten, dass bei solchen Anlässen entsprechend viele Arbeiterinnen anwesend sind bzw. dass die Beschwerdeführerin und andere Frauen die Arbeitsbedingungen und ihre Anwesenheit nicht völlig frei selbst bestimmen können.
Gerade mit Blick auf die kurze Dauer der beantragten Erwerbstätigkeit erscheinen die Vorbringen der Beschwerdeführerin wenig realistisch,sie sei gegenüber dem Club völlig unabhängig, könne jederzeit an einen anderen Ort ausweichen und es bestünden daher für sie zahlreiche Alternativen zum Club C.B.; jedenfalls belegt die Beschwerdeführerin eine beabsichtigte Erwerbstätigkeit auch andernorts nicht. Aufgrund der festgestellten organisatorischen Abhängigkeit kann für die beabsichtigte Tätigkeit - selbst wenn die Beschwerdeführerin das Entgelt der Freier vollumfänglich selbst beziehen sollte - auch auf eine hinreichende
wirtschaftliche
Abhängigkeit vom Club C.B. geschlossen werden.
4.3.2
Die Frage der (mehrwert-)steuerrechtlichen Behandlung in Clubs tätiger Prostituierter hat sich dem Bundesgericht bereits verschiedentlich gestellt. Bei Sachverhalten, in denen eine direkte Kontaktnahme der Prostituierten ohne Zuhilfenahme des Clubs mit dem Kunden nicht vorgesehen war, mithin eine arbeitsorganisatorische Abhängigkeit zum Club besteht, waren die Einnahmen mehrwertsteuerrechtlich dem Club anzurechnen und die im Club tätigen Frauen in dieser Hinsicht als unselbstständig erwerbstätig zu betrachten (Urteile 2C_261/2012 und 2C_262/2012 vom 23. Juli 2012 E. 4.3; 6B_39/2011 vom 10. Juni 2011 E. 1.4.3; 2C_426/2008 / 2C_432/2008 vom 18. Februar 2009 E. 2 und 4.4; 2C_430/2008 vom 18. Februar 2009 E. 4.2 und 4.4; 2C_518/2007 / 2C_519/2007 vom 11. März 2008 E. 3). Gemäss den vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen rechnet der Club C.B. für die in den Räumlichkeiten tätigen Prostituierten sodann die Quellensteuer und die Sozialversicherungsbeiträge selbst ab. In sozialversicherungsrechtlicher Sicht werden demnach die Prostituierten vom Club als unselbstständig Erwerbstätige angesehen (vgl. dazu die Urteile 9C_347/2013 vom 3. Juli 2013 E. 5.3; 9C_246/2011
BGE 140 II 460 S. 471
vom 22. November 2011 E. 3, 5.2 und 6.6). Vor dem Hintergrund der angeführten Rechtsprechung ist dies im Rahmen der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit im FZA als weiteres Indiz zu werten, dass die Beschwerdeführerin eine unselbstständige Erwerbstätigkeit anstrebt (vgl. Art. 1 lit. a der Verordnung (EG) 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. L 166 vom 30. April 2004 S. 1 [SR 0.831.109.268.1]; bzw. bis Ende März 2012 Art. 1 lit. a Ziff. i der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 [...] [AS 2004 121, 2008 4219 4273, 2009 4831]) in Verbindung mit Anhang II des FZA).
4.3.3
Das Bundesgericht hat sich zur Frage, ob ausländische Prostituierte in Clubs einer unselbstständigen oder selbstständigen Erwerbstätigkeit nachgehen, auch im Kontext der Strafbestimmungen zur Ausländergesetzgebung bereits geäussert. Es hielt fest,
Art. 117 Abs. 1 AuG
("Beschäftigung von Ausländerinnen und Ausländern ohne Bewilligung") sei nicht nur auf einen Arbeitgeber im zivilrechtlichen Sinne anwendbar (
Art. 319 ff. OR
), der gegenüber Arbeitnehmern weisungsbefugt sei (
Art. 321d OR
; Urteil 6B_1112/2013 vom 20. März 2014 E. 3.3; vgl. auch
BGE 137 IV 159
E. 1.4 S. 162 ff. und E. 1.5.2 S. 165 f.;
BGE 128 IV 170
E. 4.1 und 4.2 S. 174 ff.). Vielmehr sei der Anwendungsbereich der Bestimmung mit Rücksicht auf deren Sinn und Zweck weit zu fassen (vgl. auch Urteile 6B_329/2012 vom 12. November 2012 E. 2.4; 6B_412/2009 vom 24. August 2009 E. 1.3.3; ANDREAS ZÜND, in: Migrationsrecht, Spescha/Thür/Zünd [Hrsg.], 3. Aufl. 2012, N. 1 zu
Art. 117 AuG
). Aus dem weiten faktischen Arbeitgeberbegriff in
Art. 117 AuG
lässt sich, wie die Vorinstanz zurecht erwog, nicht im Umkehrschluss ableiten, dass es sich bei den Beschäftigten zwingend um unselbstständige Erwerbstätige handelt (vgl. Urteil 6B_329/2012 vom 12. November 2012 E. 2.4). Gleichwohl hat das Bundesgericht auch unter strafrechtlichen Gesichtspunkten festgestellt, dass Frauen auch dann als unselbstständig Beschäftigte im Sinne der Ausländergesetzgebung gelten, wenn sie selbst bestimmen, wann und wie lange sie im sog. Massagesalon arbeiteten, wie viele und welche Kunden sie akzeptierten und welche Dienstleistungen sie diesen anboten. Unerheblich sei hierbei, ob der Club oder dessen Geschäftsführer den Frauen keinerlei Weisungen betreffend die Arbeitszeit, die Anzahl der zu bedienenden Kunden, die Art der zu erbringenden Dienstleistungen etc. erteilte und die Frauen darüber selbst bestimmen konnten. Eine solche
BGE 140 II 460 S. 472
weitgehende Weisungsbefugnis, bei deren Ausübung der Club im Übrigen Gefahr liefe, wegen Förderung der Prostitution (
Art. 195 lit. c StGB
) verfolgt zu werden, sei zur Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses beziehungsweise der Arbeitgeberstellung im Sinne der Ausländergesetzgebung nicht erforderlich (siehe
BGE 137 IV 159
E. 1.4.4 S. 164 f.;
BGE 128 IV 170
E. 4.2 S. 175 f. mit Hinweisen; Urteil 6B_412/2009 vom 24. August 2009 E. 1.3.4).
4.4
Gestützt auf die umfassenden, von der Beschwerdeführerin nicht substanziiert gerügten Sachverhaltsfeststellungen zu den Rahmenbedingungen der Arbeit (Entscheid über den Stellenantritt, zur Verfügung gestellte Infrastruktur, Homepage des Clubs, Kontakt mit den Freiern) geht die Vorinstanz in zutreffender Weise von einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit aus. Die Beschwerdeführerin bringt auch nicht vor, sie beabsichtige, die Erwerbstätigkeit in einer anderen Form, etwa grenzüberschreitend, auszuüben. Das Kantonsgericht hat demnach weder Bundes- noch Freizügigkeitsrechte verletzt, wenn es einen Nachweis einforderte, dass für die betreffende Erwebstätigkeit keine inländischen Arbeitnehmer gefunden werden konnten, und einen Anspruch der Beschwerdeführerin auf Erteilung einer selbstständigen Erwerbstätigkeit gestützt auf das FZA zum gegenwärtigen Zeitpunkt verneinte. | de |
863b2001-bc1f-46ad-a36b-2765dacc5e7d | Sachverhalt
ab Seite 353
BGE 133 III 353 S. 353
Die mit bezirksärztlicher Verfügung in die psychiatrische Klinik eingewiesene X. stellte ein Entlassungsgesuch, welches die ärztliche Leitung der Klinik abwies. Darauf wandte sie sich mit anwaltlicher Vertretung an das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau und verlangte im Wesentlichen die sofortige Entlassung, ohne dies im Einzelnen materiell zu begründen.
Am 23. April 2007 verfügte das Verwaltungsgericht, dass ein Beschwerdeverfahren nur durchgeführt werde, wenn innert der Beschwerdefrist eine gültige Verwaltungsgerichtsbeschwerde
BGE 133 III 353 S. 354
eingereicht werde; bei anwaltlicher Vertretung müsse die Beschwerdeschrift eine Begründung enthalten, wie dies § 39 Abs. 2 VRPG/AG fordere.
Dagegen hat X. Beschwerde eingereicht, die vom Bundesgericht gutgeheissen wird. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Vorliegend geht es einzig um die Frage, ob das Eintreten auf eine Eingabe, mit der im Sinn von
Art. 397d ZGB
das Gericht angerufen wird, von einer materiellen Begründung abhängig gemacht werden darf, wenn die betroffene Person anwaltlich vertreten ist. Die Beschwerdeführerin verneint dies und rügt eine Verletzung von
Art. 397d und 397f ZGB
, ferner von
Art. 31 Abs. 4 BV
und
Art. 5 Ziff. 4 EMRK
.
2.1
Die von der fürsorgerischen Freiheitsentziehung (FFE) betroffene oder eine ihr nahestehende Person kann gegen den Entscheid über die Unterbringung oder Zurückbehaltung in einer Anstalt innert zehn Tagen "schriftlich das Gericht anrufen" (
Art. 397d Abs. 1 ZGB
). Entsprechende Begehren sind unverzüglich an das zuständige Gericht weiterzuleiten (
Art. 397e Ziff. 3 ZGB
).
Die gerichtliche Beurteilung setzt ein schriftliches Begehren voraus, das die Formerfordernisse von
Art. 13 ff. OR
erfüllen muss. Es ist unterschriftlich zu bezeugen, dass gerichtliche Beurteilung verlangt wird. Indes ist weder ein formeller Antrag noch eine Begründung erforderlich. Diese bundesrechtlichen Formvorschriften sind abschliessend; die Kantone dürfen weder sie verschärfen noch ein mündliches Begehren genügen lassen (Urteil 1P.793/1991 vom 12. Dezember 1991, E. 4b, publ. in: EuGRZ 1991 S. 526 ff.; GEISER, Basler Kommentar, N. 16 zu
Art. 397d ZGB
; SPIRIG, Berner Kommentar, N. 51 und 54 zu
Art. 397d ZGB
, N. 22 zu
Art. 397f ZGB
; IMHOF, Der formelle Rechtsschutz, insbesondere die gerichtliche Beurteilung, bei der fürsorgerischen Freiheitsentziehung, Diss. Freiburg 1999, S. 149 f. und 152; SCHERWEY, Das Verfahren bei der vorsorglichen fürsorgerischen Freiheitsentziehung, Diss. Basel 2004, S. 42; GEISER, Was haben die Bestimmungen über die fürsorgerische Freiheitsentziehung gebracht?, in: Patient - Patientenrecht, Genf 1984, S. 188).
2.2
Die bundesrechtlich vorgegebenen Formerfordernisse sind bewusst niedrig gehalten und sachlich gerechtfertigt: Zum einen darf
BGE 133 III 353 S. 355
die Anrufung des Richters angesichts der Schwere des Eingriffs und der häufigen Unbeholfenheit der davon Betroffenen nicht an formellen Hindernissen scheitern. Zum anderen zeigt die Erfahrung, dass Einweisungs- wie auch abweisende Entlassungsverfügungen oft kaum begründet sind, was eine materiell begründete Anfechtung in vielen Fällen verunmöglichen oder jedenfalls unverhältnismässig erschweren würde. Der Betroffene kann und darf sich darauf beschränken, den Richter mit einem schriftlichen Ersuchen um Beurteilung anzurufen. Es ist sodann Sache des zuständigen Gerichts, sich durch Beizug der einschlägigen Akten sowie persönliche Anhörung des Betroffenen und gegebenenfalls auch der involvierten Behörden die notwendigen Entscheidgrundlagen zu verschaffen.
2.3
Verbietet das Bundesrecht den Kantonen, weitere Formerfordernisse aufzustellen, gilt dies einerseits auch bei anwaltlicher Vertretung, darf doch der von FFE-Massnahmen Betroffene nicht allein aus diesem Grund schlechter gestellt werden, und stösst andererseits der Verweis auf die in § 39 Abs. 2 VRPG/AG vorgeschriebene Begründungserfordernis von vornherein ins Leere. Der Vollständigkeit halber sei in diesem Zusammenhang immerhin festgehalten, dass
Art. 397f Abs. 3 ZGB
zwingend die mündliche Einvernahme der betroffenen Person vorschreibt und damit das FFE-Verfahren im Unterschied zum verwaltungsrechtlichen bzw. -gerichtlichen Standardverfahren, das § 39 Abs. 2 VRPG/AG im Auge hat, mündlich ist, womit die Begründung an der Verhandlung vorgetragen werden kann; überdies ist es der Sache nach ein erstinstanzliches Verfahren, auch wenn es im Kanton Aargau formell als Beschwerdeverfahren ausgestaltet ist. Sodann kann die anwaltliche Verbeiständung mit Blick auf die mündliche Verhandlung ungeachtet der fehlenden Begründungserfordernis Sinn machen; aus eben diesem Grund ist die allfällige Bestellung eines Rechtsanwaltes in
Art. 397f Abs. 2 ZGB
explizit erwähnt. | de |
24147a6f-8a7c-4fd0-b2e0-7f49a18ec0a1 | Sachverhalt
ab Seite 106
BGE 124 IV 106 S. 106
A.-
K. erstand anfangs August 1996 in Amsterdam drei Videokassetten, die sexuelle Handlungen mit Tieren und Gewalttätigkeiten zum Inhalt haben. Die Kassetten sandte er zusammen mit 30 g Marihuana und 30 g Haschisch auf dem Postweg an seine Adresse in der Schweiz. Die Postsendung wurde durch das Zollamt Genf abgefangen.
BGE 124 IV 106 S. 107
B.-
Am 8. Januar 1997 verurteilte der Amtsgerichtspräsident von Solothurn-Lebern K. wegen mehrfacher Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz (Konsum von Haschisch und Einfuhr von Haschisch und Marihuana zum Eigenkonsum) und Einfuhr von Pornographie zu 5 Tagen Haft bedingt und zu einer Busse von 300 Franken. Im weiteren ordnete er die Einziehung und Vernichtung der sichergestellten Videokassetten und Betäubungsmittel an.
Auf Appellation der Staatsanwaltschaft, die sich einzig gegen den Schuldspruch wegen Einfuhr von Pornographie richtete, stellte das Obergericht des Kantons Solothurn mit Urteil vom 10. September 1997 den Eintritt der teilweisen Rechtskraft in bezug auf die unangefochtenen Punkte des Urteilsdispositivs fest; im übrigen sprach es K. der Pornographie schuldig und verurteilte ihn zu 5 Tagen Haft, unter Gewährung des bedingten Strafvollzuges, sowie zu einer Busse von 300 Franken.
C.-
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn erhebt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das angefochtene Urteil aufzuheben, soweit K. der Pornographie schuldig gesprochen wurde, und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Das Obergericht des Kantons Solothurn beantragt die Abweisung der Beschwerde.
Das Bundesgericht hat die Nichtigkeitsbeschwerde abgewiesen. Erwägungen
Erwägungen:
1.
Der öffentliche Ankläger des Kantons (
Art. 270 Abs. 1 BStP
) hat öffentliche Interessen zu wahren. Verletzt seiner Meinung nach der angefochtene Entscheid Bundesrecht, ist er durch diesen beschwert und ohne Rücksicht auf seine Stellungnahme vor der kantonalen Instanz zur eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde sowohl zu Ungunsten als auch zu Gunsten eines Angeklagten legitimiert (
BGE 72 IV 163
; Erhard Schweri, Eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde in Strafsachen, Bern 1993, Rz. 229). Voraussetzung ist indessen stets, dass ein rechtlich geschütztes Interesse an der materiellen Überprüfung des letztinstanzlichen kantonalen Entscheides besteht (SCHWERI, a.a.O., ebd.). Diese Legitimationsvoraussetzung ist im vorliegenden Fall erfüllt, in welchem die beschwerdeführende Staatsanwaltschaft die Aufhebung des angefochtenen Entscheids im Schuldpunkt der Einfuhr harter Pornographie und die Rückweisung der Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz beantragt.
BGE 124 IV 106 S. 108
2.
Gemäss Art. 197 Ziff. 3 i.V.m. Ziff. 1 StGB wird mit Gefängnis oder mit Busse bestraft, wer pornographische Schriften, Ton- oder Bildaufnahmen, Abbildungen, andere Gegenstände solcher Art oder pornographische Vorführungen, die sexuelle Handlungen mit Kindern oder mit Tieren, menschlichen Ausscheidungen oder Gewalttätigkeiten zum Inhalt haben, herstellt, einführt, lagert, in Verkehr bringt, anpreist, ausstellt, anbietet, zeigt, überlässt oder zugänglich macht.
a) Nach Auffassung der Vorinstanz ist vorliegend der Straftatbestand der Einfuhr von pornographischen Bildaufnahmen, die sexuelle Handlungen mit Tieren und Gewalttätigkeiten zeigen, erfüllt. Im Katalog der in
Art. 197 Ziff. 3 StGB
aufgezählten Tathandlungen seien der Erwerb und der Besitz nicht enthalten. Daraus ergebe sich, dass der blosse Erwerb und Besitz harter Pornographie zum Eigenkonsum straflos seien. Bei den vom Gesetz aufgezählten Tathandlungen fehle ein die Strafbarkeit einschränkendes Tatbestandsmerkmal wie etwa das Handeln mit Verbreitungsabsicht. Der Wortlaut von
Art. 197 Ziff. 3 StGB
sei somit insoweit klar, als die Strafbarkeit der dort genannten Täterhandlungen grundsätzlich auch Verhaltensweisen umfasse, die ausschliesslich dem Eigenkonsum dienten. Aus der Entstehungsgeschichte der Norm ergebe sich weiter, dass der Wortlaut der Bestimmung deren wahren Sinn wiedergebe. Es sei keineswegs ein Zufall oder ein Versehen, dass
Art. 197 Ziff. 3 StGB
bezüglich der Einfuhr harter Pornographie keine Verbreitungsabsicht fordere. Dieser Straftatbestand sei bewusst als abstraktes Gefährdungsdelikt ausgestaltet worden. Die Intention des Gesetzgebers sei eindeutig dahin gegangen, die Schweiz soweit als möglich von solchen Erzeugnissen freizuhalten und, wie während den Beratungen in den eidgenössischen Räten mehrmals betont worden sei, diese schon an der Grenze aus dem Verkehr zu ziehen. So erkläre sich denn auch die auf den ersten Blick befremdliche Konsequenz, dass sich strafbar mache, wer harte Pornographie aus dem Ausland zum Eigenkonsum in die Schweiz bringe, hingegen straflos bleibe, wer solche Produkte in der Schweiz für denselben Zweck erwerbe; denn die Einfuhr auch ohne Verbreitungsabsicht erhöhe die abstrakte Gefahr, dass harte Pornographie auf den schweizerischen Markt gelange. Diejenigen Stimmen, welche eine Einschränkung der Strafbarkeit für sinnvoller hielten, seien mit ihrer Auffassung in den Räten nicht durchgedrungen. Zusammenfassend ergebe sich, dass auch die Einfuhr harter Pornographie mit der Absicht, sie für sich allein zu konsumieren, strafbar sei.
BGE 124 IV 106 S. 109
b) Die Beschwerdeführerin macht geltend, die Vorinstanz habe
Art. 197 Ziff. 3 StGB
bundesrechtswidrig ausgelegt. Der dort enthaltene Katalog von Tathandlungen sei abschliessend. Der von der Norm nicht erwähnte Erwerb und Besitz zum Eigenkonsum seien mithin straflos. Daraus ergebe sich weiter, dass der Gesetzgeber gerade kein absolutes Verbot der harten Pornographie habe festlegen wollen. Es gehe im Lichte von
Art. 1 StGB
deshalb nicht an, den straflosen Erwerb und Besitz harter Pornographie zum Eigenkonsum auf dem Umweg über die Einfuhr doch noch zu bestrafen. Wohl treffe es zu, dass
Art. 197 Ziff. 3 StGB
die Einfuhr harter Pornographie verbiete, ohne die Strafbarkeit ausdrücklich auf den Fall zu beschränken, dass sie in der Absicht der Weiterverbreitung erfolge. Eine ausdrückliche Nennung der Verbreitungsabsicht als Strafbarkeitsvoraussetzung sei indes gar nicht nötig, weil alle Täterhandlungen derart ausschliesslich die Angebotsseite beschlagen würden, dass bereits die Aufzählung selbst eine ausdehnende Anwendung auf den reinen Konsumenten verbieten würde. Diese Auffassung werde von der Doktrin einhellig geteilt.
3.
a) Das Gesetz muss in erster Linie aus sich selbst heraus, das heisst nach Wortlaut, Sinn und Zweck und den ihm zugrunde liegenden Wertungen auf der Basis einer teleologischen Verständnismethode ausgelegt werden. Die Gesetzesauslegung hat sich vom Gedanken leiten zu lassen, dass nicht schon der Wortlaut die Rechtsnorm darstellt, sondern erst das an Sachverhalten verstandene und konkretisierte Gesetz. Gefordert ist die sachlich richtige Entscheidung im normativen Gefüge, ausgerichtet auf ein befriedigendes Ergebnis aus der ratio legis. Dabei befolgt das Bundesgericht einen pragmatischen Methodenpluralismus und lehnt es namentlich ab, die einzelnen Auslegungselemente einer hierarchischen Prioritätsordnung zu unterstellen (ausführlich dazu
BGE 121 III 219
, insbesondere E. 1d/aa).
b) Fraglich ist zunächst, ob
Art. 197 Ziff. 3 StGB
in dem Sinne ein absolutes Verbot der harten Pornographie aufstellt, als auch der Erwerb und der Besitz solcher Erzeugnisse davon erfasst sind. Darauf scheint zunächst das vom Gesetzgeber mit der Strafnorm verfolgte Ziel des Jugendschutzes hinzudeuten, der es erfordere, "die harte Pornographie vollständig zu verbieten" (AB 1990 N 2331). Bereits die Botschaft des Bundesrates hatte die Bedeutung von
Art. 197 Ziff. 3 StGB
wie folgt zusammengefasst: "Ziffer 3 sieht ein absolutes Verbot der harten Pornographie vor" (Botschaft über die Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes [Strafbare Handlungen gegen Leib und Leben, gegen die
BGE 124 IV 106 S. 110
Sittlichkeit und gegen die Familie] vom 26. Juni 1985, BBl 1985 II 1091). Dementsprechend ist in den eidgenössischen Räten vorgebracht worden, schon das "Aufbewahren" harter Pornographie könne jugendgefährdend sein (AB 1987 S 402). Gestützt auf den Gesetzeswortlaut liesse sich sodann argumentieren, derjenige, der harte Pornographie besitze, "lagere" solches Material im Sinne von
Art. 197 Ziff. 3 StGB
. Einer derart extensiven Auslegung steht indessen entgegen, dass der Bundesrat in bezug auf die wortgleiche Umschreibung des verbotenen Verhaltens in
Art. 135 StGB
gegenüber den Räten ausdrücklich festgehalten hat, der blosse Besitz ohne Verbreitungsabsicht stelle kein "Lagern" im Sinne der Norm dar (Votum von Bundesrat Arnold Koller zu
Art. 135 StGB
, AB 1989 S 296, 299; in diesem Sinne neuerdings auch die Rechtskommission des Nationalrats in ihrer Stellungnahme zur parlamentarischen Initiative von Felten [Einführung der Strafbarkeit des Besitzes und Konsums von Kinderpornographie], AB 1996 N 910 f.). Auch nennt das Gesetz im detaillierten Katalog strafbarer Tathandlungen den Erwerb, den Besitz und den Konsum - anders als etwa Art. 19 des Bundesgesetzes über die Betäubungsmittel (BetmG; SR 812.121) bei den Drogen - gerade nicht. Insofern ist die in
Art. 197 Ziff. 3 StGB
enthaltene Aufzählung strafbarer Verhaltensweisen als abschliessend anzusehen (Botschaft, a.a.O.,1091; GUIDO JENNY, in MARTIN SCHUBARTH/GUIDO JENNY/PETER ALBRECHT, Kommentar zum Schweizerischen Strafrecht, Besonderer Teil, 4. Band: Delikte gegen die sexuelle Integrität und gegen die Familie, Bern 1997, Art. 197 N. 5). Auf dieser Grundlage vertritt das Schrifttum zu Recht die Auffassung, der Erwerb und Besitz harter Pornographie zum eigenen Konsum seien nach geltendem Recht straflos (URSULA CASSANI, Les représentations illicites du sexe et de la violence, ZStrR 111/1993, S. 439; JENNY, a.a.O., Art. 197 N. 5 und 23; FRANZ RIKLIN, Information Highway und Strafrecht, in RETO M. HILTY (Hrsg.), Information Highway, Bern 1996, S. 591 Fn. 126; GÜNTER STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil I, 5. Aufl. Bern 1995, § 10 N. 16; STEFAN TRECHSEL, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Kurzkommentar, 2. Aufl. 1997, Art. 197 N. 14; PHILIPPE WEISSENBERGER, Strafwürdiger Besitz von Kinderpornographie?, Zu den geplanten Gesetzesrevisionen im Bereich der harten Pornographie, AJP 3/98, S. 311 f.). In den eidgenössischen Räten wurde im Rahmen der jüngsten Diskussion um eine Verschärfung des Pornographieverbots die gleiche Auffassung zum Ausdruck gebracht (AB 1996 N 910; AB 1997 S 148 ff.).
BGE 124 IV 106 S. 111
c) Nach der im Schrifttum vorherrschenden Auffassung ergibt sich aus der Straflosigkeit des Erwerbs und Besitzens harter Pornographie zum eigenen Konsum, dass auch das Herstellen und Einführen solcher Erzeugnisse zu diesem Zweck straflos bleiben müssten (CASSANI, ZStrR 111/1993, ebd.; dies., La responsabilité pénale du consommateur de pornographie enfantine, Medialex 1/98, S. 31; JENNY, a.a.O., Art. 197 N. 23; TRECHSEL, a.a.O., ebd.; unbestimmt STRATENWERTH, a.a.O., ebd.; a.M. WEISSENBERGER, a.a.O., S. 312 Fn. 9). Dieser überwiegend vertretenen Auffassung kann nicht gefolgt werden.
aa) Gemäss der Botschaft des Bundesrates dient die Vorschrift des
Art. 197 Ziff. 3 StGB
"in erster Linie einem vorbeugenden Jugendschutz" (Botschaft, BBl 1985 II 1091). Auch in der parlamentarischen Diskussion wurde der Gedanke des Jugendschutzes hervorgehoben (AB 1987 S 402; AB 1990 N 2331). Darin kommt die Befürchtung zum Ausdruck, die (gewollte oder unfreiwillige) Konfrontation mit den in
Art. 197 Ziff. 3 StGB
genannten Spielarten sexualbezogener Vorgänge oder Darstellungen könne die psychische und moralische Entwicklung junger Menschen nachteilig beeinflussen (JENNY, a.a.O., Art. 197 N. 23; STRATENWERTH, a.a.O., ebd.; TRECHSEL, a.a.O., Art. 197 N. 2; WEISSENBERGER, a.a.O., S. 312; kritisch aber CASSANI, ZStrR 111/1993, S. 437 f.). Als zentrales Rechtsgut dieser Vorschrift erscheint somit die ungestörte sexuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Insofern handelt es sich bei
Art. 197 Ziff. 3 StGB
um ein abstraktes Gefährdungsdelikt (Botschaft, a.a.O., 1089).
Als weiteren Gesichtspunkt nennt die Botschaft den Schutz der Erwachsenen, ohne freilich näher zu bestimmen, vor welchen Gefahren diese bewahrt werden sollen (Botschaft, BBl 1985 II 1091). Man wird - neben dem Gesichtspunkt des Schutzes vor ungewollter Konfrontation mit solchen Erzeugnissen - diesbezüglich auf den Gedanken abstellen müssen, den die Botschaft im Zusammenhang mit dem Tatbestand der Gewaltdarstellungen im Sinne von
Art. 135 StGB
- der mit
Art. 197 StGB
eng verwandt ist - formuliert hat: Dass Gewaltanwendungen auf den Betrachter korrumpierend wirken könnten, d.h. an sich geeignet sind, beim Konsumenten die Bereitschaft zu erhöhen, selbst gewalttätig zu agieren oder doch die Gewalttätigkeit anderer gleichgültig hinzunehmen (Botschaft, BBl 1985 II 1047 f.; STRATENWERTH, a.a.O., § 4 N. 84; WEISSENBERGER, a.a.O., S. 312 f.; im gleichen Sinne JÖRG REHBERG/NIKLAUS SCHMID, Strafrecht III, 7. Aufl. Zürich 1997, S. 419 § 60 Ziff. 4). Dies bedeutet
BGE 124 IV 106 S. 112
für den Tatbestand des
Art. 197 Ziff. 3 StGB
, dass die von dieser Vorschrift erfassten Tatobjekte auch wegen ihrer inhärenten Schädlichkeit im Sinne eines von ihnen wissenschaftlich nicht ausschliessbaren kriminogenen und ethisch desintegrierenden Einflusses auf die erwachsenen Konsumenten verboten sind. Dem Verbot der harten Pornographie liegt mit anderen Worten auch die Prämisse zugrunde, dass die im Gesetz genannten Darstellungen und Vorführungen beim Verbraucher u.a. die Bereitschaft erhöhen können, das Geschehen selbst nachzuahmen. In diesem Sinne will
Art. 197 Ziff. 3 StGB
insbesondere auch die potentiellen "Darsteller" harter Pornographie vor sexueller Ausbeutung, Gewalt und erniedrigender bzw. menschenunwürdiger Behandlung bewahren (WEISSENBERGER, a.a.O., S. 313; dahingehend [zu Art. 135] auch RIKLIN, Sinn und Problematik einer "Brutalonorm" im Strafgesetzbuch, in PETER GAUCH [Hrsg.], Das Menschenbild im Recht, Freiburg 1990, S. 421; a.M. CASSANI, Medialex 1/98, S. 27 und TRECHSEL, a.a.O., Art. 135 N. 2). Auch insofern geht es letzten Endes in jedem Fall um eine aus dem Konsum harter Pornographie sich ergebende abstrakte Rechtsgutsgefährdung (STRATENWERTH, a.a.O., § 4 N. 84 zu Art. 135).
bb) Wie die Beschwerdeführerin an sich zu Recht ausführt, stellt
Art. 197 Ziff. 3 StGB
Tathandlungen unter Strafe, von denen die Gefahr der Weiterverbreitung ausgehen kann ("herstellt, einführt"), oder die auf eine Verbreitung harter Pornographie ausgerichtet sind ("lagert, in Verkehr bringt, anpreist, ausstellt, anbietet, zeigt, überlässt oder zugänglich macht"). Wie erwähnt, hat der Bundesrat im Rahmen der Beratungen im Sinne einer authentischen Interpretation ausgeführt, der blosse Besitz ohne Verbreitungsabsicht stelle kein "Lagern" im Sinne von
Art. 135 Abs. 1 und 197 Ziff. 3 StGB
dar. Daraus lässt sich indessen nicht ableiten, die Verbreitungsabsicht sei (auch) für die Tathandlungen des Herstellens und des Einführens ein subjektives Tatbestandsmerkmal. Denn der bundesrätliche Entwurf hat das im Vorentwurf noch enthaltene Erfordernis der Verbreitungsabsicht gerade gestrichen (dazu STRATENWERTH, a.a.O., § 10 N. 16). Ferner sind in den Räten Vorstösse gescheitert, die bei
Art. 135 StGB
einschränkend stets ein Verhalten fordern wollten, mit dem eine Verbreitungsgefahr oder doch die Gefahr verbunden ist, dass Jugendliche "Brutalos" zu Gesicht bekommen könnten, und zwar mit dem Argument, dass solchen Gefahren nur ein generelles Verbot wirksam begegnen könne (AB 1987 S 370 f.; STRATENWERTH, a.a.O., § 4 N. 98). Aus der Entstehungsgeschichte der
Art. 197 Ziff. 3
BGE 124 IV 106 S. 113
und 135 StGB
geht im weiteren hervor, dass der Gesetzgeber die Einfuhr der dort genannten Erzeugnisse in die Schweiz losgelöst von den Absichten des Täters unter Strafe stellen wollte, um damit die Grundlage für ein umfassendes Beschlagnahmen der Gegenstände zu schaffen. Auf diese Weise sollten legale Umgehungsmöglichkeiten - wie etwa der Einwand der Einfuhr zum Eigenkonsum - ausgeschlossen werden (dahingehend Botschaft, BBl 1985 II 1091, und AB 1987 S 370 f.).
Wie sich aus den vorstehenden Ausführungen und den oben dargelegten Schutzzwecken der Norm ersehen lässt, sind die Herstellung und die Einfuhr harter Pornographie nicht ausschliesslich deshalb strafbar, weil sie Vorbereitungshandlungen zur Verbreitung der Erzeugnisse sein können. Vielmehr begründet auch derjenige, der ausschliesslich im Hinblick auf seinen eigenen Konsum harte Pornographie herstellt oder einführt, jedenfalls eine abstrakte Rechtsgutsgefährdung im oben (E. 3c/aa) umschriebenen Sinne. Gerade auch der vom Gesetzgeber hervorgehobene Gedanke der potentiell korrumpierenden Wirkung solcher Erzeugnisse auf den Verbraucher steht dem Ansinnen entgegen, die Strafbarkeit der fraglichen Tathandlungen generell auf die Fälle einzuschränken, in denen der Täter mit - im übrigen unter Umständen nur schwer nachweisbarer - Verbreitungsabsicht gehandelt hat (ähnlich WEISSENBERGER, a.a.O., S. 312 Fn. 9).
cc) Im vorliegenden Fall hat K. Videokassetten, die sexuelle Handlungen mit Tieren und Gewalttätigkeiten zum Inhalt haben, auf dem Postweg in die Schweiz eingeführt. Auch wenn die postalische Beförderung harter Pornographie als grundsätzlich zuverlässige Beförderungsart anzusehen ist, steigt mit ihr - etwa im Vergleich zu ihrem Besitz oder Erwerb in der Schweiz - die Gefahr, dass die Erzeugnisse auf dem Weg zum Adressaten oder am Bestimmungsort in Hände gelangen, für welche sie nicht bestimmt waren, und dass auf diese Weise der Inhalt der Postsendung von Dritten zur Kenntnis genommen wird.
dd) Aus dem Gesagten ergibt sich, dass die Vorinstanz kein Bundesrecht verletzt hat, indem sie ausgehend vom Charakter des
Art. 197 Ziff. 3 StGB
als abstraktem Gefährdungsdelikt K. wegen Einfuhr harter Pornographie verurteilt hat.
Es ist zwar einzuräumen, dass es befremdlich erscheinen mag, wenn einerseits der Erwerb und Konsum harter Pornographie straflos sind, das Einführen solcher Erzeugnisse im Hinblick auf den Konsum jedoch strafbar bleibt. Der Gesetzgeber hat aber offenbar
BGE 124 IV 106 S. 114
bei Einfuhrhandlungen die Gefahr einer nicht beabsichtigten Weiterverbreitung der Erzeugnisse höher veranschlagt, als die aus dem blossen Besitz harter Pornographie im Inland sich ergebende abstrakte Gefahr, dass Dritte vom Inhalt der fraglichen Produkte Kenntnis nehmen könnten (vgl. Botschaft, BBl 1985 II 1091 und AB 1987 S 370 f.). Daran zeigt sich, dass der geltenden Regelung kein Versehen des Gesetzgebers zugrundeliegt.
4.
(Kostenfolgen) | de |
5ce01277-ce27-4178-968c-a8ec02dddb51 | Sachverhalt
ab Seite 49
BGE 147 IV 47 S. 49
A.
A. erhob am 26. Juni 2018 Strafklage gegen B. wegen des Verdachts auf Begehung von Ehrverletzungsdelikten. Sie wirft der Beanzeigten vor, anlässlich einer Schlichtungsverhandlung unter Mit- und Stockwerkeigentümern am 28. März 2018 gut vernehmbar über sie gesagt zu haben: "Die spinnt!".
Die Staatsanwaltschaft Höfe Einsiedeln stellte das Strafverfahren ein (Verfügung vom 13. September 2019).
Dagegen beschwerte sich A. beim Kantonsgericht Schwyz. Dieses wies die Beschwerde ab, soweit es auf das Rechtsmittel eintrat. Die kantonsgerichtlichen Kosten auferlegte es der Beschwerdeführerin. Es verpflichtete diese, die Beschuldigte für das Beschwerdeverfahren zu entschädigen (Beschluss vom 11. März 2020).
B.
A. führt Beschwerde in Strafsachen. Sie beantragt die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses. Das Strafverfahren sei weiterzuführen. Eventuell sei die Sache zur neuen Verlegung der Kosten an die Vorinstanz zurückzuweisen, subeventuell nur betreffend die Entschädigung.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
4.
4.1
Was die Verlegung der Kosten des kantonalen Verfahrens angeht, beanstandet die Beschwerdeführerin, die Vorinstanz habe es zu Unrecht abgelehnt, der Beschuldigten nach
Art. 426 Abs. 2 StPO
Verfahrenskosten aufzuerlegen.
Die Beschwerdeführerin hat bezüglich dieser Frage als Privatklägerschaft ein rechtlich geschütztes Interesse (
Art. 81 Abs. 1 lit. b BGG
). Denn der Kostenentscheid (vgl.
Art. 423-428 StPO
) präjudiziert die Entschädigungsfrage (vgl.
Art. 429-434 StPO
) dahin, dass bei Auferlegung der Kosten keine Entschädigung oder Genugtuung auszurichten ist (
BGE 145 IV 268
E. 1.2 S. 272;
BGE 144 IV 207
E. 1.8.2 S. 211;
BGE 137 IV 352
E. 2.4.2 S. 357). Ist die beschuldigte Person nach
Art. 426 Abs. 2 StPO
kostenpflichtig, führt dies denn auch zu einem Anspruch der Privatklägerschaft gegenüber der beschuldigten Person auf angemessene Entschädigung für notwendige Aufwendungen im Verfahren (
Art. 433 Abs. 1 lit. b StPO
; Urteil 6B_1258/2018 vom 24. Januar 2019 E. 3.3).
Im vorliegenden Fall entfällt eine solche Entschädigung, weil die Voraussetzungen für eine Kostentragung nach
Art. 426 Abs. 2 StPO
BGE 147 IV 47 S. 50
fehlen. Diese Bestimmung setzt voraus, dass die beschuldigte Person das eingestellte Verfahren rechtswidrig und schuldhaft veranlasst hat. Das (rechtsgenüglich nachgewiesene) Verhalten eines Angeschuldigten muss die Einleitung des Strafverfahrens gerechtfertigt haben (
BGE 144 IV 202
E. 2.2 S. 205). Es ist dann als widerrechtlich zu qualifizieren, wenn es klar gegen Normen der Rechtsordnung verstösst, die den Angeschuldigten direkt oder indirekt zu einem bestimmten Tun oder Unterlassen verpflichten (vgl.
Art. 41 Abs. 1 OR
;
BGE 116 Ia 162
E. 2a, 2c und 2d/bb; Urteil 6B_1314/2016 vom 10. Oktober 2018 E. 9.2, nicht publ. in:
BGE 145 IV 114
). Die Gründe, aus denen die inkriminierte Äusserung der Beschwerdegegnerin keinen Ehrverletzungstatbestand erfüllt, schliessen hier auch ein zivilrechtlich qualifiziert vorwerfbares Verhalten (vgl. Urteil 6B_1200/2017 vom 4. Juni 2018 E. 4.4) aus.
4.2
Die Beschwerdeführerin rügt, die Vorinstanz habe die der Beschuldigten zugesprochene Parteientschädigung zu Unrecht zu ihren Lasten (statt zu Lasten des Staats) verlegt.
4.2.1
Im Bereich der Antragsdelikte kann die Privatklägerschaft verpflichtet werden, der beschuldigten Person die Aufwendungen für die angemessene Ausübung ihrer Verfahrensrechte zu ersetzen, wenn die beschuldigte Person im Schuldpunkt obsiegt (
Art. 432 Abs. 2 StPO
). Diese Bestimmung gilt auch für die entsprechende Entschädigung im Rechtsmittelverfahren (
Art. 436 Abs. 1 StPO
).
4.2.2
Vorab ist auf unterschiedliche Formulierungen in den deutsch- und italienischsprachigen Versionen von
Art. 432 Abs. 2 StPO
einerseits und in der französischsprachigen Fassung anderseits hinzuweisen:
"Obsiegt die beschuldigte Person bei Antragsdelikten im Schuldpunkt, so können die antragstellende Person, sofern diese mutwillig oder grob fahrlässig die Einleitung des Verfahrens bewirkt oder dessen Durchführung erschwert hat, oder die Privatklägerschaft verpflichtet werden, der beschuldigten Person die Aufwendungen für die angemessene Ausübung ihrer Verfahrensrechte zu ersetzen";
"Se l'imputato viene giudicato non colpevole in un procedimento promosso a querela di parte, il querelante, qualora per condotta temeraria o negligenza grave abbia causato l'apertura del procedimento o ne abbia intralciato lo svolgimento, o l'accusatore privato possono essere tenuti a rimborsargli le spese sostenute ai fini di un adeguato esercizio dei suoi diritti procedurali";
"Lorsque le prévenu obtient gain de cause sur la question de sa culpabilité et que l'infraction est poursuivie sur plainte, la partie plaignante ou
BGE 147 IV 47 S. 51
le plaignant qui, ayant agi de manière téméraire ou par négligence grave, a entravé le bon déroulement de la procédure ou a rendu celle-ci plus difficile peut être tenu d'indemniser le prévenu pour les dépenses occasionnées par l'exercice raisonnable de ses droits de procédure".
Nach den deutsch- und italienischsprachigen Fassungen betrifft das Erfordernis eines mutwilligen oder grob fahrlässigen Verhaltens nur die (auf ihre Parteistellung verzichtende) antragstellende Person und nicht auch die Privatklägerschaft (zur begrifflichen Unterscheidung:
BGE 138 IV 248
E. 4.2.1 S. 252). Ihr Wortlaut ist diesbezüglich eindeutig. Die französischsprachige Version erfasst der Satzstellung nach anscheinend neben der antragstellenden Person auch die Privatklägerschaft. Sie lässt sich aber auch so verstehen, dass der Relativsatz, der das erwähnte Erfordernis umschreibt ("qui, ayant agi de manière téméraire ou par négligence grave, a entravé le bon déroulement de la procédure ou a rendu celle-ci plus difficile"), nur auf "le plaignant" ("antragstellende Person"; "querelante") - und nicht auch auf "la partie plaignante" ("Privatklägerschaft"; "accusatore privato") - bezogen ist, zumal die beiden Gruppen von Verfahrensbeteiligten ansonsten nicht in umgekehrter Reihenfolge genannt werden müssten. Unter diesen Umständen ist der eindeutige Wortlaut der deutsch- und italienischsprachigen Fassungen von
Art. 432 Abs. 2 StPO
massgebend. Die allfällige Entschädigungspflicht der Privatklägerschaft hängt mithin nicht von einem mutwilligen oder grobfahrlässigen Verhalten ab (anders wohl noch
BGE 141 IV 476
E. 1.1 S. 479). Das gleiche Verständnis liegt auch der Rechtsprechung zu
Art. 427 Abs. 2 StPO
zugrunde. Diese Bestimmung regelt die Verlegung der Verfahrenskosten bei Antragsdelikten parallel zu
Art. 432 Abs. 2 StPO
. Das Bundesgericht geht davon aus, dass die antragstellende Person, die als Privatklägerin am Verfahren teilnimmt, grundsätzlich auch das volle Kostenrisiko tragen soll, während diejenige Person, die nur Strafantrag stellt und sich als Privatklägerin zurückzieht, einzig bei trölerischem Verhalten kostenpflichtig wird (
BGE 138 IV 248
E. 4.2.2 und 4.2.3 S. 252 f. mit Hinweisen auf die Materialien der Gesetzgebung).
Aufgrund der parallelen Behandlung von Verfahrenskosten und Entschädigungen (oben E. 4.1) gilt im Übrigen der Grundsatz, dass nur die
aktiv
sich am Verfahren beteiligende Privatklägerschaft verpflichtet werden kann, Verfahrenskosten zu tragen (Urteil 6B_369/2018 vom 7. Februar 2019 E. 2.1, nicht publ. in:
BGE 145 IV 90
), gleichermassen für die Anlastung der Entschädigung an eine obsiegende beschuldigte Person (
Art. 432 Abs. 2 StPO
).
BGE 147 IV 47 S. 52
4.2.3
Wie die Kostentragungsvorschrift von
Art. 427 Abs. 2 StPO
ist auch die Verpflichtung der Privatklägerschaft, die obsiegende beschuldigte Person zu entschädigen (
Art. 432 Abs. 2 StPO
), dispositiver Natur. Die Entschädigung der beschuldigten Person geht demnach nicht zwingend zu Lasten der Privatklägerschaft (vgl. erwähntes Urteil 6B_369/2018 E. 2.1 a.E.;
BGE 138 IV 248
E. 4.2.4 S. 254 [je zu
Art. 427 Abs. 2 StPO
]). Im Allgemeinen richtet sich die Verlegung der Kosten nach dem Grundsatz, wonach die Kosten zu tragen hat, wer sie verursacht (
BGE 138 IV 248
E. 4.4.1 S. 254). Es stellt sich die Frage, unter welchen Voraussetzungen die Entschädigung der obsiegenden beschuldigten Person zu Lasten der (im Schuldpunkt Anträge stellenden) Privatklägerschaft geht.
4.2.4
Die Anfang 2011 in Kraft getretene eidgenössische StPO baute die Verfahrensrechte der Privatklägerschaft aus. Im Gegenzug sollte diese vermehrt für die Kosten in die Pflicht genommen werden können (
BGE 138 IV 248
E. 4.2.3 S. 253 f.). Indessen liegt das Strafverfahren in der Verantwortung des Staats, weshalb die beschuldigte Person, die ganz oder teilweise freigesprochen oder deren Verfahren eingestellt wird, grundsätzlich auch vom Staat für die Aufwendungen entschädigt wird, die für die angemessene Ausübung ihrer Verfahrensrechte anfallen (vgl.
Art. 429 Abs. 1 StPO
; Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 1327 [zu Art. 434 E-StPO], 1329 [zu Art. 437 E-StPO] und 1331 [zu Art. 440 E-StPO]). In diesem Spannungsfeld entwickelte sich die Rechtsprechung zur Frage, ob eine Entschädigung an die obsiegende beschuldigte Person zu Lasten der (im Schuldpunkt Anträge stellenden) Privatklägerschaft oder aber des Staats gehen sollte, wie folgt:
In
BGE 139 IV 45
E. 1.2 betont das Bundesgericht, der Grundsatz, wonach die Verteidigungskosten des freigesprochenen Beschuldigten in erster Linie vom Staat getragen werden (vgl.
Art. 429 Abs. 1 StPO
), gelte (nur) solange, wie der Staat für die strafrechtliche Verfolgung verantwortlich sei. Deshalb gebe es für Verfahrenslagen, in denen das Verfahren vorwiegend auf Initiative und im Interesse der Privatklägerschaft (weiter-)geführt wird, Korrektive, namentlich
Art. 432 Abs. 2 StPO
. Im Berufungsverfahren seien die nach
Art. 436 Abs. 1 StPO
anwendbaren Bestimmungen entsprechend auszulegen. Die Privatklägerschaft trage die Verteidigungskosten, wenn einzig sie Berufung erhoben habe und somit sie allein für die Fortsetzung des Verfahrens vor Rechtsmittelinstanz verantwortlich
BGE 147 IV 47 S. 53
zeichne. Im konkreten Fall war der Entschädigungsberechtigte vom Vorwurf der Veruntreuung (
Art. 138 StGB
) freigesprochen worden. Dabei handelt es sich um ein Offizialdelikt. Die Ausgangslage im Berufungsverfahren entspreche indessen derjenigen von
Art. 432 Abs. 2 StPO
(die eines Antragsdelikts beschuldigte Person wird zulasten der Privatklägerschaft entschädigt) insofern, wie die Fortsetzung des (Rechtsmittel-)Verfahrens allein vom Willen der unterliegenden Privatklägerschaft abhängt, d.h. der Staat nicht mehr veranlasst ist, auf eine Weiterführung der Strafverfolgung hinzuwirken. Dem Leiturteil
BGE 139 IV 45
folgend trägt die allein Berufung erhebende Privatklägerschaft die adäquaten Verteidigungskosten der beschuldigten Person im Berufungsverfahren auch dann, wenn es um Offizialdelikte geht. Es kommt, gleich wie für die Verfahrenskosten (
Art. 428 StPO
), das allgemeine Unterliegerprinzip zum Tragen (
BGE 139 IV 45
E. 1.2 S. 47 f.; vgl. Urteil 6B_273/2017 vom 17. März 2017 E. 2).
BGE 141 IV 476
E. 1 präzisiert,
BGE 139 IV 45
umschreibe eine Ausnahme vom Grundsatz, wonach die Verantwortung für das Strafverfahren beim Staat liegt. Somit sei diese Rechtsprechung restriktiv zu handhaben: Die Privatklägerschaft trage die angemessenen Kosten der Verteidigung der (freigesprochenen) beschuldigten Person im Rechtsmittelverfahren nur dann, wenn ein vollständiges gerichtliches Verfahren stattgefunden hat und der erstinstanzliche Entscheid einzig von der Privatklägerschaft (mit Berufung) weitergezogen worden ist, nicht aber, wenn die Privatklägerschaft erfolglos Beschwerde gegen eine Einstellungsverfügung einlegt.
4.2.5
BGE 141 IV 476
befasst sich mit der Verlegung der Entschädigung für die Verteidigungskosten der obsiegenden beschuldigten Person in Rechtsmittelverfahren, die allein von der Privatklägerschaft angehoben worden sind. Danach hängt die Kostentragung davon ab, ob es sich beim angefochtenen Akt um einen Entscheid handelt, der auf einem "vollständigen gerichtlichen Verfahren" beruht (Kostenträgerin: Privatklägerschaft), oder um eine Einstellungsverfügung (Kostenträger: Staat). Diese Unterscheidung bezieht sich sowohl auf Verfahren, in denen Antragsdelikte behandelt werden, wie auch auf solche betreffend Offizialdelikte. Die erwähnte Regel, wonach die Verantwortung des Staats für die Strafverfolgung dazu führt, dass der Staat auch deren Kosten trägt, wird gegenstandslos, sobald das Verfahren nur noch auf Betreiben der Privatklägerschaft fortgesetzt wird. Grund für die in
BGE 141 IV 476
getroffene
BGE 147 IV 47 S. 54
Unterscheidung ist, dass der Staat den Strafverfolgungsanspruch mit einem freisprechenden Urteil abschliessend eingelöst hat, während die Einstellungsverfügung die Strafverfolgung vorzeitig beendet. Der Strafverfolgungsanspruch geht beim Offizialdelikt indessen weiter als beim Antragsdelikt. Bei von Amtes wegen zu verfolgenden Delikten trägt die gegen die Einstellungsverfügung Beschwerde führende Privatklägerschaft ein latent weiterbestehendes öffentliches Strafverfolgungsinteresse mit. Beim Antragsdelikt hingegen erschöpft sich dieses Interesse mit der Einstellung oder Nichtanhandnahme. Damit ist es angezeigt, im Beschwerdeverfahren
Art. 432 Abs. 2 StPO
(in Verbindung mit
Art. 436 Abs. 1 StPO
) grundsätzlich (vgl. oben E. 4.2.3) anzuwenden (vgl. STEFAN CHRISTEN, Keine Entschädigungspflicht der Privatklägerschaft im kantonalen Beschwerdeverfahren in Strafsachen?, in: forumpoenale 2016 S. 163 f.).
Mithin ist
BGE 141 IV 476
zu präzisieren: Sofern es sich um Antragsdelikte handelt, geht die Entschädigung der beschuldigten Person im Rechtsmittelverfahren regelmässig zulasten der (den Rechtsweg allein beschreitenden) Privatklägerschaft, dies unabhängig davon, ob das Vor- resp. Hauptverfahren vollständig durchgeführt worden ist oder nicht. Die betreffende Differenzierung kommt nur bei Offizialdelikten zum Tragen.
4.2.6
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Entschädigung der beschuldigten Person für die angemessene Ausübung ihrer Verfahrensrechte bei einer Einstellung des Strafverfahrens oder bei einem Freispruch zulasten des Staats geht, wenn es sich um ein Offizialdelikt handelt (
Art. 429 Abs. 1 StPO
), und zulasten der Privatklägerschaft, wenn es um ein Antragsdelikt geht (
Art. 432 Abs. 2 StPO
). Im Berufungsverfahren betreffend Offizialdelikte wird die unterliegende Privatklägerschaft entschädigungspflichtig, im Beschwerdeverfahren hingegen der Staat. Geht es um ein Antragsdelikt, wird sowohl im Berufungs- wie im Beschwerdeverfahren die Privatklägerschaft entschädigungspflichtig (Art. 436 Abs. 1 in Verbindung mit
Art. 432 Abs. 2 StPO
).
4.2.7
Vorliegend bezieht sich das eingestellte Verfahren auf ein Antragsdelikt (vgl.
Art. 173 ff. StGB
). Es ist somit die Beschwerdeführerin, die gegenüber der Beschwerdegegnerin entschädigungspflichtig wird. | de |
23731064-1a79-4136-b863-eed3b78fa414 | Sachverhalt
ab Seite 215
BGE 147 III 215 S. 215
A.
A.a
A. ist Eigentümer des Grundstücks Kataster-Nr. s an der B.strasse t in U. (im Folgenden "Grundstück s"). Zur Liegenschaft gehört auf der Rückseite des Hauses ein Streifen Land, der als Abstellplatz für Fahrzeuge verwendet werden kann. Nördlich angrenzend liegt das Grundstück Kataster-Nr. u, C.strasse v (im Folgenden "Grundstück u"). Es gehört der Stadt Zürich und ist heute zu einem kleinen Teil überbaut.
A.b
Die Zufahrt zur Rückseite von A.s Haus ist durch das Fuss- und Fahrwegrecht gemäss Servituten-Protokoll w (im Folgenden "Dienstbarkeit w") gesichert. Das Wegrecht führt quer von der C.strasse her ins Grundstück u und dann nach einem rechten Winkel weiter in
BGE 147 III 215 S. 216
Richtung des Grundstücks s, das in seiner nordwestlichen Ecke erreicht wird. Von dort führt die Dienstbarkeit w über weitere benachbarte Grundstücke und durch ein Gebäude bis zur B.strasse. Weiter besteht zugunsten des Grundstücks s und zulasten des Grundstücks u die Dienstbarkeit gemäss Servituten-Protokoll z.
A.c
Die Stadt Zürich plant, auf ihrem Grundstück u ein Baurecht zu vergeben. Das bestehende Haus an der C.strasse v soll durch ein neues Gebäude ersetzt werden. Dieses würde die Lücke zur C.strasse schliessen und den hinteren Teil des Grundstücks u zu einem Innenhof werden lassen. Im Bereich des heutigen Hauses C.strasse v ist eine Gebäudedurchfahrt mit einer lichten Höhe von 3.6 Metern vorgesehen. A. focht die Baubewilligung für das Bauprojekt erfolglos an, zuletzt beim Verwaltungsgericht des Kantons Zürich.
B.
Mit Klage vom 23. Januar 2019 verlangte die Stadt Zürich die Änderung der Dienstbarkeit w in dem Sinn, dass die Fläche verlegt werde und das Fuss- und Fahrwegrecht zudem künftig durch eine Öffnung des neuen Baukörpers zur C.strasse hin führe. Das Bezirksgericht Zürich hiess die Klage gut. Auf Berufung von A. hin bestätigte das Obergericht des Kantons Zürich das erstinstanzliche Urteil. In der Folge wendet sich A. an das Bundesgericht und hält an seinem Hauptbegehren fest, die Klage abzuweisen. Die Stadt Zürich beantragt, die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Das Obergericht verzichtete auf eine Vernehmlassung.
(Zusammenfassung) Erwägungen
Aus den Erwägungen:
4.
(...)
4.5
Zu prüfen bleibt, ob die eingeklagte Verlegung des Wegrechts wegen der streitigen Beschränkung der Durchfahrtshöhe auf 3.6 Meter für den Berechtigten im Sinne von
Art. 742 Abs. 1 ZGB
nicht weniger geeignet ist. Das Obergericht hegt Zweifel daran, dass diese "vertikale Dimension" der geforderten Verlegung des Wegrechts bei der Anwendung der zitierten Norm eine Rolle spielen kann. Diese Bedenken sind unbegründet. Ob sich die neue Stelle nicht weniger eignet als die alte, beurteilt sich anhand des Inhalts des durch die Grunddienstbarkeit eingeräumten Nutzungsrechts (JONAS MANGISCH, Die Verlegung von Grunddienstbarkeiten unter besonderer Berücksichtigung von
Art. 742 ZGB
, 2020, S. 137). Massgebend ist, ob die neue Ausübungsstelle in wirtschaftlicher Hinsicht gleichwertig ist und dem Berechtigten objektiv betrachtet den gleichen Nutzen, das
BGE 147 III 215 S. 217
heisst die gleichen Vorteile und Annehmlichkeiten in der Ausübung bietet (CHARLES BESSON, La suppression et l'adaptation des servitudes par le juge, JdT 1969 I S. 279 f.). Die Rechtsprechung denkt unter dem Gesichtspunkt der Eignung der zur Verlegung vorgeschlagenen neuen Stelle keineswegs nur in zwei Dimensionen. So hat sich das Bundesgericht etwa gegen die Verlegung eines Wegrechts ausgesprochen, weil sich die mittlere Steigung der Zufahrt durch die Verlegung von 10 % auf 11.8 % erhöhte und die Steigung im Bereich der Einmündung in die vortrittsberechtigte Strasse sogar noch erheblich höher gewesen wäre, was beim Anfahren in rutschigen Verhältnissen zu erheblichen Schwierigkeiten hätte führen können (Urteil 5C.91/2004 vom 5. August 2004 E. 5.2.1). Gegen die Verlegung des Wegrechts sprach im zitierten Fall ausserdem der Umstand, dass die geplante gegenüber der aktuellen Zufahrt eine erheblich schlechtere Verkehrsübersicht bot (zit. Urteil 5C.91/2004 E. 5.2.3). In einem älteren Entscheid, wo die Verlegung eines Landungs- und Lagerplatzes am Ufer des Zugersees zur Beurteilung stand, schützte das Bundesgericht die Klage auf Verlegung der Dienstbarkeit unter anderem mit Rücksicht darauf, dass die neue Landungsstelle bis zur Tiefe der bisherigen ausgebaggert werde und die Sträucher am Ufer abgehauen werden, weshalb die Beschaffenheit des neuen Platzes gegenüber den bisherigen Anlagen keinerlei Nachteile aufweise (
BGE 57 II 155
E. 1b S. 158). | de |
4ecb43b7-e314-4d1e-bb19-1be14b72b4e1 | Sachverhalt
ab Seite 100
BGE 104 II 99 S. 100
A.-
Mit öffentlich beurkundetem Vorvertrag vom 21. September 1971 verpflichtete sich Hans Grawehr, dem Ernst Sahli mehrere sich in der Gemeinde Bottighofen befindliche Parzellen landwirtschaftlich genutzten Landes im Halte von ungefähr 870 Aren samt Scheune und Schopf zu einem Preise von Fr. 720'000.- zu verkaufen. Auf diesen Parzellen liess Sahli im Jahre 1972 verschiedene Neubauten errichten; im November 1972 waren die meisten davon, namentlich das Wohnhaus, fertiggestellt. Am 3. November 1972 wurde der Kaufvertrag öffentlich beurkundet und die Handänderung im Grundbuch eingetragen. Sahli bezahlte den in den öffentlich beurkundeten Verträgen festgehaltenen Kaufpreis von Fr. 720'000.-, weigerte sich aber, dem Grawehr eine weitere, mündlich versprochene Zahlung von Fr. 100'000.- auszurichten.
B.-
Im Januar 1974 erhob Grawehr beim Bezirksgericht Kreuzlingen gegen Sahli Klage, mit der er verlangte, dass die Nichtigkeit der beiden öffentlich beurkundeten Verträge festzustellen sei; ferner "sei die gestützt auf den Kaufvertrag vom 3. November 1972 vorgenommene Grundbucheintragung im Grundbuch Bottighofen zu löschen und das Eigentum an den Grundstücken Parz.-:Nrn. und E.Bl. 363, 367 und 439 auf den Kläger zurückzuübertragen".
Ein Zwischenentscheid des Bezirksgerichts wurde vom Obergericht des Kantons Thurgau am 28. September 1976 aufgehoben. Jenes wies hierauf die Klage mit Urteil vom 6. April 1977 ab, was vom Obergericht auf Appellation des Klägers hin am 20. September 1977 bestätigt wurde.
C.-
Gegen das obergerichtliche Erkenntnis hat der Kläger die Berufung erklärt, mit der er Gutheissung seiner Klagebegehren verlangt. Der Beklagte trägt auf Abweisung der Berufung an.
BGE 104 II 99 S. 101 Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
2.
a) Das Obergericht stellt fest, "dass die Parteien eine Schwarzzahlung von Fr. 100'000.- vereinbarten und dem Grundbuchamt bewusst fälschlich einen um diesen Betrag zu niedrigen Kaufpreis angaben, dass ferner der Beklagte in der Folge die Zahlung dieses Schwarzgeldes verweigerte". In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung folgert es daraus die Nichtigkeit der beiden öffentlich beurkundeten Verträge wegen Formmangels (vgl.
BGE 98 II 316
E. 2 mit Hinweisen). Die Anrufung dieses Formmangels durch den Kläger erachtet es hingegen als rechtsmissbräuchlich, weshalb es die Klage abweist.
b) Formnichtigkeit ist im Verhältnis unter den Parteien unbeachtlich und die Berufung darauf ist unstatthaft, wenn sie gegen Treu und Glauben verstösst und daher einen offenbaren Rechtsmissbrauch im Sinne von
Art. 2 Abs. 2 ZGB
darstellt. Wohl trifft es zu, dass es Sache jener Partei ist, die der andern das Recht zur Anrufung der Nichtigkeit bestreitet, besondere, den konkreten Fall kennzeichnende Umstände nachzuweisen, die offensichtlich machen, dass die Berufung auf den Formmangel treuwidrig ist (
BGE 90 II 26
E. 2 a,
BGE 87 II 31
E. 4). Das ändert aber nichts daran, dass ein Rechtsmissbrauch im Sinne von
Art. 2 ZGB
in jeder Instanz von Amtes wegen zu beachten ist, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen von einer Partei in der vom Prozessrecht vorgeschriebenen Weise vorgetragen wurden und feststehen. Einer besonderen Einrede bedarf es nicht(
BGE 98 II 316
E. 2,
BGE 95 II 115
E. 4,
BGE 94 II 41
E. 6a,
BGE 88 II 23
E. 4,
BGE 86 II 232
E. 6, 401). Anhand des von der Vorinstanz festgestellten Tatbestandes ist somit zu prüfen, ob vorliegend die Berufung auf Formnichtigkeit rechtsmissbräuchlich sei.
3.
Ob ein Rechtsmissbrauch vorliege, der die Berufung auf Formnichtigkeit eines Kaufvertrages verbietet, hat der Richter nicht in Anwendung von starren Regeln zu entscheiden, sondern unter Würdigung aller Umstände des konkreten Falles (
BGE 93 II 104
,
BGE 92 II 325
E. 3,
BGE 90 II 156
E. 2,
BGE 86 II 232
E. 6 mit Hinweisen). Dabei kommt der erfolgten freiwilligen Erfüllung des Kaufvertrages durch die Parteien besondere Bedeutung zu. Sie schliesst zwar nicht notwendigerweise aus, dass die Nichtigkeit des Vertrages dennoch berücksichtigt werde, lässt die Anrufung des Formmangels aber doch als rechtsmissbräuchlich erscheinen, wenn nicht die Würdigung aller übrigen Umstände,
BGE 104 II 99 S. 102
namentlich das Verhalten der Parteien bei und nach Vertragsschluss, eindeutig zum gegenteiligen Schluss führt (
BGE 98 II 316
E. 2,
BGE 93 II 105
E. 1,
BGE 92 II 325
E. 3,
BGE 90 II 157
E. 2a,
BGE 72 II 43
E. 3). Unter der freiwilligen Vertragserfüllung wird nach jüngerer Begriffsumschreibung in der Judikatur die Herstellung der Vermögenslage verstanden, die dem wirklichen, vom verurkundeten abweichenden Parteiwillen entspricht (
BGE 84 II 376
E. 2b,
BGE 78 II 228
E. 2). Hievon geht auch das Obergericht aus, um zu erklären, die dem wirklichen Parteiwillen gemässe Vermögenslage sei vorliegend mangels Leistung der Schwarzzahlung nicht gegeben, der Vertrag daher nicht vollständig erfüllt. Soweit die Berufung die nämliche Anschauung verficht, stösst sie offene Türen ein. Indessen erhebt sich die Frage, Ob unter solcher Voraussetzung für eine Wertung anderer, auf Rechtsmissbrauch weisender Umstände überhaupt noch Raum sei.
a) In der Lehre scheint das überwiegend verneint zu werden. DESCHENAUX (in: Schweizerisches Privatrecht, Band II, S. 193), der die Entwicklung der Rechtsprechung verzeichnet, vertritt die Auffassung, dass der Richter kaum zögern werde, sich an die Formstrenge zu halten, solange der mangelhafte Vertrag nicht erfüllt sei. Unter Hinweis auf
BGE 68 II 236
E. III hebt er hervor, dass
Art. 2 ZGB
im Gebiete der Formen nur in einem negativen Sinne herangezogen werden könne, nicht als positives Mittel zur Heilung eines Formmangels, um auf dem Umweg über den Rechtsmissbrauch einen nichtigen in einen gültigen Vertrag zu verwandeln. Daran ist auch nach CAVIN (in: Schweizerisches Privatrecht, Band VII/1, S. 135) festzuhalten, "obwohl neuere Urteile eine Tür für eine positive Wirkung der Zuhilfenahme des Begriffs des Rechtsmissbrauchs öffnen zu wollen scheinen" (zitiert wird
BGE 90 II 21
). GUHL/MERZ/KUMMER (Schweizerisches Obligationenrecht, 6. A., S. 124 f.) nehmen, indem sie die Erfüllung des formungültigen Geschäfts zum massgebenden Gesichtspunkt machen, den nämlichen Standpunkt ein. MERZ (N. 496 und 499 zu
Art. 2 ZGB
) schliesslich vertritt, den nicht erfüllten Vertrag betreffend, dieselbe Ansicht. Bezüglich der Vertragserfüllung unterscheidet er aber: Er anerkennt, dass als Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes die Anrufung der Formnichtigkeit demjenigen zu verwehren ist, der freiwillig und in Kenntnis des Mangels erfüllt hat (N. 475 zu
Art. 2 ZGB
). Gegenüber der erwähnten neueren bundesgerichtlichen Umschreibung der Erfüllung
BGE 104 II 99 S. 103
greift er aber auf die in
BGE 53 II 166
verwendete Formel der Erfüllung "in der Hauptsache" zurück und stimmt den durch dieses Urteil "erschlossenen erweiterten Anwendungsmöglichkeiten" zu (N. 476 und 488 zu
Art. 2 ZGB
).
b) Zur Rechtsprechung bemerkt CAVIN (a.a.O., S. 135), da sie bewusst kasuistisch sei, wäre es gewagt, sie auf allgemeine Grundsätze zurückzuführen. Immerhin gehe aus ihr hervor, dass die Erfüllung des Vertrages die notwendige, wenn auch nicht genügende Hauptvoraussetzung dafür bilde, den Käufer in seinem Erwerb zu schützen. Sei sie gegeben, so sei Rechtsmissbrauch anzunehmen, wenn die Partei den Formmangel absichtlich veranlasst habe, mit ihm einverstanden gewesen sei Oder mit seiner Geltendmachung einen Zweck verfolge, der nichts zu tun habe mit den Interessen, zu deren Schutz die Form bestimmt sei. Gesamthaft empfindet CAVIN die Rechtsprechung als unbefriedigend, namentlich, weil sie zu Rechtsunsicherheit führe, und er hält es für wünschbar, dass sie sich "aus ihrer Erstarrung" löse und einer neuen Prüfung unterziehe (a.a.O., S. 135-137).
In welcher Weise oder nach welcher Richtung hin solche Überprüfung vorzunehmen wäre, wird freilich nicht näher erläutert. CAVIN selber bringt zu den von ihm angeführten Lehrmeinungen Vorbehalte oder Bedenken an (a.a.O., S. 136 f.). Mit der These SPIROS (Die unrichtige Beurkundung des Preises bei Grundstückskauf, Basel 1964), der sich gegen die Annahme der Nichtigkeit des den Grundstückspreis unrichtig verurkundenden Vertrages wendet, hat sich das Bundesgericht auseinandergesetzt (
BGE 90 II 156
E. 1; vgl. dazu die Replik SPIROS, in: BJM 1965, S. 213). Ebenso befasste es sich mit der von MEIER-HAYOZ wieder aufgenommenen Theorie HAABS (HAAB/SIMONIUS, N. 34 ff. zu
Art. 657 ZGB
; MEIER-HAYOZ, N. 130 ff. zu
Art. 657 ZGB
; vgl. auch MERZ, N. 510 zu
Art. 2 ZGB
), wonach der Formmangel eines Rechtsgeschäftes nicht seine Nichtigkeit, sondern eine heilbare Ungültigkeit eigener Art bewirke (
BGE 92 II 324
E. 2,
BGE 86 II 400
E. 1). Darauf zurückzukommen besteht kein Anlass.
c) Anderseits sind die aufgezeigten Meinungsverschiedenheiten nicht eine "blosse Frage der Betrachtungsweise", wie GUHL/MERZ/KUMMER (a.a.O., S. 125) meinen, sondern vorab im Ansatzpunkt durchaus grundsätzlicher Natur. An der Nichtigkeit des unrichtig beurkundeten Vertrages hat die Rechtsprechung
BGE 104 II 99 S. 104
ebenso festgehalten, wie an der Anerkennung ihrer Unbeachtlichkeit, wo es Treu und Glauben verlangen. Für die Beurteilung des Parteiverhaltens unter dem Gesichtspunkt des Rechtsmissbrauchs hat sie ferner stets die Bindung an starre Regeln abgelehnt und die Würdigung aller Umstände unter Berücksichtigung von Rechtsempfinden, Rechtsethik und Rechtssicherheit beansprucht (vgl.
BGE 92 II 325
E. 3, 86 II 401). Die freiwillige und irrtumsfreie Vertragserfüllung wertete sie dabei als wichtigen, wenn auch nicht allein ausschlaggebenden Grund. Von dieser Praxis ist nicht abzugehen. Bewusst kasuistisch, wie CAVIN bescheinigt, ist sie auf die Vielfalt möglicher Sachverhalte und deren Erfassung ausgerichtet.
d) Ein Wandel immerhin ist insofern eingetreten, als in den beiden genannten Entscheiden (
BGE 84 II 376
E. 2b,
BGE 78 II 228
E. 2) das Erfordernis der Erfüllung des Vertrages im wesentlichen oder in der Hauptsache ersetzt wurde durch jenes der vollständigen Erfüllung, d.h. der Herstellung der dem wirklichen Parteiwillen entsprechenden Vermögenslage, also einschliesslich der Zahlung eines allfälligen Schwarzgeldes. Als zwingend erscheint diese Änderung jedoch nicht. Zwar kann im gegenteiligen Fall, wo ein formnichtiger Vertrag gänzlich unerfüllt bleibt, die Berufung auf Rechtsmissbrauch nicht Erfolg haben, weil sonst aus
Art. 2 ZGB
ein Erfüllungsanspruch vermittelt würde (vgl. MERZ, N. 485 ff. und 496 zu
Art. 2 ZGB
). Zwischen vollständiger Nichterfüllung und vollständiger Erfüllung entsprechend dem wirklichen Parteiwillen liegt aber eine Spanne, deren graduelle Stufungen einer unterschiedlichen Wertung zugänglich sind und die im Oberen Grenzbereich der annähernden Oder hauptsächlichen Erfüllung in die Gesamtwürdigung füglich einbezogen werden darf. Wohl stellen
BGE 84 II 376
E. 2b und
BGE 78 II 228
E. 2 für die gegebenen Fälle höhere Erfüllungsanforderungen als
BGE 53 II 166
. Das geschieht aber ohne Bezugnahme auf diesen, wiewohl er dort in anderem Zusammenhang wiederholt zitiert wird (vgl.
BGE 84 II 374
,
BGE 78 II 224
, 229). Ob eine allgemeingültige Praxisverschärfung beabsichtigt war, ist nicht ohne weiteres klar. Im Schrifttum wurde teilweise eine solche vermerkt (DESCHENAUX, a.a.O., S. 191 Anm. 58; MERZ, N. 476 zu
Art. 2 ZGB
). Das Bundesgericht hat aber nicht nur die Wiederholung oder förmliche Bestätigung jener engeren Fassung des Erfüllungsbegriffes unterlassen, sondern sich auch selber nicht mit letzter Konsequenz daran gehalten, wie
BGE 98 II 316
zeigt. In seiner Besprechung dieses Urteils bemerkt
BGE 104 II 99 S. 105
MERZ, dass "nach richtiger Betrachtung" schon die Erfüllung in der Hauptsache den Formmangel "heile" (ZBJV 110/1974, S. 69). Das kann freilich als bestimmende Regel nach der geltenden Rechtsprechung auch dann nicht anerkannt werden, wenn die Erfüllung in der Hauptsache als erheblicher Umstand berücksichtigt wird. Letzteres aber ist angebracht, mag es auch die Wiedererwägung einer jüngeren zugunsten einer älteren Praxis bedeuten; liegt doch diese eher als jene auf der unverändert gebliebenen Grundlinie der freien Würdigung aller Umstände, und kann als ein solcher die Erfüllung in der Hauptsache unter den Gesichtspunkten sowohl des widersprüchlichen Verhaltens wie des Formzweckes beachtlich sein.
4.
Alsdann ist davon auszugehen, dass vorliegend der verurkundete Kaufvertrag beidseitig erfüllt wurde, der Eigentumsübergang im Grundbuch eingetragen ist und allein die Schwarzzahlung aussteht. Auf den dissimulierten Vertrag bezogen ergibt das die vollständige Erfüllung seitens des Klägers und die Erfüllung in der Hauptsache seitens des Beklagten. Zu prüfen bleibt, welche weiteren Umstände hinzukommen, und ob sie zusammen mit den Erfüllungsgegebenheiten die Geltendmachung des Formmangels als rechtsmissbräuchlich erscheinen lassen.
a) Beweiswürdigend und anhand eigenen Vorbringens des Beklagten hält das Obergericht fest, dass das Schwarzzahlungsversprechen zwar auf Vorschlag des Beklagten, jedoch unter sofortiger Zustimmung des Klägers und in dessen alleinigem Interesse vereinbart wurde. Nach dem Vertrag habe ausschliesslich der Kläger die Handänderungskosten zu tragen gehabt; dank dem geringeren verurkundeten Kaufpreis habe er zudem auch Grundstückgewinnsteuern einsparen können. Beide Parteien hätten um die Unerlaubtheit ihres Vorgehens gewusst. Aber der Kläger habe den Formmangel zum eigenen Vorteil, um Öffentliche Abgaben zu umgehen, herbeigeführt. Anders als in den Fällen der
BGE 90 II 157
und
BGE 87 II 31
, sei er allein gebühren- und steuerpflichtig gewesen. Die Parteibefragung habe keinen Anhalt dafür erbracht, dass der Beklagte deswegen, weil der Kläger mit Steuern und Gebühren besser wegkomme, von ihm noch Kaufpreiskonzessionen erwirkt oder zu erwirken gehofft habe.
Diese Feststellungen sind tatsächlicher Art und binden das Bundesgericht (
Art. 63 Abs. 2 OG
). Verletzung bundesrechtlicher Beweisvorschriften oder offensichtliches Versehen wendet
BGE 104 II 99 S. 106
die Berufung nicht ein. Abweichende Tatsachenbehauptungen sind daher unzulässig (
Art. 55 Abs. 1 lit. c OG
). Der Hinweis auf die Aushandlung des Grundstückpreises und der Verkaufsmodalitäten durch Offerte und Gegenofferte hilft ohnehin nicht. Sie ist an sich ein durchaus normaler Vorgang und als solcher hier belanglos, da nichts auf unlautere Absichten oder unlauteres Handeln des Beklagten gegenüber dem Kläger im damaligen Zeitpunkt deutet.
b) Als mit Treu und Glauben in Widerspruch stehend, betrachtet das Obergericht die Berufung des Klägers auf Formnichtigkeit sodann deshalb, weil dieser bereits auf Grund des Vorvertrages grössere Investitionen des Beklagten auf der zu verkaufenden Liegenschaft zugelassen hatte. Der Beklagte habe im Dezember 1971 um die Baubewilligung für das neue Wohnhaus nachgesucht und sie im März 1972 erhalten. Das Haus sei im November 1972 fertiggestellt gewesen, und der Kaufvertrag sei am 3. November 1972 abgeschlossen worden. Der Kläger hätte es ohne weiteres in der Hand gehabt, den Baubeginn erst nach Empfang der schwarz zu zahlenden Fr. 100'000.- zu erlauben. Durch wissentliche Zulassung des Neubaus vor dem Eigentumsübergang habe er das Risiko übernommen, dass die Zahlung ausbleibe. Darum sei es missbräuchlich, wenn er hinterher den ganzen Kaufvertrag als nichtig erklären lassen wolle, und so den Beklagten zu einer langwierigen und komplizierten Auseinandersetzung über die Entschädigung für die bewusst hingenommenen Investitionen nötige.
Dem hält die Berufung vorab entgegen, der Kläger sei nach dem Vorvertrag verpflichtet gewesen, den Beklagten sofort mit den Bauarbeiten beginnen zu lassen. Das trifft indes nicht zu. Gemäss Ziffer 11 des Vorvertrages war der Beklagte lediglich ab sofort berechtigt, "auf dem vorgenannten Kaufsobjekt... Visiere zu erstellen und Baugenehmigungen einzuholen für ein Wohnhaus und einen Schopf". Auf Grund des Vorvertrages stand dem Beklagten somit nur das Recht zu, Vorbereitungen für geplante Bauten zu treffen, nicht aber diese auszuführen. Etwas anderes brauchte der Kläger somit nicht zu dulden. Damit ist in diesem Belang auch der weiteren Berufungskritik die Grundlage entzogen. Insbesondere würdigt das Obergericht die entstehenden Schwierigkeiten bei einer nachträglichen Auseinandersetzung zwischen den Parteien über die Entschädigung
BGE 104 II 99 S. 107
für Investitionen nicht - in einem gewissen Gegensatz zu
BGE 86 II 405
- um ihrer selbst willen, sondern ausdrücklich "unter diesen speziellen Umständen", d.h. namentlich der Tatsache, dass der Kläger im Bewusstsein der Widerrechtlichkeit der Schwarzzahlungsabrede mit entsprechendem Risiko die Bauinvestitionen des Beklagten vor dem Eigentumsübergang zugelassen hat. Solche Betrachtungsweise ist nicht zu beanstanden (vgl.
BGE 92 II 326
).
c) Missbrauch sieht das Obergericht auch darin, dass es dem Kläger vorab darum gehe, vom Beklagten die nur mündlich vereinbarte Zahlung von zusätzlichen Fr. 100'000.- nachträglich doch noch erhältlich zu machen. Es verweist in diesem Zusammenhang auch darauf, dass der Kläger in der erstinstanzlichen Replik ausführen liess: "Der Kläger will eigentlich nur die versprochene Geldleistung, d.h. die Fr. 100'000.- nebst Ersatz des ihm entstandenen Schadens...".
Solches Bestreben ist in der Tat durch den Zweck der Form nicht gedeckt. Wer mit der Geltendmachung eines Formmangels die Leistung einer unterbliebenen Schwarzzahlung zu betreiben sucht, missbraucht das Recht. Dass der Kläger mit seinen Begehren noch andere Ziele verfolgte, wie er vor Bundesgericht - ohne sie zu nennen - geltend macht, ist belanglos.
d) Letztlich erörtert und verneint das Obergericht die Frage, ob dem Beklagten ein missbräuchliches Verhalten von etwa gleicher Schwere wie jenes des Klägers anzulasten und ihm deshalb die Einrede aus
Art. 2 ZGB
zu versagen sei. Beizustimmen ist ihm vorweg darin, dass die Verweigerung der Schwarzzahlung allein nicht genügt, um im Rahmen der gesamten Umstände die Haltung des Beklagten als ebenso missbräuchlich zu kennzeichnen, wie die des Klägers. Und sonst liegt gegen ihn nach Feststellung des Obergerichts nichts vor. Die mit der Berufung angebrachten Unterstellungen haben keine fassbare Stütze. Gewiss ist die Nichteinhaltung eines gegebenen Versprechens an sich wenig geeignet, zum Vorwurf des Rechtsmissbrauchs an den betroffenen Partner zu legitimieren. Aber auf teilweise Schwarzzahlung ausgerichtete Grundstückgeschäfte sind von besonderer Art, und dementsprechend im Streit zwischen den Beteiligten zu behandeln. Es ist an die bezüglichen Überlegungen in
BGE 92 II 325
E. 3 zu erinnern. Danach muss es vorliegend bei dem von den Parteien durch Vollzug des öffentlich beurkundeten Kaufvertrages geschaffenen
BGE 104 II 99 S. 108
Rechtszustand unter den dargelegten Umständen sein Bewenden haben. Dieses Ergebnis deckt sich zudem mit der für die ungerechtfertigte Bereicherung geltenden, aber grundsätzlich allgemeine Beachtung heischenden Regel des
Art. 66 OR
, dass nicht zurückgefordert werden kann, was in der Absicht, einen rechtswidrigen oder unsittlichen Erfolg herbeizuführen, gegeben worden ist. | de |
05c16a31-5d0e-47e5-a3df-0f9bf3633068 | Sachverhalt
ab Seite 16
BGE 105 II 16 S. 16
A.-
Aurelio Penza und die ICC Handels AG befassen sich beide mit dem Handel von Chemikalien. Am 18. Januar 1974 führten sie telefonisch Verhandlungen über die Lieferung von Ätznatron; der Inhalt der dabei getroffenen mündlichen Abmachungen lässt sich nicht mehr ermitteln. Noch am 18. Januar 1974 richtete die ICC Handels AG durch ihren Angestellten F. ein Fernschreiben an Penza, in dem sie "unser festgebot gueltig bis februar 21" für "2000 mt netto aetznatron" bestätigte. Als Preis waren 195 US § "per mt fob italian port" genannt. Die Zahlung sollte durch ein "unwiderrufliches
BGE 105 II 16 S. 17
akkreditiv ... zu unseren gunsten durch bank baer zuerich" erfolgen. Dieses "Festgebot" verstehe sich vorbehältlich "Schiffsraumbuchung". Mit Fernschreiben und eingeschriebenem Brief vom 21. Januar 1974 nahm Penza auf diese "feste Offerte" Bezug und bestätigte Ätznatron "von ihnen gekauft und sie an uns verkauft zu haben", wobei die von der ICC Handels AG genannten Bedingungen ausdrücklich wiederholt wurden; der Vorbehalt betreffend die Schiffsraumbuchung wurde im Fernschreiben - im Gegensatz zum Brief vom gleichen Tage - allerdings nicht erwähnt. Noch am 21. Januar antwortete die ICC Handels AG wiederum mittels Fernschreibens; sie dankte Penza für seine Mitteilung und erklärte, dass "unser festgebot ausdrücklich vorbehältlich 'schiffsraumbuchung' zu verstehen ist". Nach einem Telefongespräch mit F. wandte sich Penza am 24. Januar 1974 erneut schriftlich an die ICC Handels AG. Darin ersuchte er diese um Bekanntgabe des Verschiffungshafens bis zum andern Tage, "damit das akkreditiv eröffnet wird". Den telefonisch geäusserten Einwand, "force majeur" stehe einer Lieferung entgegen, könne er nicht annehmen. Am 7. März setzte Penza schliesslich der ICC Handels AG eine "letzte Frist", um einen Liefertermin für die 2000 mt Ätznatron zu nennen. Die ICC Handels AG antwortete indes am 14. März 1974, dass die fragliche Ware, wie in mehreren Telefongesprächen schon dargelegt, nie existiert habe; die von F. am 18. Januar 1974 "durchgegebene offerte basierte auf einer falschinterpretation eines fernschreibens von unserem büro in new york". Dieses habe nämlich die Ware zum genannten Preis kaufen und nicht verkaufen wollen.
B.-
Im April 1976 klagte Penza gegen die ICC Handels AG auf Zahlung von US § 270'000.- nebst Zins zu 7% seit dem 1. März 1974. Für den Fall, dass die geschuldete Summe mittels Betreibung geltend gemacht werden müsse, sei festzustellen, "dass die Schadenersatzsumme zum Kurs von Fr. 3.14 pro US Dollar umzurechnen ist".
Das Kantonsgericht des Kantons Zug wies die Klage am 25. November 1977 ab, ebenso auf Appellation des Klägers hin das Obergericht des Kantons Zug mit Urteil vom 6. Juli 1978.
C.-
Gegen das obergerichtliche Erkenntnis hat der Kläger die Berufung an das Bundesgericht erklärt, mit der er Gutheissung seiner Klagebegehren verlangt; allenfalls sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Die Beklagte schliesst auf Abweisung der Berufung.
BGE 105 II 16 S. 18 Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Das Obergericht hält fest, dass der Inhalt der von den Parteien geführten Telefongespräche nicht mehr abgeklärt werden könne. Das ist eine das Bundesgericht bindende tatsächliche Feststellung (
Art. 63 Abs. 2 OG
). Unzulässig ist es deshalb, wenn die Parteien vor Bundesgericht gleichwohl auf den Inhalt dieser Gespräche zurückkommen. Zu entscheiden ist somit allein, ob zwischen den Parteien durch den Austausch ihrer Fernschreiben ein Vertrag zustande gekommen ist.
2.
Das Obergericht legt vorab das Fernschreiben der Beklagten vom 18. Januar 1974 aus, und zwar "allein unter objektivem Gesichtspunkt nach dem Vertrauensprinzip". Auf den inneren Willen der Beklagten komme es nicht an. Weil die von der Beklagten in diesem Fernschreiben verwendete Formel "Festgebot gültig bis..." im internationalen Chemikalienhandel als feste Kaufsofferte verstanden werde, die Beklagte den Kläger im gleichen Fernschreiben aber aufforderte, ein Akkreditiv zu eröffnen, was nur ein Verkäufer tue, sei ihre Willensäusserung unklar und könne weder als Verkaufs- noch als Kaufsofferte betrachtet werden. Einen Vertrag hätten die Parteien somit nicht geschlossen. Diese Auslegung ficht der Kläger vor Bundesgericht an und macht unter Hinweis auf sein Antwortfernschreiben vom 21. Januar 1974 geltend, er habe nach Treu und Glauben die Willensäusserung der Beklagten als Verkaufsangebot verstehen dürfen.
Die Ermittlung der Bedeutung, die den Willensäusserungen der Parteien beim Abschluss eines Vertrages nach Treu und Glauben zukommt, ist eine Rechtsfrage, die im Berufungsverfahren der freien Überprüfung durch das Bundesgericht unterliegt; dieses ist aber an Feststellungen der letzten kantonalen Instanz hinsichtlich äusserer Tatsachen und des inneren Willens der Parteien gebunden (
BGE 100 II 149
E. 3c,
BGE 99 II 285
E. 1/2,
BGE 96 II 333
E. 4d mit Hinweisen).
3.
a) Richtig ist, dass nach
Art. 1 OR
der Vertragsschluss vom Vorliegen übereinstimmender Willensäusserungen - und nicht vom wirklichen Willen der Vertragspartner - abhängt und dass diese Willensäusserungen nach dem Vertrauensgrundsatz auszulegen sind, indem massgebend ist, wie sie vom Empfänger in guten Treuen verstanden werden durften und mussten (
BGE 101 II 331
E. 2,
BGE 96 II 141
E. 2; SCHÖNENBERGER/JÄGGI, N. 188 und 195 f. zu
Art. 1 OR
).
BGE 105 II 16 S. 19
Auf Undeutlichkeiten und Unrichtigkeiten einer Willenserklärung kommt es aber nicht an, wenn der Empfänger sie so versteht, wie der Erklärende sie meinte (VON TUHR/PETER, Allgemeiner Teil des schweizerischen Obligationenrechts, Zürich 1979, S. 288). Dem Empfänger steht somit der Nachweis offen, dass der Erklärende nicht von dem für ihn günstigen objektiven Sinn seiner Willensäusserung, sondern von einem andern, für ihn ungünstigeren Sinn ausgegangen ist; umgekehrt vermag der Erklärende den durch Auslegung ermittelten Sinn seiner Erklärung mit dem Nachweis beiseite zu stossen, dass seine Erklärung vom Empfänger nicht im verkehrsüblichen, sondern in einem für diesen ungünstigeren Sinn verstanden worden sei (SCHÖNENBERGER/JÄGGI, N. 205 zu
Art. 1 OR
). Diese Überlegungen entsprechen dem Grundgedanken von
Art. 18 Abs. 1 OR
, wonach bei der Beurteilung eines Vertrages der übereinstimmende wirkliche Wille und nicht die unrichtige Bezeichnung oder Ausdrucksweise zu beachten ist. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz darf somit der innere Wille der Beklagten anlässlich der Abfassung ihres Fernschreibens vom 18. Januar 1974 nicht einfach als unerheblich übergangen werden.
b) Das Obergericht stellt fest, der Angestellte der Beklagten, F., sei "zugestandenermassen subjektiv von einem Verkaufswillen" der Beklagten ausgegangen. Dass er das englische "bidding firm" im Fernschreiben der Muttergesellschaft mit "Festgebot" übersetzt habe und trotzdem der Meinung gewesen sei, die Beklagte wolle verkaufen, zeige deutlich, dass er im Chemikalienhandel nicht derart erfahren gewesen sei, wie der Kläger es behaupte. Damit ist hinreichend klar festgestellt, dass die Beklagte, die sich unstreitig das Verhalten F.'s anrechnen lassen muss, bei der Abfassung ihres Fernschreibens vom 18. Januar 1974 verkaufen und nicht kaufen wollte. Noch klarer ergibt sich das aus dem erstinstanzlichen Urteil, auf welches das Obergericht verweist. Dort wird ausgeführt, die Beklagte selber gestehe ein, dass F. die englischsprachige Anweisung des Mutterhauses falsch verstanden habe. "In falscher Deutung eines Fernschreibens ihrer Muttergesellschaft" habe die Beklagte somit dem Kläger am 18. Januar 1974 die fragliche Menge Ätznatron verkaufen wollen.
c) Hat der Kläger das Fernschreiben der Beklagten vom 18. Januar 1974 so verstanden, wie es gemeint war, so ist der Vertrag nach dem Gesagten zustande gekommen; für eine Auslegung der beidseitigen Willenserklärungen nach Treu und
BGE 105 II 16 S. 20
Glauben besteht diesfalls von vornherein kein Raum mehr. Anders verhielte es sich freilich, wenn der Kläger das ihm von der Beklagten am 18. Januar 1974 unterbreitete Angebot nicht so verstand, wie er es in seinem Bestätigungsschreiben vom 21. Januar 1974 umschrieb und heute behauptet. Im angefochtenen Urteil fehlen indes tatbeständliche Feststellungen, die eine solche Annahme erlaubten. Vielmehr lässt es das Obergericht ausdrücklich offen, ob der Kläger die Widersprüche im Fernschreiben der Beklagten erkannt und trotz seiner Erfahrung im Chemikalienhandel an eine Verkaufsofferte geglaubt habe. Allerdings habe er angesichts der Unstimmigkeiten im Fernschreiben der Beklagten "stutzig" werden müssen. Damit ist aber noch nicht gesagt, dass der Kläger das Fernschreiben als Kaufsofferte verstanden habe.
4.
a) Selbst wenn der Kläger ob den Unstimmigkeiten in dem ihm von der Beklagten unterbreiteten Angebot hätte "stutzig" werden müssen, ändert dies nichts daran, dass die Beklagte ein Verkaufsangebot machte. Allfällige Unklarheiten räumte der Kläger mit seiner klaren und widerspruchsfreien Annahmeerklärung aus, indem er der Beklagten bestätigte, "von ihnen gekauft und sie an uns verkauft zu haben". Mehr durfte von ihm unter diesen Umständen nicht erwartet werden. Indem er die von der Beklagten gemachten Bedingungen wiederholte und das Wort "Festgebot" ersetzte durch "feste Offerte" nahm er das Angebot der Beklagten an, wie sie es gemeint hatte. Unbehelflich ist es deshalb, wenn die Beklagte vor Bundesgericht vorbringt, damit habe der Kläger sie in ihrer Verkäuferstellung festnageln wollen. Hätte sie wirklich nicht verkaufen wollen, so hätte sie auf das Bestätigungsschreiben des Klägers hin allen Anlass gehabt, einen solchen Versuch entschieden zurückzuweisen. Statt dessen verdankte sie noch gleichen Tags ausdrücklich die "Bestätigung" des Klägers und fügte lediglich bei, dass das gemachte Angebot "ausdrücklich vorbehältlich 'schiffsraumbuchung' zu verstehen" sei. Selbst wenn der Vertragsschluss nicht schon mit der Annahmeerklärung des Klägers vom 21. Januar zustande gekommen, sondern das klägerische Fernschreiben mit dem Obergericht als neue Offerte anzusehen wäre, wäre der Vertrag jedenfalls mit diesem Antwortschreiben der Beklagten geschlossen worden. Mit dem Vorbringen, der Kläger habe gewusst, dass die Beklagte weder verkaufen wollte noch verkaufen konnte, ist die Beklagte nicht
BGE 105 II 16 S. 21
zu hören, da dies tatsächliche Verhältnisse betrifft. Im angefochtenen Urteil fehlen nicht nur derartige Feststellungen, sondern es ergibt sich aus ihm im Gegenteil, dass die Beklagte verkaufen wollte. Rechtsmissbräuchliches Verhalten des Klägers scheidet unter diesem Gesichtspunkt ohne weiteres aus.
b) Nach dem angefochtenen Urteil liegt im Fernschreiben des Klägers vom 21. Januar 1974 keine Annahmeerklärung, weil die Beklagte mit ihrer Offerte vom 18. Januar ausdrücklich "Schiffsraumbuchung" vorbehalten hatte. Die Beklagte habe damit "erkennbarermassen ihre mangelnde wirkliche Verkaufsabsicht" aufgezeigt. Dass das hinsichtlich ihres inneren Willens nicht zutrifft, wurde bereits dargelegt. Fragen kann sich nur, ob wegen des erwähnten Vorbehaltes ein Konsens, der an sich auch Nebenpunkte zu erfassen hat, entfällt. Davon kann aber keine Rede sein, hat doch der Kläger nicht nur die von der Beklagten angebrachte Ergänzung stillschweigend angenommen, sondern die fragliche Klausel auch ausdrücklich in seinen Bestätigungsbrief vom 21. Januar 1974 aufgenommen. Streitig ist zwar, zu wessen Gunsten dieser Vorbehalt gemacht wurde, doch besteht Übereinstimmung darin, dass nur der Käufer an einer solchen Klausel interessiert war. Nach verbindlicher Feststellung des Kantonsgerichts, auf die das Obergericht verweist, ist es möglich, dass es der Kläger war, der den Vorbehalt betreffend die Schiffsraumbuchung gemacht hatte. Das erste Fernschreiben der Beklagten vom 18. Januar 1974, das auf ein zuvor mit dem Kläger geführtes Telefongespräch Bezug nahm, konnte durchaus als Bestätigung eines vom Kläger gemachten Vorbehaltes verstanden werden. Ist somit der Vertrag so oder anders am 21. Januar 1974 zustande gekommen, so vermag die Beklagte auch aus dem späteren Verhalten des Klägers nichts Entscheidendes mehr abzuleiten. Der Umstand, dass die Beklagte den Kläger bereits am 22. Januar darauf hingewiesen habe, alles beruhe auf einem Missverständnis und die fragliche Ware habe nie existiert, kann deshalb ebensowenig eine Rolle spielen wie jener, dass der Kläger angeblich nichts unternommen habe, um ein Akkreditiv zu eröffnen. Letzteres erklärt sich immerhin damit, dass er die Beklagte erfolglos aufgefordert hatte, den Verschiffungshafen zu bezeichnen.
5.
Steht somit fest, dass die Beklagte dem Kläger 2000 mt Ätznatron zu den aus den schriftlichen Erklärungen der Parteien
BGE 105 II 16 S. 22
sich ergebenden Bedingungen verkauft hat, so sind die Einwendungen, die die Beklagte gegen ihre Zahlungspflicht erhebt, zu prüfen. Vorab ist zu klären, ob sie sich zu Recht auf Irrtum beruft. Die Frage, ob und inwiefern sie sich geirrt habe, betrifft tatsächliche Verhältnisse und wäre an sich durch die Vorinstanz zu beantworten. Vom Bundesgericht zu prüfende Rechtsfrage ist aber, ob ein solcher Irrtum wesentlich im Sinne der
Art. 23 und 24 OR
sei. Vorliegend kommen von vornherein nur die in Art. 24 Abs. 1 Ziff. 1 und 4 aufgezählten Fälle des Irrtums in Betracht. Ein Erklärungsirrtum im Sinne von Ziff. 1 entfällt, weil die Beklagte zur Zeit des Vertragsschlusses die Chemikalien tatsächlich verkaufen wollte. Nichts zu ihren Gunsten ableiten kann sie auch aus dem Umstand, dass ihr Angestellter F. die Weisung des Mutterhauses, wonach dieses Ätznatron kaufen und nicht verkaufen wollte, falsch verstand. Das ist keineswegs eine erkennbare und notwendige Grundlage des von den Parteien geschlossenen Vertrages im Sinne von
Art. 24 Abs. 1 Ziff. 4 OR
, sondern vielmehr ein unbeachtlicher Irrtum im Beweggrund gemäss
Art. 24 Abs. 2 OR
. Gleich verhält es sich auch hinsichtlich der Frage, ob die Beklagte über die verkaufte Ware je verfügt habe. Willensmängel scheiden in diesen Belangen somit aus.
Zu prüfen sind aber auch die weiteren von der Beklagten gegen ihre Zahlungspflicht erhobenen Einwendungen. Das gilt zunächst für die Voraussetzungen einer Schadenersatzpflicht wegen Nichterfüllung des Vertrages sowie für die Berechnung des Schadens. Zu prüfen ist ferner auch der Einwand der Beklagten, der Kläger sei bezüglich der Schiffsraumbeschaffung einer Bedingung des Vertrages nicht nachgekommen. In dieser Hinsicht erlaubt der von der Vorinstanz festgestellte Tatbestand keine abschliessende Beurteilung, sondern bedarf der Ergänzung; in Anwendung von
Art. 64 Abs. 1 OG
ist das angefochtene Urteil deshalb aufzuheben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. | de |
ce28f2dc-5ff7-4c4e-bdef-0bf36245b76b | Sachverhalt
ab Seite 244
BGE 102 II 243 S. 244
A.-
Der Viehhändler Hermann Jud besass in Winterthur-Seen insbesondere die Liegenschaft Nr. 3865, bestehend aus dem Restaurant "Klösterli", mehreren Nebenbauten und einigen Tausend m2 Umschwung. Am 22. Februar 1960 verkaufte er 1938 m2, welche als Parzelle Nr. 5074 im Grundbuch eingetragen wurden, an Hans Mattenberger. Ein weiteres Stück Land trat er später an einen Schwiegersohn ab.
Im Kaufvertrag vom 22. Februar 1960 sahen die Parteien zulasten des verbleibenden Stammgrundstückes, das die Nr. 5460 erhielt, ein Vorkaufsrecht zugunsten des Käufers vor. Verkäufe an die nächsten Verwandten oder Verschwägerten des Eigentümers wurden davon ausgenommen. Das Vorkaufsrecht
BGE 102 II 243 S. 245
war zudem unübertragbar und unvererblich; es sollte nur Mattenberger persönlich zustehen und erlöschen, wenn er es im ersten Vorkaufsfall nicht ausübte oder sein Grundstück Nr. 5074 veräusserte. Die Parteien vereinbarten ferner, das Vorkaufsrecht für die höchstzulässige Dauer von zehn Jahren im Grundbuch vorzumerken; es sollte unter ihnen aber solange gelten, als Mattenberger Eigentümer der Parzelle Nr. 5074 ist oder das Recht im ersten Vorkaufsfall nicht ausübte (Ziff. 9 des Vertrages).
Das Vorkaufsrecht wurde im Mai 1960 im Grundbuch vorgemerkt und im Mai 1970 infolge Zeitablaufs wieder gelöscht. Am 3. September 1971 verkaufte Jud die Liegenschaft Nr. 5460, die nebst dem Restaurant und den Nebenbauten noch 1097 m2 Hof, Garten und Wiese umfasste, zum Preise von Fr. 380'000.-- an Alfred Gambirasio. Dieser hatte die Liegenschaft seit einigen Jahren gepachtet und die Bauten teilweise verbessert oder abgeändert. Am 15. September 1971 teilte Mattenberger dem Verkäufer mit, dass er sein Vorkaufsrecht ausübe. Jud hielt ihm entgegen, das Vorkaufsrecht sei im Grundbuch gelöscht worden und bestehe nicht mehr.
B.-
Im Januar 1972 klagte Mattenberger gegen Jud auf Feststellung, dass er an der Liegenschaft Nr. 5460 ein Vorkaufsrecht habe. Er beantragte ferner, dass die Liegenschaft zu den im Kaufvertrag zwischen Jud und Gambirasio festgelegten Bedingungen auf ihn übertragen werde.
Das Bezirksgericht Zürich und auf Appellation hin am 17. Februar 1976 auch das Obergericht des Kantons Zürich hiessen die Klage gut. Sie stellten das Vorkaufsrecht fest und verpflichteten den Beklagten, die Liegenschaft Nr. 5460 auf den Kläger zu übertragen.
Der Beklagte führte gegen das Urteil des Obergerichtes kantonale Nichtigkeitsbeschwerde, die vom Kassationsgericht des Kantons Zürich am 22. Juni 1976 abgewiesen wurde.
C.-
Der Beklagte hat gegen das Urteil des Obergerichtes auch Berufung eingelegt. Er beantragt, es aufzuheben und die Klage abzuweisen oder sie nur unter Erhöhung des Kaufpreises auf Fr. 500'000.-- gutzuheissen; eventuell sei das Berufungsverfahren für drei Monate zu sistieren.
Der Kläger hält nicht nur die Berufung, sondern auch das Sistierungsbegehren für unbegründet und beantragt, das angefochtene Urteil zu bestätigen.
BGE 102 II 243 S. 246 Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Der Beklagte macht vorweg geltend, die Gemeinde Winterthur habe gemäss Mitteilung des Grundbuchamtes vom 27. September 1976 gestützt auf § 64 des kantonalen Raumplanungsgesetzes ein gesetzliches Vorkaufsrecht an der streitigen Liegenschaft angemeldet; das Verfahren könne dadurch gegenstandslos werden und sei deshalb bis zum Entscheid der Gemeinde auszusetzen.
Dazu besteht indes kein Anlass, da ein gesetzliches Vorkaufsrecht den Ausgang des Berufungsverfahrens so oder anders nicht beeinflusst. Dazu kommt, dass es sich um eine neue Tatsache und um eine Einrede aus kantonalem Recht handelt. Solche Vorbringen sind gemäss
Art. 55 Abs. 1 lit. c OG
unzulässig.
2.
Nach der Auffassung des Beklagten ist Ziff. 9 des Kaufvertrages vom 22. Februar 1960 nichts dafür zu entnehmen, dass die Parteien das Vorkaufsrecht über die gesetzlich vorgesehene Höchstdauer von zehn Jahren verlängern wollten; es sei namentlich nicht die Absicht des Verkäufers gewesen, dem Kläger ein zeitlich unbeschränktes Vorkaufsrecht einzuräumen. Der Hinweis auf
Art. 681 ZGB
zeige, dass das Recht nur innerhalb der vom Gesetz selber aufgestellten Frist bestehen sollte. Die gegenteilige Auffassung des Obergerichtes beruhe auf einer unrichtigen Auslegung des Vertrages und verletze Bundesrecht.
Ein Vertrag kommt durch Übereinstimmung der gegenseitigen Willensäusserungen zustande (
Art. 1 OR
); es ist also nicht notwendig, dass auch der tatsächliche Wille der Parteien übereinstimme. Im vorliegenden Fall deckten sich aber die Äusserungen der Parteien über den Umfang und die Dauer des Vorkaufsrechtes. Das erhellt daraus, dass beide den ihre Erklärungen enthaltenden Vertrag unterzeichnet haben. Dass sie einen von ihren Äusserungen abweichenden übereinstimmenden Willen gehabt hätten, der nach
Art. 18 Abs. 1 OR
ihren Erklärungen vorginge, ist nicht festgestellt und wird vom Beklagten auch nicht behauptet. Dieser beruft sich vielmehr selber auf Ziff. 9 des Vertrages. Fragen kann sich somit nur, wie die Abrede über das Vorkaufsrecht nach der Vertrauenstheorie auszulegen ist (
BGE 95 II 549
und 553 mit Zitaten, ferner
BGE 101 II 331
Erw. 2).
BGE 102 II 243 S. 247
Nach Ziff. 9 der Vertrages sollte das Vorkaufsrecht zugunsten des Käufers erlöschen, wenn er es im ersten Vorkaufsfall nicht ausübte oder sein Grundstück veräusserte. Es ist unbestritten, dass keine dieser Voraussetzungen erfüllt ist. Eine weitere Abrede über die Dauer des streitigen Rechts ist darin zu erblicken, dass dem Käufer ein "Vorkaufsrecht im Sinne von
Art. 681 ZGB
" eingeräumt wurde. Nach dieser Vorschrift besteht ein Vorkaufsrecht, das im Grundbuch vorgemerkt ist, während der in der Vormerkung angegebenen Zeit (Abs. 1), erlischt aber in jedem Fall zehn Jahre nach der Vormerkung (Abs. 3). Damit stimmt überein, dass die Parteien vereinbarten, das Vorkaufsrecht sei für die höchstzulässige Dauer von zehn Jahren, gerechnet vom Tage der Anmeldung an, im Grundbuch vorzumerken. Sie begnügten sich indes nicht mit dieser Frist, sondern fügten ausdrücklich bei, das Vorkaufsrecht "dauert unter den Parteien aber solange, als ... Mattenberger Eigentümer des heutigen Kaufsobjektes ist" und es nicht dadurch verwirkt, dass er es "im ersten Vorkaufsfall nicht ausübt". Diese zusätzliche Regelung steht im Gegensatz zur vorausgehenden Vereinbarung über die Vormerkungsfrist, von der sie sich zudem klar unterscheidet. Sie kann nur dahin verstanden werden, dass unter den Parteien eine von
Art. 681 ZGB
abweichende Dauer gelte, das Vorkaufsrecht also nicht notwendig mit der Löschung der Vormerkung untergehen sollte. Die Annahme des Obergerichts, der Beklagte habe dem Kläger nach dem letzten Satz der Klausel - die vertraglichen Verwirkungsgründe vorbehalten - ein zeitlich unbeschränktes Vorkaufsrecht eingeräumt, ist daher nicht zu beanstanden.
3.
Der Beklagte macht ferner geltend, mit der Löschung des Grundbucheintrages sei nicht nur die sachenrechtliche, sondern auch die obligatorische Bindung zwischen den Parteien dahingefallen; eine mehr als zehnjährige Dauer widerspreche jedenfalls dem
Art. 681 ZGB
und sei daher unzulässig.
Das Bundesgericht nahm zunächst an, es sei mit
Art. 683 Abs. 2 ZGB
unvereinbar, ein Rückkaufsrecht über die gesetzliche Dauer von zehn Jahren hinaus vertraglich vorzusehen (
BGE 49 II 335
Erw. 3). Im Jahre 1927 gab es diese Praxis auf und entschied, die zehnjährige Frist der Art. 681 Abs. 3 und 683 Abs. 2 ZGB gelte nur für die verstärkte Wirkung gegenüber Dritten, nicht auch für die Wirkung unter den Vertragsparteien
BGE 102 II 243 S. 248
und ihren Rechtsnachfolgern; Vorkaufs-, Kaufs- und Rückkaufsrechte könnten deshalb im Rahmen der
Art. 2 und 27 ZGB
grundsätzlich auf unbestimmte Zeit begründet werden (
BGE 53 II 394
Erw. 3). Diese Rechtsprechung ist bis in die neueste Zeit wiederholt bestätigt und in der Lehre jedenfalls dem Grundsatze nach mehrheitlich gebilligt worden (
BGE 97 II 55
mit Zitaten). Anderer Meinung sind LIVER (Kommentar zum Sachenrecht, N. 136 ff. der Einleitung), BECKER (N. 9 zu
Art. 216 OR
), MERZ (Zur zeitlichen Begrenzung des Kaufs-, Vorkaufs- und Rückkaufsrechts, in der Festgabe Simonius, Basel 1955, S. 235 ff.) und GUHL/MERZ/KUMMER (OR 6. Aufl. S. 302).
LIVER anerkennt, dass ein sachenrechtlich unzulässiges Nutzungsrecht an Grundstücken als obligatorisches Recht grundsätzlich gültig begründet, insbesondere ohne zeitliche Beschränkung vereinbart werden darf. Beim Vorkaufsrecht habe dies nach Ablauf der Verwirkungsfrist zur Folge, dass der Dritte das Grundstück unbelastet erwerben könne, der Veräusserer seine Verpflichtung gegenüber dem Berechtigten aber zwangsläufig verletze; de lege ferenda sei das jedenfalls eine verkehrte Ordnung. Wenn der Gesetzgeber Vorkaufs-, Kaufs- und Rückkaufsrechte von unbeschränkter Dauer zulassen wollte, hätte er ihnen den Vormerkungsschutz für die ganze Dauer ihres Bestehens gewähren sollen. LIVER scheint also bloss die gesetzliche Ordnung, nicht die herrschende Lehre oder die in
BGE 53 II 394
eingeleitete Rechtsprechung, die er ausdrücklich anführt, zu kritisieren.
BECKER folgert aus der Entstehungsgeschichte des
Art. 216 OR
, dass
Art. 681 ZGB
sinngemäss auch für das rein obligatorische Vorkaufsrecht, das im Grundbuch nicht vorgemerkt ist, gelte und es daher auf zehn Jahre begrenze. Die Entstehungsgeschichte spricht indes, wie in
BGE 53 II 395
ff. ausgeführt worden ist, eher gegen eine gesetzliche Begrenzung des vertraglichen Vorkaufsrechtes. Nach MERZ und GUHL/MERZ/KUMMER hindert dies den Richter freilich nicht, die Bestimmungen über das Vorkaufsrecht nach ihrem Zusammenhang, den ihnen zugrunde liegenden Wertungen und Interessen auszulegen und so zu einer einheitlichen Beschränkung von zehn Jahren zu gelangen, zumal die meisten Gestaltungsrechte gesetzlich befristet seien.
BGE 102 II 243 S. 249
Unter der Herrschaft des geltenden Rechts stösst eine einheitliche Höchstdauer von zehn Jahren indes schon deshalb auf Schwierigkeiten, weil die Frist des
Art. 681 Abs. 3 ZGB
erst mit der Vormerkung im Grundbuch zu laufen beginnt. Die Vormerkung erfolgt dagegen selten am Tage des Vertragsschlusses, weshalb die obligatorische Bindung enden kann, bevor die Frist des
Art. 681 Abs. 3 ZGB
abgelaufen ist. Zu bedenken ist ferner, dass das Vorkaufsrecht oft als besondere Abrede zu einem Dauerschuldverhältnis, z.B. einem Mietvertrag, gehört und deshalb der Natur der Sache nach so lange gilt wie dieser Vertrag. Das räumt auch MERZ ein, indem er ausführt, wenn ein Gestaltungsrecht nicht befristet sei, handle es sich um ein "tragendes Rechtsverhältnis" (z.B. Miete), wobei das Gestaltungsrecht so lange dauere wie das Grundverhältnis. Beim Vorkaufsrecht spricht diese Überlegung aber gegen eine Beschränkung auf zehn Jahre; denn das Gestaltungsrecht, nämlich die Ausübung des Vorkaufsrechtes, ist befristet; es erlischt mit dem Ablauf eines Monates, nachdem der Berechtigte vom Verkauf Kenntnis erhalten hat (
Art. 681 Abs. 3 ZGB
). Das Grundverhältnis ist zudem ein aufschiebend bedingter Kaufvertrag; Ansprüche aus diesem Vertragsverhältnis können aber bis zum Eintritt des Vorkaufsfalles nicht verjähren (
BGE 97 II 56
und dort angeführte Urteile).
Schliesslich darf nicht übersehen werden, dass eine einheitliche Lösung gemäss
Art. 681 Abs. 3 ZGB
in Fällen, wie hier, auf eine Beschränkung der Vertragsfreiheit hinausliefe, die das Bundesgericht ausdrücklich auch für den Vorkaufsvertrag anerkannt hat (
BGE 78 II 357
). Gewiss besteht ein von den Parteien auf unbestimmte Zeit vereinbartes Vorkaufsrecht nur unter den allgemeinen Vorbehalten der
Art. 2 und 27 ZGB
. Nach
Art. 19 Abs. 1 OR
darf der Inhalt eines Vertrages innerhalb der Schranken des Gesetzes jedoch beliebig festgelegt werden. Eine solche Schranke besteht nicht für das Vorkaufsrecht als solches, sondern nur für den Vormerkungsschutz. Der Richter könnte daher
Art. 681 Abs. 3 ZGB
nicht auf eine weitergehende Abrede der Parteien anwenden, ohne den Vertragsinhalt zu ändern. Das steht ihm nicht zu, zumal eine über die Vormerkungsfrist hinausgehende Abrede berechtigten wirtschaftlichen Interessen entsprechen, die sich aus dem Vertrag ergebende Risikoverteilung also auch nach Ablauf
BGE 102 II 243 S. 250
der Frist begründet sein kann (vgl. MEIER-HAYOZ, N. 316 ff. zu
Art. 681 ZGB
und ZBJV 92 S. 297 ff.). Das sind weitere beachtliche Gründe dafür, an der seit 1927 bestehenden Rechtsprechung festzuhalten.
4.
Der Beklagte bestreitet, dass ein Vorkaufsfall vorliege. Er macht geltend, er habe vom Pächter erbrachte Leistungen berücksichtigt und aus diesem Grunde von ihm nicht den objektiven Verkehrswert, der zur Zeit des Vertragsschlusses Fr. 500'000.-- betragen habe, sondern bloss Fr. 380'000.-- verlangt. Es sei deshalb eine gemischte Schenkung anzunehmen, die keinen Vorkaufsfall darstelle (
BGE 101 II 62
). Jedenfalls gehe es nicht an, dass der Kläger aus dem Sonderverhältnis, das einzig zwischen den Parteien des Kaufvertrages vom 3. September 1971 bestanden habe, Nutzen ziehen und die Liegenschaft zum herabgesetzten Preise erwerben könne; der Kläger habe zu deren Wertvermehrung nichts beigetragen und daher keinen Anspruch auf eine besondere Behandlung wie der Pächter.
Der vom Bezirksgericht beigezogene Sachverständige schätzte die streitige Liegenschaft zur Zeit, als sie an Gambirasio verkauft wurde, auf Fr. 390'000.--. Das sind Fr. 10'000.-- mehr als die Parteien vereinbarten. Der Beklagte behauptete dagegen schon im kantonalen Verfahren, die Liegenschaft sei zur Zeit des Vertragsschlusses Fr. 500'000.-- wert gewesen. Das Obergericht hat sich damit nicht auseinandergesetzt. Es stellt aber gestützt auf die eigenen Angaben des Beklagten fest, Gambirasio habe den vom Beklagten behaupteten Mehrwert selber geschafft, also "nichts geschenkt" bekommen, weil er bestehende Bauten umgeändert, neue errichtet und auch sonstige Verbesserungen auf eigene Kosten vorgenommen habe. Mit diesen Feststellungen ist der Behauptung des Beklagten, es liege eine gemischte Schenkung und daher kein Vorkaufsfall vor, die Grundlage entzogen. Dass der Beklagte den Kaufpreis auch mit Rücksicht auf das besondere Verhältnis zwischen den Parteien auf Fr. 380'000.-- festgesetzt haben will, hilft ihm nicht. Die Vereinbarung eines günstigen Preises wegen besonderer Beziehungen zwischen den Vertragsparteien macht den Verkauf nicht zu einer Schenkung, auch nicht teilweise (
BGE 77 II 39
,
BGE 89 II 78
,
BGE 98 II 358
; vgl. ferner
BGE 94 II 273
). Davon kann hier umso weniger die Rede sein, als diese Beziehungen nach den Vorbringen des
BGE 102 II 243 S. 251
Beklagten einzig darin begründet sind, dass der Pächter eigene Leistungen erbracht und sich um die Wertvermehrung der Liegenschaft verdient gemacht hat.
Dazu kommt, dass die Vertragsparteien den Kaufpreis nicht simuliert, sondern mit Fr. 380'000.-- im Vertrag vom 3. September 1971 richtig angegeben haben. Der Vertrag enthält keine Anhalte dafür, dass sie den Wertvermehrungen des Pächters durch eine erhebliche Herabsetzung der Kaufsumme Rechnung tragen wollten, wie der Beklagte behauptet. Die Behauptung widerspricht vielmehr den Feststellungen der Vorinstanz über den Willen der Vertragschliessenden und über den Umfang der gegenseitigen Leistungen. Das Obergericht stellt fest, dass der Kaufpreis mit Gambirasio auch nach der Sachdarstellung des Beklagten, wie im Kaufvertrag beurkundet, auf Fr. 380'000.-- beziffert worden sei. Zu diesem Betrage sollte der Käufer die Liegenschaft mit den von ihm selber bezahlten Änderungen, die zur Zeit des Vertragsschlusses weitgehend bereits ausgeführt und im übrigen vorbereitet waren, übernehmen; zur Kaufsache habe ferner ein Tank gehört, den der Beklagte noch liefern sollte. Zwischen den Vertragsparteien sei nur der öffentlich beurkundete Kaufpreis vereinbart worden. Diese Feststellungen beruhen nicht auf einer blossen Auslegung des Vertrages, sondern auf Würdigung des Beweisergebnisses und binden daher das Bundesgericht (
BGE 96 II 148
/9 mit Zitaten). Sie können nur dahin verstanden werden, dass die volle Gegenleistung für die Liegenschaft durch übereinstimmende Willensäusserungen der Parteien auf die beurkundete Kaufsumme festgesetzt worden ist; andernfalls würde den Parteien eine zivilrechtliche Falschbeurkundung unterstellt. Haben die Parteien im Vertrag aber die ganze Gegenleistung angegeben, so müssen sie sich dabei behaften lassen, wenn ein Dritter das Vorkaufsrecht geltend macht; der Verkäufer hat diesfalls keinen Anspruch darauf, dass der Vorkaufsberechtigte ihm einen höheren Preis bezahle.
Aus
BGE 82 II 577
ff. kann der Beklagte nichts zu seinen Gunsten ableiten. In jenem Fall hatten die Vertragsparteien die vom Mieter auf eigene Kosten vorgenommenen Umbauten und Installationen aus Irrtum nicht berücksichtigt; sie hoben deshalb den Vertrag auf und schlossen einen neuen, in dem sie die Aufwendungen des Mieters, der als Käufer auftrat, ausdrücklich
BGE 102 II 243 S. 252
erwähnten. Das Bundesgericht entschied, dass das Vorkaufsrecht die Vertragsschliessenden nicht hindere, sich wegen eines Willensmangels auf die Ungültigkeit des Vertrages zu berufen. Im vorliegenden Fall ist ein Irrtum über die Bestimmung des Kaufpreises nie behauptet worden und übrigens nach den Feststellungen des Obergerichtes ausgeschlossen.
Ob Gambirasio einen Bereicherungsanspruch habe und, wenn ja, gegen wen, hat das Bundesgericht nicht zu prüfen, da er nicht Prozesspartei ist. | de |
5198e993-e98a-4ca8-940c-11bdd6fdc6ad | Sachverhalt
ab Seite 258
BGE 106 IV 257 S. 258
K. führte vom 1. Juni 1969 bis 31. Oktober 1976 als Gerant zusammen mit seiner Frau ein Hotel in D., das einer Hotel-Betriebs-Aktiengesellschaft gehört. Er bezog ein festes Grundgehalt sowie eine fixe Spesenentschädigung und war zusätzlich am Bruttoumsatz beteiligt. Darüber hinaus wurde ihm ohne Berechnung eines Mietzinses eine 3-4-Zimmerwohnung zur Verfügung gestellt, und er hatte auch für sich und seine Familie Anspruch auf freie Verpflegung und Gratisbesorgung der Wäsche. Als Gerant war K. unter anderem gehalten, den laufenden Zahlungsverkehr zu besorgen sowie zuhanden der mit der Buchhaltung betrauten Treuhandfirma die Hilfsbücher zu führen.
Während seiner Gerantentätigkeit erhielt K. von verschiedenen Lieferanten Umsatzrückvergütungen (Umsatzboni) im Gesamtbetrage von Fr. 21'238.95. Diese Rückvergütungen liess er nicht der Arbeitgeberin zukommen, sondern behielt sie für sich.
Am 25. Juni 1976 bezahlte die Waadt-Unfallversicherung K., der wegen eines Unfalles dreissig Tage arbeitsunfähig gewesen war,
BGE 106 IV 257 S. 259
eine Taggeldentschädigung von Fr. 4'230.--. Er trug diese Zahlungen nicht als Einnahme ins Kassabuch ein, sondern verwendete das Geld für sich, obwohl die Abrechnung an seine Arbeitgeberin als Versicherungsnehmerin adressiert war. Die Hotel-Betriebs-Aktiengesellschaft hatte jeweils die Versicherungsprämien entrichtet und überdies K. für die Zeit seiner Arbeitsunfähigkeit den vollen Lohn bezahlt. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Wer sich eine ihm anvertraute, fremde, bewegliche Sache aneignet oder wer anvertrautes Gut, namentlich Geld, unrechtmässig in seinem oder eines anderen Nutzen verwendet, um sich oder einen anderen damit unrechtmässig zu bereichern, macht sich der Veruntreuung im Sinne von
Art. 140 Ziff. 1 StGB
schuldig.
Anvertraut ist dem Täter Geld, wenn er es nicht im eigenen Interesse, sondern im Interesse eines anderen empfängt mit der Verpflichtung, es in einem bestimmten Sinne zu verwenden, insbesondere um es zu verwahren, zu verwalten oder abzuliefern. Eine solche Verpflichtung kann auf ausdrücklicher oder stillschweigender Abmachung beruhen. Es ist belanglos, ob der Täter die Sache oder das Geld vom Verletzten oder Dritten erhalten hat (
BGE 101 IV 163
E. 2a mit Hinweisen).
2.
Nach Auffassung der Vorinstanz standen die von den Lieferanten gezahlten Rückvergütungen im Betrage von Fr. 21'238.95 ausschliesslich der Arbeitgeberin zu und nicht dem Beschwerdeführer. Zu diesem Schluss gelangte die Vorinstanz aufgrund von drei verschiedenen, selbständigen Überlegungen: in den Arbeitsverträgen sei das Entgelt des Beschwerdeführers abschliessend geregelt, ohne Erwähnung von solchen Rückvergütungen; aus dem Gutachten von Dr. H. T. folge, dass solche Rückvergütungen (Umsatzboni) nach den Gepflogenheiten im Gastgewerbe mangels gegenteiliger Absprache dem Arbeitgeber zukämen; das Verhalten des Beschwerdeführers beweise, dass dies auch für ihn gegolten habe.
Was letzteres betrifft, stellt die Vorinstanz auf die Aussagen von drei langjährigen Verwaltungsratsmitgliedern der Geschädigten ab, die zu Protokoll gaben, sie hätten sich mehrfach bei K. erkundigt, aus welchen Gründen in den Geschäftsbüchern fast keine Umsatzvergütungen ausgewiesen würden und ihn
BGE 106 IV 257 S. 260
gefragt, ob er als Gerant über seinen Lohn hinaus noch andere finanzielle Zuwendungen einkassiere. Der Beschwerdeführer habe jeweils den Empfang zusätzlicher Zahlungen entrüstet bestritten und geltend gemacht, er vereinbare mit den Lieferanten in der Regel Nettopreise. Daraus schloss die Vorinstanz, dass sich der Beschwerdeführer nicht berechtigt fühlte, die Umsatzboni für sich zu verwenden, ansonst er den Eingang dieser Beträge nicht verschwiegen hätte. Die Vorinstanz hat aufgrund dieser Sachlage den Schluss gezogen, dass sowohl nach Meinung der Arbeitgeberin als auch nach Ansicht des Beschwerdeführers die Einnahmen aus den Umsatzboni gemäss vertraglicher Vereinbarung ausschliesslich der Arbeitgeberin zustehen.
Der tatsächliche Wille der Vertragsparteien ist eine Tatfrage, welche der Sachrichter für das Bundesgericht verbindlich festgestellt hat (
BGE 96 II 148
E. 1 mit Hinweisen; vgl. auch
BGE 104 IV 36
E. 1). Die vom Beschwerdeführer an dieser Feststellung der Vorinstanz geübte Kritik ist daher nicht zu hören (
Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP
). Das Gleiche gilt für die Geschäftsübung, welche die Vorinstanz gestützt auf ein Gutachten verbindlich festgestellt hat.
Es besteht für den Kassationshof kein Anlass, den Vertrag nach Treu und Glauben anders auszulegen, als es die Vorinstanz nach den Umständen getan hat.
Geht man davon aus, dass die Umsatzboni nach Vertrag der Arbeitgeberin zukommen, kann offenbleiben, wie der Vertrag mit der früheren Arbeitgeberin zu verstehen war. Auf die vom Beschwerdeführer in diesem Zusammenhang erhobenen Rügen ist daher nicht einzutreten. Kritik am Verfahren und der Beweiswürdigung der Vorinstanz sowie die Rügen wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs können nur im Rahmen einer staatsrechtlichen Beschwerde geltend gemacht werden.
3.
Der Beschwerdeführer hat ferner die Taggeldentschädigung der Waadt-Unfallversicherung von Fr. 4'230.-- für sich behalten. Auch in diesem Verhalten erblickte die Vorinstanz eine Veruntreuung.
a) Rechtsfrage ist, ob nach den gegebenen Umständen die Unfallentschädigung vertraglich der Arbeitgeberin oder dem Beschwerdeführer zufiel.
Die Vorinstanz hat ersteres angenommen, im wesentlichen mit der Begründung, dass die Arbeitgeberin die Versicherungsprämien
BGE 106 IV 257 S. 261
selbst entrichtet und dem Beschwerdeführer während der Arbeitsunfähigkeit den vollen Lohn bezahlt habe. Auch lautete die Entschädigungsabrechnung der Versicherung welche der Beschwerdeführer unterschrieben hatte, ausdrücklich auf die Hotel-Betriebs-Aktiengesellschaft. Analog sieht Ziff. 6 des Gerantenvertrages vor, dass bei Lohnzahlungen während militärdienstlicher Abwesenheit die Erwerbsausfallentschädigung der Arbeitgeberin zufalle.
Der Kassationshof hat keinen Anlass, von dieser Vertragsauslegung der Vorinstanz abzuweichen. Der Umstand, dass im Versicherungsvertrag der Beschwerdeführer als Versicherungsnehmer figuriert, ändert nichts daran, dass die Unfallentschädigung an den Versicherten billigerweise der Arbeitgeberin zufalle, wenn diese sowohl die Versicherungsprämie zahlt als auch dem Arbeitnehmer während der Arbeitsunfähigkeit den vollen Lohn ausrichtet.
b) Der Beschwerdeführer will die Unfallentschädigung für sich genommen haben, ohne daran zu denken, dass diese der Arbeitgeberin zustehen könnte.
Der Beschwerdeführer bestreitet damit sinngemäss, vorsätzlich gehandelt zu haben.
Was der Beschwerdeführer zur Zeit der Tat gedacht und gewollt hat (innerer Sachverhalt), ist eine Tatfrage, welche der Sachrichter für den Kassationshof verbindlich entschieden hat (
Art. 273 Abs. 1 lit. b,
Art. 277bis Abs. 1 BStP
). Die Vorinstanz hat die den Vorsatz begründenden Tatumstände bejaht. Auf diese Rüge kann daher nicht eingetreten werden. | de |
c17e955b-3cf1-4ffe-94b2-b313c50d6d9e | Sachverhalt
ab Seite 209
BGE 132 II 209 S. 209
Am 19. Juni 2003 beschloss die Einwohnergemeinde Gelterfingen einen Zonenplan und ein Baureglement. Damit wurde unter anderem
BGE 132 II 209 S. 210
das bisher in der Landwirtschaftszone gelegene Gebiet "Houene" gemäss Zonenplan Nr. 1a der Wohnzone W2 zugewiesen.
Mit Verfügung vom 25. November 2003 genehmigte das kantonale Amt für Gemeinden und Raumordnung (AGR) die Ortsplanungsrevision und wies mehrere Einsprachen ab. Als Auflage fügte das AGR unter anderem bei, die Gemeinde habe dafür zu sorgen, dass während des Herbstschiessens eine mobile Lärmschutzwand, wie im Gutachten der HSR Ingenieure skizziert, erstellt werde.
Dagegen erhoben die Einsprecher Beschwerde an die Justiz-, Gemeinde- und Kirchendirektion des Kantons Bern (JGK) mit dem Antrag, die Genehmigungsverfügung des AGR sei teilweise aufzuheben und das Gebiet "Houene" sei nicht einzuzonen bzw. in der heutigen Zone zu belassen. Nachdem die JGK mehrere Unterlagen beigezogen hatte, wies sie die Beschwerde am 18. November 2004 ab. Eine dagegen eingereichte Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Bern teilweise gut, indem es den angefochtenen Entscheid in Bezug auf bestimmte Grundstücksteile aufhob und die Sache zur Neubeurteilung im Sinne der Erwägungen an die JGK zurückwies. Im Übrigen wies das Verwaltungsgericht die Beschwerde ab, soweit es darauf eintrat.
Soweit das Verwaltungsgericht auf die Beschwerde nicht eintrat, begründete es seinen Entscheid im Wesentlichen damit, dass die Beschwerdeführer durch die Einzonung eines Teils der einem Dritten gehörenden Parzelle Nr. 344 nicht in ihren zivilen Rechten im Sinne von
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
berührt seien, weshalb sich insoweit die Zulässigkeit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde nicht aus Art. 61a Abs. 3 Bst. a des Baugesetzes des Kantons Bern vom 9. Juni 1985 (BauG) ergebe. Zudem erachtete es die Verwaltungsgerichtsbeschwerde auch nicht als zulässig, soweit die Beschwerdeführer rügten, die angefochtene Einzonung verstosse gegen Raumplanungsziele, sei überdimensioniert, unangemessen und planerisch verfehlt, verletze den regionalen Landschaftsrichtplan, das kommunale Landschaftsentwicklungskonzept und die kantonale Richtplanung, sei durch den öffentlichen Verkehr schlecht erschlossen und diene in Wirklichkeit bloss der Finanzierung der Wasserversorgung.
Hiergegen führen die unterlegenen Parteien Verwaltungsgerichtsbeschwerde, die das Bundesgericht gutheisst, soweit das Verwaltungsgericht auf die kantonale Verwaltungsgerichtsbeschwerde nicht eintrat.
BGE 132 II 209 S. 211
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist unter Vorbehalt der Ausnahmen gemäss
Art. 99-102 OG
zulässig gegen kantonal letztinstanzliche Verfügungen, die sich auf öffentliches Recht des Bundes stützen oder hätten stützen sollen (
Art. 97 OG
in Verbindung mit
Art. 5 VwVG
). Vorliegend angefochten ist ein im Rahmen der Ortsplanungsrevision gefällter Entscheid, der unter anderem das in der Landwirtschaftszone gelegene Gebiet "Houene" der Wohnzone W2 zuweist. Beim diesbezüglichen Zonenplan handelt es sich um einen Nutzungsplan im Sinne von Art. 14 des Bundesgesetzes vom 22. Juni 1979 über die Raumplanung (Raumplanungsgesetz, RPG; SR 700). Ein solcher Nutzungsplan unterliegt gemäss
Art. 34 Abs. 3 RPG
der staatsrechtlichen Beschwerde. Indessen ist gemäss der Rechtsprechung des Bundesgerichts die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen Nutzungspläne dann zulässig, wenn der Nutzungsplan auf Bundesverwaltungsrecht abgestützte Anordnungen enthält. Insoweit stellt das Bundesgericht die Anordnungen im Nutzungsplanverfahren einer Verfügung im Sinne von
Art. 5 VwVG
gleich. Sind im Plan enthaltene, auf Bundesverwaltungsrecht abgestützte Anordnungen umstritten oder wird das Fehlen solcher Anordnungen bemängelt, so ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde zulässig, soweit kein Ausschlussgrund gemäss
Art. 99 ff. OG
gegeben ist (vgl.
BGE 129 I 337
E. 1.1 S. 339;
BGE 125 II 18
E. 4c/cc S. 25;
BGE 123 II 88
E. 1a S. 91,
BGE 123 II 289
E. 1b S. 291;
BGE 121 II 39
E. 2b S. 42 f., je mit Hinweisen).
2.1
Der Zonenplan Nr. 1a, der für das Gebiet "Houene" eine Wohnzone W2 festlegt, bildet zusammen mit dem Zonenplan Nr. 1 und dem kommunalen Baureglement die baurechtliche Grundordnung der Einwohnergemeinde Gelterfingen. Von der Einzonung in der "Houene" werden die bereits überbauten Parzellen Nrn. 118, 497, 512, 513, 504 und 541 sowie ein Teil der grossen und noch nicht überbauten Parzelle Nr. 344 erfasst. Die Gesamtfläche des eingezonten Gebiets beläuft sich damit auf 1.83 ha, wovon 0.73 ha auf bereits überbaute Grundstücke fallen. Zusätzlich zur Nutzungsplanfestsetzung weist der Zonenplan im westlichen Bereich eine schraffierte Fläche auf; sie kennzeichnet das durch den Schiessplatz mit Lärm vorbelastete Gebiet, für welches die Bestimmungen der Lärmempfindlichkeitsstufe III gelten. Für die übrige eingezonte Fläche wurde die Lärmempfindlichkeitsstufe II festgelegt (vgl. Art. 33 Abs. 3 des Baureglements vom August 2003).
BGE 132 II 209 S. 212
2.2
Die Beschwerdeführer machen geltend, das Verwaltungsgericht sei zu Unrecht auf ihre Rügen betreffend Verletzung der Raumplanungsziele (
Art. 1 RPG
), der Raumplanungsgrundsätze (
Art. 3 RPG
), des Richtplans des Kantons Bern, des Landschaftsrichtplans Region Gürbethal und des kommunalen Landschaftsentwicklungskonzepts (LEK) nicht eingetreten.
Das Verwaltungsgericht erwog, die streitige Einzonung sei keine Überbauungsordnung im Sinne von Art. 61a Abs. 3 Bst. c des kantonalen Baugesetzes vom 9. Juni 1985 (BauG), sondern ein reiner Zonenplan. Die Zulässigkeit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde könne sich daher einzig aus Art. 61a Abs. 3 Bst. a (
Art. 6 EMRK
) oder b (eidgenössische Verwaltungsgerichtsbeschwerde) BauG ergeben. Nach Art. 61a Abs. 3 Bst. b BauG steht die (kantonale) Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen Entscheide der JGK offen, soweit gegen den kantonal letztinstanzlichen Entscheid die Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht möglich ist. Der Rechtsweg an das Verwaltungsgericht ist somit von denselben Voraussetzungen abhängig wie die Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht. Das Verwaltungsgericht stützte sich bei der Prüfung der Frage, welche Einwände gegen den Entscheid der JGK bei ihm erhoben werden können, ausser auf die eigene Praxis denn auch auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur eidgenössischen Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Dabei gelangte es zum Schluss, die Verwaltungsgerichtsbeschwerde sei zulässig, soweit die Beschwerdeführer eine Umgehung von
Art. 24 RPG
und die Verletzung von
Art. 24 des Bundesgesetzes vom 7. Oktober 1983 über den Umweltschutz (Umweltschutzgesetz, USG; SR 814.01)
rügten. Hingegen stehe dieses Rechtsmittel nicht zur Verfügung, soweit raumplanerische Rügen erhoben würden. Dasselbe gelte sodann auch hinsichtlich der weiteren Einwände betreffend die Finanzierung der Wasserversorgung, die Schule Gelterfingen und die angeblich schlechte Erschliessung des einzuzonenden Gebiets durch den öffentlichen Verkehr. Diese Rügen hätten keinen engen Zusammenhang mit bundesumweltrechtlichen Fragestellungen. Sie beträfen zudem weitgehend Ermessensfragen oder rein politische Fragestellungen, die ohnehin ausserhalb der Kognition des Verwaltungsgerichts lägen. Insoweit trat das Verwaltungsgericht daher auf die Beschwerde nicht ein.
2.2.1
Soweit die Beschwerdeführer eine Umgehung von
Art. 24 RPG
und eine Verletzung von
Art. 24 USG
gerügt haben, ist das
BGE 132 II 209 S. 213
Verwaltungsgericht zu Recht darauf eingetreten (vgl. E. 2 hiervor und
BGE 123 II 289
E. 1b S. 291;
BGE 117 Ib 9
E. 2b S. 12; Urteile des Bundesgerichts 1A.169/2004 vom 18. Oktober 2004, E. 1.1; 1A.256/ 1999 vom 12. April 2000, E. 1b). Zu prüfen ist in verfahrensrechtlicher Hinsicht somit einzig, ob sein Nichteintretensentscheid in Bezug auf die planungsrechtlichen Rügen haltbar ist. Das Verwaltungsgericht begründete seine Auffassung zunächst unter Hinweis auf seine bisherige Praxis zu Art. 61a Abs. 3 Bst. b BauG und fuhr fort, Gegenteiliges ergebe sich entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer auch nicht aus
BGE 121 II 72
E. 3. Das Bundesgericht habe dort ausgeführt, das kantonale Verwaltungsgericht müsse kraft Sachzusammenhangs auch allfällige Planungsrügen mitbeurteilen, wenn es für Umweltfragen zuständig sei. Dies habe sich einerseits nicht auf einen gewöhnlichen Zonenplan, sondern auf einen projektbezogenen Sondernutzungsplan bezogen, und andererseits auf Raumplanungsrügen, die einen augenfälligen umweltrechtlichen Bezug aufgewiesen hätten und deshalb nicht isoliert hätten betrachtet werden können. Dies bedeute aber nicht, dass sämtliche Planungsfragen im Rahmen der Verwaltungsgerichtsbeschwerde überprüft werden müssten, auch solche, die keinen engen Sachzusammenhang zu umweltrechtlichen Fragen aufweisen würden. Eine solche Auffassung wäre mit
Art. 34 Abs. 3 RPG
unvereinbar. Das Bundesgericht habe denn auch in späteren Fällen bei Beschwerden gegen Planungen unterschieden nach Fragen, die im Rahmen der Verwaltungsgerichtsbeschwerde zu prüfen seien, und solchen, die nur mit staatsrechtlicher Beschwerde vorgebracht werden könnten. Demzufolge verlange auch Art. 61a Abs. 3 Bst. b BauG bzw.
Art. 98a OG
nicht, dass in Bezug auf solche Rügen die kantonale Verwaltungsgerichtsbeschwerde zulässig wäre. Darauf einzutreten würde dem Gesetz widersprechen, welches die Verwaltungsgerichtsbeschwerde nur soweit zulasse, als dies bundesrechtlich verlangt werde.
2.2.2
Dem Verwaltungsgericht ist insoweit beizupflichten, als nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung Planungsrügen mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde nur vorgebracht werden können, wenn sie einen engen Sachzusammenhang mit Bundesverwaltungsrecht, insbesondere dem Umweltschutzrecht, aufweisen. Soweit es jedoch die Auffassung vertritt, die Frage eines derartigen Zusammenhangs stelle sich nur, wenn ein projektbezogener Nutzungsplan zur Beurteilung stehe, ist ihm nicht zu folgen. Das Verwaltungsgericht lässt hierbei unberücksichtigt, dass das Bundesgericht den
BGE 132 II 209 S. 214
Anwendungsbereich der Verwaltungsgerichtsbeschwerde bei der Anfechtung von Raumplänen im Verlauf seiner Rechtsprechung schrittweise ausgedehnt hat:
Schon sehr früh konnte mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen einen Nutzungsplan geltend gemacht werden, mit der Planfestsetzung werde
Art. 24 RPG
umgangen (
BGE 123 II 289
E. 1b S. 291;
BGE 117 Ib 9
E. 2b S. 12 mit weiteren Hinweisen). Im Laufe der weiteren Rechtsprechung nahm das Bundesgericht eine Aufteilung des Raumplans in einen planungsrechtlichen Teil, dem kantonalrechtliche Natur beigemessen wurde, und in einen verfügungsrechtlichen Teil, der - soweit er sich auf Bundesverwaltungsrecht (ausserhalb des Raumplanungsrechts) stützte - mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde anfechtbar war. Entscheidend war dabei, ob der Verfügungsteil, wenn er unabhängig vom Plan erlassen worden wäre, eine Verfügung im Sinne von
Art. 5 VwVG
darstellte und so ein Anfechtungsobjekt der Verwaltungsgerichtsbeschwerde bilden würde. Mit diesem Rechtsmittel anfechtbar waren danach in erster Linie detaillierte Regelungen von Sondernutzungsplänen, daneben aber auch Zonenfeststellungen in Rahmennutzungsplänen, soweit sie konkrete Regelungen für ein bestimmtes Projekt trafen. Massgebend war somit stets, ob sich die Festsetzungen gestützt auf Bundesverwaltungsrecht auf detaillierte Planinhalte bezogen und ihnen dadurch Verfügungscharakter zukam. War dies der Fall, konnte der auf Bundesverwaltungsrecht beruhende Teil mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde angefochten werden. Für die richterliche Überprüfung der raumplanerischen Normen stand indessen nach
Art. 34 RPG
einzig die staatsrechtliche Beschwerde zur Verfügung (vgl.
BGE 118 Ib 11
E. 2c S. 14,
BGE 118 Ib 66
E. 1c/ca S. 71).
In
BGE 120 Ib 292
E. 3 nahm das Bundesgericht sodann eine Erweiterung seiner bisherigen Praxis vor, indem es auch die Zuordnung von Empfindlichkeitsstufen in einem Nutzungsplan im Verfahren nach Art. 44 Abs. 1 und 2 der Lärmschutz-Verordnung vom 15. Dezember 1986 (LSV; SR 814.41) - genau wie im Einzelfall (
Art. 44 Abs. 3 LSV
) - als mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde anfechtbar erklärte. Diesem Entscheid lag die Überlegung zu Grunde, dass die Zuordnung einer Empfindlichkeitsstufe durch einen Plan vom Rechtsschutz her angesichts ihrer Tragweite als Verfügung im Sinne von
Art. 5 VwVG
betrachtet werden müsse (
BGE 120 Ib 287
E. 3c/dd S. 297 [= Pra 84/1995 Nr. 67 S. 221];
BGE 121 II 235
E. 1 S. 237 mit Hinweisen). Damit wurde auf die bis anhin
BGE 132 II 209 S. 215
vorausgesetzte verfügungsähnliche Bestimmtheit des fraglichen Planinhalts verzichtet. Das Bundesgericht unterzog seither auch andere nicht verfügungsgleiche Planinhalte, die vom Bundesverwaltungsrecht (ausserhalb des Raumplanungsrechts) mitbestimmt wurden, der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle, wie etwa die Festlegung von Gewässerschutzzonen (
BGE 121 II 39
E. 2b S. 42 f.) oder die Ausscheidung einer Zone zum Schutz eines Moorgebiets (vgl. Urteil des Bundesgerichts 1A.42/1994 vom 29. November 1994, publ. in: ZBl 97/1996 S. 123 f., E. 1a).
Eine weitere Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Verwaltungsgerichtsbeschwerde leitete das Bundesgericht schliesslich mit
BGE 121 II 72
ff. ein. Danach sind in diesem Rechtsmittel neu auch planungsrechtliche Rügen zulässig, soweit das Planungsrecht sachnotwendig mit dem Umweltrecht (oder anderem Bundesverwaltungsrecht) zusammenhängt. Das Verwaltungsgericht stellte zutreffend fest, dass damals ein projektbezogener Sondernutzungsplan zu beurteilen war. Hingegen ist ihm nicht zu folgen, soweit es daraus schliesst, "gewöhnliche" Zonenpläne seien demnach zum vornherein nicht mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde anfechtbar. Das Verwaltungsgericht übergeht damit die im erwähnten Entscheid des Bundesgerichts dargelegten Grundsätze, nach welchen es in gewissen Fällen gegen Zonenpläne (Grund- bzw. Rahmennutzungspläne) die Verwaltungsgerichtsbeschwerde als zulässig bezeichnet hat (vgl.
BGE 123 II 88
E. 1a/cc S. 92;
BGE 121 II 72
E. 1b S. 75). In der Lehre wurde zu Recht ausgeführt, dass somit sämtliche Rügen gegen Nutzungspläne, welche umweltrechtliche oder sonstige bundesverwaltungsrechtliche Aspekte sowie damit in einem engen Sachzusammenhang stehende planungsrechtliche Fragen beträfen, mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde vorzubringen seien. Da fast alle planerischen Belange - etwa die Zuweisung eines Grundstücks zu einer bestimmten Nutzungszone, die Bestimmung der zulässigen Ausnützung oder die Erschliessung - einen Bezug zum Umweltschutz aufweisen würden, könnten demnach Nutzungsplanungen durch die Anrufung umweltrechtlicher Gesichtspunkte zu einem grossen Teil der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle unterzogen werden (so PETER KARLEN, Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen Raumpläne, in: recht 15/1997 S. 132 f.; vgl. dazu auch: WALTER HALLER/ PETER KARLEN, Rechtsschutz im Raumplanungs- und Baurecht, Zürich 1998, S. 28 ff., Rz. 1021a-f; PIERRE TSCHANNEN, Energierecht und Umweltrecht, Bemerkungen in: AJP 1996 S. 81 f.; PETER HÄNNI,
BGE 132 II 209 S. 216
Planungs-, Bau- und besonderes Umweltschutzrecht, 4. Aufl., Bern 2002, S. 532 f., Fn. 184 S. 534; ALFRED KÖLZ/ISABELLE HÄNER, Verwaltungsverfahren und Verwaltungsrechtspflege des Bundes, 2. Aufl., Zürich 1998, Rz. 910 S. 323 f.).
2.2.3
An dieser Praxis hat das Bundesgericht bis heute festgehalten (vgl. Urteile des Bundesgerichts 1A.283/2004 vom 5. August 2005, E. 1.2 nicht publ. in
BGE 131 II 616
und 1A.171/2003 vom 8. Juni 2004, E. 2 nicht publ. in
BGE 130 II 313
, je mit Hinweisen). Werden somit - wie vorliegend - in einem Nutzungsplan Empfindlichkeitsstufen festgesetzt, können mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde auch planungsrechtliche Rügen erhoben werden, sofern sie in einem engen Sachzusammenhang mit Belangen des Lärmschutzes stehen. Damit stellt sich hier einzig die Frage, ob ein derartiger Zusammenhang zu bejahen ist.
Das Gebiet "Houene" liegt vom Schiessstand aus betrachtet in direkter Schussrichtung und in relativ kurzer Distanz zum Scheibenstand. Aus den Akten geht hervor, dass die vom Schiessstand ausgehenden Lärmimmissionen im Zusammenhang mit der Ortsplanungsrevision zwischen den Gemeindebehörden, der Schützengesellschaft Gelterfingen und den kantonalen Behörden während Jahren intensiv diskutiert wurden. Allein schon daraus ergibt sich, dass zwischen der vorliegend umstrittenen Nutzungsplanung und den hierbei getroffenen umweltschutzrechtlichen Anordnungen ein enger Sachzusammenhang besteht. Dies betrifft vor allem die gerügte Einzonung bzw. Eignung zur Überbauung des Plangebiets "Houene" wegen der vom Schiessstand ausgehenden Lärmimmissionen. Etwas weniger deutlich zeigt sich der umweltrechtliche Bezug hinsichtlich der Rügen, die Einzonungen seien überdimensioniert, vermöchten dem Kriterium der geschlossenen Siedlung nicht zu genügen, verstiessen gegen das Konzentrationsprinzip und verletzten das Gebot der haushälterischen Nutzung des Bodens. Ebenso verhält es sich, soweit geltend gemacht wird, das Planungsgebiet "Houene" sei durch den öffentlichen Verkehr schlecht erschlossen und seine Einzonung missachte den gesetzlichen Schutz von Fruchtfolgeflächen. Diese mehr raumplanungsrechtlich gefärbten Vorbringen lassen sich indessen bei der Überprüfung des umstrittenen Nutzungsplans nicht isoliert betrachten. Wie das Bundesgericht in
BGE 121 II 72
E. 3 S. 79 f. erwog, machen es gerade solche Planungen nötig, raumplanerische und umweltrechtliche Aspekte gemeinsam zu prüfen und widerstreitende Interessen umfassend gegeneinander abzuwägen (s.
BGE 132 II 209 S. 217
auch
BGE 123 II 88
E. 2a S. 93 f.). Die eidgenössische Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist demzufolge vorliegend auch hinsichtlich der von den Beschwerdeführern erhobenen planungsrechtlichen Rügen zulässig.
2.3
Gemäss
Art. 103 lit. a OG
ist zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde legitimiert, wer durch die angefochtene Verfügung berührt ist und ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung oder Änderung hat. Die Beschwerdeführer 1-3 sind Eigentümer von Grundstücken im Gebiet "Houene", das durch die Ortsplanungsrevision eingezont wird. Sie sind daher durch diesen Plan und die darin festgelegten Empfindlichkeitsstufen stärker als jedermann betroffen. Dasselbe gilt auch für den Beschwerdeführer 4 als Mieter in dem auf Parzelle Nr. 513 gelegenen Wohnhaus, da er durch die Einzonung in ähnlicher Weise berührt wird wie ein Grundeigentümer (vgl. Urteil des Bundesgerichts 1A.137/2002 vom 25. September 2003, E. 1.2 mit Hinweis). Die Beschwerdelegitimation ist somit bei allen vier Beschwerdeführern zu bejahen.
Auf die im Übrigen frist- und formgerecht erhobene Beschwerde ist somit unter Vorbehalt der nachstehenden Erwägung einzutreten.
2.4
Wie in E. 2.2.3 hiervor aufgezeigt, ist das Verwaltungsgericht zu Unrecht davon ausgegangen, dass umweltschutzrechtliche Anordnungen nur mit eidgenössischer Verwaltungsgerichtsbeschwerde anfechtbar seien, wenn sie sich auf einen projektbezogenen Nutzungsplan beziehen. Des Weiteren ist ihm auch nicht zu folgen, soweit es vorliegend einen engen Sachzusammenhang zwischen den Lärmschutzanordnungen und den raumplanerischen Massnahmen verneint hat. Ist die eidgenössische Verwaltungsgerichtsbeschwerde vorliegend aus den dargelegten Gründen auch hinsichtlich der planungsrechtlichen Rügen der Beschwerdeführer zulässig, verletzt der insoweit gefällte Nichteintretensentscheid des Verwaltungsgerichts sowohl Bundesrecht (
Art. 97 ff. OG
) als auch kantonales Verfahrensrecht (Art. 61a Abs. 3 Bst. b BauG). Liegt diesbezüglich kein letztinstanzlicher kantonaler Entscheid vor, kann auf den Hauptantrag der Beschwerdeführer, mit dem sie die Aufhebung der Einzonung des Gebiets "Houene" beantragen, nicht eingetreten werden. Hingegen ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wegen der fehlenden Behandlung der Planungsrügen gutzuheissen und die Sache entsprechend dem Eventualantrag an das Verwaltungsgericht zurückzuweisen (vgl.
BGE 121 II 72
E. 3 S. 80). Wegen des
BGE 132 II 209 S. 218
Sachzusammenhangs zwischen den planungsrechtlichen und den umweltschutzrechtlichen Rügen muss das Verwaltungsgericht die Rügen der Beschwerdeführer gleichzeitig und widerspruchsfrei beurteilen (Koordinationspflicht; Art. 25a Abs. 2 lit. d sowie Abs. 3 und 4 RPG). Dabei wird es sich auch mit den von den Beschwerdeführern in diesem Zusammenhang beanstandeten Sachverhaltsfeststellungen zu befassen haben. | de |
b7bcf3b0-2324-4be9-b131-e7c663bf0a38 | Sachverhalt
ab Seite 237
BGE 113 Ia 236 S. 237
Die Einwohnergemeindeversammlung Schönenbuch nahm im Rahmen ihrer kommunalen Landschaftsplanung am 20. Februar 1984 unter anderem einen Zonenplan Landschaft sowie ein Zonenreglement Landschaft an. Mit Beschluss Nr. 2273 vom 1. Oktober 1985 genehmigte der Regierungsrat des Kantons Basel-Landschaft grundsätzlich diese Planung, machte indessen von der Genehmigung folgende Ausnahmen:
"- Zone für Öffentliche Anlagen und Werke "Friedhof" im Bereich der Parzelle 39 sowie nordwestlicher Teil der Parzelle 38;
- Spezialzone für Intensiverholung ausserhalb der bestehenden Geländeaufschüttung."
Gleichzeitig wies er unter anderem die gegen diese Planung erhobenen Einsprachen von René Borer, Erich Borer sowie Esther und Y.K. Chong-Borer als unbegründet ab, soweit er darauf eintreten konnte.
Gegen diesen Entscheid erhoben René Borer, Erich Borer sowie Esther und Y.K. Chong-Borer mit Eingabe vom 1. November 1985 staatsrechtliche Beschwerde.
Mit Beschluss Nr. 969 vom 15. April 1986 befand der Regierungsrat über ein Wiedererwägungsgesuch der Einwohnergemeinde Schönenbuch. Dabei hob er unter anderem die eingangs erwähnten Ausnahmen von seiner Genehmigung vom 1. Oktober 1985 auf und erkannte folgendes zu Recht: | de |
137640f4-24e2-4d06-a65f-f08ad57c8c34 | Sachverhalt
ab Seite 176
BGE 145 I 175 S. 176
Im Vorfeld der eidgenössischen Volksabstimmung vom 10. Juni 2018 über die Volksinitiative "Für krisensicheres Geld; Geldschöpfung allein durch die Nationalbank (Vollgeld-Initiative)" erhob Michael Derrer eine Abstimmungsbeschwerde an den Regierungsrat des Kantons Aargau. Michael Derrer beantragte die Absetzung bzw. Verschiebung der Volksabstimmung vom 10. Juni 2018 über die Vollgeld-Initiative, eventualiter die Aufhebung des Ergebnisses der Volksabstimmung und subeventualiter, es sei förmlich festzustellen, dass durch die wahrheitswidrige und falsche Informationslage im Vorfeld der Volksabstimmung die Abstimmungsfreiheit gemäss
Art. 34 Abs. 2 BV
verletzt worden sei. Er machte unter anderem geltend, die Schweizerische Nationalbank (SNB) sowie die Konferenz der kantonalen Finanzdirektorinnen und Finanzdirektoren (FDK) hätten die Stimmberechtigten wahrheitswidrig und falsch über die Vollgeld-Initiative informiert.
Mit Beschluss vom 2. Mai 2018 trat der Regierungsrat auf die Abstimmungsbeschwerde nicht ein, weil sich die gerügten Akte nicht auf das Gebiet des Kantons Aargau beschränkten. Gegen den Beschluss des Regierungsrats vom 2. Mai 2018 hat Michael Derrer Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht erhoben und seine Anträge erneuert. Das Bundesgericht weist in den Erwägungen darauf hin, bei der beanstandeten Medienmitteilung der FDK handle es sich um eine unzulässige behördliche Intervention. Unter Hinweis auf die begrenzte Bedeutung und Publizität der Medienmitteilung sowie das sehr deutliche Abstimmungsresultat weist es die Beschwerde dennoch ab, soweit es darauf eintritt.
(Zusammenfassung)
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
5.
Der Beschwerdeführer erblickt in der Publikation "Die Argumente der SNB gegen die Vollgeldinitiative", welche die SNB am 5. März
BGE 145 I 175 S. 177
2018 auf ihrer Website veröffentlichte, eine unzulässige Intervention in den eidgenössischen Abstimmungskampf.
5.1
Bei Sachabstimmungen im eigenen Gemeinwesen kommt den Behörden eine gewisse Beratungsfunktion zu. Diese nehmen sie mit der Redaktion der Abstimmungserläuterungen, aber auch in anderer Form wahr. Die Behörden sind dabei nicht zur Neutralität verpflichtet und dürfen eine Abstimmungsempfehlung abgeben. In Einzelfällen ergibt sich aus
Art. 34 Abs. 2 BV
sogar eine Pflicht der Behörden zur Information (
BGE 143 I 78
E. 4.4 S. 82 f. mit Hinweisen;
BGE 145 I 1
E. 5.2.1 S. 9). Informationen im Vorfeld einer Abstimmung unterliegen den Geboten der Sachlichkeit, der Transparenz und der Verhältnismässigkeit. Behördliche Informationen zu eigenen Vorlagen müssen geeignet sein, zur offenen Meinungsbildung beizutragen, und dürfen nicht in dominanter und unverhältnismässiger Art im Sinne eigentlicher Propaganda eine freie Willensbildung der Stimmberechtigten erschweren oder geradezu verunmöglichen (
BGE 140 I 338
E. 5.1 S. 342 mit Hinweisen;
BGE 145 I 1
E. 5.2.1 S. 9).
Für Abstimmungen auf Bundesebene sieht
Art. 10a des Bundesgesetzes vom 17. Dezember 1976 über die politischen Rechte (BPR; SR 161.1)
vor, dass der Bundesrat die Stimmberechtigten kontinuierlich über die eidgenössischen Abstimmungsvorlagen informiert (Abs. 1), wobei er die Grundsätze der Vollständigkeit, der Sachlichkeit, der Transparenz und der Verhältnismässigkeit beachtet (Abs. 2), die wichtigsten im parlamentarischen Entscheidungsprozess vertretenen Positionen darlegt (Abs. 3) und keine von der Haltung der Bundesversammlung abweichende Abstimmungsempfehlung vertritt (Abs. 4). Die neuere bundesgerichtliche Rechtsprechung nimmt vor diesem Hintergrund an, dass es nicht so sehr um die Frage der Zulässigkeit einer behördlichen Intervention als vielmehr um deren Art und Wirkung geht (vgl.
BGE 143 I 78
E. 4.4 S. 83 mit Hinweisen;
BGE 145 I 1
E. 5.2.1 S. 9).
5.2
Gemäss Art. 1 des Bundesgesetzes vom 3. Oktober 2003 über die Schweizerische Nationalbank (NBG; SR 951.11) ist die SNB eine spezialgesetzliche Aktiengesellschaft. Sie führt als unabhängige Zentralbank eine Geld- und Währungspolitik, die dem Gesamtinteresse des Landes dient (
Art. 99 Abs. 2 BV
). In der Wahrnehmung ihrer Aufgaben ist die SNB an die Grundrechte gebunden (
Art. 35 Abs. 2 BV
). Damit untersteht sie auch den Grundsätzen für behördliche Interventionen im Abstimmungskampf. Die Befugnis der SNB,
BGE 145 I 175 S. 178
sich im Vorfeld der Abstimmung zur Vollgeld-Initiative öffentlich zu äussern, ergab sich aus ihrem gesetzlichen Auftrag zur regelmässigen Orientierung der Öffentlichkeit über die Geld- und Währungspolitik und Bekanntmachung ihrer geldpolitischen Absichten (
Art. 7 Abs. 3 NBG
). Dazu gehört, dass die SNB zu in Aussicht stehenden Änderungen ihrer Befugnisse und der ihr zur Verfügung stehenden geldpolitischen Instrumente informiert und diese aus fachlicher Sicht würdigt. Ausserdem bestand mit Blick auf das Recht auf freie Willensbildung und unverfälschte Stimmabgabe aufgrund der besonderen Sachkunde der SNB im von der Vollgeld-Initiative betroffenen Sachgebiet ein besonderes Interesse der Stimmberechtigten an einer Stellungnahme der SNB. Diese hatte dabei die in
Art. 34 Abs. 2 BV
verankerte Abstimmungsfreiheit zu beachten und sich insbesondere an den in
Art. 10a BPR
für den Bundesrat explizit festgehaltenen Informationsgrundsätzen zu orientieren.
5.3
Im beanstandeten Positionspapier der SNB wurde zunächst der Inhalt der Vollgeld-Initiative kurz zusammengefasst. Unter den Titeln "Vorteile des bestehenden Geldsystems", "Nachteile des Vollgeldsystems" sowie "Unrealistische Erwartungen der Initianten" präsentierte die SNB in der Folge ihre Argumente gegen eine Annahme der Initiative. Das Positionspapier endet mit einem kurzen Fazit. Der Beschwerdeführer erachtet die Ausführungen der SNB in mehrerlei Hinsicht als unsachlich bzw. falsch und irreführend.
5.3.1
Das Gebot der Sachlichkeit verbietet, über den Zweck und die Tragweite einer Abstimmungsvorlage falsch zu orientieren, für die Meinungsbildung bedeutende Gegebenheiten zu verschweigen oder Argumente von gegnerischen Referendums- oder Initiativkomitees falsch wiederzugeben (
BGE 138 I 61
E. 6.2 S. 83 mit Hinweisen). Bei negativen Bewertungen (z.B. von Argumenten des Initiativkomitees) müssen hierfür gute Gründe bestehen (
BGE 140 I 338
E. 7.3 S. 348).
5.3.2
Der Beschwerdeführer bemängelt, die SNB erwähne im beanstandeten Positionspapier nur, dass die Nationalbank gemäss der Vollgeld-Initiative neu geschaffenes Geld schuldfrei in Umlauf bringe, und unterschlage, dass sie nach dem Wortlaut der Vollgeld-Initiative Geld auch durch das Gewähren befristeter Darlehen an Banken in Umlauf bringen könne. Zudem schliesse die Vollgeld-Initiative nicht aus, dass die SNB wie bisher Devisen, Wertpapiere und andere Anlagegüter erwerbe.
BGE 145 I 175 S. 179
Der mit der Vollgeld-Initiative vorgeschlagene Artikel 99a Abs. 3 BV sieht vor, dass die SNB neu geschaffenes Geld schuldfrei in Umlauf bringt (Satz 1) und dass sie den Banken befristete Darlehen gewähren kann (Satz 2). Ob diese beiden Varianten, Geld in Umlauf zu bringen, - wovon die SNB ausgeht - als abschliessende Festlegung der geldpolitischen Instrumente verstanden werden müsste oder ob die SNB - wie der Beschwerdeführer einwendet - im Falle der Annahme und Umsetzung der Initiative wie bisher Devisen, Wertpapiere und andere Anlagegüter kaufen könnte, wäre eine Frage der vom Gesetzgeber im Rahmen der Umsetzung des Verfassungstextes vorzunehmenden Auslegung und kann an dieser Stelle offenbleiben. Jedenfalls ist nicht zu beanstanden, dass die SNB nicht explizit erklärt hat, sie könne im Falle der Annahme der Initiative wie bisher Devisen, Wertpapiere und andere Anlagegüter erwerben.
Es ist nachvollziehbar, dass die SNB sich im beanstandeten Positionspapier zu der ihrer Ansicht nach problematischen, mit der Initiative neu eingeführten Variante, Geld schuldfrei in Umlauf zu bringen, relativ ausführlich geäussert hat. Zwar wäre es grundsätzlich wünschenswert gewesen, die SNB hätte auch die zweite im Initiativtext ausdrücklich vorgesehene Variante, Geld in Umlauf zu bringen, zumindest erwähnt, nämlich dass die SNB den Banken befristete Darlehen gewähren kann. Allerdings kann der beanstandeten Formulierung der SNB in ihrem Positionspapier nicht entnommen werden, sie sei nach dem Wortlaut der Initiative nicht mehr berechtigt, den Banken befristete Darlehen zu gewähren, zumal eine einschränkende Präzisierung wie "nur", "einzig" oder "ausschliesslich" fehlt. Die Formulierung der SNB erweckt beim Leser nicht den Eindruck, die Vollgeld-Initiative verbiete andere, vormals zulässige und eingesetzte Instrumente der Geldpolitik.
5.3.3
Der Beschwerdeführer erachtet sodann die Aussage im Positionspapier der SNB als irreführend, wonach die gemäss der Vollgeld-Initiative vorgesehene schuldfreie Ausgabe von Zentralbankgeld die Nationalbank politischen Begehrlichkeiten aussetze. Richtig sei, dass die Vollgeld-Initiative die Unabhängigkeit der SNB sogar stärke, da sie gemäss vorgeschlagenem Verfassungstext in der Erfüllung ihrer Aufgaben nur dem Gesetz verpflichtet wäre, was die SNB verschweige.
Es trifft zu, dass die SNB gemäss dem vorgeschlagenen Initiativtext von Verfassungs wegen nur dem Gesetz verpflichtet wäre. Dass die Möglichkeit direkter Verteilung von Geld an Staat und Bürger
BGE 145 I 175 S. 180
- wie die SNB befürchtet - zu politischem Druck auf die SNB führen könnte, scheint jedoch zumindest nicht ausgeschlossen, womit sich die Erwähnung dieser Befürchtung nicht als unsachlich erweist.
5.3.4
Weiter macht der Beschwerdeführer geltend, verschiedene Aussagen im Positionspapier der SNB zum bestehenden Geldsystem und zum Vollgeldsystem führten den Stimmbürger in die Irre. Die Prozesse der Geldschöpfung und der Kreditgewährung würden falsch und irreführend dargestellt, die befürchteten Effizienzverluste bei einer Zentralisierung der Geldschöpfung hätten nichts mit dem Initiativtext zu tun, das Eigenkapital der SNB bei der Ausgabe von Vollgeld sinke nur bei unzweckmässiger Bilanzierung von Vollgeld und zudem sei der Hinweis falsch und irreführend, dass eine Rückkehr von der Zinssteuerung zur Geldmengensteuerung einen unnötigen Rückschritt darstelle.
Die Vollgeld-Initiative betraf einen für die meisten Stimmberechtigten ausserordentlich komplexen Regelungsgegenstand. Dies machte es für die Behörden des Bundes und die SNB schwierig, den Stimmberechtigten den Inhalt der Initiative sowie ihre Vor- und Nachteile darzulegen. Behördliche Erläuterungen, die von den Stimmberechtigten ohne einschlägige Vorkenntnisse nicht verstanden werden, können nicht in sinnvoller Weise zur Willensbildung beitragen. Aufgrund der hohen Komplexität des Regelungsbereichs rechtfertigte sich eine gewisse Vereinfachung in der behördlichen Kommunikation im Vorfeld der Volksabstimmung über die Vollgeld-Initiative. Die beanstandete Publikation der SNB ist vor diesem Hintergrund zu würdigen. Ihr ist nicht vorzuwerfen, dass sie ihre Haltung zur Initiative relativ kurz und für die Stimmberechtigten verständlich dargelegt hat und dass ihre Ausführungen nicht die gesamte Komplexität der Geldschöpfung und Kreditgewährung zu beleuchten vermögen.
5.3.5
Die Ausführungen und Argumente der SNB sind nachvollziehbar und erscheinen trotz gewisser Vereinfachungen ausreichend sachlich und objektiv. Damit waren sie geeignet, zur offenen Meinungsbildung beizutragen. Dass die SNB mit der beanstandeten Publikation das Recht der Stimmberechtigten auf freie Willensbildung und unverfälschte Stimmabgabe (
Art. 34 Abs. 2 BV
) verletzt hätte, ist nicht ersichtlich. Hinzu kommt, dass, selbst wenn man einzelne Passagen des beanstandeten Positionspapiers als unsachlich qualifizieren würde, dies für den Ausgang des Verfahrens keine Folgen hätte.
BGE 145 I 175 S. 181
6.
Der Beschwerdeführer macht weiter geltend, die FDK habe mit einem von ihr veröffentlichten Positionsbezug unrechtmässig in den Abstimmungskampf zur eidgenössischen Volksabstimmung vom 10. Juni 2018 über die Vollgeld-Initiative eingegriffen. Die beanstandete Medienmitteilung wurde von der FDK am 17. April 2018 auf ihrer Website veröffentlicht. Die Mitteilung trug den Titel "Die FDK empfiehlt die Vollgeld-Initiative zur Ablehnung". Neben einem die Initiative beschreibenden Teil legte die FDK in der Medienmitteilung dar, weshalb sie die Initiative zur Ablehnung empfiehlt.
6.1
Behördliche Interventionen in den Abstimmungskampf übergeordneter Gemeinwesen beurteilen sich nach einem anderen Massstab als Interventionen in den Abstimmungskampf von Behörden im eigenen Gemeinwesen und setzen eine besondere Betroffenheit voraus. Dies gilt nicht nur für Interventionen von Gemeinden in den Abstimmungskampf übergeordneter Gemeinwesen, sondern auch von Kantonen im Rahmen von Abstimmungen auf Bundesebene (
BGE 145 I 1
E. 6.2 S. 13).
Ein Kanton darf sich gemäss jüngster bundesgerichtlicher Rechtsprechung in den Abstimmungskampf auf Bundesebene einbringen, wenn ihn der Ausgang der Abstimmung namhaft betrifft, etwa wenn die Auswirkungen einer Vorlage für die kantonalen Kompetenzen oder für die Infrastruktur von Kantonen bedeutend sind oder wenn das Resultat der Abstimmung mit erheblichen finanziellen Auswirkungen für die Kantone verbunden ist; allerdings müssen sich die kantonalen Interventionen diesfalls an den Kriterien der Sachlichkeit, der Verhältnismässigkeit sowie der Transparenz messen lassen, wie sie auch für den Bundesrat gelten (
BGE 145 I 1
E. 6.5 S. 17).
Wenn nicht eine Mehrheit der Kantone im erforderlichen Ausmass betroffen ist, liegt es in der alleinigen Kompetenz der Kantonsregierungen als die Kantone repräsentierende Behörden, sich im Namen ihres Kantons in einen eidgenössischen Abstimmungskampf einzuschalten. Bei durchgehend oder mehrheitlich starker Betroffenheit der Kantone erachtet die neue bundesgerichtliche Rechtsprechung auch als zulässig, dass die Konferenz der Kantonsregierungen, die im Namen der Gesamtheit oder Mehrheit der Kantone auftreten kann, sich im Vorfeld einer Abstimmung auf Bundesebene öffentlich äussern und eine Abstimmungsempfehlung abgeben kann. Interventionen von Fachdirektorenkonferenzen, deren Legitimität, Meinungsbildung und Vertretung nach Aussen nicht evident und transparent sind, müssen
BGE 145 I 175 S. 182
aber von einer solchen Öffnung ausgeschlossen bleiben (
BGE 145 I 1
E. 6.5.2 S. 19).
6.2
Mit der am 17. April 2018 veröffentlichten Medienmitteilung richtete sich nicht eine Kantonsregierung oder die Konferenz der Kantonsregierungen an die Stimmberechtigten, sondern die FDK als Fachdirektorenkonferenz. Nach dem Ausgeführten erweist sich die beanstandete Intervention damit von vornherein als nicht statthaft. Bei der beanstandeten Medienmitteilung der FDK handelt es sich um eine mit Blick auf
Art. 34 Abs. 2 BV
unzulässige behördliche Intervention. Damit kann offenbleiben, ob die Kantone als Aktionäre und Empfänger der Gewinnausschüttungen der SNB vom Ausgang der Abstimmung so stark betroffen waren, dass sie sich selber mit der geforderten Zurückhaltung öffentlich hätten äussern dürfen. | de |
5799664c-4d87-473b-8383-8a2d39978103 | Sachverhalt
ab Seite 3
BGE 145 I 1 S. 3
A.
Am 29. September 2017 beschloss die Bundesversammlung das neue Bundesgesetz über Geldspiele (Geldspielgesetz, BGS; BBl 2017 6245). Gegen dieses wurde das Referendum ergriffen. Die eidgenössische Volksabstimmung über das Bundesgesetz über Geldspiele fand am 10. Juni 2018 statt. Gemäss vorläufigem amtlichem Endergebnis wurde das Geldspielgesetz von den Stimmberechtigten bei einer Stimmbeteiligung von 33,7 % mit 1'325'982 Ja-Stimmen (72,9 %) zu 492'247 Nein-Stimmen (27,1 %) angenommen.
B.
Die Piratenpartei Schweiz, die Piratenpartei Zentralschweiz sowie Stefan Thöni reichten am 3. April 2018 gemeinsam eine Abstimmungsbeschwerde beim Regierungsrat des Kantons Zug ein mit dem Antrag, die eidgenössische Volksabstimmung vom 10. Juni 2018 über das Bundesgesetz über Geldspiele sei abzubrechen bzw. das Ergebnis aufzuheben. Sie machten geltend, verschiedene Interventionen der Konferenz der Kantonsregierungen (KdK), der Fachdirektorenkonferenz Lotteriemarkt und Lotteriegesetz (Fachdirektorenkonferenz), der Swisslos Interkantonale Landeslotterie (Swisslos) sowie der Sport-Toto-Gesellschaft in den Abstimmungskampf seien
BGE 145 I 1 S. 4
mit der Abstimmungsfreiheit gemäss
Art. 34 Abs. 2 BV
nicht vereinbar. Mit Beschluss vom 10. April 2018 (versandt am 12. April 2018) trat der Regierungsrat auf die Abstimmungsbeschwerde vom 3. April 2018 nicht ein, weil die mit der Beschwerde verbundenen Fragen einen kantonsübergreifenden Inhalt hätten.
Die Piratenpartei Schweiz, die Piratenpartei Zentralschweiz sowie Stefan Thöni reichten am 14. Mai 2018 gemeinsam eine weitere Abstimmungsbeschwerde beim Regierungsrat des Kantons Zug ein. Sie beantragten wiederum, die eidgenössische Volksabstimmung vom 10. Juni 2018 über das Bundesgesetz über Geldspiele sei abzubrechen bzw. das Ergebnis aufzuheben. Sie machten geltend, die Bundeskanzlei bzw. das Eidgenössische Departement für Justiz und Polizei (EJPD) hätten ein Video veröffentlicht bzw. verbreitet, welches als unzulässige Intervention in den Abstimmungskampf einzustufen sei. Mit Beschluss vom 16. Mai 2018 (versandt am gleichen Tag) trat der Regierungsrat auf die Abstimmungsbeschwerde vom 14. Mai 2018 nicht ein, weil die mit der Beschwerde verbundenen Fragen einen kantonsübergreifenden Inhalt hätten.
C.
Gegen den Beschluss des Regierungsrats vom 10. April 2018 haben die Piratenpartei Schweiz, die Piratenpartei Zentralschweiz sowie Stefan Thöni am 15. April 2018 gemeinsam Beschwerde (...) an das Bundesgericht erhoben (Verfahren 1C_163/2018). Gegen den Beschluss des Regierungsrats vom 16. Mai 2018 haben die gleichen Beschwerdeführer am 18. Mai 2018 ebenfalls gemeinsam Beschwerde (...) beim Bundesgericht eingereicht (Verfahren 1C_239/ 2018). Die Beschwerdeführer beantragen in beiden Verfahren erneut, es sei die Volksabstimmung vom 10. Juni 2018 über das Bundesgesetz über Geldspiele abzubrechen bzw. das Ergebnis aufzuheben. (...)
Das Bundesgericht weist die Beschwerden ab, soweit es darauf eintritt.
(Auszug) Erwägungen
Aus den Erwägungen:
4.
Die Beschwerdeführer rügen, verschiedene behördliche Interventionen im Vorfeld der Eidgenössischen Volksabstimmung vom 10. Juni 2018 über das Bundesgesetz über Geldspiele stünden im Widerspruch zur in
Art. 34 Abs. 2 BV
verankerten Abstimmungsfreiheit.
BGE 145 I 1 S. 5
4.1
Die in der Bundesverfassung verankerte Garantie der politischen Rechte (
Art. 34 Abs. 1 BV
) schützt die freie Willensbildung und die unverfälschte Stimmabgabe (
Art. 34 Abs. 2 BV
). Geschützt wird namentlich das Recht der Stimmberechtigten, weder bei der Bildung noch bei der Äusserung des politischen Willens unter Druck gesetzt oder in unzulässiger Weise beeinflusst zu werden. Die Stimmberechtigten sollen ihre politische Entscheidung gestützt auf einen gesetzeskonformen sowie möglichst freien und umfassenden Prozess der Meinungsbildung treffen können. Die Abstimmungsfreiheit gewährleistet die für den demokratischen Prozess und die Legitimität direktdemokratischer Entscheidungen erforderliche Offenheit der Auseinandersetzung (
BGE 143 I 78
E. 4.3 S. 82;
BGE 140 I 338
E. 5 S. 341 f. mit Hinweisen).
Aus
Art. 34 Abs. 2 BV
wird namentlich eine Verpflichtung der Behörden auf korrekte und zurückhaltende Information im Vorfeld von Abstimmungen abgeleitet. Dabei ist zu unterscheiden zwischen Informationen bzw. Interventionen der Behörden bei Abstimmungen im eigenen Gemeinwesen (Gemeinde, Kanton, Bund) sowie bei Abstimmungen in einem anderen (untergeordneten, gleichgeordneten oder übergeordneten) Gemeinwesen (
BGE 143 I 78
E. 4.4 S. 82 mit Hinweisen). Aus
Art. 34 Abs. 2 BV
ergeben sich im Vorfeld von Abstimmungen auch Einschränkungen für Unternehmen, die direkt oder indirekt unter dem bestimmenden Einfluss eines Gemeinwesens stehen (vgl.
BGE 140 I 338
E. 5.2 S. 342 f.).
4.2
Selbst wenn Mängel vor einer Abstimmung oder bei deren Durchführung festzustellen sind, ist die Abstimmung nach der Rechtsprechung nur dann aufzuheben, wenn die gerügten Unregelmässigkeiten erheblich sind und das Ergebnis beeinflusst haben können. Die Beschwerdeführer müssen in einem solchen Fall zwar nicht nachweisen, dass sich der Mangel auf das Ergebnis der Abstimmung entscheidend ausgewirkt hat. Es genügt, dass nach dem festgestellten Sachverhalt eine derartige Auswirkung im Bereich des Möglichen liegt. Erscheint allerdings die Möglichkeit, dass die Abstimmung ohne den Mangel anders ausgefallen wäre, nach den gesamten Umständen als derart gering, dass sie nicht mehr ernsthaft in Betracht fällt, so kann von der Aufhebung der Abstimmung abgesehen werden (
BGE 141 I 221
E. 3.3 S. 225;
BGE 138 I 61
E. 4.7.2 S. 78;
BGE 135 I 292
E. 4.4 S. 301; Urteil des Bundesgerichts 1C_641/2013 vom 24. März 2014 E. 4.3, in: ZBl 115/2014 S. 612; je mit Hinweisen).
BGE 145 I 1 S. 6
4.3
Die Beschwerdeführer kritisieren im Verfahren 1C_239/2018 eine Intervention der Bundeskanzlei und damit einer Bundesbehörde. Darauf ist nachfolgend in Erwägung 5 einzugehen. Im Verfahren 1C_163/2018 beanstanden die Beschwerdeführer Interventionen der KdK sowie der Fachdirektorenkonferenz und damit von kantonalen Behörden. Darauf ist in Erwägung 6 zurückzukommen. Ebenfalls im Verfahren 1C_163/2018 rügen die Beschwerdeführer Interventionen der Swisslos sowie der Sport-Toto-Gesellschaft und damit von Unternehmen, die von Kantonen beherrscht werden. Diese Rügen sind in den Erwägungen 7-8 zu behandeln.
5.
Die Beschwerdeführer machen im Verfahren 1C_239/2018 geltend, die Veröffentlichung bzw. Verbreitung des Abstimmungsvideos zur Eidgenössischen Volksabstimmung vom 10. Juni 2018 über das Geldspielgesetz durch die Bundeskanzlei sowie das EJPD stehe im Widerspruch zur Abstimmungsfreiheit nach
Art. 34 Abs. 2 BV
. Dass sich die Behörden für die Information der Stimmberechtigten des Mediums Video bedienen würden, sei für sich alleine unverhältnismässig, weil ein Video eine weit höhere Propagandawirkung erziele als andere Instrumente der Information und weil es den Gegnern einer Behördenvorlage nicht ohne grossen finanziellen Aufwand möglich sei, ein professionelles Video zu produzieren und zu verbreiten. Unsachlich sei sodann, dass im Abstimmungsvideo die Argumente der Befürworter in direkter und die Argumente der Gegner in indirekter Rede vorgebracht würden.
5.1
Die Bundeskanzlei bringt vor, die Veröffentlichung des von den Beschwerdeführern beanstandeten Abstimmungsvideos stelle einen Akt des Bundesrats im Sinne von
Art. 189 Abs. 4 BV
dar, welcher beim Bundesgericht nicht angefochten werden könne. Seit der Volksabstimmung vom 5. Juni 2016 würden solche Videos die amtlichen Abstimmungserläuterungen ergänzen. Zwar würden die Abstimmungsvideos formell nicht vom Bundesrat verabschiedet, sie basierten aber hinsichtlich Struktur und Text auf den vom Bundesrat verabschiedeten Abstimmungserläuterungen. Die Abstimmungsvideos seien mit dem Logo der Schweizerischen Eidgenossenschaft ausgestattet und würden auf dem bundesrätlichen Online-Account einer privaten Video-Plattform publiziert sowie in das Webportal des Bundes eingebunden. Diese Elemente machten die primäre Funktion der Abstimmungsvideos deutlich, den gesetzlichen Informationsauftrag des Bundesrats umzusetzen.
BGE 145 I 1 S. 7
5.1.1
Gemäss
Art. 189 Abs. 4 BV
können Akte der Bundesversammlung und des Bundesrates beim Bundesgericht nur angefochten werden, wenn ein Bundesgesetz dies vorsieht. Mit der Totalrevision der Bundesrechtspflege wurde unter anderem das Ziel verfolgt, die Vorgaben der Rechtsweggarantie (
Art. 29a BV
) - mit Einschränkungen - auch für die politischen Rechte umzusetzen (vgl. Botschaft vom 28. Februar 2001 zur Totalrevision der Bundesrechtspflege, BBl 2001 4202, 4215 f. Ziff. 1.1.3 und 4327 zu Art. 82). Wesentlich erweitert wurde der gerichtliche Rechtsschutz namentlich in eidgenössischen Angelegenheiten. Indessen hat der Bundesgesetzgeber davon abgesehen, im Zusammenhang mit eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen ein Rechtsmittel gegen Akte der Bundesversammlung und des Bundesrats vorzusehen. Nicht direkt anfechtbar sind namentlich die bundesrätlichen Abstimmungserläuterungen; die Unanfechtbarkeit der Erläuterungen gilt im Grundsatz nicht nur für den Gesamtbundesrat, sondern erstreckt sich auch auf Äusserungen einzelner Bundesräte, soweit sie im Vorfeld von Volksabstimmungen in der politischen Diskussion im Wesentlichen deren Inhalt wiedergeben (
BGE 138 I 61
E. 7.2 S. 85 f.; Urteil des Bundesgerichts 1C_455/2016 E. 2.4, nicht publ. in:
BGE 143 I 78
, aber in: ZBl 118/2017 S. 216).
5.1.2
Gestützt auf Art. 10 und 11 des Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetzes vom 21. März 1997 (RVOG; SR 172.010) und namentlich
Art. 10a des Bundesgesetzes vom 17. Dezember 1976 über die politischen Rechte (BPR; SR 161.1)
wäre der Bundesrat zwar grundsätzlich berechtigt, als Ergänzung zu den Abstimmungserläuterungen Abstimmungsvideos zu publizieren (vgl. auch den Bericht der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats vom 19. Januar 2017 zur parlamentarischen Initiative Nr. 16.441 von Nationalrat Gregor Rutz). Herausgeber des vorliegend umstrittenen Abstimmungsvideos war indessen nicht der Bundesrat, sondern die Bundeskanzlei offenbar zusammen mit dem EJPD. Daran ändern auch die Umstände nichts, dass das Video auf einem Online-Account publiziert wurde, welcher auf der privaten Video-Plattform als dem Bundesrat zugehörig ausgewiesen wird, und dass es in das Webportal des Bundes eingebunden wurde. Die Bundeskanzlei macht nicht geltend, dass der Bundesrat die Veröffentlichung der Abstimmungsvideos jeweils genehmige oder dass er dies beim Abstimmungsvideo zur Abstimmung über das Geldspielgesetz getan hätte. Es kann nicht gesagt werden, der Beschluss des Bundesrates zu den
BGE 145 I 1 S. 8
Abstimmungserläuterungen (vgl.
Art. 11 Abs. 2 BPR
i.V.m.
Art. 3 Abs. 2 der Verordnung vom 24. Mai 1978 über die politischen Rechte [VPR; SR 161.11]
) umfasse eine pauschale Genehmigung der die Abstimmungserläuterungen ergänzenden Abstimmungsvideos. Hingegen ist nicht zu verkennen, dass das vorliegend umstrittene Abstimmungsvideo hinsichtlich Struktur und Inhalt stark auf den vom Bundesrat verabschiedeten Abstimmungserläuterungen beruht. Das Video folgt dem Aufbau der Erläuterungen, indem zunächst die tatsächliche und rechtliche Ausgangslage vermittelt und die Vorlage vorgestellt, anschliessend die Argumente der das Referendum unterstützenden Akteure dargelegt und schliesslich die Haltung des Bundesrats sowie der Bundesversammlung mit einer entsprechenden Abstimmungsempfehlung wiedergegeben werden. Der im Video von einem Sprecher wiedergegebene Text stellt eine Zusammenfassung der Abstimmungserläuterungen dar.
5.1.3
Bezüglich der Anfechtbarkeit von Abstimmungsvideos, welche von der Bundeskanzlei - allenfalls in Zusammenarbeit mit den Departementen - als Ergänzung der bundesrätlichen Abstimmungserläuterungen veröffentlicht werden, ist mit Blick auf
Art. 189 Abs. 4 BV
zu differenzieren. Soweit die Beschwerdeführer ganz bestimmte Passagen eines Videos wegen des Textes kritisieren, der den vom Bundesrat verabschiedeten Abstimmungserläuterungen entspricht, liefe eine Überprüfung durch das Bundesgericht auf eine unzulässige Überprüfung der Abstimmungserläuterungen selbst hinaus. Das gilt jedenfalls, wenn nicht ersichtlich ist, inwiefern den gerügten Passagen im Video - z.B. wegen Weglassungen oder visuellen Ergänzungen - eine nicht mit den schriftlichen Abstimmungserläuterungen übereinstimmende Bedeutung zukommt. Zulässig sind hingegen ein Abstimmungsvideo betreffende Rügen, soweit nicht bloss der den Abstimmungserläuterungen entnommene Inhalt des Videos kritisiert wird. Mit der Beschwerde in Stimmrechtssachen kann somit in diesem Umfang geltend gemacht werden, ein von der Bundeskanzlei - allenfalls in Zusammenarbeit mit einem Departement - im Vorfeld einer eidgenössischen Volksabstimmung zur Information der Stimmberechtigten veröffentlichtes Abstimmungsvideo verletze den Anspruch der Stimmberechtigten auf eine freie Willensbildung und die unverfälschte Stimmabgabe gemäss
Art. 34 Abs. 2 BV
.
5.1.4
Die Beschwerdeführer rügen unter anderem, im vorliegend umstrittenen Abstimmungsvideo zur eidgenössischen Volksabstimmung
BGE 145 I 1 S. 9
vom 10. Juni 2018 über das Geldspielgesetz sei von "verschiedenen Kreisen" die Rede, welche das Referendum ergriffen hätten, ohne dass die wesentlichen beteiligten Organisationen beim Namen genannt würden. Es werde namentlich unterschlagen, dass es zwei verschiedene Komitees gegen das Geldspielgesetz gebe. Weiter werde im Abstimmungsvideo undifferenziert darauf hingewiesen, dass das Referendumskomitee von grossen ausländischen Geldspielunternehmen unterstützt werde. Insoweit kritisieren die Beschwerdeführer ganz bestimmte Passagen des Videos wegen des von einem Sprecher wiedergegebenen Textes, wobei dieser Text den bundesrätlichen Abstimmungserläuterungen entnommen wurde und nicht ersichtlich ist, inwiefern den kritisierten Passagen im Video - etwa durch gezielte Auslassungen - eine nicht mit den schriftlichen Abstimmungserläuterungen übereinstimmende Bedeutung zukommen könnte. Eine Überprüfung dieses Textes durch das Bundesgericht liefe auf eine Überprüfung der Abstimmungserläuterungen selbst hinaus, wozu das Bundesgericht mit Blick auf
Art. 189 Abs. 4 BV
nicht zuständig ist. Demzufolge ist auf die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten insoweit nicht einzutreten.
5.2
Zulässig und nachfolgend zu prüfen sind hingegen die Rügen der Beschwerdeführer, die Verwendung des Mediums Video als Instrument zur Information der Stimmberechtigten sei unverhältnismässig und es sei unsachlich, dass im Abstimmungsvideo die Argumente der Befürworter in direkter und die Argumente der Gegner in indirekter Rede vorgebracht würden.
5.2.1
Bei Sachabstimmungen im eigenen Gemeinwesen kommt den Behörden eine gewisse Beratungsfunktion zu. Diese nehmen sie mit der Redaktion der Abstimmungserläuterungen, aber auch in anderer Form wahr. Nach der Rechtsprechung sind behördliche Abstimmungserläuterungen, in denen eine Vorlage erklärt wird, unter dem Gesichtswinkel der Abstimmungsfreiheit zulässig. Die Behörde ist dabei nicht zur Neutralität verpflichtet und darf eine Abstimmungsempfehlung abgeben. In Einzelfällen ergibt sich aus
Art. 34 Abs. 2 BV
sogar eine Pflicht der Behörden zur Information (zum Ganzen
BGE 143 I 78
E. 4.4 S. 82 f. mit Hinweisen). Informationen im Vorfeld einer Abstimmung unterliegen den Geboten der Sachlichkeit, der Transparenz und der Verhältnismässigkeit. Behördliche Informationen zu eigenen Vorlagen müssen geeignet sein, zur offenen Meinungsbildung beizutragen, und dürfen nicht in dominanter und unverhältnismässiger Art im Sinne eigentlicher Propaganda eine freie
BGE 145 I 1 S. 10
Willensbildung der Stimmberechtigten erschweren oder geradezu verunmöglichen (
BGE 140 I 338
E. 5.1 S. 342 mit Hinweisen).
Für Abstimmungen auf Bundesebene sieht
Art. 10a BPR
vor, dass der Bundesrat die Stimmberechtigten kontinuierlich über die eidgenössischen Abstimmungsvorlagen informiert (Abs. 1), wobei er die Grundsätze der Vollständigkeit, der Sachlichkeit, der Transparenz und der Verhältnismässigkeit beachtet (Abs. 2), die wichtigsten im parlamentarischen Entscheidungsprozess vertretenen Positionen darlegt (Abs. 3) und keine von der Haltung der Bundesversammlung abweichende Abstimmungsempfehlung vertritt (Abs. 4). Die neuere bundesgerichtliche Rechtsprechung nimmt vor diesem Hintergrund an, dass es nicht so sehr um die Frage der Zulässigkeit einer behördlichen Intervention, als vielmehr um deren Art und Wirkung geht (vgl.
BGE 143 I 78
E. 4.4 S. 83 mit Hinweisen).
Art. 11 Abs. 2 BPR
bildet die gesetzliche Grundlage für die Abstimmungserläuterungen des Bundesrats.
5.2.2
Die Bundeskanzlei ist die Stabsstelle des Bundesrats (Art. 1 Abs. 1 der Organisationsverordnung vom 29. Oktober 2008 für die Bundeskanzlei [OV-BK; SR 172.210.10] i.V.m.
Art. 30 Abs. 1 RVOG
). Als solche unterstützt sie den Bundesrat bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben (
Art. 1 Abs. 3 lit. a OV-BK
i.V.m.
Art. 30 Abs. 2 lit. a RVOG
). Sie wirkt mit bei der Vorbereitung und Durchführung der Eidgenössischen Volksabstimmungen (
Art. 3 Abs. 1 VPR
sowie
Art. 1 Abs. 4 lit. a OV-BK
). Unter anderem arbeitet sie zusammen mit dem zuständigen Departement die Abstimmungserläuterungen aus und unterbreitet sie dem Bundesrat zur Beschlussfassung (
Art. 3 Abs. 2 VPR
). Allgemein stellt sie eine langfristige und koordinierte Informations- und Kommunikationspolitik auf Regierungsstufe sicher und sorgt für eine möglichst rasche Information über die Beschlüsse des Bundesrates (
Art. 1 Abs. 3 lit. c OV-BK
i.V.m.
Art. 34 Abs. 1 RVOG
). Die Departemente informieren über ihre Tätigkeit in Absprache und Zusammenarbeit mit der Bundeskanzlei (Art. 23 Abs. 1 und 2 der Regierungs- und Verwaltungsorganisationsverordnung vom 25. November 1998 [RVOV; SR 172. 010.1] i.V.m.
Art. 40 RVOG
).
Zu Recht bestreiten die Beschwerdeführer nicht, dass die Bundeskanzlei in Zusammenarbeit mit den Departementen zuständig und berechtigt ist, den Bundesrat bei der Information der Stimmberechtigten über die eidgenössischen Abstimmungsvorlagen zu unterstützen. Dabei haben die Bundesbehörden die in
Art. 34 Abs. 2 BV
BGE 145 I 1 S. 11
verankerte Abstimmungsfreiheit zu beachten und sich insbesondere an den in
Art. 10a BPR
für den Bundesrat explizit festgehaltenen Informationsgrundsätzen zu orientieren. Als Ergänzung zu den Abstimmungserläuterungen des Bundesrats können von der Bundeskanzlei in Zusammenarbeit mit den Departementen veröffentlichte Abstimmungsvideos dazu beitragen, die Stimmberechtigten angemessen über eidgenössische Abstimmungsvorlagen zu informieren. Solche Abstimmungsvideos tragen den zufolge der technischen Entwicklung teilweise veränderten Informationsbedürfnissen und -gewohnheiten der Stimmberechtigten Rechnung. Im Gegensatz zur Ansicht der Beschwerdeführer ergibt sich aus
Art. 34 Abs. 2 BV
nicht, dass sich die Bundesbehörden für die Information der Stimmberechtigten des Mediums Video prinzipiell nicht bedienen dürften. Entscheidend ist, dass der Einsatz und die Veröffentlichung solcher Abstimmungsvideos im konkreten Fall den Grundsätzen der Vollständigkeit, der Sachlichkeit, der Transparenz und der Verhältnismässigkeit genügen.
Der Umstand, dass im vorliegend umstrittenen Abstimmungsvideo die Argumente des Bundesrats sowie der Bundesversammlung in direkter und die Argumente der Gegner der Vorlage in indirekter Rede vorgebracht werden, erscheint nicht unsachlich und ist nicht zu beanstanden. Die Bundesbehörden präsentieren im Video im Rahmen ihres gesetzlichen Auftrags im Namen des Bundesrats und der Bundesversammlung deren Haltung zur Vorlage in direkter Rede. Soweit sie die Argumente der Gegner der Vorlage darlegen, handelt es sich in diesem Sinne um fremde Argumente und dient es der Verständlichkeit sowie der Transparenz, diese in der indirekten Rede vorzubringen.
5.2.3
Soweit dies vom Bundesgericht überhaupt zu prüfen ist (vgl. E. 5.1 hiervor), ist nicht ersichtlich, inwiefern das umstrittene Abstimmungsvideo den Grundsätzen der Vollständigkeit, der Sachlichkeit, der Transparenz und der Verhältnismässigkeit widersprechen sollte. Die Veröffentlichung bzw. Verbreitung des Abstimmungsvideos zur Eidgenössischen Volksabstimmung vom 10. Juni 2018 über das Geldspielgesetz durch die Bundeskanzlei sowie das EJPD steht insoweit nicht im Widerspruch zur Abstimmungsfreiheit nach
Art. 34 Abs. 2 BV
.
6.
Die Beschwerdeführer im Verfahren 1C_163/2018 machen zunächst geltend, die KdK sowie die Fachdirektorenkonferenz hätten mit einem am 23. März 2018 veröffentlichten Positionsbezug
BGE 145 I 1 S. 12
unrechtmässig in den Abstimmungskampf zur Eidgenössischen Volksabstimmung vom 10. Juni 2018 über das Geldspielgesetz eingegriffen.
6.1
Die von den Beschwerdeführern kritisierte Medienmitteilung wurde von der KdK am 23. März 2018 anlässlich ihrer Plenarversammlung beschlossen und auf ihrer Homepage veröffentlicht. Die Mitteilung trug den Titel "Kantone stehen klar hinter dem Geldspielgesetz" und lautete wie folgt:
"
Die Kantonsregierungen unterstützen das neue Geldspielgesetz. Es schützt die Konsumentinnen und Konsumenten vor unbewilligten und unkontrollierten Angeboten und sorgt dafür, dass die Anbieter ihren Gewinn nicht selber behalten, sondern Abgaben zahlen für AHV/IV, Sport, Kultur und Soziales, was der Bevölkerung zu Gute kommt
.
Am 11. März 2012 haben 87 Prozent der Stimmenden und alle Kantone eine neue Verfassungsbestimmung über Geldspiele angenommen, die im September 2017 in das neue Geldspielgesetz mündete. Das neue Gesetz ist für die Kantone von ganz besonderer Bedeutung. Es bekräftigt die Zuständigkeit der Kantone für die Lotterien und Sportwetten und ermöglicht wichtige Neuerungen, indem es den Kantonen etwa erlaubt, kleine Pokerturniere zu bewilligen.
Fast eine Milliarde Franken fliesst jährlich aus Casinos, Sportwetten und Lotterien in die AHV/IV (2016: 276 Mio. Franken), an unzählige gemeinnützige Organisationen (2016: 630 Mio. Franken) und an die Standortkantone von Spielbanken (2016: 47 Mio. Franken). Das Gesetz stellt sicher, dass die Reingewinne aus den Lotterien und Sportwetten wie bisher vollumfänglich für gemeinnützige Zwecke verwendet werden können, namentlich in den Bereichen Kultur, Soziales und Sport.
Das neue Geldspielgesetz bringt mehr Schutz für die Bevölkerung, indem es geeignete Massnahmen zum Schutz vor exzessivem Geldspiel, Betrug und Geldwäscherei vorsieht. Lotteriegesellschaften und Spielbanken werden verpflichtet, eine Vielzahl von Präventionsmassnahmen vorzusehen. Indem es mehr Anbieter als heute dem Geldwäschereigesetz unterstellt, wird die Gefahr von Manipulationen bei Sportwetten und damit auch bei den Wettkämpfen selbst reduziert. Geldspiele werden insgesamt sicherer und transparenter.
Das Geldspielgesetz lässt neu auch Angebote im Internet zu. Es trägt damit der Digitalisierung Rechnung. Auch für diesen Bereich gelten aber klare Regeln: Das Geldspielgesetz sieht insbesondere vor, den Zugang zu in der Schweiz nicht bewilligten Online-Spielen zu verhindern. Denn Unternehmen, die solche Geldspiele anbieten, zahlen nichts zugunsten des Gemeinwohls. Das Geldspielgesetz will Anbieter ohne Schweizer Bewilligung deshalb auch im Internet vom Schweizer Markt fernhalten. Dafür sieht es gezielte Zugangssperren vor. Die Schweiz folgt damit dem Beispiel von 17 europäischen Staaten, die solche Sperren bereits erfolgreich
BGE 145 I 1 S. 13
einsetzen. Für einen attraktiven, fairen und sicheren Glücksspielmarkt."
Bereits am 31. Januar 2018 veröffentlichte die Fachdirektorenkonferenz auf ihrer Homepage eine das neue Geldspielgesetz befürwortende bzw. das dagegen ergriffene Referendum ablehnende Medienmitteilung. Am 12. März 2018 sodann nahm der Präsident der Fachdirektorenkonferenz an einer gemeinsamen Medienkonferenz mit der Vorsteherin des EJPD sowie dem Direktor des Bundesamts für Sport teil. Anlässlich dieser Medienkonferenz warb der Präsident für das Geldspielgesetz. Seine Erklärungen wurden zusammen mit den Erklärungen der Vorsteherin des EJPD sowie des Direktors des Bundesamts für Sport auf der Homepage der Fachdirektorenkonferenz veröffentlicht.
Das Bundesgericht überprüft Vorbereitungshandlungen im Vorfeld von Eidgenössischen Volksabstimmungen nicht von Amtes wegen, sondern nur auf Beschwerde hin. Während die Beschwerdeführer den Positionsbezug der KdK vom 23. März 2018 kritisieren, gehen sie in ihrer Beschwerde nicht auf die Medienmitteilung der Fachdirektorenkonferenz vom 31. Januar 2018 oder die Teilnahme ihres Präsidenten an der Medienkonferenz vom 12. März 2018 sowie die Veröffentlichung seiner Erklärungen ein. Damit beschränkt sich die Überprüfung des Bundesgerichts im vorliegenden Verfahren insoweit auf die Veröffentlichung des Positionsbezugs vom 23. März 2018.
Die Beschwerdeführer rechnen den beanstandeten Positionsbezug vom 23. März 2018 der KdK und der Fachdirektorenkonferenz zu. Dieser trägt das Logo, die Postadresse, die E-Mail-Adresse sowie die Telefonnummer der KdK. Am Ende des Schreibens ist neben dem Präsidenten und der Generalsekretärin der KdK der Präsident der Fachdirektorenkonferenz als Kontakt für weitere Auskünfte aufgeführt. Ob unter diesen Umständen die Veröffentlichung des Positionsbezugs - wie die Beschwerdeführer dies tun - auch der Fachdirektorenkonferenz zuzurechnen ist, obwohl aus dem Text selber nur die Kantonsregierungen als Absender des Schreibens hervorgehen, erscheint sehr fraglich. Wie es sich damit verhält, kann indessen offenbleiben, weil die Beantwortung dieser Frage für den Ausgang des vorliegenden Verfahrens nicht entscheidend ist.
6.2
Behördliche Interventionen in den Abstimmungskampf anderer Gemeinwesen beurteilen sich nach einem anderen Massstab als Interventionen in den Abstimmungskampf von Behörden im eigenen
BGE 145 I 1 S. 14
Gemeinwesen. Behördliche Interventionen in den Abstimmungskampf übergeordneter Gemeinwesen setzen nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts eine besondere Betroffenheit voraus.
Wie das Bundesgericht in Auseinandersetzung mit der Lehre und der früheren Rechtsprechung des Bundesrats in
BGE 143 I 78
festgehalten hat, gilt dies nicht nur für Interventionen von Gemeinden in den Abstimmungskampf übergeordneter Gemeinwesen, sondern auch von Kantonen im Rahmen von Abstimmungen auf Bundesebene. Auch bei solchen Interventionen seien die Fragen der Zulässigkeit als solche (das Ob) sowie deren Art und Wirkung (das Wie) auseinanderzuhalten. Die Zulässigkeit der Intervention eines Kantons (das Ob) entscheide sich danach, ob er am Ausgang der Abstimmung ein unmittelbares und besonderes Interesse habe, das jenes der übrigen Kantone deutlich übersteige. Unabhängig davon dürften Kantone, die ein Referendum nach
Art. 141 Abs. 1 BV
ergriffen haben, im Hinblick auf die von ihnen ausgelöste Abstimmung ihren Standpunkt darlegen. Ein unmittelbares und besonderes Interesse am Abstimmungsgegenstand sei vorwiegend in jenen Fällen denkbar, wo es direkt oder indirekt um ein konkretes Projekt gehe, namentlich ein Infrastrukturprojekt. Es scheine indessen auch bei generell-abstrakten Vorlagen nicht von vornherein ausgeschlossen. Ob es zu bejahen sei, sei im Einzelfall zu prüfen (ausführlich zum Ganzen
BGE 143 I 78
E. 4.4 ff. S. 82 ff.).
Das Bundesgericht wies im genannten Urteil auf die Tendenz hin, Behörden bei eigenen Vorlagen die Informationstätigkeit in einem weiteren Umfang zu gestatten als früher. Es erachtete indessen Interventionen auch bei Abstimmungen über- oder untergeordneter Gemeinwesen in einem weiteren Umfang als unzulässig. Zur Begründung führte es namentlich aus, dass das Einschalten von Vertretern von Gemeinden und Kantonen nach eigenem Ermessen in den Abstimmungskampf auf Bundesebene zu einer unübersichtlichen Lage führen könnte und dass die Motive für die Intervention für die Stimmbürgerschaft wohl oft schwer erkennbar wären (
BGE 143 I 78
E. 4.4 und 4.7 S. 82 f. und 86 f.). Hinsichtlich der Stellungnahmen von Fachdirektorenkonferenzen im Vorfeld von Abstimmungen auf Bundesebene kam das Bundesgericht im genannten Urteil zum Schluss, diese könnten nicht den Kantonen zugerechnet werden, weil die Fachdirektoren für eine Intervention im Namen der Kantone gar nicht zuständig seien. Eine solche müsste - sofern zulässig - vielmehr von den Kantonsregierungen ausgehen (
BGE 143 I 78
E. 5.3 S. 89).
BGE 145 I 1 S. 15
6.3
6.3.1
Die KdK und die Fachdirektorenkonferenz regen an, das Bundesgericht solle diese Rechtsprechung präzisieren. Namentlich bringen sie vor, es gebe eidgenössische Vorlagen - wie die Abstimmung über das neue Geldspielgesetz -, von denen die Gesamtheit der Kantone besonders betroffen sei, was für die Zulässigkeit einer verhältnismässigen Positionierung der Kantone genügen solle.
6.3.2
Die Bundeskanzlei führt dazu aus, es könnte in Betracht fallen, kantonale und interkantonale Interventionen im Vorfeld von Abstimmungen auf Bundesebene differenziert zu beurteilen. Das Kriterium der besonderen Betroffenheit für die Beurteilung der Zulässigkeit kantonaler Interventionen im Vorfeld einer Abstimmung auf Bundesebene sei beizubehalten, wenn ein Kanton wie eine Partei auftreten und kampagnenähnliche Tätigkeiten entwickeln wolle. Hingegen sei zu erwägen, das Kriterium der besonderen Betroffenheit bei niederschwelligen kantonalen Verlautbarungen gegebenenfalls als entbehrlich zu betrachten. Geringfügige Kommunikationsmassnahmen der Kantone und interkantonaler Organisationen sollten grundsätzlich zulässig sein, jedenfalls dann, wenn die Kantone von einer Abstimmungsvorlage generell betroffen seien. Wolle das Bundesgericht am Kriterium der besonderen Betroffenheit als Grundvoraussetzung für kantonale bzw. interkantonale Verlautbarungen festhalten, sei jedenfalls anzuerkennen, dass die eidgenössische Volksabstimmung vom 10. Juni 2018 über das Geldspielgesetz alle Kantone unmittelbar betreffe, dass es in diesem konkreten Fall nicht sinnvoll sei, die besondere Betroffenheit am Verhältnis der Kantone untereinander zu messen, und dass die Kantone deshalb in diesem konkreten Fall befugt gewesen seien, zur Vorlage Stellung zu nehmen.
6.4
6.4.1
In der Lehre wurde die Zulässigkeit von kantonalen Interventionen im Vorfeld von Abstimmungen auf Bundesebene bisher mehrheitlich entweder verneint (STEPHAN WIDMER, Wahl- und Abstimmungsfreiheit, 1989, S. 191 f.; ANDREAS AUER, L'intervention des collectivités publiques dans les campagnes référendaires, RDAF 1985 S. 193 f.; GUIDO CORTI, L'intervento delle autorità nelle campagne che precedono una votazione, RDAT 1992 II S. 365 f.) oder - entsprechend der vom Bundesgericht in
BGE 143 I 78
geäusserten Auffassung - an die Voraussetzung geknüpft, dass der intervenierende Kanton von der Vorlage besonders betroffen ist bzw.
BGE 145 I 1 S. 16
zuvor selber ein Referendum nach
Art. 141 Abs. 1 BV
ergriffen hat (ANDREAS AUER, Staatsrecht der schweizerischen Kantone, 2016, Rz. 1210; MICHEL BESSON, Behördliche Information vor Volksabstimmungen, 2003, S. 342 ff.; ANDREAS KLEY, in: Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Hangartner/Kley [Hrsg.], 2000, Rz. 2649 ff.; MÜLLER/SCHEFER, Grundrechte in der Schweiz, 4. Aufl. 2008, S. 629 f.; PIERRE TSCHANNEN, Stimmrecht und politische Verständigung, 1995, S. 113;
ders.
, Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2016, S. 689; einschränkender JEANNE RAMSEYER, Zur Problematik der behördlichen Information im Vorfeld von Wahlen und Abstimmungen, 1992, S. 76 f.; anders YVO HANGARTNER, Interventionen eines Gemeinwesens im Abstimmungskampf eines anderen Gemeinwesens, AJP 1996 S. 272; vgl.
BGE 143 I 78
E. 4.5 S. 83 ff.).
6.4.2
In einem kürzlich erschienenen Aufsatz hält LORENZ LANGER (Kantonale Interventionen bei eidgenössischen Abstimmungskämpfen, ZBl 118/2017 S. 183 ff.) fest, kantonale Interventionen im Vorfeld von eidgenössischen Urnengängen stellten in den letzten Jahren keine Ausnahmen mehr dar. Soweit es sich bei den Interventionen um Stellungnahmen einer kantonalen Gesamtregierung handle, genügten diese dem Erfordernis der besonderen Betroffenheit grossmehrheitlich nicht. Stellungnahmen von kantonalen Konferenzen kollidierten inhärent mit dem Kriterium der besonderen Betroffenheit einzelner Kantone (a.a.O., S. 208).
LANGER regt an, sich für die Beurteilung der Zulässigkeit kantonaler Interventionen im Vorfeld von Abstimmungen auf Bundesebene nicht am Kriterium der (relativen) besonderen Betroffenheit zu orientieren, sondern eine substantielle Betroffenheit genügen zu lassen. Darüber hinaus wirft er die Frage auf, ob mit Blick auf die Kraft des Faktischen, auf formellrechtlich zulässige Möglichkeiten, das Interventionsverbot zu umgehen, auf systemische Überlegungen sowie auf den Umstand, dass sich das Kriterium der Betroffenheit letzten Endes einer klaren Definition verschliesse, nicht ganz auf das Kriterium der Betroffenheit verzichtet werden könnte und kantonale Interventionen im Vorfeld von Abstimmungen auf Bundesebene stattdessen an den Kriterien der Sachlichkeit, der Verhältnismässigkeit sowie der Transparenz gemessen werden könnten (a.a.O., S. 211 ff.). Für Medienmitteilungen von Kantonsregierungen oder von interkantonalen Konferenzen mit einer Abstimmungsempfehlung würde das Kriterium der Transparenz nach LANGER
BGE 145 I 1 S. 17
voraussetzen, dass für die Stimmberechtigten ersichtlich wäre, welche Mehrheitsverhältnisse hinter einer regierungsrätlichen Abstimmungsempfehlungen stehen, bzw. unter welchen Umständen die Empfehlung kantonaler Konferenzen oder ihrer Präsidenten zustandegekommen sind (a.a.O., S. 213 f.).
6.4.3
In einem Kommentar zu
BGE 143 I 78
äussert sich CHRISTOPH AUER unter Bezugnahme auf den erwähnten Aufsatz von LANGER ebenfalls dahingehend, dass er die Voraussetzung der besonderen Betroffenheit im Fall von Verlautbarungen einer Kantonsregierung für entbehrlich halte und für eine entsprechende Lockerung der bundesgerichtlichen Praxis plädiere (ZBl 118/2017 S. 227 ff.; in diesem Sinne auch ANDREAS GLASER, ZBl 118/2017 S. 436; CLÉMENCE DEMAY, RDAF 2018 I S. 226). Sachliche, transparente und mit verhältnismässigem Mitteleinsatz publik gemachte Haltungen von kantonalen Regierungen zu Abstimmungsvorlagen des Bundes stellen nach AUER keine Gefährdung der Abstimmungsfreiheit dar (in diesem Sinne auch BENEDIKT PIRKER, AJP 2017 S. 1372). Sie bildeten eine von zahlreichen Äusserungen im immer vielstimmiger ausgetragenen Abstimmungskampf, in dem die Stimmberechtigten zusehends Gefahr laufen würden, die Übersicht zu verlieren und in dem die Möglichkeit der Orientierung an einer Empfehlung der demokratisch legitimierten Kantonsregierung vielleicht vom einen oder anderen als nützlich empfunden werde (a.a.O., S. 228 f.). Weniger klar lägen die Dinge bei Verlautbarungen von Behördenkonferenzen, wo sich Fragen der Legitimation und der Transparenz stellten (a.a.O., S. 229).
6.5
6.5.1
Über die gesetzlich vorgesehene Information durch die Bundesbehörden hinaus ist es in erster Linie Sache der politischen Parteien und weiterer privater Akteure, die Stimmberechtigten von den Vor- und Nachteilen einer Vorlage auf Bundesebene zu überzeugen. Eine Zunahme von behördlichen Stellungnahmen und Abstimmungsempfehlungen birgt die Gefahr, dass im Prozess der Meinungsbildung der Stimmberechtigten Verlautbarungen privater Akteure und Organisationen in den Hintergrund rücken und diese sich aus dem Diskurs vermehrt zurückziehen, anstatt ihre Anliegen öffentlich vorzubringen. Wenn ein Kanton am Ausgang der Abstimmung auf Bundesebene ein unmittelbares und besonderes Interesse hat, das jenes der übrigen Kantone deutlich übersteigt, dient es gewiss der umfassenden und freien Willensbildung der Stimmberechtigten, zu erfahren,
BGE 145 I 1 S. 18
wie sich die den Kanton vertretende Kantonsregierung zur Vorlage stellt und wie sie ihre Haltung begründet. Wenn hingegen die Gesamtheit bzw. Mehrheit der Kantone vom Ausgang einer Abstimmung auf Bundesebene mehr oder weniger gleich betroffen ist, können gegensätzliche Interventionen von Kantonsbehörden zu einer unübersichtlichen Lage führen und sind die Motive für eine Intervention für die Stimmberechtigten nicht leicht erkennbar (vgl.
BGE 143 I 78
E. 4.7 S. 86). Hat der Ausgang einer Abstimmung auf Bundesebene ganz allgemein Auswirkungen auf Belange der Kantone bzw. das Verhältnis zwischen Bund und Kantonen, ist deshalb in erster Linie vom Bundesrat zu erwarten, dass er die Stimmberechtigten im Rahmen seines gesetzlichen Auftrags auch darüber informiert.
Die Beobachtungen, dass Interventionen von kantonalen Behörden im Vorfeld von Abstimmungen auf Bundesebene in den vergangenen Jahren zugenommen haben und dass solchen Interventionen oft nur eine begrenzte Bedeutung für die öffentliche Meinungsbildung zugekommen ist, lässt sie mit Blick auf die freie Willensbildung der Stimmberechtigten nicht generell als unbedenklich erscheinen. Sodann mag es zwar zutreffen, dass kantonale Regierungen ihre Haltung zu eidgenössischen Abstimmungsvorlagen bisweilen im Rahmen ihrer Kompetenzen indirekt oder auf eine entsprechende Anfrage im kantonalen Parlament hin kundtun, ohne dass darin nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts eine Verletzung des Anspruchs der Stimmberechtigten auf freie Willensbildung und unverfälschte Stimmabgabe zu erblicken wäre (vgl. LANGER, a.a.O., S. 203 ff.). Verglichen mit aktiver Kommunikation durch kantonale Gesamtregierungen im Abstimmungskampf haben solche indirekt vermittelte Stellungnahmen oder Stellungnahmen im kantonalen Parlament indessen üblicherweise nur eine begrenzte Publizität.
Richtig ist, dass die Beantwortung der Frage, ob das Kriterium der relativen besonderen Betroffenheit erfüllt ist, jeweils eine Beurteilung im Einzelfall voraussetzt. Sodann gibt es unbestrittenerweise Grenzfälle, in denen für eine kantonale Regierung schwierig zu entscheiden ist, ob das Kriterium im konkreten Fall erfüllt ist oder nicht. Immerhin besteht bezüglich der Zulässigkeit von Interventionen von Gemeinden in kantonale Abstimmungskämpfe eine etablierte Rechtsprechung, an welcher sich die Kantone orientieren können. Eine Änderung der Zulässigkeitskriterien in dem Sinne, dass niederschwellige Interventionen auch im Falle einer wenig substantiellen
BGE 145 I 1 S. 19
Betroffenheit oder gar unabhängig davon zulässig wären, wäre zudem nicht zwangsläufig mit mehr Rechtssicherheit verbunden, sondern könnte auch zu neuen Abgrenzungs- und Streitfragen führen.
6.5.2
Fraglich ist immerhin, ob am Kriterium der relativen besonderen Betroffenheit auch dann festzuhalten ist, wenn der Ausgang der Abstimmung mehrere oder alle Kantone namhaft betrifft, etwa wenn die Auswirkungen einer Vorlage für die kantonalen Kompetenzen oder für die Infrastruktur von Kantonen bedeutend sind oder wenn das Resultat der Abstimmung mit erheblichen finanziellen Auswirkungen für die Kantone verbunden ist. Es erscheint mit Blick auf den Anspruch der freien Willensbildung und unverfälschten Stimmabgabe gemäss
Art. 34 Abs. 2 BV
vertretbar, in solchen Fällen für die Beurteilung der Zulässigkeit kantonaler Interventionen im Vorfeld einer Abstimmung auf Bundesebene vom Kriterium der relativen besonderen Betroffenheit abzurücken und eine bedeutende substantielle Betroffenheit für die Zulässigkeit einer Intervention genügen zu lassen. Allerdings müssen sich die kantonalen Interventionen diesfalls an den Kriterien der Sachlichkeit, der Verhältnismässigkeit sowie der Transparenz messen lassen, wie sie auch für den Bundesrat gelten (vgl. E. 5.2.1 hiervor).
Im Weiteren ist daran festzuhalten, dass es in der alleinigen Kompetenz der Kantonsregierungen als die Kantone repräsentierende Behörden liegt, sich im Namen ihres Kantons in einen eidgenössischen Abstimmungskampf einzuschalten, jedenfalls wenn nicht eine Mehrheit der Kantone im erforderlichen Ausmass betroffen sind (vgl.
BGE 143 I 78
E. 5.3 S. 89). Bei durchgehend oder mehrheitlich starker Betroffenheit der Kantone erscheint zulässig, dass die Konferenz der Kantonsregierungen, die im Namen der Gesamtheit oder Mehrheit der Kantone auftreten kann, sich im Vorfeld einer Abstimmung auf Bundesebene ebenfalls öffentlich äussern und eine Abstimmungsempfehlung abgeben kann. Interventionen von Fachdirektorenkonferenzen, deren Meinungsbildung und Vertretung nach Aussen wenig transparent sind, müssen aber von einer solchen Öffnung ausgeschlossen bleiben.
6.6
Mit der am 23. März 2018 veröffentlichten Medienmitteilung richtete sich die KdK - allenfalls zusammen mit der Fachdirektorenkonferenz (vgl. E. 6.1 hiervor) - im Namen der Gesamtheit oder der Mehrheit der Kantone an die Stimmberechtigten, ohne dass das für die Zulässigkeit einer solchen Intervention im Vorfeld einer
BGE 145 I 1 S. 20
Abstimmung auf Bundesebene bisher vorausgesetzte Kriterium der relativen besonderen Betroffenheit erfüllt gewesen wäre.
Indessen sind die Kantone vom Ausgang der Abstimmung über das neue Geldspielgesetz in ihrer Gesamtheit recht erheblich betroffen, zumal das neue Gesetz unter anderem die Zulässigkeit und Durchführung von Geldspielen regelt, welche von kantonal beherrschten Monopolbetrieben veranstaltet werden, und weil die Kantone die Reingewinne von bestimmten Geldspielen für gemeinnützige Zwecke namentlich in den Bereichen Kultur, Soziales und Sport verwenden dürfen bzw. müssen (vgl. auch
Art. 106 BV
). Der Ausgang der Abstimmung ist für die Kantone namentlich in finanzieller Hinsicht von Bedeutung, weil das neue Geldspielgesetz unter anderem darauf abzielt, die Zulässigkeit und Durchführung von Geldspielen auch im Internet zu regeln, und sicherstellen will, dass deren Erträge ebenfalls dem Gemeinwohl zukommen. Eine besondere Betroffenheit eines oder einzelner Kantone lässt sich jedoch nicht ausmachen. Die zu erwartenden Auswirkungen der neuen Regelung oder ihrer Verwerfung berühren die finanziellen Interessen der Kantone aber doch so erheblich, dass auf eine hinreichend starke (absolute) Betroffenheit geschlossen werden kann, sodass die KdK sich mit der geforderten Zurückhaltung (vgl. E. 6.5.2 hiervor) im Namen der Kantone zur Vorlage öffentlich äussern durfte.
Die gerügte Medienmitteilung vom 23. März 2018 genügt den Kriterien der Sachlichkeit, der Verhältnismässigkeit sowie der Transparenz (vgl. E. 5.2.1 hiervor). Demnach ist sie als eine mit Blick auf
Art. 34 Abs. 2 BV
zulässige behördliche Intervention im Vorfeld der eidgenössischen Volksabstimmung über das Geldspielgesetz vom 10. Juni 2018 zu betrachten, wenn man davon absieht, die Fachdirektorenkonferenz als Mitverfasserin zu betrachten (vgl. E. 6.1 hiervor). Selbst wenn man in deren Erwähnung aber eine unstatthafte Intervention erblicken wollte, hätte dies für den Ausgang des Verfahrens keine Folgen (vgl. E. 9.2 hiernach).
7.
Weiter machen die Beschwerdeführer im Verfahren 1C_163/2018 geltend, die Swisslos habe mit einer gemeinsam mit der Loterie Romande sowie dem Schweizer Casino Verband veröffentlichten Medienmitteilung vom 18. Januar 2018 unrechtmässig in den Abstimmungskampf zur Eidgenössischen Volksabstimmung vom 10. Juni 2018 über das Geldspielgesetz eingegriffen.
7.1
Die von den Beschwerdeführern beanstandete Medienmitteilung vom 18. Januar 2018 trug den Titel "Referendum gegen Geldspielgesetz
BGE 145 I 1 S. 21
gefährdet Schutz vor Spielsucht und Gemeinnützigkeit" und lautete wie folgt:
"
Mit grosser finanzieller Unterstützung von illegal aus dem Ausland agierenden Online-Geldspielanbietern ist das Referendum gegen das Geldspielgesetz zustande gekommen. Es gefährdet den wirkungsvollen Schutz vor Spielsucht und führt zu Geldabflüssen aus der Schweiz in Millionenhöhe
.
Geldspiel ist kein normales Gut. Es kann zu Spielsucht führen, zur Geldwäscherei missbraucht werden und birgt Betrugsgefahren in sich. Deshalb ist das Geldspiel in der Schweiz und in fast allen Ländern zu Recht eingeschränkt und mit strengen Auflagen verbunden. So erfüllen die schweizerischen Casinos und Lotteriegesellschaften strengste Anforderungen zur Vermeidung von Spielsucht und Geldwäscherei. Sie geben zudem rund eine Milliarde Franken jährlich ab für AHV/IV, Sport, Kultur, Umwelt und Soziales.
Mit dem neuen Geldspielgesetz dürfen die schweizerischen Casinos und Lotteriegesellschaften ihre Spiele unter strengen Auflagen auch online anbieten. Zur Erhaltung des bewährten Schutz- und Abgabe-Systems auch im Internet haben National- und Ständerat auf Vorschlag des Bundesrats und der Kantone entschieden, den Zugang zu den illegalen Online-Geldspielsites zu sperren. Wie viele andere europäische Länder bekämpft die Schweiz damit die von Offshore-Standorten wie Malta, Gibraltar etc. aus operierenden Gesellschaften, die sich nicht an die nationalen Gesetze halten. Nur so lassen sich die Vorgaben aus Artikel 106 der Bundesverfassung erfüllen, der vom Schweizer Volk am 11. März 2012 mit einem Ja-Stimmenanteil von 87 Prozent angenommen wurde.
Die illegalen Anbieter fürchten die Wirkung der Zugangssperre und haben deshalb die Sammlung von Unterschriften für ein Referendum mit namhaften Beiträgen unterstützt. Mit dem Argument der Internet-Zensur untergraben sie die Bestrebungen von Bund und Kantonen, die Bevölkerung und die Mittel für die Gemeinnützigkeit in der Schweiz zu schützen.
Mit der Ablehnung des Geldspielgesetzes verbunden wäre zum einen eine Zunahme der Geldspielsucht - so könnten z.B. auf den illegalen Internetseiten auch Personen ungehindert spielen, die in der Schweiz mit einem Spielverbot geschützt sind. Zum anderen würden damit der AHV, der Kultur, dem Sport sowie Umwelt- und Sozialprojekten in der Schweiz angesichts des starken Wachstums mittelfristig mehrere Hundert Millionen Franken pro Jahr entzogen.
Die Schweizer Casinos, die Loterie Romande und Swisslos vertrauen angesichts dieser Gefahren darauf, dass die Schweizer Stimmbevölkerung das Geldspielgesetz an der Urne klar annehmen und illegalen Onlinegeldspiel-Anbietern einen Riegel schieben wird, so wie es die meisten anderen europäischen Länder bereits getan haben."
BGE 145 I 1 S. 22
7.2
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts sind Unternehmen, die - unabhängig von ihrer Organisationsform - direkt oder indirekt unter dem bestimmenden Einfluss eines Gemeinwesens stehen, grundsätzlich zur politischen Neutralität verpflichtet. Eine Stellungnahme im Vorfeld einer Abstimmung ist indessen im Einzelfall zulässig, wenn ein Unternehmen durch die Abstimmung besonders betroffen wird, namentlich in der Umsetzung seines gesetzlichen oder statutarischen Auftrags, und ähnlich einem Privaten in seinen wirtschaftlichen Interessen berührt wird. In diesen Fällen kann sich das Unternehmen grundsätzlich der auch sonst im Abstimmungskampf verwendeten Informationsmittel bedienen, doch muss es sich jedenfalls einer gewissen Zurückhaltung befleissigen. Es hat seine Interessen in objektiver und sachlicher Weise zu vertreten und darf sich keiner verpönten oder verwerflichen Mittel bedienen. Dazu gehört auch, dass nicht mit unverhältnismässigem Einsatz öffentlicher (z.B. durch die Ausnützung von rechtlichen oder faktischen Monopolen und Zwangstarifen erwirtschafteter) Mittel in den Abstimmungskampf eingegriffen wird. Die gebotene Zurückhaltung beurteilt sich damit in ähnlicher Weise, wie sie den Gemeinden aufgegeben ist, wenn sie ausnahmsweise in besonderer Weise betroffen und daher zur Intervention berechtigt sind (vgl.
BGE 140 I 338
E. 5.2 S. 342 f. mit Hinweisen).
7.3
Bei der Swisslos handelt es sich - wie auch bei der Loterie Romande - um einen Monopolbetrieb, welcher für die Kantone Glücksspiele veranstaltet. Die Swisslos ist als Genossenschaft organisiert. Mitglieder der Genossenschaft sind die Kantone der Deutschschweiz sowie der Kanton Tessin. Die Genossenschafterversammlung besteht aus den von den Mitgliedkantonen bezeichneten Vertretern. Die Mehrheit der Mitglieder des Verwaltungsrats besteht ebenfalls aus Vertretern der Mitgliedkantone. Bei der Loterie Romande handelt es sich um einen Verein, dessen Mitglieder mit Ausnahme des Präsidenten von den Kantonen Waadt, Freiburg, Wallis, Neuenburg, Genf und Jura bezeichnet werden. Die Swisslos und die Loterie Romande stehen somit unter dem bestimmenden Einfluss der Kantone. Allerdings werden sie von der Abstimmung über das neue Geldspielgesetz in der Umsetzung ihres statutarischen Auftrags, nämlich der Durchführung von und Beteiligung an gemeinnützigen oder wohltätigen Lotterien, zweifellos besonders betroffen. Damit waren sie unter Beachtung der gebotenen Zurückhaltung zu einer Stellungnahme im Vorfeld der Abstimmung berechtigt. Daran ändert auch
BGE 145 I 1 S. 23
der Umstand nichts, dass die Swisslos und die Loterie Romande nicht vom Bund, sondern von den Kantonen beherrscht werden.
7.4
Die Beschwerdeführer machen geltend, die unter anderem von der Swisslos und der Loterie Romande veröffentlichte Medienmitteilung vom 18. Januar 2018 verletze das Gebot der Objektivität, indem alle Argumente gegen das Geldspielgesetz weggelassen worden seien. Die Medienmitteilung sei unsachlich, weil sie Angst vor einer nicht beweisbaren Zunahme der Spielsucht schüre und die Gegner der Vorlage in die Nähe von illegalen Angeboten rücke. Ausserdem werde die Angst vor dem Verlust von gemeinnützigen Geldern geschürt und nicht erwähnt, dass mittels Konzessionen auch von ausländischen Online-Casinos Abgaben erhoben werden könnten.
Die umstrittene Medienmitteilung vom 18. Januar 2018 ist zwar teilweise pointiert formuliert. Die Swisslos war als von der Abstimmung besonders betroffenes Unternehmen indessen nicht zur politischen Neutralität verpflichtet, hat ihre Interessen mit der Medienmitteilung in genügend objektiver und sachlicher Weise vertreten und sich keiner verpönter oder verwerflicher Mittel bedient. Die von ihr gemeinsam mit der Loterie Romande sowie dem Schweizer Casino Verband veröffentlichte Medienmitteilung vom 18. Januar 2018 stellt daher keine gegen
Art. 34 Abs. 2 BV
verstossende Intervention dar.
8.
Schliesslich machen die Beschwerdeführer im Verfahren 1C_163/2018 geltend, die Swisslos habe ihre organisatorische Kapazität, die Arbeitszeit ihrer Mitarbeiter und ihre Räumlichkeiten zur koordinierten Führung einer Abstimmungskampagne benutzt. Die Swisslos sowie die eng mit ihr verbundene Sport-Toto-Gesellschaft hätten offenbar viel Geld in die Abstimmungskampagne für das neue Geldspielgesetz investiert. Sofern direkt oder indirekt Gelder aus den Erträgen von Geldspielen in die Abstimmungskampagne geflossen sein sollten, stelle dies eine unzulässige Intervention dar, zumal solche Gelder von Gesetzes wegen für gemeinnützige und wohltätige Zwecke zu verwenden seien. In diesem Zusammenhang stellen die Beschwerdeführer folgende Beweisanträge:
"Es sei die Beschwerdegegnerin 3 zu verpflichten, alle ihr zugänglichen Dokumente betreffend die Finanzierung des Komitees für das Geldspielgesetz und die Abstimmungskampagne an die Beschwerdeführer zu edieren. Eventualiter seien diese Dokumente durch das Bundesgericht zu sichten.
Es seien der Direktor der Beschwerdegegnerin 3 (...) und der Direktor der Sport-Toto-Gesellschaft (...) durch das Bundesgericht als Zeugen zur
BGE 145 I 1 S. 24
Finanzierung und personellen Ausstattung der Kampagne für das Geldspielgesetz zu befragen."
Im gleichen Zusammenhang stellen die Beschwerdeführer sodann den Verfahrensantrag, es seien Dokumente der Interkantonalen Lotterie- und Wettkommission (Comlot) zu edieren, welche mit dem finanziellen Engagement der Swisslos sowie der Sport-Toto-Gesellschaft für die Abstimmungskampagne im Zusammenhang stünden.
8.1
Bei der Sport-Toto-Gesellschaft handelt es sich um einen Verein, welcher gemäss den Statuten die Beschaffung von Mitteln zur Unterstützung und Mitfinanzierung des Sports bezweckt. Er leitet die ihm zufliessenden Mittel der Lotteriegesellschaften an nationale Sportorganisationen weiter und vertritt die unternehmerischen und politischen Anliegen der Lotteriegesellschaften im nationalen Sport. Mitglieder des Vereins sind die in der Swisslos und der Loterie Romande vereinigten Kantone sowie verschiedene Sportorganisationen. Damit steht die Sport-Toto-Gesellschaft ebenfalls unter dem bestimmenden Einfluss der Kantone. Wie die Swisslos ist die Sport-Toto-Gesellschaft von der Abstimmung vom 10. Juni 2018 über das neue Geldspielgesetz in der Umsetzung ihres statutarischen Auftrags besonders betroffen. Damit waren die Swisslos und die Sport-Toto-Gesellschaft unter Beachtung der gebotenen Zurückhaltung berechtigt, sich der auch sonst im Abstimmungskampf verwendeten Informationsmittel zu bedienen.
8.2
Abgesehen von der bereits erwähnten Medienmitteilung vom 18. Januar 2018 (vgl. E. 7.1 hiervor) ist aus den Akten nicht ersichtlich, in welcher Form die Swisslos oder die Sport-Toto-Gesellschaft sich am Abstimmungskampf zum neuen Geldspielgesetz beteiligt hat. Die Swisslos hat sich im vorliegenden Verfahren auch nicht explizit zur Höhe und zur Herkunft der in die Abstimmungskampagne geflossenen finanziellen Mittel geäussert. Sie bestreitet indessen nicht, dass ihr Direktor bei der Leitung und Koordination der Abstimmungskampagne eine wesentliche Rolle gespielt hat und dass sie bzw. die Sport-Toto-Gesellschaft für die Abstimmungskampagne finanzielle Mittel eingesetzt haben. Verschiedenen Presseberichten ist zu entnehmen, die Befürworter des neuen Geldspielgesetzes hätten rund drei Millionen Franken in den Abstimmungskampf investiert, wovon die Hälfte von der Sport-Toto-Gesellschaft übernommen worden sei, wobei es sich bei den von der Sport-Toto-Gesellschaft investierten Mitteln nicht um Einnahmen aus Lotterien und Sportwetten handle, sondern um Immobilienerträge (vgl. NZZ
BGE 145 I 1 S. 25
vom 23. Mai 2018, "Lockeres Spiel mit Lottogeldern beim Geldspielgesetz" sowie St. Galler Tagblatt vom 6. April 2018, "Kriegskasse: Schlammschlacht um Geldspielgesetz").
8.3
Grundsätzlich nicht zu beanstanden ist, dass die Swisslos sowie die Sport-Toto-Gesellschaft als vom Ausgang der Abstimmung besonders betroffene Unternehmen gewisse personelle und physische Ressourcen für den Abstimmungskampf eingesetzt haben, zumal davon auszugehen ist, dass der damit verbundene Aufwand nicht übermässig gross war. Wie hoch der von der Swisslos bzw. der Sport-Toto-Gesellschaft in die Abstimmungskampagne investierte finanzielle Betrag effektiv war, kann letztlich offenbleiben, da dies für den Ausgang des vorliegenden Verfahrens nicht entscheidend ist (vgl. E. 9.2 hiernach). Damit rechtfertigt es sich auch nicht, im genannten Zusammenhang weitere Beweise abzunehmen, weshalb die entsprechenden Anträge der Beschwerdeführer abzuweisen sind. Anzumerken ist immerhin, dass ein Einsatz finanzieller Mittel in der Grössenordnung von 1,5 Mio. Franken im Abstimmungskampf durch die Sport-Toto-Gesellschaft als problematisch hoch bezeichnet werden müsste und besonderer Rechtfertigung bedürfte, auch wenn der Betrag nicht mit Einnahmen von Geldspielen erwirtschaftet worden wäre.
9.
9.1
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass im Verfahren 1C_163/2018 die von der KdK - allenfalls zusammen mit der Fachdirektorenkonferenz - veröffentlichte Medienmitteilung vom 23. März 2018 höchstens hinsichtlich der Mitwirkung der Fachdirektorenkonferenz als eine mit Blick auf
Art. 34 Abs. 2 BV
unzulässige behördliche Intervention im Vorfeld der eidgenössischen Volksabstimmung vom 10. Juni 2018 über das Geldspielgesetz zu qualifizieren ist. Sodann ist nicht auszuschliessen, dass der von der öffentlich beherrschten Sport-Toto-Gesellschaft in die Abstimmungskampagne investierte finanzielle Betrag als unverhältnismässiger Einsatz finanzieller Mittel und damit als Verstoss gegen
Art. 34 Abs. 2 BV
bezeichnet werden müsste. Die übrigen von den Beschwerdeführern in den Verfahren 1C_163/2018 sowie 1C_239/2018 kritisierten Interventionen sind hingegen nicht zu beanstanden.
9.2
Gemäss vorläufigem amtlichem Endergebnis wurde das Geldspielgesetz von den Stimmberechtigten sehr deutlich angenommen, nämlich mit 1'325'982 Ja-Stimmen (72,9 %) zu 492'247 Nein-Stimmen (27,1 %) bei einer Stimmbeteiligung von 33,7 %. Angesichts
BGE 145 I 1 S. 26
der Grösse des Stimmenunterschieds sowie der begrenzten Bedeutung der problematischen Interventionen im Rahmen der Abstimmung erscheint die Möglichkeit, dass die Abstimmung anders ausgefallen wäre, wenn die Medienmitteilung vom 23. März 2018 nicht veröffentlicht worden wäre und die Swisslos bzw. die Sport-Toto-Gesellschaft weniger öffentliche Mittel im Abstimmungskampf eingesetzt hätten, als derart gering, dass sie nicht mehr ernsthaft in Betracht fällt. Eine Aufhebung der eidgenössischen Volksabstimmung vom 10. Juni 2018 über das Bundesgesetz über Geldspiele fällt vor diesem Hintergrund nicht in Betracht. | de |
2aa788bc-5e9e-433a-9378-858559ac9adb | Sachverhalt
ab Seite 85
BGE 131 V 84 S. 85
A.
Der 1964 geborene T. war seit dem 7. Mai 1988 bei der Firma A. AG als Produktionsmitarbeiter angestellt und in dieser Eigenschaft bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) gegen Unfälle versichert. Am 14. Juli 1997 fiel ihm eine zerbrechende grosse Rinne auf die adominante linke Hand und zertrümmerte dabei die Grundphalanx Dig IV, worauf ihm der Ringfinger amputiert werden musste. Die SUVA anerkannte ihre Leistungspflicht und sprach T. am 17. März 1999 nebst einer Integritätsentschädigung mit Wirkung ab 1. März 1999 eine Invalidenrente auf der Basis einer Erwerbseinbusse von 20 % zu.
Im Rahmen einer periodischen Rentenüberprüfung kam die SUVA am 13. September 2002 zum Schluss, bei gleich gebliebenem Gesundheitszustand hätten sich die erwerblichen Auswirkungen des nach wie vor bei der Firma A. AG arbeitenden T. erheblich verbessert, so dass die bisher ausgerichtete Invalidenrente mit Wirkung ab 1. November 2002 aufzuheben sei. Mit Einspracheentscheid vom 6. August 2003 hielt die Anstalt an dieser Auffassung fest.
B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Glarus mit Entscheid vom 24. August 2004 ab.
C.
T. lässt mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde die Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids und des Einspracheentscheids beantragen. (...)
Die SUVA schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Bundesamt für Gesundheit auf eine Stellungnahme verzichtet. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Die für die Beurteilung eines Leistungsanspruches gegenüber der Unfallversicherung massgebenden Grundlagen in der vor dem InKraft-Treten des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 auf den 1. Januar 2003 gültig gewesenen Fassung sind im vorinstanzlichen Entscheid vom 24. August 2004 korrekt aufgezeigt worden. Insbesondere hat das Gericht auch den in
Art. 18 Abs. 1 UVG
seit dem 1. Juli 2001 auf Gesetzesstufe festgeschriebenen generellen
BGE 131 V 84 S. 86
Ausschluss der Gewährung von Renten bei einem unter 10 % liegenden Invaliditätsgrad (Änderung vom 15. Dezember 2000) erwähnt und mit
Art. 118 Abs. 5 UVG
die dazugehörige Übergangsbestimmung zitiert, wonach die Invalidenrenten, deren Anspruch vor dem In-Kraft-Treten der Änderung vom 15. Dezember 2000 entstanden ist, nach dem bisherigen Recht gewährt werden (AS 2001 1491 f.; BBl 2000 1320, besonders 1330).
2.
Parteien und Vorinstanz leiten aus
Art. 118 Abs. 5 UVG
ab, dass vor dem 1. Juli 2001 entstandene Rentenansprüche in revisionsrechtlicher Hinsicht nach Massgabe des bisherigen Rechts zu beurteilen sind. Diese Auffassung ist im Rahmen der Rechtsanwendung von Amtes wegen zu prüfen.
2.1
In der Tat legt der Wortlaut von
Art. 118 Abs. 5 UVG
einen derartigen Schluss nahe (vgl. die Rechtsprechung zur ebenfalls an den Anspruchsbeginn anknüpfenden Übergangsbestimmung von
Art. 118 Abs. 2 lit. c UVG
:
BGE 111 V 36
; RKUV 1988 Nr. U 46 S. 217).
2.2
Vom Wortlaut ist indessen abzuweichen, wenn triftige Gründe dafür vorliegen, dass der Wortlaut nicht den wahren Sinn der Bestimmung wiedergibt. Solche Gründe können sich aus der Entstehungsgeschichte der Bestimmung, aus ihrem Grund und Zweck oder aus dem Zusammenhang mit andern Vorschriften ergeben (
BGE 130 II 71
Erw. 4.2,
BGE 130 V 232
Erw. 2.2,
BGE 130 V 295
Erw. 5.3.1, 428 Erw. 3.2, 475 Erw. 6.5.1, 484 Erw. 5.2,
BGE 129 V 284
Erw. 4.2, je mit Hinweisen).
Art. 118 Abs. 5 UVG
bildet in systematischer Hinsicht die Übergangsbestimmung zu
Art. 18 Abs. 1 UVG
in der seit 1. Juli 2001 geltenden Fassung. Beide gehen auf die parlamentarische Initiative Raggenbass vom 11. Dezember 1996 zurück (BBl 2000 1321). Den Anstoss zu dieser Initiative gab ein am 19. August 1996 ergangenes, in
BGE 122 V 335
publiziertes Urteil. Darin gab das Eidgenössische Versicherungsgericht seine im Jahre 1944 (EVGE 1944 S. 112) begründete Praxis auf, versicherten Personen mit einer Invalidität von weniger als 10 % den Anspruch auf eine Unfallversicherungsrente regelmässig abzusprechen.
2.2.1
Ziel der parlamentarischen Initiative war es erklärtermassen, die durch diesen BGE notwendig gewordene Gesetzesgrundlage zur Beibehaltung der bisherigen Verwaltungspraxis zu schaffen (Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrats [SGK-N] vom 26. November 1999 zur Parlamentarischen Initiative Invalidität unter 10 % [Raggenbass], BBl 2000 1321 Ziff. 1.1 und 2.1). Die vom Nationalrat mit der Ausarbeitung einer
BGE 131 V 84 S. 87
Gesetzesvorlage beauftragte SGK-N führte ein Vernehmlassungsverfahren durch. Die Befürworter des Entwurfs argumentierten, nach dem klaren Willen des Gesetzgebers solle eine Invalidenrente nur gewährt werden, wenn eine spürbare erwerbliche Beeinträchtigung eingetreten sei. Frühere Bemühungen, diesen Grundsatz im Gesetz festzuhalten, seien an der Befürchtung gescheitert, dass bei Aufnahme einer ausdrücklichen Regelung bei jeder unfallbedingten Invalidität von über 10 % eine Rente geltend gemacht würde. Das Eidgenössische Versicherungsgericht habe nach anfänglicher Zusprechung von Mindestrenten seine Praxis dahin gehend geändert, dass bei kleinen Einbussen keine Berechtigung zum Bezug einer Rente anerkannt würde. Diese Rechtsprechung, welche die Aberkennung einer Rente bei einer Erwerbsunfähigkeit unter 10 % statuierte, habe sich über ein halbes Jahrhundert gehalten und sei von der massgebenden Doktrin gebilligt worden. Seit der Inkraftsetzung des UVG werde überdies der Integritätskomponente, die nach KUVG oft zu kleinen, meist befristeten Renten geführt hatte, durch das Institut der Integritätsentschädigung Rechnung getragen (
Art. 24 UVG
). Es sei fraglich, ob kleinere Einbussen, die unter 10 % liegen, überhaupt eine dauerhafte Invalidität zur Folge hätten. Geringfügige Restfolgen eines Unfalles begründeten in der Regel keine sich praktisch auswirkende Arbeits- oder Erwerbsunfähigkeit. Meist gewöhne sich der Versicherte bei der Wiederaufnahme der Arbeit an die anfänglichen Beschwerden, und man könne davon ausgehen, dass er die wirtschaftlichen Folgen durch eine entsprechende Willensanstrengung ausgleichen oder auch selbst tragen könne. Die Befürworter verwiesen weiter auf den Umstand, dass Verunfallte im Vergleich zu den Erkrankten ohnehin meist besser gestellt seien, so setze etwa eine Invalidenrente nach IVG einen Invaliditätsgrad von mindestens 40 % voraus. Auch wurde es im Hinblick darauf, dass das UVG den vollständig erwerbsunfähigen Versicherten einen Selbstbehalt von 20 % zumutet (d.h., der Unfallversicherer vergütet nur 80 % des vor dem Unfall verdienten Einkommens; zusammen mit einer Rente der Invalidenversicherung höchstens 90 % des versicherten Verdienstes;
Art. 20 Abs. 1 und 2 UVG
), als vertretbar erachtet, dass auch leicht Behinderte einen Selbstbehalt von 10 % in Kauf nehmen. Auch sei bei Kleinstrenten der administrative Aufwand unverhältnismässig hoch, und die Eigeninitiative, kleine Verdiensteinbussen wettzumachen, würde dadurch gehemmt (BBl 2000 1324 ff. Ziff. 2.4.1).
BGE 131 V 84 S. 88
2.2.2
In der Folge beantragte die SGK-N dem Nationalrat,
Art. 18 Abs. 1 UVG
abzuändern und als Übergangsbestimmung
Art. 118 Abs. 5 UVG
neu einzufügen. Dabei erläuterte sie die Vorlage dahin gehend, dass mit der Änderung von
Art. 18 Abs. 1 UVG
verhindert werden solle, dass das Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts vom 19. August 1996 Präjudizwirkung entfalten könne und in der Praxis der Unfallversicherung Kleinstrenten eingeführt würden. Zur vorgeschlagenen Übergangsbestimmung von
Art. 118 Abs. 5 UVG
hielt der Bericht der SGK-N vom 26. November 1999 erklärend fest, darin werde (lediglich) festgehalten, dass bisher gewährte Renten unter 10 % von der Neuregelung nicht betroffen sein sollten; eine Änderung dränge sich nicht auf, da auch vor dem Entscheid des Eidgenössischen Versicherungsgerichts Kleinstrenten nur in Ausnahmefällen gewährt worden seien. Der Bundesrat unterstützte mit Stellungnahme vom 23. Februar 2000 die Vorlage der SGK-N mit ähnlichen Argumenten (BBl 2000 1330-1332). Auch die SGK-S empfahl in ihrem Bericht vom 24. Oktober 2000 an den Ständerat den Entwurf zur Annahme, ohne sich dabei - wie zuvor ebenso bereits der Bundesrat (BBl 2000 1330) und der Nationalrat bei der Detailberatung vom 21. März 2000 (Amtl. Bull. 2000 N 366 f.) - zur vorgeschlagenen Übergangsbestimmung näher zu äussern (Amtl. Bull. 2000 Beilagen S. 13). Der Antrag der SGK-N wurde alsdann sowohl durch den National- als auch den Ständerat am 15. Dezember 2000 diskussionslos verabschiedet (Amtl. Bull. 2000 N 1611 und S 877, 941). Dies zeigt, welche Fälle nach dem Willen des Gesetzgebers von der Übergangsregelung von
Art. 118 Abs. 5 UVG
erfasst werden sollten, nämlich lediglich die bereits unter der Herrschaft des bisherigen Rechts entstandenen Kleinstrenten. Gegenteiliges würde den mit der Gesetzesänderung verfolgten Zweck, die durch
BGE 122 V 335
notwendig gewordene Gesetzesgrundlage zur Beibehaltung der bisherigen Verwaltungspraxis zu schaffen, keine Kleinstrenten zuzusprechen, geradezu vereiteln. Die Legislative wollte letztlich mit der Gesetzesänderung den status quo ante herbeiführen, ohne dabei Versicherte zu benachteiligen, deren Rentenanspruch vor dem In-Kraft-Treten der Änderung vom 15. Dezember 2000 am 1. Juli 2001 entstanden war. Die Versicherten sollten wieder so gestellt werden, als
BGE 122 V 335
noch nicht ergangen war. Vor dieser Änderung der Rechtsprechung führte ein im Rahmen eines Revisionsverfahrens unter die Massgeblichkeitsgrenze von 10 % fallender Invaliditätsgrad regelmässig zur Aufhebung der
BGE 131 V 84 S. 89
Rentenleistungen. Dagegen waren Kleinstrenten wegen der bereits nur sehr geringfügigen erwerblichen Beeinträchtigung von einer revisionsweisen Aufhebung praktisch ausgenommen, da die hierfür geforderte wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen nicht nachzuweisen war.
2.3
Angesichts des aus der Entstehungsgeschichte eindeutig hervorgehenden Grundes und Zwecks der jungen Gesetzesänderung wie auch des hinter dem Verzicht auf Kleinstrenten stehenden Beweggrundes, nur beachtliche negative Erwerbsfolgen mittels Rente auszugleichen, kann
Art. 118 Abs. 5 UVG
trotz des für sich isoliert betrachtet in eine andere Richtung gehenden Wortlauts vernünftigerweise nur so ausgelegt werden, dass von der in
Art. 18 Abs. 1 UVG
getroffenen Neuregelung auf Gesetzesstufe jene Rentenbezüger ausgeschlossen sind, deren Invaliditätsgrad bereits zum Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens der Änderung auf weniger als 10 % festgesetzt worden war. Hingegen kann dieser Bestimmung nicht der Rechtssinn zukommen, auf dem Weg von Rentenrevisionen (
Art. 22 UVG
[in Verbindung mit
Art. 17 ATSG
]) neue Kleinstrentenansprüche zu begründen.
3.
(...)
Im Vergleich zum Zeitpunkt der erstmaligen Rentenzusprechung vom 17. März 1999 hat sich die Situation insoweit geändert, als der Versicherte nach Einschätzung der Arbeitgeberin vom 28. August 2002 in der leidensangepassten Tätigkeit nunmehr eine volle Leistung zu erbringen vermag. (...) Nach den verfügbaren Unterlagen spricht nichts für eine - entgegen der unfallmedizinischen Erfahrungsregel - ausgebliebene Angewöhnung (Bericht über die Leistungsprüfung vom 29. August 2002). (...)
Ist eine im Vergleich zur Situation im Jahre 1999 voraussichtlich dauerhaft erheblich verbesserte Leistungsfähigkeit auszumachen, ist die Invalidenrente einer Revision mit Wirkung ab November 2002 zugänglich. Denn es genügt, wenn die erwerblichen Auswirkungen wegen voraussichtlich bleibender oder längere Zeit dauernder erhöhter oder gesunkener Leistungsfähigkeit nicht mehr die gleichen sind, was bei einer verbesserten Eingliederung zutrifft. Diesfalls handelt es sich nicht um eine unter revisionsrechtlichem Gesichtswinkel unerhebliche abweichende Beurteilung eines im Wesentlichen unveränderten Gesundheitszustandes (
BGE 112 V 372
Erw. 2b mit Hinweisen; SVR 1996 IV Nr. 70 S. 204 Erw. 3a mit Hinweisen).
BGE 131 V 84 S. 90
4.
4.2
(...) All dies führt zu einer mutmasslichen Lohneinbusse in den Jahren 2002 und 2003 von maximal 3 %. (...) Auf jeden Fall ist aber der Invaliditätsgrad deutlich unter die seit 1. Juli 2001 in
Art. 18 Abs. 1 UVG
festgeschriebene Massgeblichkeitsgrenze von 10 % gefallen, womit sich die von der Beschwerdegegnerin auf Anfang November 2002 vorgenommene Rentenaufhebung nicht beanstanden lässt. | de |
2dc00ebf-7357-4663-a93c-148d9ce7fd96 | Wer sich über Lebensvorgänge oder Umstände irrt, welche einem objektiven Tatbestandsmerkmal entsprechen (z.B. über die Fremdheit einer weggenommenen Sache), befindet sich in einer irrigen Vorstellung über den rechtserheblichen Sachverhalt im Sinne von
Art. 19 StGB
.
Art. 20 StGB
regelt demgegenüber ausschliesslich den Irrtum darüber, ob ein bestimmtes Verhalten verboten ist.
Sachverhalt
ab Seite 65
BGE 109 IV 65 S. 65
A.-
Am 17. August 1979 wurde vom Schweinehändler G. eine als Auftragsbestätigung bezeichnete vertragliche Abmachung mit der Firma R. AG unterzeichnet. Nach dem Inhalt dieses Schriftstückes verpflichtete sich die Firma R. zur Lieferung der Bauelemente für den Neubau eines Schweinezuchtstalles; zu den vertraglich versprochenen Leistungen gehörte auch das Anfertigen und Vervielfältigen sämtlicher Ausführungs- und Armierungspläne sowie die Bauleitung bis zur schlüsselfertigen Übergabe der Anlage. Als Bauherr war S. angeführt. Die Auftragsbestätigung der Firma R. richtete sich an den Geldgeber G. und wurde nur von diesem unterschrieben, nicht vom Grundeigentümer S.
BGE 109 IV 65 S. 66
Nach Lieferung der Elemente und nachdem der Bau des Schweinestalles begonnen war, wurde die Liegenschaft des S. betreibungsrechtlich verwertet. Neuer Eigentümer des Grundstückes wurde O. Die Firma R. erhielt aus dem Verwertungserlös aufgrund eines Bauhandwerkerpfandrechtes Fr. 20'287.--. Auf dem versteigerten Grundstück blieb verschiedenes Baumaterial zurück, das nicht Gegenstand der Versteigerung gebildet hatte und vom neuen Eigentümer O. nicht übernommen wurde.
Nach Korrespondenz mit dem Anwalt des G. und Konsultation des eigenen Rechtsvertreters beauftragte R. als verantwortlicher Geschäftsführer der Firma R. AG einen Angestellten, das restliche Baumaterial (im angeblichen Wert von Fr. 24'151.60) auf der Baustelle abzuholen. - S., der frühere Eigentümer der Liegenschaft, erstattete in der Folge Strafanzeige und machte geltend, er sei Eigentümer des abtransportierten Materials.
B.-
Das Bezirksgericht Steckborn sprach R. mit Entscheid vom 26. Mai/20. Juni 1983 des Diebstahls schuldig und verurteilte ihn zu einer bedingt aufgeschobenen Strafe von 20 Tagen Gefängnis.
Auf Berufung des R. erkannte das Obergericht des Kantons Thurgau am 27. September 1983, dieser sei im Sinne der
Art. 137 Ziff. 1 und 143 StGB
des Diebstahls und der Sachentziehung schuldig und nahm gemäss
Art. 20 StGB
von Strafe Umgang.
C.-
R. führt gegen dieses Urteil des Obergerichtes Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben, und die Sache sei zur Neubeurteilung im Sinne eines Freispruches von sämtlichen Anklagepunkten an die Vorinstanz zurückzuweisen. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Wie auch immer die getroffene Vereinbarung unter zivilrechtlichen Aspekten letztlich einzuordnen sein mag, auf jeden Fall ist dem Beschwerdeführer nach den Feststellungen der Vorinstanz zugute zu halten, dass er nicht eine fremde Sache rechtswidrig wegnehmen und sich aneignen wollte, sondern nach Fühlungnahme mit dem eigenen Anwalt und dem Rechtsvertreter des Vertragspartners G. davon ausging, er nehme Ware zurück, die im Rahmen eines Werkvertrages vor der Verarbeitung gar nie in das Eigentum des Bestellers übergegangen war oder im Rahmen eines Kaufvertrages zwar geliefert, aber mit Zustimmung des vom Vertrag
BGE 109 IV 65 S. 67
zurücktretenden Käufers G. wieder abzuholen sei. Die Vorinstanz betrachtete dies als Rechtsirrtum und brachte daher
Art. 20 StGB
zur Anwendung.
Nach unangefochtener, herrschender Lehre regelt
Art. 20 StGB
ausschliesslich den Verbotsirrtum, d.h. den Irrtum darüber, ob ein bestimmtes Verhalten verboten und unter Strafe gestellt ist, nicht aber den Irrtum über Tatbestandsmerkmale rechtlicher Natur, welche in einem andern Rechtsgebiet (ausserhalb des Strafrechts) umschrieben werden. Hat sich der Täter über Lebensvorgänge oder Umstände geirrt, welche einem objektiven gesetzlichen Tatbestandsmerkmal entsprechen, wie beispielsweise über die Fremdheit der Sache, die er wegnimmt, so befand er sich in einer irrigen Vorstellung über den rechtserheblichen Sachverhalt (
BGE 82 IV 202
;
BGE 85 IV 192
f., SCHULTZ, A.T. I, 4. Aufl. S. 226; NOLL, A.T. I, S. 132; HAUSER-REHBERG, Strafrecht I, 3. Aufl. S. 78 und 157; vgl. zum deutschen Recht: BLEI, Strafrecht I A.T., 18. Aufl. S. 201). Geht man von dieser zutreffenden Abgrenzung zwischen Sachverhaltsirrtum (Tatbestandsirrtum gemäss
Art. 19 StGB
) und Rechtsirrtum (
Art. 20 StGB
) aus, so ist der von der Vorinstanz festgestellte Irrtum - falls die zivilrechtliche Beurteilung der Situation durch den Beschwerdeführer überhaupt unrichtig gewesen sein sollte - nicht ein Rechtsirrtum, sondern ein Sachverhaltsirrtum, denn R. irrte sich nicht über die strafrechtliche Regelung; dass die Wegnahme fremder Sachen strafbar ist, war für ihn selbstverständlich nicht zweifelhaft. Sein allfälliger Irrtum konnte sich nur auf die Frage beziehen, ob die von ihm gelieferten, noch nicht eingebauten Materialien bereits fremde Sachen seien, bzw. darauf, ob er nicht (selbst bei Annahme eines vorherigen Übergangs des Eigentums auf den Erwerber) durch die Aufhebung des Vertrages und die Zustimmung des Vertragspartners/Käufers G. kraft dieser neuen Vereinbarung zur Rücknahme des verbleibenden Materials berechtigt sei. Ein solcher Irrtum über die zivilrechtliche Situation ist als Sachverhaltsirrtum zu behandeln, d.h. der Täter ist gemäss
Art. 19 StGB
nach dem Sachverhalt zu beurteilen, den er sich vorgestellt hat. Aufgrund der Feststellungen der Vorinstanz ist davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer glaubte, er sei als Eigentümer oder kraft neuer vertraglicher Abmachung zur Rücknahme des in Frage stehenden Baumaterials befugt. Sein Vorsatz ging also nicht dahin, fremden Gewahrsam zu brechen, sich rechtswidrig fremde Sachen anzueignen, und sich auf diesem Wege unrechtmässig zu bereichern. Auch wenn die zivilrechtliche
BGE 109 IV 65 S. 68
Auffassung der Vorinstanz sich als richtig erweisen sollte, so hat der Beschwerdeführer aufgrund seiner - unter diesen Umständen irrigen - Vorstellung über den Sachverhalt, insbesondere über die Gewahrsams- und Eigentumsverhältnisse, durch den Abtransport des Materials weder Art. 137 noch
Art. 143 StGB
erfüllt. Das angefochtene Urteil verletzt daher Bundesrecht. | de |
0a7f216d-d396-4ca4-9540-989cb2d87936 | Sachverhalt
ab Seite 247
BGE 122 III 246 S. 247
A.-
In den von der Zürcher Kantonalbank eingeleiteten Betreibungen auf Grundpfandverwertung Nrn. 91/106'106, 91/106'234 und 91/106'235 des Betreibungsamtes Winterthur I wurden zwei Liegenschaften der B. AG in Liquidation versteigert. Die Liegenschaft Kat.Nr. 6201 wurde der Zürcher Kantonalbank zugeschlagen, während die Liegenschaft Kat.Nr. 6200 von Sch. erworben wurde.
Am 3. Mai 1995 legte das Betreibungsamt den Verteilungsplan für die Grundpfandgläubiger auf. Dabei kürzte es den zu verteilenden Erlös um den Betrag von Fr. 102'505.--; denn der Erwerber Sch. hatte - im Gegensatz zur Zürcher Kantonalbank - die Grundstückgewinnsteuer für die Liegenschaft Kat.Nr. 6200 in dieser Höhe nicht bezahlt.
B.-
Die Zürcher Kantonalbank beschwerte sich über den Verteilungsplan beim Bezirksgericht Winterthur als unterer Aufsichtsbehörde für Schuldbetreibung und Konkurs, indem sie die Abänderung des Verteilungsplanes in dem Sinne verlangte, dass die Grundstückgewinnsteuer von dem zu verteilenden Erlös nicht abgezogen, sondern ebenfalls an die Hypothekargläubiger ausbezahlt werde. Die Beschwerde wurde mit Beschluss vom 4. Januar 1996 abgewiesen.
Das Obergericht des Kantons Zürich, an welches die Zürcher Kantonalbank rekurrierte, zog auch die Stadt Winterthur in das Verfahren ein. Es hiess mit Beschluss vom 25. März 1996 Rekurs und Beschwerde gut und wies das Betreibungsamt Winterthur I an, bei der Neuauflegung des Verteilungsplanes die Grundstückgewinnsteuer für die zwangsversteigerten Liegenschaften nicht von dem unter die Grundpfandgläubiger zu verteilenden Steigerungserlös abzuziehen.
C.-
In der Folge rekurrierte die Stadt Winterthur gestützt auf
Art. 19 Abs. 1 SchKG
an die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer des Bundesgerichts. Diese hiess den Rekurs gut, hob den Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich auf und bestätigte den Verteilungsplan vom 3. Mai 1995 des Betreibungsamtes Winterthur I.
BGE 122 III 246 S. 248 Erwägungen
Aus den Erwägungen:
5.
a) Das Obergericht des Kantons Zürich hat im angefochtenen Entscheid festgestellt, dass in Ziff. 8 lit. a der Steigerungsbedingungen die Verwertungskosten (vgl.
Art. 102 VZG
[SR 281.42] i.V.m. mit
Art. 49 Abs. 1 lit. a VZG
) und in Ziff. 8 lit. d der Steigerungsbedingungen auch die Verteilungskosten den Ersteigerern der Liegenschaft ohne Anrechnung auf den Zuschlagspreis zur Zahlung überbunden worden seien. Daher hätte gemäss
Art. 157 Abs. 2 SchKG
der gesamte Steigerungserlös unter die Grundpfandgläubiger verteilt werden müssen. Indem nun aber der Betreibungsbeamte gemäss dem Verteilungsplan vom 3. Mai 1995 die noch offene Grundstückgewinnsteuer vor der Verteilung des Steigerungserlöses von diesem abgezogen habe, habe er
Art. 157 Abs. 2 SchKG
verletzt.
b) Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden. In
BGE 120 III 153
E. 2b (mit Hinweisen) ist die Rechtsprechung bestätigt worden, wonach zu den Masseverbindlichkeiten im Sinne von
Art. 262 Abs. 1 SchKG
ausser den eigentlichen Konkurskosten auch die öffentlichrechtlichen Schulden gehören, welche erst nach der Konkurseröffnung entstanden sind, so insbesondere die Grundstückgewinnsteuern. Diese sind bei genauerer Betrachtung als Kosten der Verwertung, im Sinne von
Art. 262 Abs. 2 SchKG
zu betrachten (in diesem Sinne auch THOMAS KOLLER in AJP 4/95, S. 512 ff., insbesondere Ziff. 5a). Die Verwertungskosten sind vom Bruttoerlös abzuziehen und zu bezahlen, bevor der Nettoerlös an die Gläubiger verteilt wird.
Da auch bei der Betreibung auf Grundpfandverwertung, wie sie Gegenstand der vorliegenden Streitsache bildet, die Grundstückgewinnsteuer erst mit dem Zuschlag entsteht (
BGE 120 III 128
), ist nicht einzusehen, weshalb sie nicht in gleicher Weise vom Bruttoerlös abgezogen werden sollte.
Art. 157 Abs. 1 SchKG
hat denn auch denselben Inhalt wie
Art. 262 Abs. 2 SchKG
; und
Art. 157 Abs. 2 SchKG
sieht die Ausrichtung des Reinerlöses an die Pfandgläubiger vor und damit auch nichts anderes als die Auszahlung des Bruttoerlöses abzüglich der Verwertungskosten, wozu - wie dargelegt - auch die Grundstückgewinnsteuer gehört.
Somit erweist sich das Vorgehen des Betreibungsamtes Winterthur als bundesrechtskonform. Der Entscheid des Obergerichts des Kantons Zürich, womit der Verteilungsplan vom 3. Mai 1995 aufgehoben wurde, verletzt demgegenüber
Art. 157 SchKG
und ist daher aufzuheben. | de |
c9ba8216-9380-4855-98d2-e8bea7686b95 | Sachverhalt
ab Seite 315
BGE 129 IV 315 S. 315
A.-
A. erstattete am 23. März 2000 Anzeige gegen Unbekannt, weil ihr am 15./16. Januar 2000 in einem Restaurant in Weinfelden das Mobiltelefon abhanden gekommen war. Die Anzeige erfolgte wegen einer Erkrankung der Geschädigten mehr als zwei Monate nach dem Vorfall. Die von der Swisscom erstellte Liste der Einzelgespräche seit dem Verlust des Telefons führte zu X. Dieser hatte vom 16. Januar 2000 bis zur Sperrung der SIM-Chipkarte am 20. Februar 2000 für mehr als Fr. 3'500.- mit dem Gerät telefoniert.
B.-
Das Obergericht des Kantons Thurgau sprach X. am 21. Januar 2003 in zweiter Instanz des betrügerischen Missbrauchs einer Datenverarbeitungsanlage (
Art. 147 Abs. 1 StGB
) sowie einer Reihe
BGE 129 IV 315 S. 316
von Vergehen und Übertretungen des Strassenverkehrsgesetzes schuldig und verurteilte ihn zu einer unbedingten Gefängnisstrafe von acht Monaten und einer Busse von Fr. 1'800.-. Mit gleichem Urteil stellte es das Verfahren wegen geringfügigen Diebstahls (Art. 139 i.V.m.
Art. 172ter StGB
) sowie weiterer Delikte infolge Verjährung ein.
C.-
X. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde. Er beantragt, es sei das Urteil des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 21. Januar 2003 aufzuheben, insbesondere im Schuld-, Straf- und Kostenpunkt sowie in Bezug auf die Zivilforderung von A., und es sei die Sache an die Vorinstanz zur neuen Beurteilung zurückzuweisen.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Die Vorinstanz spricht den Beschwerdeführer in Bezug auf die unrechtmässig geführten Telefongespräche des betrügerischen Missbrauchs einer Datenverarbeitungsanlage gemäss
Art. 147 Abs. 1 StGB
schuldig. Sie begründet den Schuldspruch zusammengefasst wie folgt: Ein Mobiltelefon diene allein der Informationsvermittlung und sei damit keine Datenverarbeitungsanlage. Allerdings sei der Rechner des jeweiligen Mobiltelefonieanbieters, mit dem die einzelnen Geräte der Abonnenten durch ihre SIM-Chipkarte verbunden seien, eine Datenverarbeitungsanlage im Sinne des Tatbestandes. Der Rechner erfasse die von der SIM-Chipkarte beim Telefonieren übermittelten Signale, berechne die einzelnen Gesprächskosten sowie die fortlaufende Gebührenbelastung und erstelle gestützt darauf die jeweiligen Rechnungen. Der Beschwerdeführer habe das Telefon mit der fremden SIM-Chipkarte unbefugt benutzt. Dadurch seien seine Gespräche der Geschädigten belastet worden. Er habe somit wie bei der unbefugten Verwendung einer Bankkarte im automatisierten Zahlungsverkehr eine Vermögensverschiebung von der berechtigten Person zum rechtswidrigen Benutzer veranlasst. Der objektive Tatbestand des
Art. 147 StGB
sei somit erfüllt. Angesichts der Aussage des Beschwerdeführers, der Wert des Telefons habe für ihn darin bestanden, die Kosten von Telefongesprächen einzusparen, sei der Tatbestand auch in subjektiver Hinsicht gegeben.
Der Beschwerdeführer macht geltend, die objektiven Voraussetzungen des
Art. 147 StGB
seien nicht erfüllt. Die Norm sei dem Betrugstatbestand nachgebildet und ergänze diesen für den Fall, dass
BGE 129 IV 315 S. 317
jemand durch Manipulation an oder mit Daten eine unrechtmässige Vermögensverschiebung erreiche, ohne dass dafür ein menschlicher Entscheidungsträger eingeschaltet und irregeführt worden sei. Die Datenmanipulation müsse zu einem unrichtigen Ergebnis des Datenverarbeitungsprozesses führen. Diese Erfordernisse seien hier nicht gegeben. Er habe weder Daten verwendet noch auf eine Datenübermittlung oder Datenverarbeitung eingewirkt bzw. diese manipuliert. In praktischer Hinsicht gehe es beim Tatbestand vor allem um die Verwendung von deliktisch erlangten Code-Karten (Bancomat-, Postomat- und Debit-Karten für bargeldloses Zahlen an Ladenkassen), während blosse Informationsübermittlungsanlagen wie Fernschreiber, Telefax, Telex, digitalisierte Telefonsysteme usw. nicht als Datenverarbeitungsanlagen gelten würden.
2.
Gemäss
Art. 147 Abs. 1 StGB
wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren oder mit Gefängnis bestraft, "wer in der Absicht, sich oder einen andern unrechtmässig zu bereichern, durch unrichtige, unvollständige oder unbefugte Verwendung von Daten oder in vergleichbarer Weise auf einen elektronischen oder vergleichbaren Datenverarbeitungs- oder Datenübermittlungsvorgang einwirkt und dadurch eine Vermögensverschiebung zum Schaden eines andern herbeiführt oder eine Vermögensverschiebung unmittelbar darnach verdeckt".
2.1
Der Tatbestand wurde geschaffen, um den so genannten "Computerbetrug" unter Strafe zu stellen, der unter anderem mangels Täuschung einer Person nicht unter die Betrugsnorm (
Art. 146 StGB
) fällt. Beim betrügerischen Missbrauch einer Datenverarbeitungsanlage geht es laut der Botschaft darum, jene "Verhaltensweisen zu erfassen, bei denen zum Zwecke der unrechtmässigen Bereicherung mittels Manipulation von Daten oder Datenverarbeitungsanlagen diese zu einer Vermögensverschiebung veranlasst werden, die bei korrekter Handhabung nicht stattgefunden hätte" (Botschaft über die Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches [...] vom 24. April 1991, BBl 1991 II 969, S. 1020). Der Gesetzgeber hat sich dabei um eine Symmetrie zum Betrug bemüht und sich an diesen Tatbestand angelehnt. An die Stelle der arglistigen Täuschung und der Irrtumserweckung des Opfers beim klassischen Betrug tritt beim "Computerbetrug" die Manipulation der Datenverarbeitung mittels Daten. Statt der Vermögensdisposition des Opfers beim Betrug verlangt
Art. 147 StGB
die von der manipulierten Datenverarbeitungsanlage (Computer) vorgenommene Vermögensverschiebung (vgl. Botschaft, S. 1020, 1027 f.).
BGE 129 IV 315 S. 318
Als Tathandlungen nennt das Gesetz alternativ (1) die Verwendung unrichtiger Daten, also namentlich Fälle, in denen ein Programm manipuliert wird oder die Zahlen einer vorzunehmenden Überweisung falsch eingegeben werden, (2) die Verwendung unvollständiger Daten, das heisst Vorgänge, bei denen an sich erforderliche Dateneingaben überhaupt nicht oder nur teilweise erfolgen, und (3) den unbefugten Einsatz von Daten, der sich dadurch kennzeichnet, dass der Täter, ohne dazu berechtigt zu sein, "an sich richtige Daten" verwendet und einen formal "richtigen" Datenverarbeitungsvorgang einleitet (vgl. Botschaft, S. 1021).
Mit der Generalklausel "... in vergleichbarer Weise ..." wollte der Gesetzgeber ermöglichen, auch künftige Manipulationsvarianten zu erfassen. Gedacht wurde vor allem an die so genannten "Konsol- und Hardware-Manipulationen", bei denen direkt in die Datenverarbeitungsvorgänge eingegriffen wird (Botschaft, S. 1022; zur Tatvariante "eine Vermögensverschiebung unmittelbar darnach verdeckt" vgl. Botschaft, S. 1023).
Erforderlich ist in objektiver Hinsicht, dass die Datenverarbeitungsanlage wegen der genannten Handlungen (ausgenommen die Verdeckungshandlungen) eine Vermögensverschiebung zu Lasten eines Dritten vornimmt, etwa durch Auszahlung eines Barbetrages, durch eine Gutschrift auf ein Konto oder durch eine unterbliebene "notwendige" Belastung eines Kontos. Die Vermögensverschiebung muss wie beim Betrug einen Schaden bewirken (Botschaft, S. 1022 f.).
Obschon der deutsche Gesetzestext dies nicht zum Ausdruck bringt, setzt der objektive Tatbestand nach den Materialien und den romanischen Texten ("par le biais du résultat inexact ainsi obtenu"; "per mezzo dei risultati erronei così ottenuti") sodann voraus, dass die manipulierte Datenverarbeitung zu einem unzutreffenden Ergebnis führt. Die Tathandlung muss mit anderen Worten eine Vermögensverschiebung auslösen, die der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Datenverarbeitung widerspricht (in diesem Sinne Botschaft, S. 1022; so oder ganz ähnlich auch die herrschende Lehre, für viele GÜNTER STRATENWERTH/GUIDO JENNY, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil I, 6. Aufl., Bern 2003, § 16 N. 4 und 6 mit Hinweisen).
2.2
Gemäss den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz hat der Beschwerdeführer mit dem von ihm rechtswidrig angeeigneten Mobiltelefon ausschliesslich telefoniert. Irgendwelche Sperren musste er dafür nicht überwinden. Auch hat er das Gerät oder andere Einrichtungen nicht sonst wie manipuliert. In Betracht kommt deshalb
BGE 129 IV 315 S. 319
nur die Tatvariante der unbefugten Verwendung von Daten. Die Generalklausel dagegen ist auf Fälle wie den hier zu beurteilenden offensichtlich nicht zugeschnitten (oben E. 2.1 dritter Absatz). Eine Verdeckung einer erfolgten Vermögensverschiebung liegt hier nicht vor.
2.2.1
Die Tatvariante der unbefugten Verwendung von Daten soll nach der Botschaft Fälle erfassen, in denen der "Unberechtigte" durch die an sich "richtige" Verwendung von Daten in die Datenverarbeitung eingreift (Botschaft, S. 1021). Es solle in erster Linie jeder Einsatz von Check- und Kreditkarten im automatisierten Zahlungsverkehr durch Unberechtigte, die wie etwa der Dieb, Finder oder auch Fälscher das Tatmittel durch eine strafbare Tat erlangt haben, unter
Art. 147 StGB
fallen (vgl. Botschaft, S. 1022 mit Hinweis auf die im Vordergrund stehenden Code-Karten [Bankomat- und Postomatkarten usw.] sowie auf die so genannten Debit-Karten zur bargeldlosen Bezahlung an Ladenkassen).
Nach der den Materialien folgenden Rechtsprechung des Bundesgerichts handelt es sich bei der Verwendung einer Bankomatkarte durch den Nichtberechtigten um einen typischen Anwendungsfall des
Art. 147 StGB
. Entscheidend sei dabei nicht, ob die Verwendung der Daten unbefugt bzw. unberechtigt erscheine, sondern ob sie zu einem im Ergebnis unzutreffenden Datenverarbeitungs- oder Datenübermittlungsvorgang führe. Deshalb erfülle den Tatbestand des betrügerischen Missbrauchs einer Datenverarbeitungsanlage auch, wer infolge einer falschen Adressmutation der Bank die Kontonummer eines Namensvetters zugestellt erhalte, gestützt darauf der Bank vorspiegle, der berechtigte Kontoinhaber zu sein, dadurch die Bank veranlasse, ihm eine entsprechende Code-Karte für das fremde Konto auszustellen, und damit innerhalb weniger Tage insgesamt Fr. 80'000.- an Bankomaten abhebe (Urteil des Bundesgerichts 6S.247/2001 vom 10. Mai 2001, E. 2a und 2b unter Berufung auf PIERRE SCHNEIDER, La fraude informatique au sens de l'article 147 CPS, Diss. Lausanne/Basel 1995, S. 65 ff. und GÜNTER STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil I, 5. Aufl., Bern 1995, § 16 N. 7; ebenso nunmehr STRATENWERTH/JENNY, Besonderer Teil I, 6. Aufl., a.a.O., § 16 N. 7).
Als Angriffsobjekte der unbefugten Verwendung von Daten werden neben den Geldautomaten und den Systemen zur bargeldlosen Bezahlung (wie z.B. ec-direct, Postcard) insbesondere das Home- und Telebanking, das Videotext-Verfahren, das Telepostcheckkonto, das automatisierte Lastschriftenverfahren sowie die nur über
BGE 129 IV 315 S. 320
Codes zugänglichen kostenpflichtigen Datenbanken genannt. Erfasst seien zudem Fälle der ungetreuen Datenverwendung durch Angestellte, Organe usw. zum Nachteil des eigenen Unternehmens sowie des unrechtmässig hergestellten Zugangs zu kostenpflichtigen Telefondiensten, wie dies namentlich über Eingriffe in Verrechnungscodes bzw. anderen Dateien in Rechnern von Fernmeldegesellschaften oder durch Einsatz fremder Codes und Kartennummern möglich sei; allerdings verwischten sich hier die Bereiche strafbaren und gerade noch straflosen Verhaltens (vgl. NIKLAUS SCHMID, Computer- sowie Check- und Kreditkartenkriminalität, Zürich 1994, § 7 N. 61 ff.).
2.2.2
Fraglich ist zunächst, ob der Beschwerdeführer mit der Eingabe von Telefonnummern auf der Tastatur des Mobiltelefons und der anschliessend geführten Telefonate im Sinne des
Art. 147 StGB
Daten verwendet und auf einen Datenverarbeitungs- oder Datenübermittlungsvorgang eingewirkt bzw. diese "manipuliert" hat. Das Gesetz enthält keine Definition der Begriffe der "Daten" (vgl.
Art. 143, 144bis, 147 StGB
), der "Datenverarbeitungsanlage" (
Art. 147 StGB
) bzw. "Datenverarbeitungssysteme" (
Art. 143bis StGB
) sowie des "Datenübermittlungsvorgangs" (
Art. 147 StGB
). Der Gesetzgeber hat auf eine Umschreibung dieser Begriffe bewusst verzichtet (Botschaft, S. 986).
Zahlenreihen können nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts (vgl. oben E. 2.2.1 Abs. 2) grundsätzlich Daten im Sinne von
Art. 147 StGB
sein. Darauf ist nicht zurückzukommen. Diese generelle Eignung bedeutet jedoch nicht ohne weiteres, dass der Beschwerdeführer mit der Eingabe von Telefonnummern und den hergestellten Telefonverbindungen Daten im Sinne des
Art. 147 StGB
verwendet hat. Wie die Botschaft ausführt, kommen als Tatobjekte nur Informationen in Frage, die von einer Datenverarbeitungsanlage verarbeitet, gespeichert und weitergegeben werden (Botschaft, S. 986 f.). Der Datenbegriff nach
Art. 147 StGB
ist somit abhängig von jenem der Datenverarbeitungsanlage (vgl. nur SCHMID, a.a.O., § 2 N. 9 ff., § 7 N. 34).
2.2.3
Zu untersuchen ist somit, ob der von
Art. 147 StGB
geforderte Bezug zu einer Datenverarbeitung bzw. Datenverarbeitungsanlage gegeben ist. Unter Datenverarbeitung sind elektronische oder vergleichbare technische Vorgänge zu verstehen, bei denen durch Eingabe von Daten bzw. Arbeitsbefehlen und ihre Verknüpfung nach Programmen, die eine Kodierung der Daten voraussetzen, automatisierte Arbeitsergebnisse erzielt werden (vgl. KARL LACKNER/KRISTIAN KÜHL,
BGE 129 IV 315 S. 321
Strafgesetzbuch mit Erläuterungen, 24. Aufl., München 2001, § 263a dStGB N. 4 mit Hinweisen; ferner SCHMID, a.a.O., § 2 N. 9 ff.). Es geht dabei um Computer und deren Programme.
Mobiltelefone verfügen über verschiedene automatisierte Arbeitsfunktionen. Sie sind zudem über die SIM-Chipkarte mit den Antennen und Rechnern des jeweiligen Mobiltelefonanbieters verbunden. Beim Telefonieren mit einem Mobiltelefongerät findet nicht nur ein mündlicher Informationsaustausch zwischen den Gesprächspartnern statt, sondern es erfolgt auch ein bedeutsamer Datenverarbeitungsvorgang. Die Daten der SIM-Chipkarte werden dem Computer der Telefongesellschaft übermittelt und dort verarbeitet. Die Rechner der Telefongesellschaft sammeln, verarbeiten und speichern eine ganze Reihe von Informationen über Telefonate, etwa die angewählte Telefonnummer, die Gesprächsdauer und -kosten sowie die benutzten Antennen. Diese Daten dienen den Telefongesellschaften unter anderem dazu, periodisch in automatisierter Form Rechnungen auszufertigen und an die Kunden zu versenden. Angesichts dieser Abläufe hat die Vorinstanz zutreffend angenommen, dass der Anrufer beim mobilen Telefonieren im Sinne von
Art. 147 StGB
auf einen Datenverarbeitungsvorgang einwirkt. Das gilt unabhängig davon, ob die SIM-Chipkarte mit einem Code gesperrt ist oder das Mobiltelefon von jeder beliebigen Person verwendet werden kann.
Wie dargelegt, hat der Beschwerdeführer mit der Anwahl von Telefonnummern Daten im Sinne von
Art. 147 StGB
verwendet. Dies erfolgte gegen den Willen der Eigentümerin des Mobiltelefons, die zugleich Abonnentin der Swisscom war. Die Kosten der Telefonate des Beschwerdeführers wurden der Abonnentin automatisch belastet bzw. in Rechnung gestellt. Der Beschwerdeführer löste folglich mit seinen Anrufen jeweils eine Vermögensverschiebung zum Schaden der Eigentümerin des Mobiltelefons aus, da diese vertraglich verpflichtet war, der Telefongesellschaft die Anrufkosten zu bezahlen. Auf Grund seiner fehlenden rechtlichen Befugnis, die fremde SIM-Chipkarte zu benutzen, führten die von der Gesellschaft verarbeiteten Daten der ohne Recht durchgeführten Telefonate zu einem unzutreffenden Ergebnis. Hätte die Berechtigte die Telefongesellschaft vom Verlust des Telefons informiert, wäre die SIM-Chipkarte gesperrt worden. Das Verhalten des Beschwerdeführers war damit unbefugt im Sinne von
Art. 147 StGB
. Wohl wird dadurch die Parallele zum Betrug verlassen, weil der Beschwerdeführer weder einen Code eingeben noch eine Identitätskontrolle über sich
BGE 129 IV 315 S. 322
ergehen lassen musste, um das Mobiltelefon benutzen zu können, doch entspricht dies dem Willen des Gesetzgebers, den Anwendungsbereich der Norm über die Tatvariante der unbefugten Verwendung von Daten auf Sachverhalte im Bereich der Geschäftsherrendelikte auszudehnen (vgl. GERHARD FIOLKA, Basler Kommentar, StGB II, Art. 147 N. 10 mit Hinweisen; STRATENWERTH/JENNY, Besonderer Teil I, 6. Aufl., a.a.O., § 16 N. 7; JÖRG REHBERG/NIKLAUS SCHMID/ANDREAS DONATSCH, Strafrecht III, 8. Aufl., Zürich 2003, S. 206).
2.2.4
Aus dem Gesagten ergibt sich, dass die Vorinstanz den Beschwerdeführer zu Recht wegen betrügerischen Missbrauchs einer Datenverarbeitungsanlage verurteilt hat. | de |
96aeb65b-a39d-4c44-a4c6-052294bcf598 | Sachverhalt
ab Seite 17
BGE 137 III 16 S. 17
A.
C.X. arbeitete seit Beginn der Lehre 1962 als Maschinenschlosser bei der Z. beziehungsweise deren Rechtsnachfolgerinnen (heute "Y. AG"; Beschwerdegegnerin) als Turbinenmonteur beziehungsweise ab 1978 als Turbinentechniker im Innendienst mit nur mehr sporadischen Auslandseinsätzen. Anfang 2004 wurde bei ihm ein malignes Pleuramesotheliom (Brustfellkrebs) diagnostiziert, das am 10. November 2005 zu seinem Tod führte. Mit Klage vom 25. Oktober 2005 hatte er beim Arbeitsgericht Baden Teilklage eingereicht, mit welcher er Fr. 212'906.- nebst Zins als Schadenersatz und Genugtuung verlangte, da die Erkrankung durch Asbestexposition am Arbeitsplatz verursacht worden sei. Nach seinem Tod traten seine beiden Töchter A.X. und B.X. (Beschwerdeführerinnen) in den Prozess ein.
B.
Der Klage war vor Arbeitsgericht kein Erfolg beschieden. Die von den Beschwerdeführerinnen erhobene Appellation wies das Obergericht des Kantons Aargau mit Urteil vom 2. März 2010 ab. Es erkannte, für den Beginn der 10-jährigen Verjährungsfrist nach
Art. 127 OR
sei bei positiver Vertragsverletzung der Zeitpunkt der Pflichtverletzung und nicht derjenige des Schadenseintritts massgeblich. Es erachtete daher sämtliche der Beklagten angelasteten
BGE 137 III 16 S. 18
Handlungen, welche diese vor dem 25. Oktober 1995 (das heisst mehr als 10 Jahre vor der Klageeinreichung als erste Verjährungsunterbrechung) begangen haben soll, als verjährt. Dies betrifft namentlich den Zeitraum zwischen 1966 und 1978, in welchem der verstorbene Kläger gemäss der Klageschrift regelmässig und intensiv mit Asbeststaub in Kontakt gekommen sein soll. Dass nach diesem Zeitpunkt ein weiterer für die Erkrankung kausaler Kontakt erfolgt sei, hielt das Obergericht nicht für erwiesen, ebenso wenig wie eine Pflichtverletzung in diesem Zeitpunkt.
C.
Mit Beschwerde in Zivilsachen wiederholen die Beschwerdeführerinnen das erstinstanzliche Hauptbegehren und beantragen eventuell die Rückweisung der Sache an das Obergericht zur materiellen Neubeurteilung. Die Beschwerdegegnerin schliesst auf kostenfällige Abweisung der Beschwerde, während das Obergericht auf Vernehmlassung verzichtet. Das Bundesgericht hat die Angelegenheit am 16. November 2010 an einer öffentlichen Sitzung beraten. Es weist die Beschwerde ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Die Verjährung gewährt dem Schuldner die Möglichkeit, sich nach einem bestimmten Fristenlauf der Durchsetzung einer Forderung zu widersetzen, indem er die Verjährungseinrede erhebt. Die Verjährung darf vom Richter nicht von Amtes wegen berücksichtigt werden (
Art. 142 OR
). Sie beschlägt weder den Bestand noch die Entstehung einer Forderung, sondern allein deren Durchsetzbarkeit (vgl.
BGE 133 III 6
E. 5.3.4 S. 26; SPIRO, Die Begrenzung privater Rechte durch Verjährungs-, Verwirkungs- und Fatalfristen, Bd. I, 1975, S. 457; ENGEL, Traité des obligations en droit suisse, 2. Aufl. 1997, S. 798 und 823 f.).
2.1
Das Gesetz sieht die Verjährung in erster Linie um der öffentlichen Ordnung willen vor: Das öffentliche Interesse an der Rechtssicherheit und am gesellschaftlichen Frieden verlangt, dass gewöhnliche Forderungen, die nicht geltend gemacht werden, nach einer gewissen Zeit nicht mehr durchgesetzt werden können. Die Rechtssicherheit ist beeinträchtigt, wenn Prozesse über Forderungen möglich bleiben, deren Entstehung oder Erlöschen wegen durch Zeitablauf verursachten Beweisschwierigkeiten nicht mehr zuverlässig feststellbar sind. Dem Gläubiger zu gestatten, mit der Geltendmachung einer gewöhnlichen Forderung beliebig zuzuwarten, ohne
BGE 137 III 16 S. 19
deswegen einen Rechtsnachteil zu erleiden, verbietet sich aber auch, weil unbereinigte Rückstände die Beziehungen unter den Rechtsgenossen belasten und der Schuldner nicht dauernd im Ungewissen darüber gelassen werden darf, ob eine Forderung, die längere Zeit nicht geltend gemacht wurde und mit der er daher natürlicherweise immer weniger rechnet, schliesslich doch noch eingeklagt wird. Zudem muss der Schuldner aus praktischen Gründen davor bewahrt werden, die Belege für seine Zahlungen während unbeschränkter Zeit aufbewahren zu müssen. Für den Gläubiger führt die Verjährung zu einem nicht nur in seinem eigenen, sondern auch im Interesse klarer Rechtsbeziehungen erwünschten Ansporn, seine Forderungen innert vernünftiger Frist geltend zu machen und die Austragung von Streitigkeiten darüber nicht zu verzögern. Der Einrichtung der Verjährung liegt auch der Gedanke zugrunde, dass eine länger dauernde Untätigkeit des Gläubigers die Unbegründetheit oder die Tilgung der Forderung wahrscheinlich macht oder sogar als Verzicht auf die Forderung gedeutet werden kann (so schon
BGE 90 II 428
E. 8 S. 437 f.; vgl.
BGE 136 II 187
E. 7.4 S. 194 f.;
BGE 134 III 294
E. 2.1 S. 297; SCHWANDER, Die Verjährung ausservertraglicher und vertraglicher Schadenersatzforderungen, 1963, S. 2).
2.2
Mit Ablauf von zehn Jahren verjähren alle Forderungen, für die das Bundeszivilrecht nicht etwas anderes bestimmt (
Art. 127 OR
). Diese Norm gilt unter anderem für die aus der Verletzung vertraglicher Pflichten entstehenden Forderungen auf Leistung von Schadenersatz und Genugtuung. Der Beginn der Verjährungsfrist untersteht in diesen Fällen
Art. 130 Abs. 1 OR
, d.h. die zehnjährige allgemeine Verjährungsfrist läuft von der Fälligkeit der Forderung an, und zwar unabhängig davon, ob der Gläubiger seine Forderung kennt (
BGE 87 II 155
E. 3c S. 163;
53 II 336
E. 3b S. 342 f.).
2.3
Die Pflicht des Schuldners, Schadenersatz und Genugtuung zu leisten, und das Recht des Gläubigers, sie zu verlangen, entstehen nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts nicht erst, wenn dieser die Folgen der Pflichtverletzung erkennen kann. Beruhen sie auf einer Körperverletzung, so erwachsen sie im Zeitpunkt, in dem der Schuldner pflichtwidrigerweise auf den Leib des andern einwirkt. Das folgt aus
Art. 46 Abs. 2 OR
, der überflüssig wäre, wenn erst die Erkennbarkeit und Feststellbarkeit der Folgen der Verletzung dem Gläubiger ein Recht auf Ersatz des Schadens sowie auf Genugtuung und als Ausfluss des materiellen Rechts den Anspruch auf Rechtsschutz (
BGE 86 II 41
E. 4 S. 44 f.) gäbe.
Art. 46 Abs. 2
BGE 137 III 16 S. 20
OR
gilt nicht nur für unerlaubte Handlungen, sondern kraft der Verweisung des
Art. 99 Abs. 3 OR
auch für vertragswidriges Verhalten. Der Verletzte kann vom Zeitpunkt der Verletzung an verlangen, dass ihm der Schuldner allen aus ihr erwachsenen Schaden, auch den erst künftig in Erscheinung tretenden, ersetze und ihm Genugtuung leiste (
BGE 87 II 155
E. 3b S. 162 f.). Wenn die Zeit der Erfüllung weder durch Vertrag noch durch die Natur des Rechtsverhältnisses bestimmt ist, kann gemäss
Art. 75 OR
sogleich geleistet und gefordert werden. Die Forderungen auf Schadenersatz und Genugtuung aus vertragswidriger Körperverletzung werden daher nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts grundsätzlich sogleich mit der Verletzung der vertraglichen Pflicht fällig (
BGE 87 II 155
E. 3c S. 163;
BGE 106 II 134
E. 2d S. 139), womit die Verjährung ab diesem Zeitpunkt zu laufen beginnt.
2.4
Diese Lösung ist in der Lehre auf breite Zustimmung gestossen (DÄPPEN, in: Basler Kommentar, Obligationenrecht, Bd. I, 4. Aufl. 2007, N. 11a zu
Art. 130 OR
; GAUCH/SCHLUEP, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, Bd. II, 9. Aufl. 2008, S. 226 Rz. 3322; SCHWENZER, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2009, S. 526 f. Rz. 84.14; VOSER, Aktuelle Probleme zivilrechtlicher Verjährung bei körperlichen Spätschäden aus rechtsvergleichender Sicht, recht 2005 S. 121 ff.; GUILLAUME FOURNIER, La prescription de l'action en dommages-intérêts: une réflexion sur la relation délit-contrat en droit privé, au regard notamment de l'avant-projet de modification et d'unification du droit de la responsabilité civile, 2009, S. 76 f.; vgl. auch SPIRO, a.a.O., S. 83). Ein Teil der Lehre steht der Rechtsprechung allerdings kritisch gegenüber (vgl.
BGE 106 II 134
E. 2b S. 138 mit Hinweisen), und in der Literatur, auf die sich die Beschwerdeführerinnen berufen, wird die Auffassung vertreten, der Beginn der Verjährung nach
Art. 130 OR
werde bei einer positiven Vertragsverletzung nicht schon durch die Vertragsverletzung ausgelöst, sondern erst durch den Eintritt des Schadens (WIEGAND, in: Basler Kommentar, Obligationenrecht, Bd. I, a.a.O., N. 52 zu
Art. 97 OR
; BERTI, Zürcher Kommentar, 3. Aufl. 2002, N. 129 zu
Art. 130 OR
mit Hinweisen;
derselbe
, Verjährung vertraglicher Schadenersatzansprüche, in: Leistungsstörungen, Koller [Hrsg.], 2008, S. 15 ff.; SCHWANDER, a.a.O., S. 91; vgl. auch die Hinweise bei HUSMANN/ALIOTTA, Zeit heilt nicht alle Wunden - Zur verjährungsrechtlichen Problematik bei Personenschäden durch Asbest, HAVE 2010 S. 128 ff., worin unter Mitwirkung des Rechtsvertreters der
BGE 137 III 16 S. 21
Beschwerdeführerinnen im Wesentlichen die in der Beschwerdeschrift vertretene Argumentation aufgenommen wird).
2.4.1
Die Annahme, vertragliche Schadenersatzansprüche aus positiver Vertragsverletzung würden nicht bereits mit der Pflichtverletzung, sondern erst mit Schadenseintritt fällig, womit die Verjährung erst ab diesem Zeitpunkt zu laufen beginne, würde nicht nur das Institut der Verjährung aushöhlen, indem der Vertragspartner bei Eintritt weiteren Schadens auch nach Jahren noch neue Schadenersatzansprüche geltend machen könnte (vgl. VOSER, a.a.O., S. 126). Sie hätte in letzter Konsequenz zur Folge, dass mangels Fälligkeit kein vertraglicher Schadenersatz für erst in der Zukunft entstehenden Schaden eingeklagt werden könnte und in zeitlichen Abständen der jeweils eingetretene Schaden geltend gemacht werden müsste. Dies erscheint nicht sinnvoll und wäre praktisch kaum durchführbar (vgl. BREHM, Berner Kommentar, 3. Aufl. 2006, N. 8 Vorbemerkungen zu
Art. 45 und 46 OR
; MATTHIAS LEEMANN, Die Rente als Art des Schadenersatzes im Haftpflichtrecht, 2002, S. 26 f.). Insoweit besteht entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerinnen kein Grund, von der bisherigen Rechtsprechung abzuweichen und vertragliche Schadenersatzansprüche anders zu behandeln als ausservertragliche. Die abweichenden Vorschriften betreffen die Verjährung, nicht die Fälligkeit der Ansprüche. Sofern im Zeitpunkt der positiven Vertragsverletzung für alle Beteiligten erkennbar ist, welcher Schaden in welcher Frist auftreten wird, führt der mit der Vertragsverletzung einsetzende Fristenlauf der Verjährung denn auch zu keinen wesentlichen Schwierigkeiten, selbst wenn der Schaden erst lange nach Ablauf der Verjährungsfrist eintritt, da dieser zukünftige Schaden abgeschätzt, eingeklagt und zugesprochen werden kann. In derartigen Fällen besteht objektiv kein Grund, mit der Schadensliquidation bis zum Schadenseintritt zuzuwarten.
2.4.2
Aus
BGE 130 III 591
E. 3.1 S. 597 kann nichts anderes abgeleitet werden. Dort wurde zwar festgehalten, der vertragliche Schadenersatzanspruch aus Schlechterfüllung entstehe nicht schon mit der Schlechterfüllung der Schuld, sondern erst mit dem Eintritt des Schadens und könne folglich auch erst in diesem Zeitpunkt fällig werden. In diesem Entscheid ging es indessen um die Frage, ob und ab wann Verzugszins geschuldet ist, wobei dem Zeitpunkt, auf welchen der Schaden berechnet wurde, massgebende Bedeutung zukam. Dieser Zeitpunkt richtet sich nach prozessualen
BGE 137 III 16 S. 22
Gegebenheiten (vgl. LEEMANN, a.a.O., S. 42 mit Hinweisen). Er kann für den Beginn der Verjährung nicht massgebend sein.
2.4.3
Durch das Abstellen auf den Zeitpunkt der Pflichtverletzung als Beginn der Verjährung werden einerseits Wertungsdiskrepanzen zum ausservertraglichen Haftpflichtrecht vermieden. Andererseits erweist sich der vertragliche Schadenersatzanspruch als Folge des nicht vertragsgemässen Verhaltens der Gegenpartei. Das Recht, von dieser die Erfüllung der vertraglichen Pflichten zu verlangen - das heisst im konkreten Fall: für die dem damaligen Wissensstand entsprechenden Schutzmassnahmen bei Arbeiten mit Asbest zu sorgen -, wird bereits in dem Moment fällig, in dem die allfällige Pflichtverletzung erfolgt (vgl.
BGE 106 II 134
E. 2d S. 139). Ab diesem Zeitpunkt kann der Gläubiger vom Schuldner Ersatz für den aus der Pflichtverletzung entstandenen Schaden verlangen. Insgesamt besteht für das Bundesgericht kein Anlass, von seiner Rechtsprechung zum Beginn der Verjährung vertraglicher Schadensersatzansprüche abzuweichen.
2.4.4
Die Problematik des zu beurteilenden Falles liegt nicht primär darin, dass zwischen der behaupteten Pflichtverletzung und dem Schadenseintritt mehr als zehn Jahre verstrichen sind, sondern darin, dass der Schaden während der zehnjährigen Verjährungsfrist nicht liquidierbar ist (vgl. SPIRO, a.a.O., S. 63 ff.). Zufolge der Ungewissheit, ob die Asbestexposition überhaupt gesundheitliche Konsequenzen nach sich zieht, und der langen Zeit (15 bis 45 Jahre), welche zwischen der Asbestexposition und einem allfälligen Krankheitsausbruch verstreicht, kann, selbst wenn der Nachweis einer Pflichtverletzung gelingt, vor Ablauf der Verjährungsfrist objektiv nicht festgestellt werden, ob Schadenersatz geschuldet ist. Da nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit feststeht, dass nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge ein Schaden eintreten wird, kann der Geschädigte in diesem Zeitraum noch nicht mit Aussicht auf Erfolg auf Schadenersatz klagen. Obwohl das schadenstiftende Ereignis stattgefunden hat und grundsätzlich abgeschlossen ist, lässt sich die zukünftige Entwicklung nicht mit hinreichender Sicherheit überblicken, um den zu erwartenden Schaden abschätzen zu können (vgl.
BGE 88 II 498
E. 7 S. 509). Der Eintritt des Schadens im wirtschaftlichen Sinne hängt vom Ausbruch der Krankheit ab und damit von einem zukünftigen ungewissen Ereignis (vgl. SPIRO, a.a.O., S. 41). Der Gesetzgeber hat diesen für den Geschädigten auftretenden Schwierigkeiten in gewissen Bereichen, in denen
BGE 137 III 16 S. 23
erfahrungsgemäss mit Spätschäden zu rechnen ist, mit Spezialregelungen Rechnung getragen (vgl.
BGE 106 II 134
E. 2c S. 138 f.). Er hat beispielsweise in Art. 10 des Kernenergiehaftpflichtgesetzes vom 18. März 1983 (KHG; SR 732.44) und Art. 40 des Strahlenschutzgesetzes vom 22. März 1991 (StSG; SR 814.50) eine Verjährungsfrist von 30 Jahren vorgesehen. In
Art. 13 KHG
wird für die Kernenergiehaftung der Versicherungsschutz für Spätschäden geregelt, die zufolge Verjährung nicht mehr geltend gemacht werden können. Auch in diesen Bereichen wurde indessen weder auf das Institut der Verjährung verzichtet, noch der Schadenseintritt zum Ausgangspunkt der Verjährung gemacht. Obwohl sich die Problematik von Spätschäden auch in anderen Bereichen stellt, hat sich der Gesetzgeber nicht für eine generelle Verlängerung der Verjährungsfristen in derartigen Fällen entschieden. Damit bleibt es für Asbestschäden bei der zehnjährigen Verjährungsfrist, welche im zu beurteilenden Fall vor der ersten verjährungsunterbrechenden Handlung abgelaufen ist. Insoweit erweist sich die Beschwerde als unbegründet.
2.5
Nicht stichhaltig sind schliesslich die von den Beschwerdeführerinnen erhobenen Rügen, mit denen sie eine Verletzung ihrer Grundrechte (
Art. 8 Abs. 2 BV
) beziehungsweise der EMRK (Art. 6 und Art. 8 Abs. 1 i.V.m.
Art. 14 EMRK
) geltend machen. Das Bundesgericht hat bereits festgehalten, dass das Institut der Verjährung als solches das in
Art. 6 EMRK
gewährleistete Recht auf ein faires Verfahren und den freien Zugang zum Gericht nicht verletzt, auch wenn es im Einzelfall dazu führen kann, dass ein Berechtigter seinen Anspruch im Moment, in welchem er davon Kenntnis erhält, nicht mehr durchsetzen kann (
BGE 136 II 187
E. 8.2 S. 201 f.). Diese Problematik besteht für alle Gläubiger, wenn sich erst nach langer Zeit herausstellt, dass eine Vertragsverletzung zu einem Schaden führt. Eine Diskriminierung behinderter Personen liegt entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerinnen nicht vor. Die Ungleichbehandlung zwischen Asbestopfern und Personen, deren berufsbedingte Krankheiten noch innerhalb der Verjährungsfrist ausbrechen, erklärt sich mit Blick auf die Interessen des Schuldners, der nicht auf unbestimmte Zeit im Unklaren über seine Leistungspflicht gelassen werden soll. Der Schuldner kann nicht erkennen, ob der Geschädigte keine Klage erhebt, weil noch kein Schaden eingetreten ist, oder weil der Geschädigte anerkennt, dass keine Vertragsverletzung begangen wurde. Es soll dem Schuldner nicht zugemutet werden, die Beweise für die pflichtkonforme Vertragserfüllung beliebig lange
BGE 137 III 16 S. 24
aufbewahren zu müssen (
BGE 90 II 428
E. 8 S. 438), es sei denn, der Gläubiger gebe rechtzeitig durch Unterbrechung der Verjährung zu erkennen, dass er allfällige Ansprüche in einem späteren Zeitpunkt geltend zu machen gedenkt. Der Gesetzgeber hat eine Abwägung zwischen den Interessen des Gläubigers und denjenigen des Schuldners vorgenommen und die Verjährungsfrist entsprechend festgesetzt. Eine Diskriminierung der Asbestgeschädigten ist nicht gegeben. Worin eine Verletzung von
Art. 8 Abs. 2 BV
oder von
Art. 14 EMRK
i.V.m.
Art. 8 Abs. 1 EMRK
liegen sollte, ist nicht ersichtlich. | de |
59de5be4-e057-47f0-b04d-28ed0c85ad9b | Sachverhalt
ab Seite 507
BGE 143 III 506 S. 507
A.
Am 13. April 2015 machte B. (Kläger, Beschwerdegegner) beim Bezirksgericht Willisau eine Klage gegen die A. Versicherung AG (Beklagte, Beschwerdeführerin) mit den folgenden Rechtsbegehren anhängig:
"1. Die Beklagte sei zu verurteilen, dem Kläger vom zwischen dem 1. Juli 2003 und dem 31. Dezember 2012 entstandenen Direktschaden aus Erwerb, Haushalt, Kosten und Genugtuung Fr. 30'000.- zu bezahlen nebst Zins zu 5 % seit 18. Dezember 2014.
2. Es sei davon Vormerk zu nehmen, dass diese Klage sowohl in zeitlicher (für die Zeit vom 1. Juli 2003 bis zum 31. Dezember 2012) wie in sachlicher (auf einen Teil des in dieser Zeit aufgelaufenen Erwerbs- und Haushaltschadens, Kosten und Genugtuung) [Hinsicht] beschränkt ist und weitere Forderungen aus dem Unfallereignis vom 1. Juli 2003 vorbehalten bleiben.
3. [...]"
Mit prozessleitender Verfügung vom 26. Mai 2015 stellte das Bezirksgericht (provisorisch) fest, die Teilbarkeit des eingeklagten Anspruchs sei zu bejahen und ein Rechtsmissbrauch sei nicht zu erkennen. Auf die dagegen erhobene Beschwerde der A. Versicherung AG trat das Kantonsgericht Luzern mit Entscheid vom 14. September 2015 nicht ein.
Am 25. November 2015 erstattete die A. Versicherung AG ihre Klageantwort, wobei sie die Abweisung der Teilklage beantragte, soweit darauf einzutreten sei. Darüber hinaus erhob sie Widerklage auf gerichtliche Feststellung, dass sie B. nichts schulde.
Mit Entscheid vom 3. März 2016 trat das Bezirksgericht auf die Widerklage nicht ein. Auf Berufung der A. Versicherung AG hin trat das Kantonsgericht mit Urteil vom 2. September 2016 seinerseits auf die Widerklage, deren Streitwert es auf "mindestens Fr. 763'897.-" bezifferte, nicht ein.
B.
Die A. Versicherung AG verlangt mit Beschwerde in Zivilsachen, das Urteil des Kantonsgerichts sei aufzuheben, und auf die Widerklage sei einzutreten; eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. "Subeventualiter" begehrt sie, das Bezirksgericht sei anzuweisen, "einen anfechtbaren Zwischenentscheid über die Zulässigkeit der Teilklage zu erlassen".
B. beantragt, die Beschwerde abzuweisen und das Urteil des Kantonsgerichts vollumfänglich zu bestätigen. Die Vorinstanz begehrt die Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei, unter Verweis auf ihr Urteil.
BGE 143 III 506 S. 508
C. Am 13. Juni 2017 führte das Bundesgericht eine öffentliche Urteilsberatung durch. In Gutheissung der Beschwerde hebt das Bundesgericht das angefochtene Urteil auf und entscheidet, dass auf die Widerklage im Sinne der Erwägungen einzutreten ist.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Gemäss
Art. 224 ZPO
kann die beklagte Partei in der Klageantwort Widerklage erheben, wenn der geltend gemachte Anspruch nach der gleichen Verfahrensart wie die Hauptklage zu beurteilen ist (Abs. 1). Übersteigt der Streitwert der Widerklage die sachliche Zuständigkeit des Gerichts, so hat dieses beide Klagen dem Gericht mit der höheren sachlichen Zuständigkeit zu überweisen (Abs. 2). Laut
Art. 94 ZPO
bestimmt sich der Streitwert, wenn sich Klage und Widerklage gegenüberstehen, nach dem höheren Rechtsbegehren (Abs. 1). Zur Bestimmung der Prozesskosten werden die Streitwerte zusammengerechnet, sofern sich Klage und Widerklage nicht gegenseitig ausschliessen (Abs. 2).
Das Bezirksgericht verwies zur Begründung seines Nichteintretensentscheids auf
Art. 224 Abs. 1 ZPO
und führte aus, die Widerklage sei aufgrund ihres Streitwerts von mehr als Fr. 30'000.- im ordentlichen Verfahren und damit nicht in derselben Verfahrensart wie die Hauptklage zu beurteilen, für die gemäss
Art. 243 Abs. 1 ZPO
das vereinfachte Verfahren gelte. Das Kantonsgericht schloss sich dieser Auffassung an und schützte das Nichteintreten auf die Widerklage. Die Beschwerdeführerin rügt dieses dagegen als bundesrechtswidrig.
3.
3.1
Die Lehre geht übereinstimmend davon aus, dass
Art. 224 Abs. 1 ZPO
es grundsätzlich ausschliesst, im vereinfachten Verfahren mittels Widerklage Ansprüche geltend zu machen, für die - wenn sie in einer selbständigen Klage formuliert würden - aufgrund ihres Fr. 30'000.- übersteigenden Streitwerts das ordentliche Verfahren gälte und die somit nicht nach der gleichen Verfahrensart wie die Hauptklage zu beurteilen sind (siehe BRUNNER/STEININGER, in: Schweizerische Zivilprozessordnung [ZPO], Kommentar, Brunner/Gasser/Schwander [Hrsg.], Bd. II, 2. Aufl. 2016, N. 25 zu
Art. 243 ZPO
; DIGGELMANN, in: Schweizerische Zivilprozessordnung [ZPO], Kommentar, Brunner/Gasser/Schwander [Hrsg.], Bd. I, 2. Aufl. 2016, N. 3 zu
Art. 94 ZPO
; FRAEFEL, in: ZPO, Oberhammer/Domej/Haas [Hrsg.], 2. Aufl. 2014, N. 12 zu
Art. 243 ZPO
; FRÖHLICH,
BGE 143 III 506 S. 509
Individuelle Arbeitsrechtsstreitigkeiten in der neuen Schweizerischen Zivilprozessordnung, 2014, S. 124 Rz. 307; GASSER/RICKLI, Schweizerische Zivilprozessordnung [ZPO], Kurzkommentar, 2. Aufl. 2014, N. 3 zu
Art. 224 ZPO
; HAUCK, in: Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO], Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger [Hrsg.], 3. Aufl. 2016, N. 13 der Vorbemerkungen zu
Art. 243 ZPO
; HEINZMANN, Gedanken zur Kombination von Streitgegenständen, ZSR 131/2012 I S. 492 f.; HOFMANN/LÜSCHER, Le Code de procédure civile, 2. Aufl. 2015, S. 203 f.; LAZOPOULOS/LEIMGRUBER, in: ZPO, Kommentar, Gehri/Jent-Sørensen/Sarbach [Hrsg.], 2. Aufl. 2015, N. 7 zu
Art. 243 ZPO
; LEUENBERGER/UFFER-TOBLER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 2. Aufl. 2016, S. 173 Rz. 6.36; NAEGELI/RICHERS, in: ZPO, Oberhammer/Domej/Haas [Hrsg.], 2. Aufl. 2014, N. 2 zu
Art. 224 ZPO
; STERCHI, in: Berner Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, Bd. I, 2012, N. 6 zu
Art. 94 ZPO
; WILLISEGGER, in: Basler Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, 2. Aufl. 2013, N. 44 zu
Art. 224 ZPO
; vgl. ferner DIETSCHY, Le déroulement de la procédure simplifiée, in: Procédure civile suisse, Les grands thèmes pour le praticien, Bohnet [Hrsg.], 2010, S. 176 Rz. 7; KILLIAS, in: Berner Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, Bd. II, 2012, N. 18 zu
Art. 243 ZPO
; SPÜHLER/DOLGE/GEHRI, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 9. Aufl. 2010, S. 324 Rz. 206; STEIN-WIGGER, in: Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO], Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger [Hrsg.], 3. Aufl. 2016, N. 7 zu
Art. 94 ZPO
; TAPPY, in: CPC, Code de procédure civile commenté, Bohnet und andere [Hrsg.], 2011, N. 14 zu
Art. 224 ZPO
; TREZZINI, in: Commentario al Codice di diritto processuale civile svizzero [CPC] del 19 dicembre 2008, Cocchi/Trezzini/Bernasconi [Hrsg.], 2011, S. 1002 Fn. 2732).
3.2
Diese Auffassung wird denn auch durch die Auslegung der - in Erwägung 2 wiedergegebenen - massgeblichen Vorschriften bestätigt:
3.2.1
Da das Gesetz insofern nichts anderes bestimmt, gilt der im 3. Titel des zweiten Teils der Zivilprozessordnung zum ordentlichen Verfahren enthaltene Artikel 224 ZPO sinngemäss auch für sämtliche anderen Verfahren (
Art. 219 ZPO
), also auch für das vereinfachte Verfahren gemäss
Art. 243-247 ZPO
. Absatz 1 der Bestimmung macht nach seinem Wortlaut das Erheben einer Widerklage
generell
davon abhängig, dass der widerklageweise geltend gemachte Anspruch nach der gleichen Verfahrensart wie die Hauptklage zu beurteilen ist. Eine Ausnahme vom Erfordernis der gleichen
BGE 143 III 506 S. 510
Verfahrensart für den Fall, dass die Hauptklage
aufgrund ihres Streitwerts
von bis Fr. 30'000.- gemäss
Art. 243 Abs. 1 ZPO
in das vereinfachte Verfahren fällt, wogegen für die Widerklage wegen ihres höheren Streitwerts das ordentliche Verfahren gilt, ist im Gesetz nicht vorgesehen.
Wohl finden die in den Artikeln 91-94 ZPO enthaltenen Regeln zur Bestimmung des Streitwerts grundsätzlich überall Anwendung, wo der Streitwert von Bedeutung ist, also namentlich auch auf die Bestimmung der sachlichen Zuständigkeit (siehe
Art. 4 Abs. 2 ZPO
) und der Verfahrensart (siehe dazu
BGE 142 III 788
E. 4.2.3 S. 791). Im Gegensatz zu
Art. 93 Abs. 2 ZPO
betreffend Streitgenossenschaft und Klagenhäufung fehlt jedoch in
Art. 94 ZPO
eine (Ausnahme-) Bestimmung, die den Umkehrschluss zulassen würde,
Art. 94 Abs. 1 ZPO
sei
vor
Art. 224 Abs. 1 ZPO
anzuwenden, so dass die Verfahrensart sowohl für die Haupt- als auch die Widerklage nach dem höheren Rechtsbegehren zu bestimmen wäre. Auch
Art. 224 Abs. 2 ZPO
impliziert nichts Derartiges, bezieht er sich doch lediglich auf die sachliche Zuständigkeit, die in
Art. 224 Abs. 1 ZPO
gerade nicht als Voraussetzung der Widerklage erwähnt ist.
In der Literatur wird denn zum Teil auch ausdrücklich vertreten,
Art. 224 Abs. 1 ZPO
gehe
Art. 94 Abs. 1 ZPO
als
lex specialis
vor (so EMMEL, Echte Teilklage vor Arbeitsgericht und negative Feststellungswiderklage, BJM 2012 S. 77 f.; HEINZMANN, a.a.O., S. 492 f.; siehe ferner WILLISEGGER, a.a.O., N. 44 zu
Art. 224 ZPO
; kritisch HAAS/SCHLUMPF, Teilklage und Feststellungswiderklage nach der neuen ZPO, SJZ 2011 S. 305; anders wohl auch MARKUS, in: Berner Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, Bd. I, 2012, N. 9 zu
Art. 86 ZPO
; NOVIER, Demande et réponse en procédure ordinaire selon le CPC: quelques observations, JdT 2010 III S. 219; TAPPY, a.a.O., N. 14 zu
Art. 224 ZPO
). Jedenfalls lassen Gesetzeswortlaut und -systematik durchaus Raum für die Auslegung, wonach überhaupt erst im Sinne von
Art. 94 Abs. 1 ZPO
auf das höhere Rechtsbegehren abgestellt werden darf, wenn die Widerklage gestützt auf
Art. 224 Abs. 1 ZPO
zulässig ist.
3.2.2
Das dahingehende Verständnis wird durch die Gesetzgebungsgeschichte bekräftigt:
Der Bundesrat führte in seiner Botschaft zum Entwurf für eine Schweizerische Zivilprozessordnung aus, die Widerklage sei nur zulässig, "wenn für sie die
gleiche Prozessart
wie für die
BGE 143 III 506 S. 511
Hauptklage anwendbar" sei. Gelte für die Hauptklage beispielsweise das vereinfachte Verfahren, so könne keine Widerklage erhoben werden, die ins ordentliche Verfahren gehöre. In diesem Zusammenhang verwies der Bundesrat auf den heutigen Artikel 243 ZPO, ohne nach dessen Absätzen zu differenzieren (Botschaft vom 28. Juni 2006 zur Schweizerischen Zivilprozessordnung [nachfolgend: BotschaftZPO], BBl 2006 7339 zu Art. 221). Demgegenüber führte der Bundesrat in den Erläuterungen zum heutigen Artikel 94 ZPO unter Hinweis auf den heutigen Artikel 224 Absatz 2 ZPO lediglich aus, soweit sich die
sachliche Zuständigkeit
vom Streitwert ableite, werde auf den höheren Streitwert abgestellt (Botschaft ZPO, BBl 2006 7292 zu Art. 92).
Dass keine einheitliche Bestimmung der
Verfahrensart
für Haupt- und Widerklage nach dem höheren der beiden Begehren erfolgen sollte, ergab sich bereits aus dem Bericht zum Vorentwurf der Expertenkommission vom Juni 2003 (nachfolgend: Bericht Vorentwurf ZPO): Darin wurde ausgeführt, es ginge nicht, einer Hauptklage, die im vereinfachten Verfahren zu beurteilen sei, eine Widerklage gegenüberzustellen, die ins ordentliche Verfahren gehöre (S. 47 zu Art. 80). Aus dem nachfolgenden Beispiel ergibt sich, dass gemäss dem Verständnis der Expertenkommission das Erheben einer Widerklage mit höherem Streitwert keine Änderung der Verfahrensart für die Hauptklage nach sich ziehen sollte. Damit steht im Einklang, dass der Bericht ausdrücklich die Möglichkeit der Kantone erwähnte, die Überweisung von Haupt- und Widerklage an das Gericht mit höherer Spruchkompetenz "unter Erhaltung der Verfahrensart" vorzusehen.
Schliesslich ist in diesem Zusammenhang auch die Rechtslage vor dem Inkrafttreten der Schweizerischen Zivilprozessordnung zu beachten, so insbesondere aArt. 343 OR: Gemäss dessen zweitem Absatz hatten die Kantone "für Streitigkeiten aus dem Arbeitsverhältnis bis zu einem Streitwert von 30 000 Franken ein einfaches und rasches Verfahren vorzusehen". Laut dem zweiten Teilsatz der Bestimmung bemass sich der Streitwert "nach der eingeklagten Forderung, ohne Rücksicht auf Widerklagebegehren". Die Unbeachtlichkeit der Widerklagebegehren gemäss dieser Vorschrift sollte nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung verhindern, dass der Kläger durch eine möglicherweise haltlose Widerklage um das rasche, einfache und grundsätzlich kostenlose Verfahren gebracht wird, wie es die genannte Bestimmung vorschrieb (
BGE 115 II 366
E. 3
BGE 143 III 506 S. 512
S. 370 mit Hinweisen). Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber beim Erlass der Schweizerischen Zivilprozessordnung in diesem Punkt eine Rechtsänderung beabsichtigt hätte (vgl. auch FRÖHLICH, a.a.O., S. 128 Rz. 316; RAPOLD/FERRARI-VISCA, Die Widerklage nach der Schweizerischen Zivilprozessordnung, AJP 2013 S. 391), zumal in der Botschaft zum heutigen
Art. 243 ZPO
im Zusammenhang mit aArt. 343 OR vom "arbeitsrechtlichen Vorbild" die Rede ist (Botschaft ZPO, BBl 2006 7346 zu Art. 239).
3.2.3
Im Gegenteil entspricht es auch der Intention hinter der heutigen Regelung, dass der klagenden Partei bei Klagebegehren bis zu einem Streitwert von Fr. 30'000.- das vereinfachte Verfahren zur Verfügung stehen soll. Dieses ist durch vereinfachte Formen, weitgehende Mündlichkeit und richterliche Hilfestellung bei der Feststellung des Sachverhalts laientauglich ausgestaltet (siehe etwa
BGE 140 III 450
E. 3.1 mit Hinweisen). Wäre nun aber die Verfahrensart für
Haupt- und Widerklage
in Anwendung von
Art. 94 Abs. 1 ZPO
einheitlich
aufgrund des höheren Rechtsbegehrens zu bestimmen, könnte die beklagte Partei durch eine Widerklage mit einem Streitwert von über Fr. 30'000.- einen Wechsel in das ordentliche Verfahren bewirken (vgl. die praktischen Hinweise dazu bei HEINZMANN, a.a.O., S. 494-496) und der klagenden Partei die Vorteile des vereinfachten Verfahrens entziehen. Dies würde dem Schutzzweck von
Art. 224 Abs. 1 ZPO
und des vereinfachten Verfahrens im Allgemeinen widersprechen (in diesem Sinne etwa BRUNNER/STEININGER, a.a.O., N. 25 zu
Art. 243 ZPO
; GRIEDER, Die Widerklage nach der Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO], 2016, S. 235 Rz. 612; HENSCH, Arbeitsrechtliche Zivilverfahren 2011: Ein Überblick, ZZZ 2008/09 S. 539; KILLIAS, a.a.O., N. 18 zu
Art. 243 ZPO
; NAEGELI/RICHERS, a.a.O., N. 2 zu
Art. 224 ZPO
; STREIFF/VON KAENEL/RUDOLPH, Arbeitsvertrag, 7. Aufl. 2012, S. 53; TREZZINI, a.a.O., S. 1002 Fn. 2732). Insofern ist die Sachlage bei einer Widerklage auch nicht mit der in
BGE 142 III 788
beurteilten Konstellation einer
Klagenhäufung
von Ansprüchen zu vergleichen, die aufgrund ihrer Streitwerte einzeln betrachtet nicht in der gleichen Verfahrensart zu beurteilen wären (vgl. immerhin HAAS/SCHLUMPF, a.a.O., S. 306). Denn dabei handelt es sich um ein Wahlrecht
der klagenden Partei
(Urteil 4A_658/2012 vom 15. April 2013 E. 2.3), die es aber (ausserhalb des Anwendungsbereichs von
Art. 243 Abs. 2 ZPO
) ohnehin in der Hand hat, mit ihren Klagebegehren die Verfahrensart zu beeinflussen.
BGE 143 III 506 S. 513
3.2.4
Nach dem Gesagten ist festzuhalten, dass
Art. 224 Abs. 1 ZPO
es der beklagten Partei grundsätzlich verbietet, im vereinfachten Verfahren eine Widerklage zu erheben, die aufgrund ihres Streitwerts von über Fr. 30'000.- in den Geltungsbereich des ordentlichen Verfahrens fällt.
Demgegenüber braucht an dieser Stelle nicht beurteilt zu werden, ob umgekehrt
im ordentlichen Verfahren
eine Widerklage erhoben werden kann, für die aufgrund ihres - Fr. 30'000.- nicht übersteigenden - Streitwerts gemäss
Art. 243 Abs. 1 ZPO
das vereinfachte Verfahren gilt (dafür etwa FRAEFEL, a.a.O., N. 12 zu
Art. 243 ZPO
; GASSER/RICKLI, a.a.O., N. 3 zu
Art. 224 ZPO
; GRIEDER, a.a.O., S. 236 Rz. 614-615; HOFMANN/LÜSCHER, a.a.O., S. 203; LEUENBERGER, in: Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO], Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger [Hrsg.], 3. Aufl. 2016, N. 14 zu
Art. 224 ZPO
; RAPOLD/FERRARI-VISCA, a.a.O., S. 390 f.; TAPPY, a.a.O., N. 14 zu
Art. 224 ZPO
; dagegen FRÖHLICH, a.a.O., S. 124 f. Rz. 308; HEINZMANN, a.a.O., S. 493; PAHUD, in: Schweizerische Zivilprozessordnung [ZPO], Kommentar, Brunner/Gasser/Schwander [Hrsg.],Bd. II, 2. Aufl. 2016, N. 15 zu
Art. 224 ZPO
; STREIFF/VON KAENEL/RUDOLPH, a.a.O., S. 53).
4.
4.1
Damit fragt sich, ob die Voraussetzung der gleichen Verfahrensart auch dann gilt, wenn es sich - wie vorliegend - bei der Hauptklage um eine
Teilklage
handelt und die beklagte Partei als Reaktion darauf eine
negative Feststellungswiderklage
erheben möchte.
Mit einer Teilklage macht die klagende Partei nur einen Teil eines Anspruchs geltend. Gemäss
Art. 86 ZPO
ist dies zulässig, wenn der Anspruch teilbar ist, was bei Geldforderungen stets zutrifft. Immerhin ist das Verbot des Rechtsmissbrauchs zu beachten (
BGE 142 III 683
E. 5.2). Fordert die klagende Partei wie vorliegend mittels einer sogenannten echten Teilklage einen quantitativen Teil ihres gesamten aus einer Körperverletzung sich ergebenden Schadens, muss sie ihr Klagebegehren nicht auf bestimmte Schadenspositionen beschränken (
BGE 143 III 254
E. 3.6 S. 260). Mittels negativer Feststellungswiderklage verlangt der Beklagte und Widerkläger im Sinne von
Art. 88 ZPO
die gerichtliche Feststellung, dass der über die Teilklage hinausgehende, nichteingeklagte Teilanspruch nicht besteht (so etwa bereits GULDENER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3. Aufl. 1979, S. 149).
BGE 143 III 506 S. 514
4.2
4.2.1
Angesichts von
Art. 224 Abs. 1 ZPO
hält es die Lehre mehrheitlich für unzulässig, im (vereinfachten) Verfahren über eine Teilklage bis zu einem Betrag von Fr. 30'000.- eine negative Feststellungswiderklage zu erheben, deren Streitwert die Grenze von
Art. 243 Abs. 1 ZPO
übersteigt und die deshalb in das ordentliche Verfahren gehört (BERTI, Zur Teilklage nach
Art. 86 ZPO
der Schweizerischen Zivilprozessordnung [zugleich ein Beitrag zur Lehre der materiellen Rechtskraft], in: Haftpflichtprozess 2010, Fellmann/Weber [Hrsg.], 2010, S. 50; DIETSCHY, Les conflits de travail en procédure civile suisse, 2011, S. 208 f. Rz. 419; DROESE, Res iudicata ius facit, 2015, S. 344 f.; FÜLLEMANN, in: Schweizerische Zivilprozessordnung [ZPO], Kommentar, Brunner/Gasser/Schwander [Hrsg.], Bd. I, 2. Aufl. 2016, N. 5 zu
Art. 86 ZPO
; GASSER/RICKLI, a.a.O., N. 3 zu
Art. 86 ZPO
und N. 3 zu
Art. 224 ZPO
; GREMPER/MARTIN, Zulässigkeit und Schranken der negativen Feststellungswiderklage im vereinfachten Verfahren nach der Schweizerischen ZPO, AJP 2011 S. 93 f. und 98; GRIEDER, a.a.O., S. 102 Rz. 240 und S. 240 Rz. 628; GROLIMUND, Zivilprozess und Versicherung, HAVE 2008 S. 232; HENSCH, a.a.O., S. 540; LAZOPOULOS/LEIMGRUBER, a.a.O., N. 7 zu
Art. 243 ZPO
; LEUENBERGER/UFFER-TOBLER, a.a.O., S. 175 Rz. 6.42 und S. 355 Rz. 11.91; MOHS, in: ZPO, Kommentar, Gehri/Jent-Sørensen/Sarbach [Hrsg.], 2. Aufl. 2015, N. 3 zu
Art. 86 ZPO
; NAEGELI/RICHERS, a.a.O., N. 2 zu
Art. 224 ZPO
; PAHUD, a.a.O., N. 34 zu
Art. 224 ZPO
; RAPOLD/FERRARI-VISCA, a.a.O., S. 391; RÜEGG, in: Basler Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, 2. Aufl. 2013, N. 2 zu
Art. 94 ZPO
; STAEHELIN/STAEHELIN/GROLIMUND, Zivilprozessrecht, 2. Aufl. 2013, S. 227 § 14 Rz. 38; SUTTER-SOMM, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3. Aufl. 2017, S. 291 Rz. 1090; TREZZINI, a.a.O., S. 334; WAGNER/SCHMID, Negative Feststellungsklagen als Reaktion auf '30 000er-Klagen', HAVE 2015 S. 220; WAGNER/SCHMID/SANTSCHI, Die Teilklage im vereinfachten Verfahren: ein Instrument zur risikoärmeren und schnelleren Durchsetzung von Forderungen aus Personenschäden, HAVE 2013 S. 326; WILLISEGGER, a.a.O., N. 44 zu
Art. 224 ZPO
).
Dieser Auffassung schloss sich die Vorinstanz an, wie vor ihr etwa bereits das Kantonsgericht Schwyz (siehe dessen Urteil ZK1 2015 15 vom 24. November 2015 E. 2b [= EGV-SZ 2015 A 3.2]).
4.2.2
Im Schrifttum wird aber teilweise auch die Auffassung vertreten, der beklagten Partei müsse es als Reaktion auf eine Teilklage
BGE 143 III 506 S. 515
im vereinfachten Verfahren erlaubt sein, eine negative Feststellungswiderklage zu erheben, deren Streitwert über Fr. 30'000.- liegt:
So sprechen sich etwa HAAS/SCHLUMPF nach einer Analyse der Parteiinteressen und aufgrund prozessökonomischer Erwägungen dafür aus, "zumindest für den Fall", "in dem sich der Beklagte im Wege einer Feststellungswiderklage gegen eine Teilklage wehrt", nicht nur hinsichtlich der Zuständigkeit, sondern auch der Verfahrensart auf den "einheitlich gemäss
Art. 94 Abs. 1 ZPO
für beide Klagen (Haupt- und Widerklage) zu bestimmenden Streitwert" abzustellen. Ändere sich demzufolge aufgrund der Widerklage der Verfahrensstreitwert nach Rechtshängigkeit der Hauptklage, so habe das Gericht Klage und Widerklage "entsprechend
Art. 224 Abs. 2 ZPO
an das für das ordentliche Verfahren zuständige Gericht zu überweisen" (a.a.O., S. 303-307; zustimmend OBERHAMMER, in: ZPO, Oberhammer/Domej/Haas [Hrsg.], 2. Aufl. 2014, N. 12 zu
Art. 86 ZPO
; STEINEGGER, Das Prozessrecht - oft geprügelter Gehilfe des materiellen Rechts, HAVE 2014 S. 304 f.).
OTZ/KLETT fordern eine "differenzierte Handhabung von
Art. 224 Abs. 1 ZPO
". Sie begründen dies unter anderem damit, mit der negativen Feststellungsklage werde "kein eigener (unabhängiger) Anspruch geltend gemacht, sondern lediglich die Feststellung des Nichtbestandes der ganzen Forderung verlangt". Deshalb sei "im Zusammenhang mit der Anwendung von
Art. 224 Abs. 1 ZPO
zwischen dem Normalfall der Widerklage und dem Sonderfall der negativen Feststellungswiderklage" zu unterscheiden. Überdies führen auch diese beiden Autoren prozessökonomische Überlegungen an. Könne nämlich die beklagte Partei keine negative Feststellungswiderklage erheben, werde sie gezwungen, den Nichtbestand der Forderung in einem parallelen ordentlichen Verfahren feststellen zu lassen (Teilklage - Teillösung, HAVE 2014 S. 239 f.; vgl. auch LEUENBERGER, a.a.O., N. 6 zu
Art. 224 ZPO
).
FRÖHLICH schlägt vor, die negative Feststellungswiderklage als "ein eigenständiges Rechtsinstitut zu behandeln, welches nicht der Einschränkung von
Art. 224 Abs. 1 ZPO
unterliegt" (a.a.O., S. 133 Rz. 331).
MEIER befürwortet ohne weitere Begründung, eine "von der Teilklage ausgelöste Feststellungsklage zuzulassen, ohne dass die Voraussetzung betreffend Höhe des Betrages gegeben sein muss" (Schweizerisches Zivilprozessrecht, 2010, S. 212).
BGE 143 III 506 S. 516
HEINZMANN postuliert schliesslich allgemein, dass Streitgegenstände, die im Sinne der Kernpunkttheorie identisch seien, "nicht nur vor demselben Gericht, sondern auch im Rahmen desselben Verfahrens zu behandeln" seien. Das Erfordernis der gleichen Verfahrensart gemäss
Art. 224 Abs. 1 ZPO
werde daher in diesen Fällen zurückgedrängt, und es sei stattdessen in analoger Anwendung von
Art. 224 Abs. 2 ZPO
auf den höheren Streitwert abzustellen (a.a.O., S. 493; vgl. auch die ähnlichen Ausführungen hinsichtlich der sachlichen Zuständigkeit bei SOGO, Widerklage in handelsrechtlichen Streitigkeiten: Kernpunkttheorie und Erfordernis der gleichen sachlichen Zuständigkeit, ZBJV 2011 S. 937-968).
4.3
4.3.1
Das Bundesgericht bejaht in konstanter Praxis das rechtliche Interesse der mit einer Teilklage konfrontierten beklagten Partei, durch Widerklage den Nichtbestand des behaupteten Anspruchs oder des Schuldverhältnisses feststellen zu lassen (Urteile 4A_255/2010 vom 29. Juni 2010 E. 5.5; 2C_110/2008 vom 3. April 2009 E. 7). Diese Rechtsprechung begründete es noch unter Geltung der kantonalen Zivilprozessordnungen damit, dass die Erhebung einer Leistungsklage die Anmassung nicht nur des eingeklagten Teilanspruchs selbst, sondern zugleich des gesamten Forderungsrechts als deren notwendige Grundlage bedeutet und deshalb die Beklagte in diesem vollen Umfang durch die gegen sie erhobene Klage in ihrer Privatrechtssphäre beeinträchtigt wird (Urteil 5C.252/2006 vom 1. Mai 2007 E. 5.1 mit Hinweis auf
BGE 42 II 696
E. 4 S. 701). Der Bundesrat erwähnte denn auch im Zusammenhang mit der vorgeschlagenen Regelung der Teilklage im heutigen Artikel 86 ZPO ausdrücklich, die beklagte Partei könne der Teilklage mit einer Widerklage auf Feststellung des Nichtbestehens des gesamten Anspruches begegnen (Botschaft ZPO, BBl 2006 7288 zu Art. 84). In der Folge hat das Bundesgericht nach Inkrafttreten der Zivilprozessordnung an seiner Rechtsprechung festgehalten (Urteile 4A_111/2016 vom 24. Juni 2016 E. 4.6; 4A_414/2013 vom 28. Oktober 2013 E. 3.3; 4A_80/2013 vom 30. Juli 2013 E. 6.4).
Dass die Möglichkeit der beklagten Partei, eine negative Feststellungswiderklage zu erheben, durch das Erfordernis der gleichen Verfahrensart gemäss
Art. 224 Abs. 1 ZPO
weitgehend ausgeschlossen werden sollte, ist den Gesetzgebungsmaterialien nicht zu entnehmen:
Wohl steht in der Botschaft des Bundesrats im Zusammenhang mit der negativen Feststellungswiderklage als Reaktion auf die Teilklage
BGE 143 III 506 S. 517
gemäss
Art. 86 ZPO
in Klammern "vgl. die Voraussetzungen der Widerklage in Art. 221", d.h. im heutigen Artikel 224 ZPO (Botschaft ZPO, BBl 2006 7288 zu Art. 84). Daraus leiten verschiedene Autoren ab, dass nach dem Willen des Gesetzgebers auch die negative Feststellungswiderklage der allgemeinen Voraussetzung der gleichen Verfahrensart unterstehen sollte (in diesem Sinne etwa EMMEL, a.a.O., S. 75 f.; GREMPER/MARTIN, a.a.O., S. 94; STAEHELIN/STAEHELIN/GROLIMUND, a.a.O., S. 227 § 14 Rz. 38; WAGNER/SCHMID, a.a.O., S. 220).
Tatsächlich lässt der genannte Verweis auf die Voraussetzungen der Widerklage jedoch nicht den Schluss zu, dass der Gesetzgeber diese Konsequenz bedacht und bewusst in Kauf genommen hätte. Insbesondere wird in der Botschaft in diesem Zusammenhang nicht ausdrücklich auf den heutigen Artikel 243 Absatz 1 ZPO Bezug genommen, der alle vermögensrechtlichen Streitigkeiten bis zu einem Streitwert von Fr. 30'000.- dem vereinfachten Verfahren zuweist. Übrigens verwies bereits die Expertenkommission im gleichen Kontext auf die Voraussetzungen der Widerklage (siehe Bericht Vorentwurf ZPO, S. 43 zu Art. 76). Dies hatte indessen noch einen anderen Hintergrund, musste die Widerklage doch nach dem Vorentwurf noch in einem sachlichen Zusammenhang mit der Hauptklage stehen (siehe Art. 80 Abs. 1 lit. a des Vorentwurfs der Expertenkommission vom Juni 2003). In der Literatur wird denn auch vermutet, dass der Verweis auf die Voraussetzungen von
Art. 224 ZPO
"einzig zur besseren Lesbarkeit der Botschaft eingefügt" worden sein und "rein redaktionellen Charakter" aufweisen könnte (siehe FRÖHLICH, a.a.O., S. 129 Rz. 318 f.). Jedenfalls wurde im Rahmen der Vernehmlassung zum Vorentwurf und der parlamentarischen Beratungen - soweit ersichtlich - nicht diskutiert, dass
Art. 224 Abs. 1 ZPO
(zusammen mit
Art. 243 Abs. 1 ZPO
) der negativen Feststellungswiderklage im Weg stehen könnte oder sollte.
4.3.2
Weiter ist die Gerichtspraxis zum einfachen und raschen Verfahren vor Inkrafttreten der Zivilprozessordnung zu beachten (vgl. dazu EMMEL, a.a.O., S. 63 f., und GREMPER/MARTIN, a.a.O., S. 93 f. und 98). Unter Geltung von aArt. 343 Abs. 2 OR (siehe dazu bereits E. 3.2.2) wurde die Meinung vertreten, mit einer negativen Feststellungswiderklage mache die beklagte Partei keinen eigenen, selbständigen Anspruch geltend, weshalb es sich nicht um eine Widerklage im Sinne dieser Bestimmung handle. So führte das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt aus, wer in Wirklichkeit mehr als die
BGE 143 III 506 S. 518
der damaligen Streitwertgrenze entsprechenden Fr. 5'000.- fordere, der solle sich nicht einerseits auf die Vorteile von aArt. 343 Abs. 2 OR berufen und andererseits die gesetzliche Begrenzung des Streitwertes durch eine oder mehrere Teilklagen umgehen können, "ohne dass sich die Gegenpartei durch Einreichung einer negativen Feststellungswiderklage dagegen zur Wehr setzen kann". Mit dem in aArt. 343 Abs. 2 OR verwendeten Begriff des Widerklagebegehrens sei offensichtlich nur die Widerklage gemeint, mit der der Beklagte der Klage einen eigenen, selbständigen Leistungsanspruch gegenüberstelle. Hiervon unterscheide sich die negative Feststellungswiderklage insofern, als sie nicht auf die Verurteilung des Klägers und Widerbeklagten zu einer Leistung gerichtet sei, sondern damit "lediglich die Feststellung der Nichtexistenz des vom Kläger bereits angemeldeten Gesamtanspruchs angestrebt" werde (Urteil des Appellationsgerichts vom 20. Dezember 1976 E. 2 [= BJM 1977 S. 186-190]). Diese Rechtsprechung fand in der Literatur Zustimmung (siehe REHBINDER, Berner Kommentar, 1992, N. 14 zu
Art. 343 OR
; STAEHELIN, Zürcher Kommentar, 3. Aufl. 1996, N. 24 zu
Art. 343 OR
; STAEHELIN/SUTTER, Zivilprozessrecht nach den Gesetzen der Kantone Basel-Stadt und Basel-Landschaft unter Einbezug des Bundesrechts, 1992, S. 149 § 13 Rz. 37; je mit weiteren Hinweisen; kritisch immerhin etwa FRÖHLICH, a.a.O., S. 126 f. Rz. 313 mit Hinweis). Das Bundesgericht führte wohl im Urteil 4A_104/2011 vom 27. September 2011 unter Berufung auf den in diesem Verfahren noch anwendbaren Artikel 343 Absatz 2 OR aus, die beklagte Partei verfüge nicht über die Möglichkeit, sich einer arbeitsrechtlichen Teilklage mit einem Streitwert von weniger als Fr. 30'000.- mittels eines negativen Feststellungsbegehrens zu widersetzen (E. 3.2). Im konkreten Fall war jedoch nicht über die Zulässigkeit der negativen Feststellungswiderklage zu befinden, sondern darüber, ob die Teilklage rechtsmissbräuchlich erhoben worden war.
4.3.3
Schliesslich ist in diesem Zusammenhang auch die Rechtsprechung des Bundesgerichts zur Streitwertberechnung im bundesgerichtlichen Verfahren zu erwähnen. Gemäss
Art. 52 BGG
werden mehrere in einer vermögensrechtlichen Sache von der gleichen Partei oder von Streitgenossen und Streitgenossinnen geltend gemachte Begehren zusammengerechnet, sofern sie sich nicht gegenseitig ausschliessen. Demgegenüber sieht
Art. 53 Abs. 1 BGG
vor, dass der Betrag einer Widerklage nicht mit demjenigen der Hauptklage zusammengerechnet wird. Das Bundesgericht erkannte bereits unter
BGE 143 III 506 S. 519
der Geltung des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 1943 über die Organisation der Bundesrechtspflege (OG; BS 3 531) zu dessen Artikel 47, dem die heute geltenden Artikel 52 und 53 BGG entsprechen, dass eine wörtliche Anwendung der Bestimmungen zur Festsetzung des Streitwerts bei negativen Feststellungsklagen zu Ergebnissen führen würde, die mit dem Zweck der Regelung nicht vereinbar wären. Für die Frage, ob bei der Berechnung des Streitwerts verschiedene Begehren zusammenzurechnen sind, ist daher entgegen dem Wortlaut nicht massgebend, welche Partei formell als Klagpartei auftritt beziehungsweise die Begehren stellt, sondern, welche Ansprüche die eine Partei gegenüber der anderen erhebt (Urteile 4A_493/2014 vom 26. Januar 2015 E. 1.1.2; 4A_181/2009 vom 20. Juli 2009 E. 1.1;
BGE 102 II 394
E. 1 mit Hinweisen).
Die negative Feststellungswiderklage, die als Reaktion auf eine echte Teilklage erhoben wird, ist keine gewöhnliche Widerklage, mit der die beklagte Partei "einen von der Vorklage nicht erfassten, unabhängigen Anspruch ins Recht legt" (
BGE 123 III 35
E. 3c). Vielmehr will die beklagte Partei mit ihr den umstrittenen Anspruch der klagenden Partei in seinem gesamten Betrag zum Gegenstand des hängigen Verfahrens machen. Die Auffassung, dass
Art. 224 Abs. 1 ZPO
sie an diesem Vorgehen hindern soll, wenn die klagende Partei ihre Rechtsbegehren betragsmässig auf höchstens Fr. 30'000.- beschränkt hat, trägt diesem Umstand nicht Rechnung. Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung zur Streitwertberechnung im bundesgerichtlichen Verfahren liegt vielmehr nahe, die Bestimmung in dem Sinne eingeschränkt zu verstehen, dass sie der in Reaktion auf eine echte Teilklage erhobenen negativen Feststellungswiderklage nicht entgegensteht.
4.4
Die genannten Überlegungen führen zum folgenden Ergebnis: Erhebt der Kläger eine echte Teilklage, für die aufgrund ihres Streitwerts von höchstens Fr. 30'000.- nach
Art. 243 Abs. 1 ZPO
das vereinfachte Verfahren gilt, hindert
Art. 224 Abs. 1 ZPO
die beklagte Partei nicht daran, eine negative Feststellungswiderklage zu erheben, auch wenn deren Streitwert die Anwendbarkeit des ordentlichen Verfahrens zur Folge hat. Haupt- und Widerklage sind diesfalls zusammen im ordentlichen Verfahren zu beurteilen. Die Auffassung, wonach die negative Feststellungswiderklage bloss unter der Voraussetzung zulässig sein soll, dass auf sie aufgrund ihres Streitwerts die gleiche Verfahrensart anwendbar ist wie auf die Teilklage, erweist sich in diesem Sinne als bundesrechtswidrig. (...) | de |
d5000042-df0a-4021-b8dd-0ec6e11fc340 | Sachverhalt
ab Seite 299
BGE 145 III 299 S. 299
B. (Beschwerdegegnerin) verlangt mit ihrer Klage vor dem Arbeitsgericht Zürich von der A. AG (Beschwerdeführerin) die Bezahlung von Fr. 14'981.25 zuzüglich Zins, "unter Vorbehalt der Nachklage". Sie macht geltend, es handle sich um eine Teilklage aus der Gesamtforderung für Überzeitentschädigung der Jahre 2014, 2015 und 2016 im Betrag von insgesamt Fr. 51'850.-, wovon sie einstweilen nur die Überzeitentschädigung aus dem Jahre 2016 geltend mache.
BGE 145 III 299 S. 300
Mittels Widerklage begehrt die A. AG die gerichtliche Feststellung, dass sie B. "keine Entschädigung aus Überzeit" schulde. Sie bringt vor, sie sei "im vollen Umfang des behaupteten (Gesamt-)Anspruchs in ihrer Privatrechtssphäre beeinträchtigt" und habe deswegen ein Interesse an der Feststellung des Nichtbestands der Gesamtforderung.
Wie von B. beantragt, trat der Einzelrichter am Arbeitsgericht mit Verfügung vom 17. Mai 2018 auf die Widerklage nicht ein und wies den Antrag der A. AG auf Überweisung in das ordentliche Verfahren ab.
Das Obergericht des Kantons Zürich wies die dagegen erhobene Berufung der A. AG mit Urteil vom 27. November 2018 ab und bestätigte die Verfügung des Einzelrichters.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde der A. AG gut, hebt das Urteil des Obergerichts auf und weist die Sache zur weiteren Behandlung an die Vorinstanz zurück.
(Zusammenfassung) Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
2.1
Laut
Art. 224 Abs. 1 ZPO
kann die beklagte Partei in der Klageantwort Widerklage erheben, wenn der geltend gemachte Anspruch nach der gleichen Verfahrensart wie die Hauptklage zu beurteilen ist. Mit Blick auf diese Bestimmung ist es nach
BGE 143 III 506
E. 3 grundsätzlich nicht zulässig, im vereinfachten Verfahren eine Widerklage zu erheben, die aufgrund ihres Streitwerts von über Fr. 30'000.- (siehe
Art. 243 Abs. 1 ZPO
) in den Geltungsbereich des ordentlichen Verfahrens fällt. In Erwägung 4 desselben Urteils hat das Bundesgericht aber auch entschieden, dass das Gesagte nicht gelte, wenn die beklagte Partei "als Reaktion auf eine echte Teilklage" eine negative Feststellungswiderklage erhebe, auch wenn deren Streitwert die Anwendbarkeit des ordentlichen Verfahrens zur Folge habe.
2.2
Ausgehend von dieser Rechtsprechung beurteilte die Vorinstanz die negative Feststellungswiderklage der Beschwerdeführerin als unzulässig. Sie erwog, die Beschwerdegegnerin mache insgesamt drei Forderungen betreffend Überzeitentschädigung für drei verschiedene Zeitabschnitte geltend, konkret für die Jahre 2014-2016, wobei sie jedoch nur diejenige für das Jahr 2016 eingeklagt habe. Die Ansprüche hätten ihre Grundlage zwar alle in demselben Arbeitsvertrag, beträfen "aber jeweils unterschiedliche Perioden und damit
BGE 145 III 299 S. 301
verschiedene Lebenssachverhalte". Folglich handle es sich bei ihnen um drei separate, eigenständige Ansprüche. Da die Beschwerdegegnerin mit ihrer Klage "einen individualisierbaren Anspruch des Gesamtbetrages" geltend mache, liege eine
unechte
Teilklage vor, und die negative Feststellungswiderklage der Beschwerdeführerin sei aufgrund ihres Streitwerts von über Fr. 30'000.-unzulässig.
Die Beschwerdeführerin hält diese Auffassung für bundesrechtswidrig.
2.3
Im Nachgang zu
BGE 143 III 506
wurde in der Literatur kritisch angemerkt, dass das Bundesgericht die Ausnahme von
Art. 224 Abs. 1 ZPO
zwar auf echte Teilklagen beschränke, sich aber nicht dazu äussere, nach welchen Kriterien solche von unechten Teilklagen zu unterscheiden seien (so etwa BOOG, Echte Teilklage im vereinfachten Verfahren und negative Feststellungswiderklage [...], 2018, S. 73 Rz. 123; WAGNER/SCHMID, Die Teilklage [im vereinfachten Verfahren] kommt nicht zur Ruhe, HAVE 2018 S. 177 f.; je mit weiteren Hinweisen; vgl. auch RHINER/WOHLGEMUTH, AJP 2018 S. 113).
Im Verfahren, das zum genannten Entscheid geführt hat, verlangte der Kläger, die Beklagte sei zu verurteilen, ihm "vom zwischen dem 1. Juli 2003 und dem 31. Dezember 2012 entstandenen Direktschaden aus Erwerb, Haushalt, Kosten und Genugtuung" Fr. 30'000.- nebst Zins zu bezahlen. Mit anderen Worten forderte er einen betragsmässig beschränkten Teil seines gesamten aus einer Körperverletzung resultierenden Schadens. Das Bundesgericht ging ausdrücklich davon aus, dass es sich dabei um eine sogenannte echte Teilklage handle (E. 4.1). In
BGE 143 III 254
, auf den es in diesem Zusammenhang verwies, hatte das Bundesgericht nämlich zur Unterscheidung zwischen echter und unechter Teilklage ausgeführt, mit der echten Teilklage werde nach der Lehre "ein quantitativer Teilbetrag aus dem gesamten Anspruch" eingeklagt, wogegen die klagende Partei bei der unechten Teilklage "einen individualisierbaren Anspruch des Gesamtbetrages" beanspruche (E. 3.4). Die Abgrenzung zwischen echter und unechter Teilklage wurde dort allerdings nicht mit Blick auf eine negative Feststellungswiderklage erwähnt, sondern hinsichtlich der Frage der Bestimmtheit des klägerischen Rechtsbegehrens. Zu beachten ist, dass das Bundesgericht seither auf das in
BGE 142 III 683
formulierte Erfordernis verzichtet hat, dass immer, wenn mehrere Ansprüche in einer Klage gehäuft werden, davon aber bloss ein Teil eingeklagt wird, in der Klage zu präzisieren ist, in welcher Reihenfolge und/oder in welchem Umfang die einzelnen
BGE 145 III 299 S. 302
Ansprüche geltend gemacht werden. Es wird lediglich noch verlangt, dass die klagende Partei hinreichend substanziiert behauptet, es bestehe eine den eingeklagten Betrag übersteigende Forderung (
BGE 144 III 452
E. 2.4; siehe seither auch Urteil 4A_342/2018 vom 21. November 2018 E. 2.3.2).
Auch im hier interessierenden Zusammenhang, das heisst bei der Frage nach der Zulässigkeit der negativen Feststellungswiderklage, kommt der heiklen Abgrenzung von Streitgegenständen nicht die Bedeutung zu, die ihr die Vorinstanz zumisst: Wenn das Bundesgericht in
BGE 143 III 506
darauf hingewiesen hat, dass es sich um eine sogenannte echte Teilklage handle, dann deshalb, weil in solchen Fällen - etwa bei einer Klage auf Bezahlung eines vom Kläger einzig betragsmässig beschränkten Teils einer Kaufpreisforderung (siehe zum Beispiel Urteil 4A_366/2017 vom 17. Mai 2018 E. 5.2) - das Interesse der beklagten Partei an der negativen Feststellungswiderklage auf der Hand liegt, zumal sie den Streitgegenstand nicht anderweitig rechtshängig machen kann (
Art. 64 Abs. 1 lit. a und
Art. 59 Abs. 2 lit. d ZPO
). Indessen ist die Ausnahme vom Erfordernis der gleichen Verfahrensart gemäss
Art. 224 Abs. 1 ZPO
nicht auf diesen Fall beschränkt, sondern gilt allgemein dann, wenn die Teilklage eine Ungewissheit zur Folge hat, die es rechtfertigt, im Sinne von
Art. 88 ZPO
die Feststellung des Nichtbestands einer Forderung oder eines Rechtsverhältnisses zu verlangen.
2.4
Vorliegend ist dies offensichtlich der Fall: Die Beschwerdegegnerin hat in ihrer Klageschrift vom 14. Dezember 2017 behauptet, es stehe ihr eine "Gesamtforderung aus Überzeitentschädigungen aus den Jahren 2014, 2015 und 2016 im Umfang von CHF 51'850.-" zu, jedoch unter ausdrücklichen Nachklagevorbehalt lediglich die Überzeitentschädigung für das Jahr 2016 im Umfang von Fr. 14'981.25 eingeklagt. In dieser Situation muss es der Beschwerdeführerin möglich sein, mittels negativer Feststellungswiderklage auch die Überzeitentschädigung aus den Jahren 2014 und 2015 im selben Verfahren zur Beurteilung zu bringen, gerade weil sich gemäss den Ausführungen der Vorinstanz die Frage der Kompensation von Überzeit aus den Vorjahren stellt (vgl. allgemein Urteil C.214/1987 vom 21. Juni 1988 E. 1d, nicht publ. in:
BGE 114 II 279
, aber in: SJ 1988 S. 609). Ob die Entschädigung für die während eines bestimmten Kalenderjahrs angeblich geleistete Überzeit einen selbständigen Streitgegenstand darstellt, ist entgegen der Vorinstanz und der Beschwerdegegnerin nicht entscheidend.
BGE 145 III 299 S. 303
Demnach steht
Art. 224 Abs. 1 ZPO
dem Eintreten auf die Widerklage der Beschwerdeführerin nicht entgegen. | de |
29356039-7ba9-47d8-8447-679eb1ae2d93 | Sachverhalt
ab Seite 258
BGE 127 III 257 S. 258
A.-
Die Klägerin ist Eigentümerin des Grundstückes Kat.-Nr. 6344 am Wydlerweg 7 in Zürich. Auf ihrer Parzelle steht ein im Jahre 1872 errichtetes Wohnhaus; 1948 wurden eine Werkstatt und eine Garage angebaut. Südöstlich und westlich der klägerischen Liegenschaft liegen die Grundstücke Kat.-Nr. 6339 und 6341, die dem Beklagten 1 gehören. Auf ihnen befindet sich die Überbauung "Albisriederdörfli", die von 1981 bis Ende 1982 erbaut wurde. Den Beklagten 2 gehört die Parzelle Kat.-Nr. 6343 im Nordwesten des Grundstückes der Klägerin; auf dieser wurde zwischen Ende 1981 und Ende des Jahres 1982 eine Mehrfamilienhausüberbauung mit Tiefgarage errichtet. Eigentümerin des im Norden und Nordosten an das Grundstück der Klägerin angrenzenden Grundstückes Kat.-Nr. 6345 ist die Stadt Zürich, wobei auf ihrem Grundstück zu Gunsten der Beklagten 3 ein selbständiges und dauerndes Baurecht eingetragen ist. In den Jahren 1984 und 1985 erbaute diese dort mehrere Mehrfamilienhäuser.
Mit Schreiben vom 25. März 1988 und vom 10. Juni 1988 teilte die Klägerin den Beklagten 1 und 3 mit, dass an ihrem Gebäude Schäden aufgetreten seien, die mit den Bauarbeiten auf den Nachbargrundstücken in Zusammenhang stünden. Am 16. Juni 1993 betrieb die Klägerin die Beklagten 1, 2 und 3 je für den Betrag von Fr. 1'000'000.-, worauf alle drei Beklagten Rechtsvorschlag erhoben.
B.-
Die Klägerin erhob am 17. November 1993 beim Bezirksgericht Zürich Klage und beantragte, die Beklagten 1, 2 und 3 solidarisch zur Zahlung von Fr. 1'689'330.35 nebst 5% Zins seit dem
BGE 127 III 257 S. 259
30. April 1993 zu verurteilen. Zudem seien sie zu verpflichten, unverzüglich alle Massnahmen zur Vermeidung weiterer Schäden an der klägerischen Liegenschaft zu ergreifen, insbesondere die Entwässerungsleitungen in der Nähe ihrer Grundstücksgrenze stillzulegen. Mit Urteil vom 24. Juli 1997 hiess das Bezirksgericht die Klage teilweise gut und verpflichtete die Beklagten unter solidarischer Haftung für den gesamten Betrag zur Bezahlung von Fr. 748'762.- nebst Zins. Zugleich legte es die von den Beklagten im Innenverhältnis zu tragenden Haftungsquoten fest; im Übrigen wies es die Klage ab. Hiergegen erklärten die drei Beklagten Berufung an das Obergericht des Kantons Zürich, welches die Klage gegen die Beklagten 1 und 2 abwies, die Beklagte 3 dagegen zur Bezahlung von Fr. 310'000.- nebst Zins zu 5% seit dem 30. April 1993 verurteilte.
C.-
Gegen das Urteil des Obergerichts haben sowohl die Klägerin als auch die Beklagte 3 Berufung an das Bundesgericht erhoben. Die Klägerin verlangt die Aufhebung des angefochtenen Urteils und die solidarische Verurteilung der Beklagten 1-3 zur Bezahlung von Fr. 665'511.10 nebst 5% Zins seit dem 30. April 1993. Die drei Beklagten tragen Abweisung der Berufung an; die Beklagte 3 ersucht überdies in ihrer Berufung um teilweise Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils und Abweisung der Klage, eventuell Reduktion der zu bezahlenden Summe. Die Klägerin schliesst auf Abweisung dieser Begehren; das Obergericht hat auf Gegenbemerkungen verzichtet. Das Bundesgericht heisst beide Berufungen teilweise gut, hebt den angefochtenen Entscheid teilweise auf und weist die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurück. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
b) Die Klägerin macht sodann geltend, die absolute Verjährung beginne nicht zu laufen, solange das schädigende Ereignis fortdauere und kein abgeschlossener Schaden vorliege. Im vorliegenden Fall seien Einrichtungen zur dauernden Entwässerung installiert worden, die fortwährend auf die Liegenschaft der Klägerin einwirkten. Diese schädigende Einwirkung habe bis heute nicht aufgehört.
aa) Ausservertragliche Schadenersatzansprüche unterliegen der relativen einjährigen und der absoluten zehnjährigen Verjährungsfrist gemäss
Art. 60 Abs. 1 OR
. Diese Verjährungsordnung gilt auch für Ansprüche aus Art. 679/685 Abs. 1 ZGB, wie die Vorinstanz zu Recht erwogen hat (
BGE 109 II 418
E. 3 S. 420 mit Hinweis).
BGE 127 III 257 S. 260
Während die relative Verjährungsfrist von dem Tage an läuft, an dem der Geschädigte Kenntnis vom Schaden und von der Person des Ersatzpflichtigen erlangt hat, beginnt die absolute Verjährungsfrist bereits am Tage der schädigenden Handlung zu laufen (
Art. 60 Abs. 1 OR
). Der Beginn der Zehnjahresfrist ist somit vom Schadenseintritt und von der Kenntnis des Schadens durch den Geschädigten unabhängig; massgeblich ist einzig der Zeitpunkt des den Schaden verursachenden Verhaltens (
BGE 106 II 134
E. 2a-c S. 136 ff.;
BGE 119 II 216
E. 4a/aa S. 219; je mit Hinweisen).
bb) Damit ist es für den Lauf der absoluten Verjährung unerheblich, ob sich der Schaden auf dem Grundstück der Klägerin noch fortentwickelt. Dass die Grabungen und die bauliche Tätigkeit der Beklagten 1 und 2 mehr als zehn Jahre vor der Einleitung der Betreibung im Juni 1993 abgeschlossen waren, steht aufgrund der für das Bundesgericht verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz fest (
Art. 63 Abs. 2 OG
). Fraglich ist nur, ob damit auch das schädigende Verhalten als abgeschlossen zu betrachten ist oder ob die auf die Sickerleitungen zurückzuführende Absenkung des Grundwasserspiegels eine fortwährende schädigende Handlung darstellt, die den Verjährungseintritt verhindert.
Die Klägerin beruft sich in diesem Zusammenhang zunächst auf MEIER-HAYOZ (Berner Kommentar, 3. Aufl., Bern 1974, N. 145 zu
Art. 679 ZGB
), der sich seinerseits auf
BGE 81 II 439
E. 3 und 4 S. 445 ff. bezieht. Dort ging es um eine Haftung aus Art. 679 in Verbindung mit
Art. 684 ZGB
; eine Kunstseidefabrik leitete ihre Abwässer in undichte Klärbecken, wo sie versickerten und das Grundwasser mit Sulfatsalzen verunreinigten. Obwohl die letzte Benutzung der Klärbecken mehr als zehn Jahre zurücklag, erachtete das Bundesgericht die Ersatzforderung nicht als verjährt, weil die Verunreinigung des Grundwassers angedauert habe und somit von immer neuen Immissionen auszugehen sei. Ob an diesem Entscheid uneingeschränkt festzuhalten ist, kann offen bleiben, weil der vorliegende Sachverhalt mit dem dortigen nicht vergleichbar ist, wie auch die Vorinstanz zu Recht erkannt hat. Die Errichtung der Bauten einschliesslich der Sickerleitungen ist verjährungsrechtlich als einmalige, abgeschlossene Handlung zu würdigen (
BGE 107 II 134
E. 4 S. 140). Schädigende Handlungen im Sinne von
Art. 60 Abs. 1 OR
stellen die Grab- und Bautätigkeiten der Beklagten 1 und 2 unter Einschluss der Installation der Sickerleitungen dar, während die durch die anhaltende Senkung des Grundwasserspiegels sich vergrössernden Schäden als Entwicklung des auf der ursprünglichen
BGE 127 III 257 S. 261
Schädigungshandlung beruhenden Schadens zu begreifen sind. Nichts anderes ergibt sich aus dem von der Klägerin angerufenen
BGE 109 II 418
E. 3 S. 421 f. und dem Zitat von BREHM (Berner Kommentar, 2. Aufl., Bern 1998, N. 30 zu
Art. 60 OR
), wonach die Verjährungsfrist nicht zu laufen beginne, solange die Handlung des Schädigers andauere. Nach dem Dargelegten trifft dieser Tatbestand hier gerade nicht zu, denn es währt nicht die schädigende Handlung fort, sondern allenfalls deren Auswirkungen. Damit sind die Annahmen der Vorinstanz über den Beginn der absoluten Verjährungsfrist nicht zu beanstanden.
4.
a) Die Beklagte 3 beanstandet, die Vorinstanz habe
Art. 50 und 51 OR
sowie
Art. 679 und
Art. 685 ZGB
verletzt, weil sie im Verhältnis zwischen den Beklagten 1-3 Solidarität angenommen habe. Dem hält sie entgegen, dass keine Solidarität entstehe, wenn mehrere Grundeigentümer je für sich ihr Eigentumsrecht überschritten und dadurch den Nachbarn schädigten. Nach den Feststellungen der Vorinstanz habe die Beklagte 3 nicht mit den Beklagten 1 und 2 zusammen gehandelt, habe sie doch ihr Bauvorhaben zweieinhalb Jahre später und unabhängig von diesen begonnen. Zu Beginn ihres Bauvorhabens seien bereits Schäden vorhanden gewesen; die Beklagten hätten durch ihre Bautätigkeit nicht denselben Schaden herbeigeführt, sondern jeder Grundeigentümer habe einen Schadensanteil verursacht. Eine solidarische Haftung zwischen benachbarten Grundeigentümern bestehe nur, wenn ein Schaden die Folge sogenannter summierter Immissionen sei, was die Vorinstanz verkannt habe.
b) aa) Die Bebauung der Grundstücke der Beklagten 1 und 2 in den Jahren 1981/1982 bzw. der Beklagten 3 in den Jahren 1984/85 bewirkte eine Senkung des Grundwasserspiegels und dadurch eine Schädigung des klägerischen Gebäudes. Während MEIER-HAYOZ anfänglich unter Bezugnahme auf
BGE 68 II 369
E. 6 S. 375 f. noch die Ansicht vertrat, es bestehe keine Solidarität, wenn die schädigende Einwirkung von mehreren selbständigen Grundstücken ausgehe (a.a.O., N. 135 zu
Art. 679 ZGB
), hält er in der späteren Kommentierung zu
Art. 684 ZGB
dafür, der Schutz des geschädigten Nachbarn erheische, dass mehrere verantwortliche Störer solidarisch hafteten (Berner Kommentar, 3. Aufl., Bern 1975, N. 151 zu
Art. 684 ZGB
).
bb) In der Tat ist nicht einzusehen, weshalb für solche Fälle eine Ausnahme vom Solidaritätsprinzip gelten sollte. Im angeführten Entscheid des Bundesgerichtes aus dem Jahre 1942 ging es um die
BGE 127 III 257 S. 262
Versumpfung eines Grundstückes infolge übermässiger Wasserzufuhr von mehreren Nachbarliegenschaften. Obwohl das Bundesgericht von einem einheitlichen Schaden ausging, verwarf es eine solidarische Haftung der Schädiger. Es begründete dies damit, dass sich ermitteln lasse, in welchem Verhältnis der Wasserzufluss von den Grundstücken der Schädiger zur Schadensentstehung beigetragen habe, weshalb auf eine Teilhaftung zu erkennen sei. Dies sei um so mehr angezeigt, als nicht eine Verschuldens-, sondern eine Kausalhaftung in Frage stehe (
BGE 68 II 369
E. 6 S. 375 f.). Dieser Begründung kann nicht mehr vorbehaltlos gefolgt werden (kritisch bereits GUISAN, JdT 1943 I S. 473 f.). Liegt ein einheitlicher Schaden vor, der durch mehrere verursacht worden ist, auferlegt das Gesetz den Schädigern eine solidarische Haftung (
Art. 50 und 51 OR
), und zwar ungeachtet dessen, ob die Anspruchsgrundlage eine Verschuldens- oder Kausalhaftung ist. Eigenheit der Solidarität ist es, dass sich der Geschädigte nicht um das Innenverhältnis und damit die endgültige Aufteilung des Schadens zwischen den Schädigern zu kümmern braucht (
BGE 114 II 342
E. 2b S. 344). Demgegenüber trägt der erwähnte Entscheid dem Innenverhältnis vorbehaltene Erwägungen ins Aussenverhältnis und versagt dadurch dem Geschädigten die ihm aufgrund der gesetzlich vorgesehenen Solidarität zustehende Vorzugsstellung.
Der Umstand, dass im vorliegenden Fall die schädigenden Einwirkungen der Beklagten 1 und 2 sowie der Beklagten 3 von verschiedenen Grundstücken ausgingen, spricht daher nicht gegen ihre solidarische Haftung gegenüber der Klägerin. Nicht einzugehen ist in diesem Zusammenhang auf die von der Beklagten 3 aufgeworfene Problematik der sogenannten summierten Immissionen. Darunter werden Fälle verstanden, in denen die von mehreren Nachbarn ausgehenden Einwirkungen auf das Grundstück des Geschädigten erst in ihrem Zusammenwirken das zulässige Mass überschreiten (MEIER-HAYOZ, a.a.O., N. 148 zu
Art. 684 ZGB
). Dass dies vorliegend zuträfe, ergibt sich aus den vorinstanzlichen Feststellungen nicht.
5.
a) Die Beklagte 3 wirft der Vorinstanz sinngemäss vor, den Begriff der Solidarität verkannt zu haben. Sie trägt vor, die Solidarität werde durch die externe Haftung begrenzt, und macht geltend, das Verhalten der Beklagten 3 sei nicht für den gesamten entstandenen Schaden kausal gewesen.
Die Verantwortlichkeit als Solidarschuldner wird durch die Reichweite der ihn treffenden Haftung beschränkt. Haftet jemand von vornherein überhaupt nicht oder nur für einen Teil des Schadens,
BGE 127 III 257 S. 263
weil sein Verhalten nicht für den gesamten eingetretenen Schaden adäquat-kausal ist, hat er auch nicht als Solidarschuldner neben anderen Mitschädigern für mehr einzustehen, als er aufgrund seiner eigenen Haftung verpflichtet ist (vgl.
BGE 93 II 329
E. 3b S. 334;
BGE 95 II 333
E. 3 S. 337; BREHM, a.a.O., N. 26 zu
Art. 51 OR
; ALFRED KELLER, Haftpflicht im Privatrecht, Bd. II, 2. Aufl., Bern 1998, S. 179; PIERRE WIDMER, Privatrechtliche Haftung, in: Schaden - Haftung - Versicherung, Basel 1999, S. 75 f.). Soweit daher der eingeklagte Schaden ausschliesslich von den Beklagten 1 und 2 verursacht worden ist und die Beklagte 3 auch nicht zu dessen Verschlimmerung beigetragen hat, entfällt in diesem Ausmass von vornherein ihre solidarische Mithaftung. Soweit aber der von der Beklagten 3 verursachte Schaden sich mit dem von den Beklagten 1 und 2 zu vertretenden überschneidet, d.h. zu dessen Vergrösserung geführt hat, haftet die Beklagte 3 hierfür solidarisch mit den anderen Beklagten.
b) Die Vorinstanz hat festgestellt, zwischen der Bautätigkeit der Beklagten 3 und den auf dem Grundstück der Klägerin aufgetretenen Rissschäden bestehe ein natürlicher Kausalzusammenhang, allerdings mit Ausnahme der Schäden, die vom Gutachter entweder alleine der Bautätigkeit der Beklagten 1 oder alleine jener der Beklagten 2 zugewiesen worden sind. Trotzdem hat die Vorinstanz den natürlichen Kausalzusammenhang zwischen dem Verhalten der Beklagten 3 und offenbar allen entstandenen Rissschäden bejaht. Aus den Feststellungen und Erwägungen der Vorinstanz geht gerade nicht schlüssig hervor, ob die Bautätigkeit der Beklagten 3 in Bezug auf den ganzen Schaden kausal ist, für den sie schliesslich haftbar erklärt worden ist. Die Feststellungen der Vorinstanz liefern vielmehr Anhaltspunkte dafür, dass gewisse Schäden ausschliesslich von den Beklagten 1 und 2 verursacht worden sind und das Verhalten der Beklagten 3 darauf keinen Einfluss gezeitigt hat. Es liegt die Annahme nahe, dass nur diejenigen Schäden mit der Bautätigkeit der Beklagten 3 in kausaler Beziehung stehen, die der Experte ihrer "Einflussfläche" zugewiesen hat; denn wo kein Einfluss stattfindet, ist selbstredend keine Schadensverursachung denkbar. Ob dieser Einflussbereich mit der Gesamtheit der Schäden übereinstimmt, für welche die Vorinstanz die Beklagte 3 als solidarisch haftbar erklärt hat, bleibt letztlich unklar. Fehlen aber eindeutige Feststellungen der Vorinstanz, kann der Umfang der Haftung der Beklagten 3 vom Bundesgericht nicht abschliessend beurteilt werden. Nicht massgeblich sind in diesem Zusammenhang die Ausführungen des
BGE 127 III 257 S. 264
Experten über den Verursachungsanteil der Beklagten 3, den er mit 21 % beziffert hat; dabei ging es nicht um die Frage, für welche Schäden die Bautätigkeit der Beklagten 3 eine (Mit-)Ursache gesetzt hat, sondern um das hiervon zu unterscheidende Innenverhältnis. Die Sache muss daher zur Ergänzung des Sachverhaltes im Hinblick auf die Klärung der Kausalitätsfrage an die Vorinstanz zurückgewiesen werden (
Art. 64 Abs. 1 OG
;
BGE 127 III 68
E. 3 S. 73). Ergibt sich dabei, dass das Verhalten der Beklagten 3 nicht für den ganzen Schaden kausal war, besteht Solidarität von vornherein nur in entsprechend reduziertem Umfang. Insoweit erweist sich die Berufung der Beklagten 3 als begründet.
Nicht zu hören ist die in diesem Zusammenhang erhobene Rüge, die Annahmen des Experten über den der Beklagten 3 zuzurechnenden Beitrag an der Schadensverursachung beruhten lediglich auf Mutmassungen. Nach
Art. 55 Abs. 1 lit. c OG
ist in der Berufungsschrift anzugeben, welche Bundesrechtssätze und inwiefern sie durch den angefochtenen Entscheid verletzt sind; dagegen ist appellatorische Kritik an der Beweiswürdigung im Berufungsverfahren nicht statthaft (
BGE 120 II 97
E. 2b S. 99;
BGE 125 III 78
E. 3a S. 79 mit Hinweisen).
6.
a)
Art. 136 Abs. 1 OR
bestimmt, dass die Unterbrechung der Verjährung gegen einen Solidarschuldner auch gegen die übrigen Mitschuldner wirkt. Dies gilt nach ständiger Rechtsprechung nur für die echte Solidarität, nicht aber für Verpflichtungen aus unechter Solidarität, weil dort jede Forderung ihre eigene Verjährung hat und infolgedessen auch die Unterbrechung je nur den einzelnen Anspruch trifft (
BGE 104 II 225
E. 4b S. 232;
BGE 112 II 138
E. 4a S. 143;
BGE 115 II 42
E 1b S. 47). Die Vorinstanz ist von unechter Solidarschuldnerschaft im Sinne von
Art. 51 OR
ausgegangen und hat demgemäss dafür gehalten, dass die Verjährungsunterbrechung gegenüber der Beklagten 3 am Lauf der Verjährung gegenüber den Beklagten 1 und 2 nichts ändere.
Dazu ist anzumerken, dass ein gemeinsames Verschulden, welches echte Solidarität im Sinne von
Art. 50 Abs. 1 OR
zu begründen vermöchte, nur vorläge, wenn jeder Schädiger um das pflichtwidrige Verhalten des anderen weiss oder jedenfalls wissen könnte (
BGE 115 II 42
E. 1b S. 45). Da die Beklagten 1 und 2 ihre Bauprojekte bereits in den Jahren 1981/1982 begonnen hatten, konnten sie von der erst Jahre später einsetzenden Bautätigkeit der Beklagten 3 keine Kenntnis haben, geschweige denn von einer pflichtwidrigen Handlung der Beklagten 3. Ist aber kein gemeinsames Verschulden
BGE 127 III 257 S. 265
auszumachen, kann nur auf unechte Solidarschuldnerschaft erkannt werden, wie die Vorinstanz zutreffend erwogen hat und auch die Parteien zu Recht nicht bestritten haben. Die Vorrichter haben sodann auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtes (
BGE 115 II 42
E. 2a S. 48 f.) verwiesen, wonach bei unechter Solidarität Ausgleichsansprüche des zahlenden Mitschuldners nicht durchgesetzt werden könnten, wenn konkurrierende Ansprüche des Geschädigten gegen einen Mithaftenden bereits verjährt sind (in diesem Sinne auch SPIRO, Die Begrenzung privater Rechte durch Verjährungs-, Verwirkungs- und Fatalfristen, Bd. I, Bern 1975, S. 493 f.). Dessen eingedenk hat die Vorinstanz es aus Billigkeitsgründen für gerechtfertigt gehalten, die Ersatzpflicht der Beklagten 3 in Anwendung von
Art. 43 Abs. 1 OR
im Umfang von 54 % herabzusetzen. Die Klägerin ficht diese Reduktion als unzulässig an, während nach Ansicht der Beklagten 3 die von der Vorinstanz vorgenommene Herabsetzung ungenügend ist.
Ob die von der Vorinstanz zitierte Rechtsprechung den Schluss zulässt, dass bei Verjährung konkurrierender Ansprüche des Geschädigten die Durchsetzung von Ausgleichsansprüchen gegen Mitschuldner in jedem Fall ausgeschlossen ist, erscheint zumindest als fraglich (nachfolgend E. 6c). Aber selbst wenn dies der Fall sein sollte, rechtfertigte dies keine Herabsetzung.
b) Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung ist eine Herabsetzung nach
Art. 43 Abs. 1 OR
im externen Verhältnis der unechten Solidarität zwar nicht ausgeschlossen, doch ist dabei grosse Zurückhaltung angezeigt, weil andernfalls der Grundsatz der Solidarität, der es dem Geschädigten auszuwählen erlaubt, gegen welchen Schädiger er vorgehen will, in Frage gestellt würde (
BGE 97 II 339
E. 3 S. 343 f.;
BGE 112 II 138
E. 4a S. 143 f.; BREHM, a.a.O., N. 27 f. zu
Art. 51 OR
mit weiteren Hinweisen). Macht beispielsweise die Insolvenz eines anderen Haftpflichtigen den Rückgriff illusorisch, lehnt die Rechtsprechung eine Herabsetzung ab, da es noch unbilliger wäre, statt des belangten Haftpflichtigen den Geschädigten den Schaden tragen zu lassen (
BGE 97 II 403
E. 7d S. 416;
BGE 112 II 138
E. 4a S. 144). Von einer solchen Konstellation unterscheidet sich der vorliegende Fall zwar insoweit, als zwischen dem Verhalten der Klägerin, die die konkurrierenden Ansprüche gegen die Beklagten 1 und 2 verjähren liess, und der allfälligen Unmöglichkeit des Rückgriffs ein direkter Zusammenhang besteht. Dennoch würde der Zweck der Solidarität verkannt, würde man im Aussenverhältnis den Haftungsanteil der Beklagten 3 kürzen, nur weil sie gegebenenfalls
BGE 127 III 257 S. 266
nicht mehr imstande wäre, auf die Mitschuldner Regress zu nehmen. Ist dem Geschädigten zuzugestehen, nach seinem Belieben auszuwählen, welchen Solidarschuldner er ins Recht fassen möchte, so darf ihm konsequenterweise aus dem Umstand, dass die konkurrierenden Ansprüche gegen die anderen Mitschuldner verjährt sind, kein Nachteil erwachsen. Die von der Vorinstanz vorgenommene Kürzung erweist sich demnach als bundesrechtswidrig; um so weniger kommt eine von der Beklagten 3 beantragte Erhöhung des Kürzungssatzes in Frage. Zwar ist nach der Praxis eine Herabsetzung allenfalls dann in Betracht zu ziehen, wenn der Beitrag des belangten Solidarschuldners im Vergleich zu jenem der anderen als überaus geringfügig erscheint (
BGE 112 II 138
E. 4a S. 144). Solches aber ist den Feststellungen der Vorinstanz nicht zu entnehmen und die Frage bleibt ohnehin insoweit offen, als der haftungsmässig relevante Beitrag der Beklagten 3 bzw. dessen Umfang infolge der Rückweisung gegenwärtig noch nicht definitiv feststeht.
c) Die Verjährung einer Forderung kann nicht zu laufen beginnen, bevor überhaupt die Forderung entstanden ist (vgl. VON TUHR/ESCHER, Allgemeiner Teil des Schweizerischen Obligationenrechts, Bd. II, 3. Aufl., Zürich 1974, § 80 IV S. 217 f.). Bei der unechten Solidarität tritt der rückgriffsberechtigte Mitschuldner nicht gemäss
Art. 149 Abs. 1 OR
in die Gläubigerrechte des Geschädigten ein, sondern es steht ihm lediglich ein Ausgleichsanspruch gegen seine Mitschuldner zu, der im Zeitpunkt der Zahlung an den Geschädigten entsteht (
BGE 115 II 42
E. 2a S. 48). Ist demnach der Ausgleichsanspruch noch nicht verjährt oder hat dessen Verjährung noch nicht einmal zu laufen begonnen, während konkurrierende Forderungen des Geschädigten gegen andere Mitschuldner bereits verjährt sind, hätte dies zur Folge, dass diese im Innenverhältnis dennoch für einen Teil des Schadenersatzes aufkommen müssten. Damit gingen sie letztlich der mit der Verjährung des Hauptanspruchs einhergehenden Privilegierung verlustig, könnten sie nicht auch dem regressberechtigten Mitschuldner die Verjährungseinrede entgegenhalten. Obwohl der Ausgleichsanspruch ein selbständiges Recht ist, versagt deshalb das Bundesgericht dem Regressberechtigten bei Verjährung konkurrierender Ansprüche des Geschädigten die Durchsetzung seiner Ausgleichsforderung, wenn der Regressberechtigte von der Möglichkeit, auf einen anderen Haftpflichtigen zurückzugreifen, rechtzeitig Kenntnis erhält, aber dennoch nichts unternimmt. Dies war der Fall bei einem Regressberechtigten, der bei noch offener Verjährung des konkurrierenden Anspruchs weder im Rahmen des
BGE 127 III 257 S. 267
vom Geschädigten gegen ihn angehobenen Prozesses dem Mitschuldner den Streit verkündet noch selber diesen belangt, noch dem Richter beantragt hatte, das Regressrecht festzusetzen (
BGE 115 II 42
E. 2a S. 48 f.). Verschlechtert der Regressberechtigte dergestalt grundlos die Position eines anderen Haftpflichtigen, verdient er in der Tat keinen Rechtsschutz. Vielmehr ist
Art. 2 Abs. 2 ZGB
als rechtsbegrenzendes Korrektiv heranzuziehen und der Regressforderung ungeachtet ihrer noch nicht eingetretenen Verjährung die Durchsetzung zu versagen. Das Bundesgericht hat in anderem Zusammenhang mehrfach darauf hingewiesen, dass unter qualifizierten Umständen das zu lange Zuwarten mit der Erhebung eines Anspruches eine rechtsmissbräuchliche Verzögerung darstellen kann (
BGE 94 II 37
E. 6b-d S. 41 f.;
BGE 116 II 428
E. 2 S. 431).
Nicht entschieden wurde damit die Frage, wie es sich verhielte, wenn der Regressberechtigte vor der Verjährung konkurrierender Forderungen des Geschädigten gegen andere Mitschuldner keinerlei Veranlassung hatte, seinen Ausgleichsanspruch zu erheben oder ihn gar nicht geltend machen konnte, weil er von der Rückgriffsmöglichkeit nicht rechtzeitig Kenntnis erlangt hat. Es kann ihm dann unter solchen Umständen kein treuwidriges Verhalten vorgehalten werden, wenn er erst nach Verjährung der anderen Ersatzforderungen seinen Ausgleichsanspruch anmeldet. Da es im vorliegenden Fall nicht um die Beurteilung eines Ausgleichsanspruchs der Beklagten 3 geht, besteht kein Anlass, zur Frage der Durchsetzbarkeit unverjährter Ausgleichsansprüche bei gleichzeitiger Verjährung konkurrierender Ansprüche des Geschädigten abschliessend Stellung zu nehmen. | de |
88873cc6-251a-4b06-bd62-ee60661b8095 | REF SR_Nummer \h \* MERGEFORMAT 1 / 14 Verordnung über das Inverkehrbringen von nach ausländischen technischen Vorschriften hergestellten Produkten und über deren Überwachung auf dem Markt (Verordnung über das Inverkehrbringen von Produkten nach ausländischen Vorschriften, VIPaV) vom 19. Mai 2010 (Stand am 1. Januar 2023) Der Schweizerische Bundesrat, gestützt auf die Artikel 16a Absatz 2 Buchstabe e und 31 Absatz 1 des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 19951 über die technischen Handelshemmnisse (THG), verordnet: 1. Abschnitt: Gegenstand Art. 1 1 Diese Verordnung: a. legt gemäss Artikel 16a Absatz 2 Buchstabe e die Ausnahmen vom Grundsatz nach Artikel 16a Absatz 1 THG fest; b. regelt für nach ausländischen technischen Vorschriften hergestellte Lebens- mittel das Inverkehrbringen; c. regelt für nach ausländischen technischen Vorschriften in Verkehr gebrachte Produkte die Marktüberwachung. 2 Ausnahmen nach Artikel 16a Absatz 2 Buchstabe e THG vom Grundsatz nach Ar- tikel 16a Absatz 1 THG werden in Artikel 2 festgelegt. 2. Abschnitt: Ausnahmen vom Grundsatz nach Artikel 16a Absatz 1 THG Art. 2 Ausnahmekatalog gemäss Artikel 16a Absatz 2 Buchstabe e THG Vom Grundsatz nach Artikel 16a Absatz 1 THG ausgenommen sind: a. die folgenden mit Chemikalien behandelten oder Chemikalien enthaltenden Produkte: AS 2010 2631 1 SR 946.51 946.513.8 Aussenhandel 2 / 14 946.513.8 1. bleihaltige Anstrichfarben und Lacke sowie damit behandelte Produkte (Anhang 2.8 der Chemikalien-Risikoreduktions-Verordnung vom 18. Mai 20052, ChemRRV), 2.3 … 3.4 gefährliche Stoffe und Zubereitungen, die auf der Etikette keine Angabe zur Herstellerin nach Artikel 10 Absatz 3 Buchstabe a der Chemikalien- verordnung vom 5. Juni 20155 (ChemV) enthalten, sowie Stoffe und Zu- bereitungen nach Artikel 19 ChemV, die im Sicherheitsdatenblatt nicht alle Angaben nach Anhang 2 Ziffer 3.2 ChemV enthalten, 4.6 in der Luft stabile Stoffe sowie Zubereitungen und Produkte, welche die Anforderungen nach den Anhängen 1.5, 2.3, 2.9, 2.10, 2.11 und 2.12 ChemRRV nicht erfüllen, 5. Holz und Holzwerkstoffe, welche die Anforderungen nach Anhang 2.4 Ziffer 1 und Anhang 2.17 ChemRRV nicht erfüllen, 6. Wasch- und Reinigungsmittel, die Phosphat oder schwer abbaubare Be- standteile (Komplexbildner) nach Anhang 2.1 Ziffer 2 Absatz 1 Buch- staben a–d sowie Anhang 2.2 Ziffer 2 Absatz 1 Buchstaben a und b ChemRRV enthalten; b. die folgenden Lebensmittel: 1.7 … 2.8 … 3. Tabakfabrikate und Ersatzprodukte, deren Detailverkaufspackung nicht mit dem Kleinhandelspreis in Schweizerfranken und der Firmenbezeich- nung oder Reversnummer des inländischen Herstellers oder des Impor- teurs nach Artikel 16 Absatz 1 Buchstaben a und b des Tabaksteuerge- setzes vom 21. März 19699 in Verbindung mit Artikel 31 der Ta- baksteuerverordnung vom 14. Oktober 200910 versehen sind, 4.11 Tabakerzeugnisse und Raucherwaren mit Tabakersatzstoffen, deren Ver- packungen nicht mit die Warnhinweise ergänzenden Abbildungen nach Artikel 12 Absatz 5 der Tabakverordnung vom 27. Oktober 200412 in 2 SR 814.81 3 Aufgehoben durch Ziff. II 2 der V vom 17. April 2019, mit Wirkung seit 1. Juni 2019 (AS 2019 1495). 4 Fassung gemäss Anhang 6 Ziff. 9 der Chemikalienverordnung vom 5. Juni 2015, in Kraft seit 1. Juli 2015 (AS 2015 1903). 5 SR 813.11 6 Fassung gemäss Ziff. II 2 der V vom 17. April 2019, in Kraft seit 1. Juni 2019 (AS 2019 1495). 7 Aufgehoben durch Anhang Ziff. 3 der V vom 27. Mai 2020, mit Wirkung seit 1. Juli 2020 (AS 2020 2229). 8 Aufgehoben durch Anhang 2 Ziff. II 12 der Alkoholverordnung vom 15. Sept. 2017, mit Wirkung seit 1. Jan. 2018 (AS 2017 5161). 9 SR 641.31 10 SR 641.311 11 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 12. April 2017, in Kraft seit 1. Mai 2017 (AS 2017 2631). 12 SR 817.06 V über das Inverkehrbringen von Produkten nach ausländischen Vorschriften 3 / 14 946.513.8 Verbindung mit der Verordnung des EDI vom 10. Dezember 200713 über kombinierte Warnhinweise auf Tabakprodukten versehen sind; vom Grundsatz nach Artikel 16a Absatz 1 THG nicht ausgenommen sind Zi- garetten, Tabak zum Selbstdrehen und Wasserpfeifentabak, 5.14 … 6. Konsumeier in der Schale, Spiegeleier, gekochte Eier sowie gekochte und geschälte Eier (Traiteureier) aus in der Schweiz nicht zugelassener Käfighaltung von Hühnern und ohne Deklaration nach den Artikeln 2, 4 und 5 der Landwirtschaftlichen Deklarationsverordnung vom 26. No- vember 200315 (LDV), 7.16 Lebensmittel ohne Deklaration hinsichtlich unbeabsichtigter Vermi- schungen mit allergenen Substanzen nach Artikel 11 Absatz 5 der Ver- ordnung des EDI vom 16. Dezember 201617 betreffend die Information über Lebensmittel, 8.18 Lebensmittel tierischer Herkunft, die einen Hinweis «ohne GVO19» tra- gen, der den Anforderungen nach Artikel 37 Absätze 4 und 5 der Lebens- mittel- und Gebrauchsgegenständeverordnung vom 16. Dezember 201620 (LGV) nicht genügt, 9.21 Lebensmittel, die mit Verfahren hergestellt wurden, die nach Artikel 28 Absatz 1 LGV bewilligungspflichtig sind, sowie Lebensmittel, die GVO sind, solche enthalten oder daraus gewonnen wurden und die nach Arti- kel 31 LGV bewilligungspflichtig sind, 10.22 … 11. Fleisch, Fleischzubereitungen und Fleischerzeugnisse von Hauskanin- chen aus in der Schweiz nicht zugelassener Haltungsform und ohne De- klaration nach den Artikeln 2, 3 und 5 LDV; c. die folgenden übrigen Produkte: 1.23 … 13 SR 817.064 14 Aufgehoben durch Ziff. I der V vom 16. Nov. 2011, mit Wirkung seit 1. Jan. 2012 (AS 2011 5821). 15 SR 916.51 16 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 12. April 2017, in Kraft seit 1. Mai 2017 (AS 2017 2631). 17 SR 817.022.16 18 Fassung gemäss Anhang Ziff. 3 der V vom 27. Mai 2020, in Kraft seit 1. Juli 2020 (AS 2020 2229). 19 Steht für «Gentechnisch veränderte Organismen» 20 SR 817.02 21 Fassung gemäss Anhang Ziff. 3 der V vom 27. Mai 2020, in Kraft seit 1. Juli 2020 (AS 2020 2229). 22 Aufgehoben durch Ziff. I der V vom 12. April 2017, mit Wirkung seit 1. Mai 2017 (AS 2017 2631). 23 Aufgehoben durch Ziff. I der V vom 12. April 2017, mit Wirkung seit 1. Mai 2017 (AS 2017 2631). Aussenhandel 4 / 14 946.513.8 2. Eisenbahninfrastruktur und Eisenbahnfahrzeuge, die nicht den schweize- rischen sicherheitsrelevanten Produktevorschriften gemäss folgenden Erlassen entsprechen: – Eisenbahngesetz vom 20. Dezember 195724 – Eisenbahnverordnung vom 23. November 198325 – Ausführungsbestimmungen vom 22. Mai 200626 zur Eisenbahnver- ordnung, 6. Revision – Elektrizitätsgesetz vom 24. Juni 190227 – Verordnung vom 5. Dezember 199428 über elektrische Anlagen von Bahnen – Ausführungsbestimmungen zu den in dieser Ziffer genannten Erlas- sen, 3.29 … 4. dem Edelmetallkontrollgesetz vom 20. Juni 193330 unterstellte Waren, welche die Vorschriften betreffend Feingehalte und betreffend die Be- zeichnung, Kennzeichnung und materielle Zusammensetzung nach den Artikeln 1–3 und 5–21 des Edelmetallkontrollgesetzes nicht erfüllen, 5.31 die folgenden Geräte, welche die technischen Vorschriften gemäss den Artikeln 3–8 sowie den Anhängen 1.1, 1.3, 1.15–1.16, 1.18, 1.21, 2.4, 2.14 und 3.2 der Energieeffizienzverordnung vom 1. November 201732 nicht einhalten: – netzbetriebene Kühlgeräte – netzbetriebene Haushaltswäschetrockner – bei Warmwasserbereitern und Warmwasserspeichern: elektrische konventionelle Warmwasserbereiter mit einem Speichervolumen von ≥ 150 Litern und Warmwasserspeicher mit einem Speichervo- lumen von ≤ 500 Litern – bei Raumheizgeräten und Kombiheizgeräten: elektrische Raum- heizgeräte und elektrische Kombiheizgeräte – bei Einzelraumheizgeräten: elektrische Einzelraumheizgeräte – bei netzbetriebenen Kühlgeräten mit Direktverkaufsfunktion: Ge- tränkekühler mit Direktverkaufsfunktion, vertikale und kombinierte Kühlschränke für Supermärkte sowie vertikale und kombinierte Gefrierschränke für Supermärkte – bei netzbetriebenen Set-Top-Boxen: komplexe Set-Top-Boxen 24 SR 742.101 25 SR 742.141.1 26 SR 742.141.11 27 SR 734.0 28 [AS 1995 1024; 1997 1008 Anhang Ziff. 5, 1016 Anhang 5; 1998 54 Anhang Ziff. 6; 2000 741 Art. 10 Ziff. 1, 762 Ziff. II 5; 2009 6243 Anhang 3 Ziff. 6. AS 2011 6233 Anhang 2 Ziff. II] 29 Aufgehoben durch Ziff. III der V vom 11. April 2018, mit Wirkung seit 1. Jan. 2022 (AS 2018 1687). 30 SR 941.31 31 Fassung gemäss Ziff. III der V vom 23. Nov. 2022, in Kraft seit 1. Jan. 2023 (AS 2022 776). 32 SR 730.02 V über das Inverkehrbringen von Produkten nach ausländischen Vorschriften 5 / 14 946.513.8 – netzbetriebene gewerbliche Kochfelder, offene Gratinier- oder Warmhalte-Öfen mit starker Oberhitze (Salamander) und Fritteusen – netzbetriebene Haushaltskaffeemaschinen, 6.33 der Verordnung vom 4. Juni 201034 über die Deklaration von Holz und Holzprodukten unterstellte Hölzer und Holzprodukte, welche die Vor- schriften zur Deklaration nach den Artikeln 2–4 der genannten Verord- nung nicht erfüllen, 7.35 … 8.36 der Pelzdeklarationsverordnung vom 7. Dezember 201237 unterstellte Pelze und Pelzprodukte, welche die Vorschriften zur Deklaration nach den Artikeln 2a–7 der genannten Verordnung nicht erfüllen, 9.38 andere Elektrizitätszähler als Wirkenergiezähler, für die das Eidgenössi- sche Justiz- und Polizeidepartement gestützt auf Artikel 33 der Messmit- telverordnung vom 15. Februar 200639 Bestimmungen erlassen hat, ins- besondere Elektrizitätszähler für die Blindenergiemessung, die Leistungsmessung oder die Lastgangbildung, 10.40 naturbelassene Holzpellets und -briketts, sofern sie die Anforderungen nach Anhang 5 Ziffer 32 LRV nicht erfüllen. Art. 3 Überprüfung der Ausnahmen gemäss Artikel 2 Die Ausnahmen in Artikel 2 werden überprüft: a. von demjenigen Departement, in dessen Zuständigkeit die entsprechende schweizerische technische Vorschrift fällt, wenn die Europäische Union (EU) in den in Artikel 2 genannten Bereichen neue harmonisierte Vorschriften er- lässt oder bestehende harmonisierte Vorschriften ändert; b. vom Bundesrat auf Antrag des Eidgenössischen Departements für Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF)41 alle fünf Jahre. 33 Eingefügt durch Art. 10 der V vom 4. Juni 2010 über die Deklaration von Holz und Holzprodukten, in Kraft seit 1. Okt. 2010 (AS 2010 2873). 34 SR 944.021 35 Eingefügt durch Ziff. I 4 der V vom 29. Juni 2011 über Anpassungen von Verordnungen im Umweltbereich (AS 2011 3379). Aufgehoben durch Ziff. III der V vom 11. April 2018, mit Wirkung seit 1. Jan. 2023 (AS 2018 1687). 36 Eingefügt durch Art. 13 der Pelzdeklarationsverordnung vom 7. Dez. 2012 (AS 2013 579). Fassung gemäss Ziff. II der V vom 19. Febr. 2020, in Kraft seit 1. April 2020 (AS 2020 611). 37 SR 944.022 38 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 26. Aug. 2015, in Kraft seit 1. Okt. 2015 (AS 2014 3121). 39 SR 941.210 40 Eingefügt durch Ziff. III der V vom 14. Okt. 2015, in Kraft seit 16. Nov. 2015 (AS 2015 4171). 41 Die Bezeichnung der Verwaltungseinheit wurde in Anwendung von Art. 16 Abs. 3 der Publikationsverordnung vom 17. Nov. 2004 (AS 2004 4937) auf den 1. Jan. 2013 ange- passt. Die Anpassung wurde im ganzen Text vorgenommen. Aussenhandel 6 / 14 946.513.8 3. Abschnitt: Lebensmittel Art. 4 Gesuch 1 Ein Gesuch um Bewilligung nach Artikel 16c THG können einreichen: a. in- und ausländische Personen, welche mit Lebensmitteln, für die Artikel 16a Absatz 1 THG gilt, Handel treiben; b. ausländische Hersteller von Lebensmitteln, für die Artikel 16a Absatz 1 THG gilt; c. Hersteller in der Schweiz von Lebensmitteln, die das für die Ausfuhr in die EU oder den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) hergestellte Lebensmittel auch in der Schweiz in Verkehr bringen wollen; d. Hersteller von Lebensmitteln in der Schweiz, die nur für den inländischen Markt produzieren. 2 Das Gesuch muss enthalten: a. den Namen und die Adresse der Gesuchstellerin oder des Gesuchstellers und eine Zustelladresse in der Schweiz; b. ein Verpackungsmuster mit Etikette in Originalform oder eine Abbildung da- von in gedruckter oder elektronischer Form; c. Angaben über die Zusammensetzung sowie die wesentlichen Spezifikationen des Lebensmittels; d. Angaben darüber, welche Bestimmungen des schweizerischen Rechts nicht eingehalten sind; e. den Nachweis, dass das Lebensmittel den technischen Vorschriften der EU und, bei unvollständiger oder fehlender Harmonisierung in der EU, den tech- nischen Vorschriften eines Mitgliedstaats der EU oder des EWR entspricht; f. Dokumente oder Darlegungen, die glaubhaft machen, dass das Lebensmittel in dem Land, auf dessen Vorschriften Bezug genommen wird, rechtmässig in Verkehr ist; Gesuchsteller nach Absatz 1 Buchstabe d müssen glaubhaft ma- chen, dass ein entsprechendes Lebensmittel in dem Land, auf dessen Vor- schriften Bezug genommen wird, rechtmässig in Verkehr ist. 3 Als Nachweis nach Absatz 2 Buchstabe e gilt eine Erklärung der Gesuchstellerin oder des Gesuchstellers, dass das Lebensmittel den massgebenden technischen Vor- schriften nach Artikel 16a Absatz 1 Buchstabe a THG entspricht; die entsprechenden Rechtserlasse sind mit der amtlichen Fundstelle anzugeben. 4 Das Gesuch muss in einer Amtssprache des Bundes abgefasst sein. Die Daten und Unterlagen können auf Englisch abgefasst und statt auf Papier auf einem elektroni- schen Datenträger eingereicht werden. Das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und V über das Inverkehrbringen von Produkten nach ausländischen Vorschriften 7 / 14 946.513.8 Veterinärwesen (BLV)42 kann von den massgebenden technischen Vorschriften eine Übersetzung in eine Amtssprache des Bundes oder in Englisch verlangen. Art. 5 Prüfung auf Vollständigkeit 1 Das BLV prüft, ob das Gesuch vollständig ist. 2 Es bestätigt umgehend und schriftlich den Eingang des Gesuchs und räumt gegebe- nenfalls eine angemessene Nachfrist zur Ergänzung des Gesuchs ein. Bis zur Einrei- chung der Ergänzung steht die Frist nach Artikel 16d Absatz 4 THG still. 3 Werden die erforderlichen Angaben nicht fristgemäss eingereicht, so tritt das BLV auf das Gesuch nicht ein. Art. 6 Produktinformation 1 Das BLV prüft, ob das Verpackungsmuster mit Etikette die Anforderungen an die Produktinformation nach Artikel 16e THG erfüllt. 2 Erfüllt die Produktinformation die Anforderungen nach Absatz 1, so kann das BLV eine Änderung der Produktinformation einschliesslich der Sachbezeichnung nur ver- langen, wenn das Lebensmittel sonst die Sicherheit oder die Gesundheit von Personen gefährden würde. 3 Vorbehalten bleiben: a. die herkunftsrechtlichen Bestimmungen über die Auslobung der schweizeri- schen Herkunft nach dem Markenschutzgesetz vom 28. August 199243; b. die Bestimmungen zum Schutz von Ursprungsbezeichnungen und geografi- schen Angaben für landwirtschaftliche Erzeugnisse und verarbeitete landwirt- schaftliche Erzeugnisse nach der GUB/GGA-Verordnung vom 28. Mai 199744. Art. 6a45 Produktinformation für in der Schweiz nach ausländischen technischen Vorschriften hergestellte und in Verkehr gebrachte Lebensmittel Wird ein Lebensmittel in der Schweiz nach ausländischen technischen Vorschriften hergestellt und in Verkehr gebracht, so muss die Angabe nach Artikel 16e Absatz 1 Buchstabe b THG mit folgender Information ergänzt werden: a. wenn die technischen Vorschriften in der EU harmonisiert sind: «Hergestellt in der Schweiz nach den technischen Vorschriften der EU»; 42 Die Bezeichnung der Verwaltungseinheit wurde in Anwendung von Art. 16 Abs. 3 der Publikationsverordnung vom 17. Nov. 2004 (AS 2004 4937) auf den 1. Jan. 2014 ange- passt. Die Anpassung wurde im ganzen Text vorgenommen. 43 SR 232.11 44 SR 910.12 45 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 29. Juni 2016, in Kraft seit 1. Jan. 2017 (AS 2016 2701). Aussenhandel 8 / 14 946.513.8 b. wenn die technischen Vorschriften in der EU nicht oder nicht vollständig har- monisiert sind: «Hergestellt in der Schweiz nach den technischen Vorschriften [Name des betreffenden EU- oder EWR-Mitgliedstaates]» (z. B. «Hergestellt in der Schweiz nach den technischen Vorschriften Belgiens»). Art. 7 Allgemeinverfügungen 1 Allgemeinverfügungen nach Artikel 16d Absatz 2 THG werden im Bundesblatt ver- öffentlicht. 2 Der Eintritt der Rechtskraft solcher Verfügungen wird im Bundesblatt angezeigt. 3 Das BLV informiert die kantonalen Vollzugsorgane und das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) unverzüglich über die Eröffnung einer Allgemeinverfügung und den Eintritt von deren Rechtskraft. 4 Die Abweisung eines Gesuchs erfolgt als Einzelverfügung; sie wird dem SECO mit- geteilt. 5 Im Übrigen richtet sich das Bewilligungsverfahren nach dem Bundesgesetz vom 20. Dezember 196846 über das Verwaltungsverfahren. Art. 8 Inhalt von Allgemeinverfügungen 1 Allgemeinverfügungen nach Artikel 16d Absatz 2 THG müssen enthalten: a. eine das Lebensmittel identifizierende Beschreibung; b. die ausländischen Rechtserlasse, deren Vorschriften das Lebensmittel ent- spricht, mit Angabe der amtlichen Fundstellen; c. die Angabe des EU- oder EWR-Mitgliedstaats, in dem das Lebensmittel recht- mässig in Verkehr ist; d. die Auflage, dass die schweizerischen Vorschriften über den Arbeitnehmer- und den Tierschutz eingehalten werden müssen, wenn die Lebensmittel in der Schweiz hergestellt werden. 2 Die das Lebensmittel identifizierende Beschreibung muss so generisch wie möglich sein. Sie kann von der für das entsprechende Lebensmittel nach schweizerischem Recht geltenden Sachbezeichnung abweichen. Art. 9 Wirkung der Allgemeinverfügung Die Allgemeinverfügung gilt für gleichartige Lebensmittel: a. aus einem EU- oder EWR-Mitgliedstaat, welche die folgenden Voraussetzun- gen erfüllen: 1. sie entsprechen der das Lebensmittel identifizierenden Beschreibung der Allgemeinverfügung, 2. sie entsprechen den der Allgemeinverfügung zugrunde liegenden techni- schen Vorschriften, und 46 SR 172.021 V über das Inverkehrbringen von Produkten nach ausländischen Vorschriften 9 / 14 946.513.8 3. sie sind in dem EU- oder EWR-Mitgliedstaat, auf dessen Vorschriften Bezug genommen wird, rechtmässig in Verkehr; b. aus der Schweiz, welche die folgenden Voraussetzungen erfüllen: 1. sie entsprechen der das Lebensmittel identifizierenden Beschreibung der Allgemeinverfügung, 2. sie entsprechen den der Allgemeinverfügung zugrunde liegenden techni- schen Vorschriften, und 3. bei ihrer Herstellung werden die schweizerischen Vorschriften über den Arbeitnehmer- und den Tierschutz eingehalten. Art. 10 Änderung der technischen Vorschriften 1 Ändern die technischen Vorschriften für ein Lebensmittel, so hat dieses den neuen Vorschriften zu entsprechen. 2 Werden die einer Allgemeinverfügungen über Lebensmittel zugrunde liegenden technischen Vorschriften in einer Weise geändert, dass öffentliche Interessen nach Artikel 4 Absatz 4 Buchstaben a–e THG gefährdet sind, so widerruft das BLV die Allgemeinverfügung. Art. 10a47 Ausschluss von Bewilligungen für bestimmte landwirtschaftliche Erzeugnisse Herstellern in der Schweiz wird für die folgenden landwirtschaftlichen Erzeugnisse keine Bewilligung nach Artikel 16c THG erteilt: a. landwirtschaftliche Erzeugnisse und daraus hergestellte Lebensmittel, die nach der Berg- und Alp-Verordnung vom 25. Mai 201148 gekennzeichnet werden; b.49 Wein, der unter die Verordnung des EDI vom 16. Dezember 201650 über Ge- tränke fällt; c. Erzeugnisse und Lebensmittel, die nach der Bio-Verordnung vom 22. Sep- tember 199751 gekennzeichnet werden. Art. 11 Gebühren Für die Behandlung eines Bewilligungsgesuches erhebt das BLV eine Pauschalgebühr von 500 Franken. 47 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 16. Nov. 2011, in Kraft seit 1. Jan. 2012 (AS 2011 5821). 48 SR 910.19 49 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 12. April 2017, in Kraft seit 1. Mai 2017 (AS 2017 2631). 50 SR 817.022.12 51 SR 910.18 Aussenhandel 10 / 14 946.513.8 4. Abschnitt: Marktüberwachung Art. 12 Vorlage der erforderlichen Informationen 1 Das Vollzugsorgan gewährt dem Inverkehrbringer eine angemessene Frist, damit dieser die Nachweise, Informationen und Muster nach Artikel 19 Absatz 1 THG vor- legen kann. 2 Als Nachweis nach Artikel 20 Absatz 1 Buchstabe a THG gilt eine Erklärung des Inverkehrbringers, dass das Produkt den massgebenden technischen Vorschriften nach Artikel 16a Absatz 1 Buchstabe a THG entspricht; die entsprechenden Rechts- erlasse und deren amtliche Fundstellen sind anzugeben. Ist nach diesen Vorschriften eine Konformitätserklärung oder eine Konformitätsbescheinigung erforderlich, so ist diese vorzulegen. 3 Das Vollzugsorgan kann verlangen, dass von den massgebenden technischen Vor- schriften eine Übersetzung in eine Amtssprache des Bundes oder in Englisch vorge- legt wird. Art. 13 Form und Verfahren der Marktüberwachung 1 Massnahmen gegen Produkte, die gestützt auf Artikel 16a Absatz 1 THG in der Schweiz in Verkehr gebracht werden, werden in Form einer Allgemeinverfügung nach den Artikeln 19 Absatz 7 und 20 Absatz 5 THG getroffen. Betrifft eine Mass- nahme lediglich einzelne Exemplare oder eine Serie eines Produkts, so kann die Mas- snahme in Form einer Einzelverfügung getroffen werden. 2 Erfolgt das Inverkehrbringen eines Produktes gestützt auf einen Staatsvertrag, so erfolgt die Marktüberwachung nach Massgabe des Staatsvertrages und, subsidiär, nach den für das betreffende Produkt massgebenden landesrechtlichen Bestimmun- gen. 3 Erfolgt das Inverkehrbringen eines Produktes nach schweizerischen technischen Vorschriften, so erfolgt die Marktüberwachung nach Massgabe dieser schweizeri- schen technischen Vorschriften. Für Lebensmittel, deren Inverkehrbringen nicht mit- tels einer Allgemeinverfügung bewilligt worden ist, erfolgt die Marktüberwachung nach Massgabe der Lebensmittelgesetzgebung. Art. 14 Massnahmen kantonaler Vollzugsorgane 1 Das kantonale Vollzugsorgan, das bei der zuständigen Behörde des Bundes den Er- lass einer Allgemeinverfügung beantragen will, hört den Inverkehrbringer vorgängig an. 2 Die Behörde des Bundes entscheidet innerhalb von zwei Monaten über die vom kan- tonalen Vollzugsorgan beantragten Massnahmen. 3 Besteht begründeter Verdacht auf unmittelbare und ernste Gefährdung öffentlicher Interessen im Sinne von Artikel 4 Absatz 4 Buchstaben a–e THG, so treffen die kan- tonalen Vollzugsorgane vorsorgliche Massnahmen. Sie melden diese der zuständigen Behörde des Bundes umgehend. V über das Inverkehrbringen von Produkten nach ausländischen Vorschriften 11 / 14 946.513.8 4 Vorsorgliche Massnahmen eines kantonalen Vollzugsorgans bleiben bis zum Ent- scheid der zuständigen Behörde des Bundes, längstens aber für die Dauer von zwei Monaten in Kraft. 5 Das kantonale Kontrollorgan für Lebensmittel unterbreitet dem BLV vor einer Be- anstandung: a. Fragen hinsichtlich der Auslegung von Allgemeinverfügungen nach Arti- kel 16d Absatz 2 THG; b. Fragen hinsichtlich der Gleichartigkeit eines Lebensmittels gemäss Artikel 9. Art. 15 Veröffentlichung der Massnahmen 1 Erlässt die zuständige Behörde des Bundes Massnahmen nach Artikel 20 THG in Form einer Allgemeinverfügung nach Artikel 19 Absatz 7 THG, so veröffentlicht sie diese im Bundesblatt. 2 Sie zeigt den Eintritt der Rechtskraft der Allgemeinverfügung im Bundesblatt an. 3 Die zuständige Behörde des Bundes informiert umgehend das zuständige kantonale Vollzugsorgan, das SECO und die Wettbewerbskommission über die Eröffnung einer Allgemeinverfügung und den Eintritt von deren Rechtskraft. 5. Abschnitt: Schlussbestimmungen Art. 16 Nachführung der Listen gemäss Artikel 31 Absatz 2 THG 1 Die für die Vorbereitung, den Erlass oder die Änderung technischer Vorschriften zuständigen Bundesbehörden melden dem SECO sämtliche Neuerungen hinsichtlich: a. Produkten, die einer Zulassungspflicht unterliegen; b. anmeldepflichtigen Stoffen nach der Chemikaliengesetzgebung; c. Produkten, die einer vorgängigen Einfuhrbewilligung bedürfen; d. Produkten, die einem Einfuhrverbot unterliegen. 2 Das SECO führt die Liste gemäss Artikel 31 Absatz 2 Buchstabe a THG nach. 3 Das BLV führt die Liste gemäss Artikel 31 Absatz 2 Buchstabe b THG nach. Art. 17 Nachführung von Artikel 2 Das WBF ändert Artikel 2 dieser Verordnung entsprechend den Entwicklungen des departementalen Verordnungsrechts, auf das dort verwiesen wird. Art. 18 Änderung bisherigen Rechts Die Änderung bisherigen Rechts wird im Anhang geregelt. Aussenhandel 12 / 14 946.513.8 Art. 19 Übergangsbestimmungen 1 Gesundheitsbezogene Angaben für nach Artikel 16a Absatz 1 THG in Verkehr ge- brachte Lebensmittel richten sich bis zum 31. Dezember 2010 nach den Anforderun- gen der Lebensmittelgesetzgebung. 1bis Die Geltungsdauer von Absatz 1 wird bis zum 31. Dezember 2011 verlängert.52 1ter Die Geltungsdauer von Absatz 1 wird bis zum 31. Dezember 2012 verlängert.53 1quater Die Geltungsdauer von Absatz 1 wird bis zum 31. Dezember 2013 verlängert.54 1quinquies Die Geltungsdauer von Absatz 1 wird bis zum 31. Dezember 2015 verlän- gert.55 1sexies Die Geltungsdauer von Absatz 1 wird bis zum 31. Dezember 2017 verlängert.56 2 Energieeffizienzvorschriften für netzbetriebene, elektrische Normmotoren im Leis- tungsbereich von 0,75 bis 375 kW richten sich bis zum 30. Juni 2011 nach den Arti- keln 7, 10 und 11 sowie Anhang 2.10 der Energieverordnung vom 7. Dezember 199857. 3 Nach dem Inkrafttreten von Artikel 6a dürfen Lebensmittel, die nach bisherigem Recht gekennzeichnet sind, noch bis zur Erschöpfung der Bestände an Konsumentin- nen und Konsumenten abgegeben werden.58 Art. 20 Inkrafttreten 1 Diese Verordnung tritt unter Vorbehalt von Absatz 2 am 1. Juli 2010 in Kraft. 2 Artikel 2 Buchstabe b Ziffer 11 tritt am 1. Januar 2012 in Kraft. 52 Eingefügt durch Ziff. III der V vom 13. Okt. 2010, in Kraft seit 1. Nov. 2010 (AS 2010 4611). 53 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 16. Nov. 2011, in Kraft seit 1. Jan. 2012 (AS 2011 5821). 54 Eingefügt durch Ziff. II der V vom 30. Nov. 2012, in Kraft seit 1. Jan. 2013 (AS 2012 6809). 55 Eingefügt durch Ziff. III der V vom 23. Okt. 2013, in Kraft seit 1. Jan. 2014 (AS 2013 3669). 56 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 29. Juni 2016, in Kraft seit 1. Jan. 2016 (AS 2016 2701). 57 SR 730.01 58 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 16. Nov. 2016, in Kraft seit 1. Jan. 2017 (AS 2016 4421). V über das Inverkehrbringen von Produkten nach ausländischen Vorschriften 13 / 14 946.513.8 Anhang (Art. 18) Änderung bisherigen Rechts Die nachstehenden Verordnungen werden wie folgt geändert: …59 59 Die Änd. können unter AS 2010 2631 konsultiert werden. Aussenhandel 14 / 14 946.513.8 1. Abschnitt: Gegenstand Art. 1 2. Abschnitt: Ausnahmen vom Grundsatz nach Artikel 16a Absatz 1 THG Art. 2 Ausnahmekatalog gemäss Artikel 16a Absatz 2 Buchstabe e THG Art. 3 Überprüfung der Ausnahmen gemäss Artikel 2 3. Abschnitt: Lebensmittel Art. 4 Gesuch Art. 5 Prüfung auf Vollständigkeit Art. 6 Produktinformation Art. 6a Produktinformation für in der Schweiz nach ausländischen technischen Vorschriften hergestellte und in Verkehr gebrachte Lebensmittel Art. 7 Allgemeinverfügungen Art. 8 Inhalt von Allgemeinverfügungen Art. 9 Wirkung der Allgemeinverfügung Art. 10 Änderung der technischen Vorschriften Art. 10a Ausschluss von Bewilligungen für bestimmte landwirtschaftliche Erzeugnisse Art. 11 Gebühren 4. Abschnitt: Marktüberwachung Art. 12 Vorlage der erforderlichen Informationen Art. 13 Form und Verfahren der Marktüberwachung Art. 14 Massnahmen kantonaler Vollzugsorgane Art. 15 Veröffentlichung der Massnahmen 5. Abschnitt: Schlussbestimmungen Art. 16 Nachführung der Listen gemäss Artikel 31 Absatz 2 THG Art. 17 Nachführung von Artikel 2 Art. 18 Änderung bisherigen Rechts Art. 19 Übergangsbestimmungen Art. 20 Inkrafttreten Anhang Änderung bisherigen Rechts | de |
39f50e0a-a019-447c-95ee-f7241bfc25ab | Sachverhalt
ab Seite 84
BGE 130 II 83 S. 84
Die X. AG in Y. stellt unter anderem Orangensäfte unter der Bezeichnung "Ramseier Premium Orangensaft" und "Sunair Orangensaft" her. Beide Orangensäfte sind mit dem Hinweis "ohne Zuckerzusatz" versehen. Mit Schreiben vom 27. September 2001 teilte das Kantonale Laboratorium der X. AG mit, der Hinweis "ohne Zuckerzusatz" sei im Sinne von Art. 19 Abs. 1 lit. b der Lebensmittelverordnung als täuschend zu beanstanden, da Fruchtsäfte grundsätzlich als Produkte ohne Zuckerzusatz definiert seien. Gegen diese Verfügung erhob die X. AG erfolglos Einsprache.
Das in der Folge angerufene Verwaltungsgericht des Kantons Luzern erachtete das gesetzliche Täuschungsverbot als nicht verletzt und hiess die Beschwerde der X. AG gut.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das Eidgenössische Departement des Innern, das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern aufzuheben. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Das Bundesgesetz vom 9. Oktober 1992 über Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände (Lebensmittelgesetz, LMG; SR 817.0) bezweckt unter anderem, die Konsumenten im Zusammenhang mit Lebensmitteln vor Täuschungen zu schützen (
Art. 1 lit. c LMG
). Gemäss
Art. 18 Abs. 1 LMG
müssen die angepriesene Beschaffenheit sowie alle andern Angaben über das Lebensmittel den Tatsachen entsprechen. Sodann dürfen Anpreisung, Aufmachung und Verpackung der Lebensmittel den Konsumenten nicht täuschen (
Art. 18 Abs. 2 LMG
), wobei die Täuschung unter anderem darin liegen kann, dass beim Konsumenten falsche Vorstellungen über Herstellung, Zusammensetzung, Beschaffenheit, Produktionsart, Haltbarkeit, Herkunft, besondere Wirkungen und Wert des Lebensmittels geweckt werden (
Art. 18 Abs. 3 LMG
). Die Lebensmittelverordnung vom 1. März 1995 (LMV; SR 817.02) konkretisiert dieses Täuschungsverbot. Verboten sind unter anderem "Angaben, mit denen zu verstehen gegeben wird, dass ein Lebensmittel besondere Eigenschaften besitzt, obwohl alle vergleichbaren Lebensmittel dieselben Eigenschaften besitzen" (
Art. 19 Abs. 1 lit. b LMV
).
BGE 130 II 83 S. 85
3.
3.1
Der von der Beschwerdegegnerin vertriebene Orangensaft fällt unter die Kategorie der Fruchtsäfte, für welche die Zugabe von Zucker, von bestimmten Ausnahmen abgesehen, ausgeschlossen ist (
Art. 232 LMV
). Bei strenger formeller Betrachtung verstösst daher der vorliegend beanstandete Hinweis "ohne Zuckerzusatz" der Packungsaufschriften des fraglichen Orangensafts gegen
Art. 19 Abs. 1 lit. b LMV
.
Gegen diese Betrachtungsweise lässt sich zunächst einwenden, dass die Lebensmittelverordnung die Zugabe von Zucker für Fruchtsäfte nicht ausnahmslos ausschliesst, sondern unter bestimmten Voraussetzungen, die an sich auch für Orangensaft gegeben sein können, zulässt, nämlich bis maximal 15 g pro Liter, wenn dies zur Korrektur eines natürlichen Mangels an Zuckerarten geboten ist, oder bis maximal 100 g pro Liter zur Erzielung eines süssen Geschmackes (
Art. 232 Abs. 1 lit. f LMV
). Die Zuckerbeigabe zur Erzielung eines süssen Geschmackes muss jedoch in der Sachbezeichnung durch die Angabe "gezuckert" oder "mit Zuckerzusatz" sowie der Höchstmenge der zugegebenen Zuckerarten zum Ausdruck kommen (
Art. 233 Abs. 3 LMV
). Das beschwerdeführende Departement macht diesbezüglich geltend, vorliegend ergebe sich bereits aus der Anpreisung als "100% naturreiner" Orangensaft sowie aus der Bezeichnung "Premium", welche die Verwendung erstklassiger Früchte verspreche, dass die Voraussetzungen für eine Zuckerzugabe gemäss
Art. 232 Abs. 1 lit. f LMV
nicht gegeben seien. Dass Orangensaft mit den erwähnten beiden Bezeichnungen nach den Bestimmungen der Lebensmittelverordnung keinen zugegebenen Zucker enthalten dürfe, sei eine Selbstverständlichkeit. Die zusätzliche Angabe "ohne Zuckerzusatz" sei daher geeignet, bei den Konsumenten den Eindruck zu erwecken, das Lebensmittel besitze besondere Eigenschaften, obwohl dies nicht zutreffe. Eine Täuschung des Konsumenten im Sinne von
Art. 19 Abs. 1 lit. b LMV
könne auch durch wahre Angaben über das Produkt vorliegen.
3.2
Letzterem ist an sich beizupflichten. Vorliegend darf aber das legitime Informationsbedürfnis des Konsumenten nicht ausser Acht bleiben. Für den Konsumenten kann es nämlich eine wichtige Rolle spielen, ob ein als Fruchtsaft angebotenes Produkt wirklich rein natürlich ist oder aber, wie dies bei vielen anderen Getränkearten
BGE 130 II 83 S. 86
auf Fruchtbasis zulässigerweise der Fall sein kann (vgl. etwa die Bestimmungen betreffend Fruchtnektar und Fruchtsirup:
Art. 235 Abs. 1 und
Art. 239 Abs. 1 LMV
), zugegebenen Zucker enthält. Der durchschnittliche Konsument kennt die Vorschriften der Lebensmittelverordnung nicht und ist auch nicht ohne weiteres in der Lage, bereits aus der Bezeichnung eines Produkts und aus der vorgeschriebenen Deklaration über die Zusammensetzung des Lebensmittels bezüglich einer allfälligen Zuckerzugabe sofort den richtigen Schluss zu ziehen. So gesehen dient der vorliegend beanstandete (wahre) Hinweis vorab der besseren Information des Konsumenten über eine für dessen Kaufentscheid nicht unbedeutsame Frage. Gegenüber diesem qualifizierten Informationsbedürfnis kommt der Befürchtung, dass der Konsument durch den streitigen Hinweis bezüglich der Eigenschaften gleichwertiger anderer Fruchtsäfte, deren Packungsaufschrift keinen solchen Vermerk enthält, allenfalls zu falschen Vorstellungen verleitet werden könnte, bloss untergeordnetes Gewicht zu. Sie vermag eine sich auf das Täuschungsverbot stützende behördliche Intervention nicht zu rechtfertigen. So zu entscheiden liegt umso näher, als - wie den Akten zu entnehmen ist - heute auch andere Anbieter von Orangensaft in den Packungsaufschriften auf das Fehlen von Zuckerzugabe ausdrücklich hinweisen, ohne dass dagegen, soweit ersichtlich, eingeschritten worden wäre. Zusammenfassend ergibt sich, dass sich die beanstandeten Packungsaufschriften noch im Rahmen des dem Anbieter zuzugestehenden Gestaltungsspielraumes halten. | de |
a367a88d-5149-4ad0-a767-9306d6bd3cab | Sachverhalt
ab Seite 30
BGE 88 III 28 S. 30
A.-
In dem am 21. Dezember 1959 eröffneten Konkurs über die Parkhof AG in Basel fassten die Gläubiger auf Antrag des ausseramtlichen Konkursverwalters Eugen D. Merki vom 1. September 1961 auf dem Zirkularwege den Beschluss, die Konkursverwaltung sei zu ermächtigen, das Hauptaktivum der Masse, die Liegenschaft Sektion IV Parzelle 6723 des Grundbuchs Basel-Stadt, Aeschengraben 21, nach rechtskräftiger Entscheidung über Bestand oder Nichtbestand der daran geltend gemachten Grundpfandrechte freihändig zu verkaufen. Auf Beschwerde des Konkursgläubigers Dr. G. Bollag hob die kantonale Aufsichtsbehörde diesen Beschluss mit Entscheid vom 14. Oktober 1961 als verfrüht auf. Das Bundesgericht wies den Rekurs des Konkursverwalters am 9. November 1961 ab.
B.-
Am 6. Dezember 1961 teilte Dr. Bollag dem Substituten des Konkursverwalters mündlich mit, ein Zürcher Rechtsanwalt habe einen solventen Käufer an der Hand, der bereit sei, für die Liegenschaft Aeschengraben 21 den Betrag von 12 Millionen Franken zu bezahlen, d.h. soviel, dass sämtliche angemeldeten Forderungen samt Zins gedeckt seien. Er verlangte vom Konkursverwalter unter Berufung auf das Einverständnis aller Aktionäre der Parkhof AG, dass er die Liegenschaft ohne vorherige Begrüssung der Gläubiger an den erwähnten Interessenten verkaufe. Der Konkursverwalter lehnte dieses Vorgehen mit Schreiben vom 7. Dezember 1961 als rechtswidrig und den Beschwerdeentscheiden vom 14. Oktober und 9. November 1961 widersprechend ab mit dem Bemerken, auch Dr. Bollag werde zu gegebener Zeit Gelegenheit erhalten, eine Kaufsofferte einzureichen. Nachdem ihm dieser am
BGE 88 III 28 S. 31
14. Dezember 1961 ein schriftliches Kaufsangebot von Rechtsanwalt Dr. X. in Zürich zum Preise von Fr. 12'220,000.-- vorgelegt und ihn aufgefordert hatte, bis zum 18. Dezember 1961 seine Bereitschaft zu erklären, den Freihandverkauf zu den von Dr. X. genannten Bedingungen durchzuführen, bestätigte er mit Schreiben vom 18. Dezember 1961 seinen ablehnenden Bescheid vom 7. Dezember.
C.-
Hierauf führte Dr. Bollag am 19. Dezember 1961 im eigenen Namen sowie namens der Konkursgläubigerin Hans Seligman-Schürch & Co., des einzigen Verwaltungsrats der Parkhof AG, Franz Klarer, und "sämtlicher Aktionäre der Parkhof AG" Beschwerde mit dem Antrag:
"Es sei der Konkursverwalter anzuweisen, sofort den freihändigen Verkauf der Liegenschaft Aeschengraben 21 ... mit Herrn Dr. X., Rechtsanwalt in Zürich, namens und für Rechnung einer noch zu gründenden Immobiliengesellschaft, zum Kaufpreis von Fr. 12'220,000.--, inklusive allfälliger Vermittlungsprovisionen und der Handänderungssteuer sowie der Notariats- und Grundbuchgebühren, abzuschliessen, unter der Bedingung, dass Herr Dr. X. den Finanzausweis über die Zahlungsfähigkeit seiner Gruppe für den Kaufpreis erbringt und die Kosten der Konkursverwaltung, die durch die Vorkehrungen zum Abschluss des Vertrages entstehen, sicherstellt." | de |
3353e09a-ecfe-4d7b-acc0-c25575e34082 | Sachverhalt
ab Seite 21
BGE 103 III 21 S. 21
A.-
Die Füllemann und Dr. Rauber AG als ausseramtliche Konkursverwaltung im Konkurs der K. & Co. gelangte mit Rundschreiben vom 4. März 1977 an die Konkursgläubiger und beantragte ihnen, dem im Expropriationsstreit der Gemeinschuldnerin gegen den Kanton Aargau vom Gläubigerausschuss unter Genehmigungsvorbehalt abgeschlossenen Vergleich zuzustimmen. Danach verpflichtete sich der Expropriant, der Konkursmasse eine Entschädigung von Fr. 1'800'232.-- zu bezahlen. Hinsichtlich der Zustimmung zum Vergleich enthält das Zirkular folgenden Passus:
BGE 103 III 21 S. 22
"Wir bitten Sie, den beigelegten Stimmzettel mit JA oder NEIN auszufüllen und ihn an die a.a. Konkursverwaltung zurückzusenden.
Stillschweigen, also Nichtrücksendung, gilt als Zustimmung zum gestellten Antrag. Stimmt auf diese Weise die Mehrheit der Gläubiger innert 10 Tagen zu, so ist der Vergleich rechtskräftig und der Prozess wird damit abgeschrieben.
Stimmt aber die Mehrheit der Gläubiger innert 10 Tagen mit NEIN, oder verlangen ein oder mehrere Gläubiger, ebenfalls innert 10 Tagen, die Abtretung des streitigen Rechtsanspruchs nach
Art. 260 SchKG
, so fällt der Vergleich dahin. Die Abtretung kann nur erfolgen, wenn der oder die betreffenden Gläubiger der Konkursmasse die Vergleichssumme von Fr. 1'800'232.-- anbieten. Der Vergleichsbetrag muss dabei mit Bar- oder genügender Bank-Kaution sichergestellt werden."
Ein Exemplar des Zirkulars sandte die Konkursverwaltung am 10. März 1977 auch an K., den unbeschränkt haftenden Gesellschafter der Gemeinschuldnerin, wobei sie für diesen die Frist zur Stimmabgabe und zur Einreichung des Abtretungsbegehrens bis zum 21. März 1977 verlängerte.
Von 436 Gläubigern stimmten - ausdrücklich oder stillschweigend - 378 dem Vergleich zu.
B.-
Am 21. März 1977 beschwerte sich K. beim Gerichtspräsidium Aarau als unterer Aufsichtsbehörde über Schuldbetreibung und Konkurs mit dem Antrag, die Fristansetzung an ihn sowie der auf Grund des Zirkulars gefasste Gläubigerbeschluss seien aufzuheben und die Konkursverwaltung sei anzuweisen, ihre Anträge zum Vergleich mit dem Kanton Aargau der zweiten, eventuell einer ausserordentlichen Gläubigerversammlung zu unterbreiten. Mit Entscheid vom 23. Mai 1977 wies das Gerichtspräsidium die Beschwerde ab.
Hierauf gelangte K. an die Schuldbetreibungs- und Konkurskommission des Obergerichts des Kantons Aargau, wobei er nunmehr beantragte, das Enteignungsverfahren sei gerichtlich durchzuführen und die im Vergleich zustandegekommene Lösung sei zu annullieren; eventuell sei die Frist zur Beschaffung der Vergleichssumme von 1,8 Millionen Franken bis zum 15. August 1977 zu erstrecken. Mit Entscheid vom 12. Juli 1977 wies das Obergericht die Beschwerde ab, soweit es darauf eintrat.
C.-
Mit dem vorliegenden Rekurs an die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer des Bundesgerichts stellt K. folgende Anträge:
"1. Der Prozess der Firma K. & Co. gegen den Kanton Aargau betreffend Enteignungsentschädigung sei gerichtlich durchzuführen
BGE 103 III 21 S. 23
und der vom Gläubigerausschuss abgeschlossene Vergleich sei aufzuheben.
2. Eventuell sei der auf Grund des Zirkulars der Konkursverwaltung vom 4. März 1977 gefasste Beschluss der Gläubiger betreffend den Vergleich mit dem Staat Aargau aufzuheben und die Konkursverwaltung sei anzuweisen, ihre Anträge zum Vergleich mit dem Staat Aargau einer ausserordentlichen Gläubigerversammlung zu unterbreiten." Die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer weist den Rekurs ab, soweit sie darauf eintritt. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Der Rekurrent hat im Konkurs der K. & Co. keine Forderung eingegeben. Er tritt im vorliegenden Beschwerdeverfahren vielmehr einzig als unbeschränkt haftender Gesellschafter der Gemeinschuldnerin auf. Nach der Praxis ist der Gemeinschuldner befugt, Gläubigerbeschlüsse über die Verwertung mit Beschwerde anzufechten, wenn sie in seine gesetzlich geschützten Rechte und Interessen eingreifen, was namentlich dann der Fall ist, wenn sie gegen gesetzliche Vorschriften über das Verwertungsverfahren verstossen und dadurch sein Interesse an der Erzielung eines möglichst günstigen Verwertungserlöses verletzen. Dass die angefochtene Verwertungsmassnahme unangemessen sei, kann er jedoch nicht geltend machen; die Aufsichtsbehörden haben bei einer Beschwerde des Schuldners lediglich die Gesetzmässigkeit des Gläubigerbeschlusses zu überprüfen (
BGE 101 III 44
,
BGE 95 III 28
/29,
BGE 94 III 88
/89,
BGE 88 III 34
/35, 77,
BGE 85 III 180
). In diesem beschränkten Ausmass ist der Rekurrent als Vertreter der Gemeinschuldnerin und als deren unbeschränkt haftender Gesellschafter zur Beschwerde legitimiert.
2.
Auf den Antrag, das Enteignungsverfahren gegen den Kanton Aargau sei gerichtlich weiterzuführen und der vom Gläubigerausschuss abgeschlossene Vergleich sei aufzuheben, kann indessen nicht eingetreten werden. Der Abschluss eines Vergleichs durch die Konkursverwaltung bzw. den Gläubigerausschuss ist eine rechtsgeschäftliche Handlung und nicht eine auf staatlicher Vollstreckungsgewalt beruhende konkursrechtliche Verfügung. Er unterliegt daher nicht der Anfechtung durch Beschwerde (
BGE 102 III 84
, FRITZSCHE, Schuldbetreibung
BGE 103 III 21 S. 24
und Konkurs, 2. Aufl., Bd. 1, S. 42). Im übrigen könnte die Angemessenheit des Vergleichs nach dem in E. 1 Gesagten ohnehin nicht überprüft werden.
Abgesehen davon ist die Vorinstanz auf diesen Antrag deswegen nicht eingetreten, weil er im Sinne des kantonalen Verfahrensrechts neu war. Die Kritik des Rekurrenten an dieser Begründung ist nicht zu hören. Denn die Anwendung des kantonalen Rechts, das für das Beschwerdeverfahren im Kanton massgebend ist (
BGE 102 III 13
, mit Hinweisen), ist der Überprüfung durch das Bundesgericht entzogen (Art. 43 Abs. 1 in Verbindung mit
Art. 81 OG
). War der Antrag aber im kantonalen Verfahren unzulässig, so hat er vor Bundesgericht im Sinne von
Art. 79 Abs. 1 OG
als neu zu gelten, so dass auch aus diesem Grund nicht darauf einzutreten ist.
3.
Mit seinem Eventualantrag verlangt der Rekurrent die Aufhebung des auf Grund des Zirkulars der Konkursverwaltung gefassten Gläubigerbeschlusses. Er beruft sich auf
Art. 207 SchKG
und behauptet damit erstmals vor Bundesgericht eine Gesetzesverletzung. Vor den kantonalen Aufsichtsbehörden hatte er sich damit begnügt, Unangemessenheit des Vorgehens und des Zirkularbeschlusses geltend zu machen. Das Vorbringen neuer rechtlicher Gesichtspunkte schadet jedoch dem Rekurrenten nicht (vgl.
BGE 98 II 118
E. 4c, 194,
BGE 96 II 260
E. 3a, hinsichtlich Art. 55 Abs. 1 lit. OG).
Art. 207 Abs. 1 SchKG
schreibt vor, dass mit Ausnahme dringlicher Fälle Zivilprozesse, in welchen der Gemeinschuldner Kläger oder Beklagter ist, eingestellt werden und erst 10 Tage nach der 2. Gläubigerversammlung wieder aufgenommen werden können. Es ist im vorliegenden Fall nicht bestritten, dass das vor der Eidgenössischen Schätzungskommission anhängige Enteignungsverfahren als "Zivilprozess" im Sinne dieser Bestimmung betrachtet werden kann (vgl.
BGE 100 Ia 302
/303), so dass grundsätzlich von dieser Regel auszugehen ist. Der Rekurrent betrachtet sie deswegen als verletzt, weil Konkursverwaltung und Gläubigerausschuss den fraglichen Prozess durch einen seines Erachtens unbefriedigenden Vergleich zum Abschluss gebracht hätten, ohne dieses Vorgehen durch die 2. Gläubigerversammlung oder eine ausserordentliche Gläubigerversammlung diskutieren zu lassen. Die Konkursverwaltung vertrete die erstaunliche Ansicht, dass durch die Wahl eines Gläubigerausschusses wegen
BGE 103 III 21 S. 25
Art. 237 Abs. 3 Ziff. 3 SchKG
automatisch
Art. 207 SchKG
ausser Kraft gesetzt werde. Doch könne sich
Art. 237 SchKG
nicht auf Prozesse der vorliegenden Art beziehen, sondern bis zur 2. Gläubigerversammlung nur auf Kollokationsprozesse.
Diese Auffassung ist jedoch nicht haltbar. Es steht fest und wird auch vom Rekurrenten nicht bestritten, dass ein Gläubigerausschuss gewählt worden ist und dass dessen Befugnisse von der 1. Gläubigerversammlung in keiner Weise beschränkt worden sind. Unter diesen Umständen stehen ihm sämtliche in Art. 237 Abs. 3 Ziff. 1-5 genannten Befugnisse zu, also auch das Recht, die Konkursverwaltung zum Abschluss von Vergleichen zu ermächtigen (
BGE 51 III 162
,
BGE 39 I 533
; FRITZSCHE, a.a.O. Bd. 2, S. 131; FAVRE, Droit des poursuites, 3. Aufl., S. 320). Nach einer bereits alten Rechtsprechung bezieht sich diese Befugnis des Gläubigerausschusses auf alle Streitigkeiten, welche im Verlauf des Konkursverfahrens entstehen und in denen die Masse als Partei auftreten kann, somit nicht nur auf Kollokationsstreitigkeiten, sondern auch auf solche über zum Konkurssubstrat gehörende Vermögensrechte (
BGE 39 I 533
; JAEGER, N. 16 zu
Art. 237 SchKG
).
Es ist nicht einzusehen, weshalb sich das Vergleichsabschlussrecht des Gläubigerausschusses nicht auch auf bereits im Zeitpunkt der Konkurseröffnung hängige Prozesse beziehen sollte. Der Gläubigerausschuss hat die Interessen sämtlicher Gläubiger wahrzunehmen. Hält er in pflichtgemässer Abwägung der Prozessaussichten einen Vergleich als im Interesse der Konkursmasse und damit der Gläubiger liegend, so steht dem Abschluss eines solchen Vergleichs weder
Art. 207 SchKG
noch eine andere Bestimmung entgegen. Der Rekurrent bringt denn auch nichts vor, was gegen diese Auffassung spräche. In dem von ihm zitierten
BGE 86 III 128
hat das Bundesgericht zwar ausgeführt, jedenfalls in der Regel habe die Gläubigerversammlung selbst (bzw. die Gläubigergesamtheit durch Zirkularbeschluss) über den Abschluss eines Vergleichs zu befinden. Dabei ging es jedoch einzig um die Frage, ob die Konkursverwaltung ausnahmsweise von sich aus einen Vergleich abschliessen dürfe, und das Vergleichsabschlussrecht des Gläubigerausschusses gemäss
Art. 237 Abs. 3 Ziff. 3 SchKG
wurde ausdrücklich vorbehalten. Im übrigen wurde der Vergleich im vorliegenden Fall den Gläubigern ja unterbreitet und ihnen die Abtretung des Anspruches im Sinne von
BGE 103 III 21 S. 26
Art. 260 SchKG
angeboten, so dass die Berufung auf den erwähnten Entscheid ohnehin fehlgeht.
4.
Dass Gläubigerbeschlüsse auch auf dem Zirkularweg gefasst werden dürfen, entspricht ständiger Praxis (
BGE 101 III 77
E. 2, mit Hinweisen,
BGE 71 III 137
E. 2). Der Rekurrent führt keine Gründe an, weshalb im vorliegenden Fall von dieser Praxis, die für die Gläubiger insgesamt nicht nachteilig ist und in der Regel erhebliche Kosten einspart, abgewichen werden sollte. Der Konkursverwaltung kann deshalb keine Gesetzwidrigkeit vorgeworfen werden. Ob ihr Vorgehen den Verhältnissen angemessen war, kann das Bundesgericht bei der Beurteilung eines Rekurses im Sinne von
Art. 19 SchKG
nicht überprüfen (
BGE 101 III 77
; vgl. auch E. 1 hievor). Gleich verhält es sich mit der Frage der Angemessenheit der Frist für die Stellung von Abtretungsbegehren (die für den Rekurrenten persönlich übrigens auf Gesuch hin erstreckt wurde). | de |
45bff32a-854a-46b2-abeb-4aa8b500ac6e | Sachverhalt
ab Seite 243
BGE 143 V 241 S. 243
A.
Die 1970 geborene A. war von 1997 bis 2007 mit dem 1966 geborenen B. verheiratet. Dieser bezog aufgrund einer chronisch paranoiden Schizophrenie seit 1. November 1999 eine ganze Rente der Invalidenversicherung nebst einer Zusatzrente für die Ehefrau und einer Kinderrente für den gemeinsamen, 1997 geborenen Sohn (Verfügung vom 4. Oktober 2000). Mit Mitteilung vom 13. Oktober 2005 bestätigte die IV-Stelle des Kantons Aargau revisionsweise den weiteren Anspruch auf eine ganze Rente. Wegen der Scheidung im Jahr 2007 berechnete sie deren Höhe neu. Zusätzlich hielt sie fest, in Umsetzung des rechtskräftigen Scheidungsurteils werde die Kinderrente ganz und die Invalidenrente teilweise an A. ausbezahlt (Verfügung vom 7. Juni 2007). Im Rahmen einer weiteren Revision teilte die IV-Stelle B. am 28. März 2008 einen unveränderten Anspruch auf die Invalidenrente mit.
Anlässlich einer revisionsweisen Überprüfung des Leistungsanspruchs im August 2014 stellte die IV-Stelle nach eigenen Abklärungen fest, dass B. seit 2005 rentenausschliessende Erwerbseinkommen erzielte, was er der Invalidenversicherung nicht gemeldet hatte. Sie stellte daher die rückwirkende Aufhebung der Invalidenrente auf den 31. Dezember 2004 in Aussicht (Vorbescheid vom 6. Mai 2015 mit Kopie an A.). Mit je zwei Schreiben vom 21. Mai 2015 kündigte die IV-Stelle B. und A. die Rückforderung der seit Juni 2010 zu Unrecht ausgerichteten Leistungen an. A. führte mit Eingabe vom 29. Mai 2015 aus, nicht rückerstattungspflichtig zu sein. Am 15. Juni 2015 verfügte die IV-Stelle die rückwirkende Aufhebung des Rentenanspruchs auf den 31. Dezember 2004 gegenüber B. mit Kopie an A. Dieser Entscheid wurde rechtskräftig. Mit Verfügung vom 13. Juli 2015 forderte die IV-Stelle von B. den Betrag von Fr. 58'457.- und von A. mit einer undatierten Verfügung Fr. 55'288.- zurück. Die Summe setzt sich aus einem Anteil der Invalidenrente und der Kinderrente für die Zeit vom 1. Juni 2010 bis 31. Oktober 2014 zusammen.
B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 9. Dezember 2015 ab.
C.
A. lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und die Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids beantragen.
BGE 143 V 241 S. 244
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Mit Eingabe vom 20. April 2016 lässt sich die Beschwerdeführerin nochmals vernehmen. Das vom Bundesgericht zur Stellungnahme aufgeforderte Bundesamt für Sozialversicherungen schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Die Beschwerdeführerin reicht hierzu am 26. Januar 2017 eine Stellungnahme ein.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
2.1
Streitig und zu prüfen ist, ob die Beschwerdeführerin für Invaliden- und Kinderrentenleistungen in der unbestritten gebliebenen Höhe von Fr. 55'288.- rückerstattungspflichtig ist.
2.2
2.2.1
Nach
Art. 20 Abs. 1 ATSG
können Geldleistungen ganz oder teilweise einem geeigneten Dritten oder einer Behörde ausbezahlt werden, der oder die der berechtigten Person gegenüber gesetzlich oder sittlich unterstützungspflichtig ist oder diese dauernd fürsorgerisch betreut, sofern die berechtigte Person die Geldleistungen nicht für den eigenen Unterhalt oder für den Unterhalt von Personen, für die sie zu sorgen hat, verwendet oder dazu nachweisbar nicht im Stande ist (lit. a) und die berechtigte Person oder Personen, für die sie zu sorgen hat, aus einem Grund nach Buchstabe a auf die Hilfe der öffentlichen oder privaten Fürsorge angewiesen sind (lit. b). Nach dem Wortlaut von
Art. 20 Abs. 1 lit. a ATSG
kommen daher nur Personen oder Behörden in Frage, die gegenüber der rentenberechtigten Person unterstützungspflichtig sind oder diese dauernd betreuen.
2.2.2
Unrechtmässig bezogene Leistungen sind sodann zurückzuerstatten (
Art. 25 Abs. 1 Satz 1 ATSG
), wobei nebst dem Bezüger oder der Bezügerin auch Dritte oder Behörden, mit Ausnahme des Vormundes oder der Vormundin, denen Geldleistungen zur Gewährleistung zweckgemässer Verwendung nach
Art. 20 ATSG
oder den Bestimmungen der Einzelgesetze ausbezahlt wurden, rückerstattungspflichtig sind (
Art. 2 Abs. 1 lit. a und b ATSV
[SR 830.11]).
3.
3.1
Das kantonale Gericht erwog, mit Scheidungsurteil des damaligen Kreisgerichts C. vom 13. März 2007 sei B. verpflichtet worden, der Beschwerdeführerin nachehelichen Unterhalt in der Höhe von
BGE 143 V 241 S. 245
monatlich Fr. 430.- und für den gemeinsamen Sohn Unterhalt in der Höhe der jeweiligen Kinderrente der Invalidenversicherung sowie der Kinderpension der Pensionskasse zu leisten. Das Gericht habe die Ausgleichskasse der Privatkliniken Schweiz angewiesen, die Kinderrente und den (bis 31. Mai 2013 befristeten) nachehelichen Unterhaltsbeitrag direkt an die Beschwerdeführerin auszurichten. Diese Schuldneranweisung nach Art. 291 bzw.
Art. 132 Abs. 1 ZGB
stelle rechtsprechungsgemäss eine privilegierte Zwangsvollstreckungsmassnahme sui generis dar. Bei der Umsetzung des Scheidungsurteils durch die IV-Stelle mittels Verfügungen vom 7. Juni 2007 habe diese als Anordnung einer Drittauszahlung (nach
Art. 20 ATSG
und
Art. 35 Abs. 4 IVG
) festgehalten, dass Fr. 430.- monatlich vom Anspruch auf Invalidenrente sowie die Kinderrente an die Beschwerdeführerin ausbezahlt würden, was unangefochten geblieben sei. Als Begünstigte einer rechtskräftig festgesetzten Drittauszahlung sei die Beschwerdeführerin rückerstattungspflichtig (
Art. 2 Abs. 1 lit. b ATSV
). Daran ändere nichts, dass die IV-Stelle die Befristung des nachehelichen Unterhalts per 31. Mai 2013 nicht nachvollzogen habe. Die Frage der Meldepflichtverletzung sei in diesem Verfahren schliesslich ohne Belang, nachdem die am 15. Juni 2015 verfügte rückwirkende Rentenaufhebung unangefochten in Rechtskraft erwachsen sei.
3.2
Die Beschwerdeführerin wendet dagegen ein, die Rechtsgrundlage der Direktzahlungen sei zivil- bzw. vollstreckungsrechtlicher Natur. Es liege, entgegen den Darlegungen im angefochtenen Entscheid, keine Drittauszahlung im Sinne von
Art. 20 ATSG
oder
Art. 35 Abs. 4 IVG
vor, weshalb sich eine Rückerstattungspflicht auch nicht auf
Art. 2 Abs. 1 lit. b ATSV
stützen liesse. Zwischen der Invalidenversicherung und ihr habe kein gesondertes, sozialversicherungsrechtliches Verhältnis bestanden. Die Verfügungen vom 7. Juni 2007 regelten einzig die Auszahlungsmodalitäten. Die Beschwerdeführerin sei lediglich Inkasso- bzw. Zahlstelle für die Erfüllung der eigenen, familienrechtlichen Unterhaltsansprüche und jener ihres Sohnes gewesen. Eine eigene Meldepflichtverletzung könne ihr nicht vorgeworfen werden.
4.
4.1
Zunächst ist die Rückerstattungspflicht der Beschwerdeführerin hinsichtlich ihres Anteils an der Invalidenrente ihres geschiedenen Ehegatten von Fr. 430.- monatlich zu beurteilen.
BGE 143 V 241 S. 246
4.2
Die Invalidenrente des ehemaligen Ehemannes wurde rechtskräftig aufgrund einer Meldepflichtverletzung auf den 31. Dezember 2004 aufgehoben, nachdem dieser es versäumt hatte, der IV-Stelle die Erzielung rentenausschliessender Erwerbseinkommen seit 2005 zu melden (Verfügung vom 15. Juni 2015). Damit wurde die Rente seither zu Unrecht bezogen.
4.3
Die Auszahlung der Invalidenrente in der Höhe von Fr. 430.- an die Beschwerdeführerin erfolgte gestützt auf eine zivilgerichtliche Anordnung (nach
Art. 132 Abs. 1 ZGB
) in einem rechtskräftig gewordenen Scheidungsurteil. Die Anordnung des Zivilgerichts wurde unbestrittenermassen von der IV-Stelle umgesetzt und zum damaligen Zeitpunkt von keiner Seite als rechtswidrig angesehen. Es kann offengelassen werden, ob eine gestützt auf
Art. 132 Abs. 1 ZGB
angeordnete Schuldneranweisung gegenüber den sozialversicherungsrechtlichen Drittauszahlungstatbeständen vorbehalten bleibt, was in der Lehre mehrheitlich bejaht wird (siehe die kritische Auseinandersetzung mit dem Urteil 5P.474/2005 vom 8. März 2006 mit Hinweis auf weitere Literatur: MARTINA PATRICIA STEINER, Die Anweisungen an die Schuldner, Luzerner Beiträge an die Rechtswissenschaft [LBR], 2015, S. 80 N. 244 ff. und UELI KIESER, ATSG-Kommentar, 3. Aufl. 2015, N. 38 zu
Art. 20 ATSG
unter Hinweis auf
BGE 119 V 425
E. 6 S. 430). Es steht nicht die Rechtmässigkeit der Drittauszahlung, sondern einzig die Rechtmässigkeit der Rückforderung der ausgerichteten Rentenbetreffnisse im Raum.
4.4
Unbestritten ist, dass eine Drittauszahlung an die unterstützungsberechtigte Beschwerdeführerin gestützt auf
Art. 20 Abs. 1 ATSG
nicht möglich gewesen wäre, da sie ihrem geschiedenen Ehegatten gegenüber nicht - wie im Ingress von Abs. 1 dieser Norm verlangt wird - unterstützungspflichtig ist oder ihn dauernd fürsorgerisch betreut. Nichts anderes lässt sich aus dem Urteil 5P.474/2005 vom 8. März 2006 ableiten, welches die IV-Stelle in ihrer Vernehmlassung vom 8. März 2016 zitiert. Dieses Urteil hatte sich im Rahmen der staatsrechtlichen Beschwerde mit der Auslegung von
Art. 20 Abs. 1 ATSG
zu befassen und darin zu klären, ob eine wörtliche Auslegung von
Art. 20 Abs. 1 ATSG
, wie sie die Vorinstanz vornahm, das Gleichheitsgebot (
Art. 8 BV
) sowie den Grundsatz von Treu und Glauben (
Art. 9 BV
) verletzt, was verneint wurde. Denn aus der Entstehungsgeschichte, aber auch aus dem Zusammenhang mit anderen Normen könne ohne Willkür geschlossen werden,
Art. 20 Abs. 1 ATSG
sei wortgetreu auszulegen. Ob damit zivilrechtliche
BGE 143 V 241 S. 247
Anweisungen einer Drittauszahlung nur bei einer ausdrücklichen sozialversicherungsrechtlichen Auszahlungsbestimmung möglich sein sollen, lässt sich dem Urteil vom 8. März 2006 nicht entnehmen.
4.5
Weiter wurde mit der Anordnung im Scheidungsurteil kein eigenständiger Anspruch auf einen Teil der Invalidenrente des Leistungsberechtigten oder auf die Kinderrente im Sinne eines Gläubigerwechsels begründet, sondern lediglich der Zahlungsmodus geregelt (Urteil 8C_625/2012 vom 1. Juli 2013 E. 3.2). Auf der Grundlage dieser Schuldneranweisung kann die Beschwerdeführerin die Drittauszahlung an sich selber verlangen (vgl. SVR 2009 UV Nr. 42 S. 145, 8C_192/2008 vom 8. April 2009 E. 4.3). Der Leistungsanspruch auf Invaliden- und Kinderrente bleibt invalidenversicherungsrechtlicher Natur und stand zu keinem Zeitpunkt der Beschwerdeführerin zu. Ihre im Scheidungsurteil bis 31. Mai 2013 befristeten zivilrechtlichen Unterhaltsansprüche und diejenigen des gemeinsamen Sohnes richten sich denn auch nicht an die Invalidenversicherung, sondern bestehen nur gegenüber dem Unterhaltsverpflichteten, gegen welchen allein allfällige zivilrechtliche Ansprüche durchzusetzen sind oder Rückgriff zu nehmen ist. Fehlt es in der Folge rückwirkend am sozialversicherungsrechtlichen Leistungsanspruch des im Zeitpunkt des Erlasses des Scheidungsurteils noch Rentenberechtigten, kann auch die zivilrechtliche Auszahlungsordnung nicht mehr zum Tragen kommen, und die Anordnung des Zivilgerichts verliert ihre Wirkung (vgl. bereits erwähntes Urteil 8C_625/2012 vom 1. Juli 2013 E. 3.2 ff.).
4.6
4.6.1
Hieraus ergibt sich, dass durch die Anordnung im Scheidungsurteil lediglich ein Anspruch auf Drittauszahlung der Stammrente in der Höhe von Fr. 430.- entstand. Die Beschwerdeführerin war zwar nicht bloss eine reine Inkasso- bzw. Zahlstelle, aber auch zu keinem Zeitpunkt Rentenberechtigte oder -bezügerin. Damit fehlt es an einer rechtlichen Grundlage für die Rückforderung, da die Beschwerdeführerin nicht unter den von
Art. 25 Abs. 1 Satz 1 ATSG
und
Art. 2 Abs. 1 ATSV
gezogenen Kreis der Rückerstattungspflichtigen fällt. Dies trifft zumindest so lange zu, als ein Unterhaltsanspruch gemäss Scheidungsurteil bestand. Dieser wurde, wie erwähnt, auf Ende Mai 2013 befristet. Bezüglich des ihr ausgerichteten Anteils an der zu Unrecht dem geschiedenen Ehegatten zugesprochenen Invalidenrente ist die Beschwerdeführerin daher für die bis 31. Mai 2013 ausgerichteten Rentenbetreffnisse nicht rückerstattungspflichtig. Die
BGE 143 V 241 S. 248
zivilgerichtliche Anordnung (Anspruch auf Drittauszahlung mit entsprechender Schuldneranweisung) steht einer sozialversicherungsrechtlichen Rückforderungsmöglichkeit nach
Art. 25 Abs. 1 ATSG
entgegen.
4.6.2
Wie die Vorinstanz feststellte, unterliess es die IV-Stelle, den im Scheidungsurteil vom 13. März 2007 auf Ende Mai 2013 befristeten Unterhaltsanspruch der Beschwerdeführerin nachzuvollziehen und richtete darüber hinaus den monatlichen Stammrentenanteil von Fr. 430.- bis 31. Oktober 2014 weiter aus. Nachdem es damit an einer Rechtsgrundlage für den Leistungsbezug des Anteils an der Stammrente ab 1. Juni 2013 fehlt, sind diese empfangenen Rentenleistungen in der Höhe von Fr. 7'310.- (1. Juni 2013 bis 31. Oktober 2014 à Fr. 430.- im Monat) widerrechtlich bezogen und nach
Art. 25 Abs. 1 Satz 1 ATSG
zurückzuerstatten.
5.
5.1
Weiter wird die Rückforderung der Kinderrente als unrechtmässig angesehen.
Die Kinderrente dient dem Unterhalt des Kindes (
BGE 103 V 131
E. 3 S. 134; SVR 2001 IV Nr. 39 S. 117, I 12/00 vom 9. April 2001 E. 4d; Urteil 5P.346/2006 vom 12. Oktober 2006 E. 3.3). Die Drittauszahlungsregelung nach
Art. 35 Abs. 4 IVG
soll diesen Zweck sicherstellen. Gemäss
Art. 35 Abs. 4 Satz 1 IVG
wird die Kinderrente wie die Rente ausbezahlt, zu der sie gehört, mithin grundsätzlich an den rentenberechtigten Elternteil. Vorbehalten bleiben die Bestimmungen über die zweckmässige Verwendung (
Art. 20 ATSG
) und abweichende zivilrichterliche Anordnungen (
Art. 35 Abs. 4 Satz 2 IVG
). Der Bundesrat kann die Auszahlung für Sonderfälle in Abweichung von
Art. 20 ATSG
regeln, namentlich für Kinder aus getrennter oder geschiedener Ehe (
Art. 35 Abs. 4 Satz 3 IVG
). Gestützt auf diese Delegation hat der Bundesrat in
Art. 82 IVV
(SR 831.201) festgelegt, dass für die Auszahlung der Renten sowie der Hilflosenentschädigung für Volljährige unter anderem
Art. 71
ter
AHVV
(SR 831.101) sinngemäss gilt. Dessen Absatz 1 lautet: "Sind die Eltern des Kindes nicht oder nicht mehr miteinander verheiratet oder leben sie getrennt, ist die Kinderrente auf Antrag dem nicht rentenberechtigten Elternteil auszuzahlen, wenn diesem die elterliche Sorge über das Kind zusteht und es bei ihm wohnt. Abweichende vormundschaftliche oder zivilrichterliche Anordnungen bleiben vorbehalten."
5.2
Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin ist sie ebenfalls bezüglich der Kinderrente keine reine Inkasso- bzw. Zahlstelle.
BGE 143 V 241 S. 249
Vielmehr liegt gestützt auf die dargelegten Verordnungs- und Gesetzesbestimmungen - mithin aufgrund einer von der Beschwerdeführerinbeantragten zivilrichterlichen Anordnung - eine Drittauszahlung derKinderrente an die mit der elterlichen Sorge betrauten Beschwerdeführerin vor (
Art. 35 Abs. 4 IVG
). Die Hauptrente des früheren Ehemannes wurde wegen seiner Meldepflichtverletzung rückwirkend auf Ende Dezember 2004 aufgehoben und ab diesem Zeitpunkt zu Unrecht bezogen. Als zur Stammrente akzessorische Leistung gilt dies auch für die Kinderrente, die das Schicksal der Hauptrente teilt.Mit Vorinstanz und Verwaltung ist die Beschwerdeführerin dementsprechend gestützt auf
Art. 25 Abs. 1 ATSG
in Verbindung mit
Art. 2 Abs. 1 lit. b ATSV
und
Art. 35 Abs. 4 IVG
als gesetzliche Vertreterin des Sohnes bezüglich der zur Hauptrente akzessorischen Kinderrente in der Höhe von Fr. 32'498.- rückerstattungspflichtig (zitiertesUrteil 8C_625/2012 vom 1. Juli 2013 E. 5.2 und Urteil 9C_454/2012 vom 18. März 2013 E. 3, nicht publ. in:
BGE 139 V 106
). Die Beschwerdeführerin vermag nichts vorzubringen, was eine andere Betrachtungsweise rechtfertigen würde. Auch hier besteht eine Rückerstattungspflicht der Kinderrentenbetreffnisse, ohne dass die mit der elterlichen Sorge betraute Beschwerdeführerin selbst eine Meldepflichtverletzung begangen haben muss, nachdem die Stammrente gestützt auf eine Verletzung der Meldepflicht des Rentenberechtigten rückwirkend eingestellt wurde (vgl.
BGE 118 V 214
E. 2a ff. S. 218 ff.). Die Beschwerdeführerin ist nach dem Gesagten zur Rückerstattung der zu Unrecht erhaltenen Rentenleistungen im Umfang der Kinderrente von Fr. 32'498.- sowie des ab 1. Juni 2013 monatlich bezogenen Stammrentenanteils von insgesamt Fr. 7'310.- verpflichtet, woraus eine Rückforderungssumme von total Fr. 39'808.- resultiert. (...) | de |
23b1b6a8-fdaf-404d-a0e5-260db2913ad8 | 836.21 1 / 14 Verordnung über die Familienzulagen (Familienzulagenverordnung, FamZV) vom 31. Oktober 2007 (Stand am 1. Januar 2023) Der Schweizerische Bundesrat, gestützt auf die Artikel 4 Absatz 3, 13 Absatz 4, 21b Absatz 1, 21e und 27 Absatz 1 des Familienzulagengesetzes vom 24. März 20061 (FamZG),2 verordnet: 1. Abschnitt: Allgemeine Bestimmungen Art. 13 Ausbildungszulage (Art. 3 Abs. 1 Bst. b FamZG) 1 Ein Anspruch auf eine Ausbildungszulage besteht für Kinder, die eine Ausbildung im Sinne der Artikel 49bis und 49ter der Verordnung vom 31. Oktober 19474 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung absolvieren. 2 Als nachobligatorische Ausbildung gilt die Ausbildung, welche auf die obligatori- sche Schule folgt. Dauer und Ende der obligatorischen Schule richten sich nach den jeweiligen kantonalen Bestimmungen. Art. 2 Geburtszulage (Art. 3 Abs. 2 und 3 FamZG) 1 Ein Anspruch auf eine Geburtszulage besteht, wenn die kantonale Familienzulagen- ordnung eine Geburtszulage vorsieht. 2 Hat nur eine Person Anspruch auf die Geburtszulage, so wird sie ihr auch dann aus- gerichtet, wenn für das gleiche Kind eine andere Person in erster Linie Anspruch auf die Familienzulagen hat. 3 Die Geburtszulage wird ausgerichtet, wenn: a. ein Anspruch auf Familienzulagen nach dem FamZG besteht; und AS 2008 145 1 SR 836.2 2 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 8. Sept. 2010, in Kraft seit 15. Okt. 2010 (AS 2010 4495). 3 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 19. Juni 2020, in Kraft seit 1. Aug. 2020 (AS 2020 2779). 4 SR 831.101 836.21 Familienzulagen 2 / 14 836.21 b. die Mutter während der neun Monate unmittelbar vor der Geburt des Kindes Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt nach Artikel 13 des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 20005 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungs- rechts in der Schweiz hat; erfolgt die Geburt vorzeitig, so wird die erforderli- che Dauer des Wohnsitzes oder des gewöhnlichen Aufenthaltes in der Schweiz gemäss Artikel 27 der Verordnung vom 24. November 20046 zum Erwerbsersatzgesetz herabgesetzt. 4 Haben mehrere Personen für das gleiche Kind Anspruch auf eine Geburtszulage, so steht der Anspruch jener Person zu, die für dieses Kind Anspruch auf Familienzulagen hat. Ist die Geburtszulage der zweitanspruchsberechtigten Person höher, so hat diese Anspruch auf die Differenz. Art. 3 Adoptionszulage (Art. 3 Abs. 2 und 3 FamZG) 1 Ein Anspruch auf eine Adoptionszulage besteht, wenn die kantonale Familienzula- genordnung eine Adoptionszulage vorsieht. 2 Hat nur eine Person Anspruch auf die Adoptionszulage, so wird sie ihr auch dann ausgerichtet, wenn für das gleiche Kind eine andere Person in erster Linie Anspruch auf die Familienzulagen hat. 3 Die Adoptionszulage wird ausgerichtet, wenn: a. ein Anspruch auf Familienzulagen nach dem FamZG besteht; b.7 die Bewilligung zur Aufnahme des Kindes zur Adoption nach Artikel 4 der Adoptionsverordnung vom 29. Juni 20118 endgültig erteilt ist; und c. das Kind tatsächlich von den künftigen Adoptiveltern in der Schweiz aufge- nommen worden ist. 4 Haben mehrere Personen für das gleiche Kind Anspruch auf eine Adoptionszulage, so steht der Anspruch jener Person zu, die für dieses Kind Anspruch auf Familienzu- lagen hat. Ist die Adoptionszulage der zweitanspruchsberechtigten Person höher, so hat diese Anspruch auf die Differenz. Art. 4 Stiefkinder (Art. 4 Abs. 1 Bst. b FamZG) 1 Für Stiefkinder besteht ein Anspruch auf Familienzulagen, wenn das Stiefkind über- wiegend im Haushalt des Stiefelternteils lebt oder bis zu seiner Mündigkeit gelebt hat. 2 Als Stiefkinder gelten auch die Kinder der Partnerin oder des Partners im Sinne des Partnerschaftsgesetzes vom 18. Juni 20049. 5 SR 830.1 6 SR 834.11 7 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 19. Juni 2020, in Kraft seit 1. Aug. 2020 (AS 2020 2779). 8 SR 211.221.36 9 SR 211.231 Familienzulagenverordnung 3 / 14 836.21 Art. 5 Pflegekinder (Art. 4 Abs. 1 Bst. c FamZG) Für Pflegekinder besteht ein Anspruch auf Familienzulagen, wenn sie im Sinne von Artikel 49 Absatz 1 der Verordnung vom 31. Oktober 194710 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung unentgeltlich zu dauernder Pflege und Erziehung aufge- nommen worden sind. Art. 6 Geschwister und Enkelkinder; überwiegender Unterhalt (Art. 4 Abs. 1 Bst. d FamZG) Die bezugsberechtigte Person kommt in überwiegendem Mass für den Unterhalt auf, wenn: a. das Kind in ihrem Haushalt lebt und der von dritter Seite für den Unterhalt des Kindes bezahlte Betrag die maximale volle Waisenrente der AHV nicht übersteigt; oder b. sie an den Unterhalt des Kindes, das nicht in ihrem Haushalt lebt, einen Betrag von mindestens der maximalen vollen Waisenrente der AHV zahlt. Art. 711 Kinder im Ausland (Art. 4 Abs. 3 FamZG) 1 Für Kinder mit Wohnsitz im Ausland werden die Familienzulagen nur ausgerichtet, sofern zwischenstaatliche Vereinbarungen das vorschreiben. 1bis Bei Kindern, welche die Schweiz zu Ausbildungszwecken verlassen, wird wäh- rend höchstens fünf Jahren vermutet, dass sie weiterhin in der Schweiz Wohnsitz ha- ben. Diese Frist beginnt frühestens mit der Vollendung des 15. Altersjahres zu lau- fen.12 2 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die nach Artikel 1a Absatz 1 Buchstabe c o- der Absatz 3 Buchstabe a AHVG13 oder aufgrund einer zwischenstaatlichen Verein- barung obligatorisch in der AHV versichert sind, haben auch ohne staatsvertragliche Verpflichtung Anspruch auf Familienzulagen für Kinder mit Wohnsitz im Ausland. Art. 8 Kinder mit Wohnsitz im Ausland; Kaufkraftanpassung der Familienzulagen (Art. 4 Abs. 3 und 5 Abs. 3 FamZG) 1 Für die Anpassung der Familienzulagen an die Kaufkraft gelten folgende Ansätze: a. Beträgt die Kaufkraft im Wohnsitzstaat des Kindes mehr als zwei Drittel der Kaufkraft in der Schweiz, so werden 100 Prozent des gesetzlichen Mindest- betrags ausgerichtet. 10 SR 831.101 11 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 26. Okt. 2011, in Kraft seit 1. Jan. 2012 (AS 2011 4951). 12 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 19. Juni 2020, in Kraft seit 1. Aug. 2020 (AS 2020 2779). 13 SR 831.10 Familienzulagen 4 / 14 836.21 b. Beträgt die Kaufkraft im Wohnsitzstaat des Kindes mehr als ein Drittel, aber höchstens zwei Drittel der Kaufkraft in der Schweiz, so werden zwei Drittel des gesetzlichen Mindestbetrags ausgerichtet. c. Beträgt die Kaufkraft im Wohnsitzstaat des Kindes höchstens ein Drittel der Kaufkraft in der Schweiz, so wird ein Drittel des gesetzlichen Mindestbetrags ausgerichtet. 2 Als Wohnsitzstaaten gelten die vom Bundesamt für Statistik im Verzeichnis der Staaten und Gebiete aufgeführten Staaten.14 3 Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) ordnet die Wohnsitzstaaten auf- grund der Daten der Weltbank zum kaufkraftbereinigten Bruttonationaleinkommen pro Kopf den Gruppen nach Absatz 1 zu. Es überprüft die Zuordnung alle drei Jahre und passt sie bei Bedarf an. Massgebend sind die vier Monate zuvor von der Weltbank veröffentlichten Daten.15 4 Das BSV veröffentlicht in seinen Weisungen eine Liste der Wohnsitzstaaten mit de- ren Zuordnung zu den Gruppen nach Absatz 1.16 2. Abschnitt: Familienzulagenordnung für Erwerbstätige17 Art. 9 Zweigniederlassungen (Art. 12 Abs. 2 FamZG) Als Zweigniederlassungen gelten Einrichtungen und Betriebsstätten, in denen auf un- bestimmte Dauer eine gewerbliche, industrielle oder kaufmännische Tätigkeit ausge- übt wird. Art. 10 Dauer des Anspruchs nach Erlöschen des Lohnanspruchs; Koordination (Art. 13 Abs. 1, 2 und 4 FamZG) 1 Ist der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin aus einem der in Artikel 324a Ab- sätze 1 und 3 des Obligationenrechts (OR)18 genannten Gründe an der Arbeitsleistung verhindert, so werden die Familienzulagen nach Eintritt der Arbeitsverhinderung noch während des laufenden Monats und der drei darauf folgenden Monate ausgerichtet, auch wenn der gesetzliche Lohnanspruch erloschen ist. 14 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 19. Juni 2020, in Kraft seit 1. Aug. 2020 (AS 2020 2779). 15 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 19. Juni 2020, in Kraft seit 1. Aug. 2020 (AS 2020 2779). 16 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 19. Juni 2020, in Kraft seit 1. Aug. 2020 (AS 2020 2779). 17 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 26. Okt. 2011, in Kraft seit 1. Jan. 2013 (AS 2011 4951). 18 SR 220 Familienzulagenverordnung 5 / 14 836.21 1bis Bezieht der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin einen unbezahlten Urlaub, so werden die Familienzulagen nach Antritt des Urlaubs noch während des laufenden Monats und der drei darauf folgenden Monate ausgerichtet.19 1ter Nach einem Unterbruch nach Absatz 1 oder 1bis besteht der Anspruch auf Famili- enzulagen ab dem ersten Tag des Monats, in dem die Arbeit wieder aufgenommen wird.20 2 Der Anspruch auf Familienzulagen bleibt auch ohne gesetzlichen Lohnanspruch bestehen: a. bei einem Mutterschaftsurlaub: während höchstens 16 Wochen; b. bei Verlängerung des Mutterschaftsurlaubs wegen Spitalaufenthalts des Neugeborenen: während insgesamt höchstens 22 Wochen; c. bei einem Vaterschaftsurlaub: während höchstens 2 Wochen; d. bei einem Urlaub für die Betreuung eines wegen Krankheit oder Unfall gesundheitlich schwer beeinträchtigten Kindes: während höchstens 14 Wo- chen; e. bei einem Adoptionsurlaub: während 2 Wochen; f. bei einem Jugendurlaub nach Artikel 329e Absatz 1 OR: während des Ur- laubs.21 3 Stirbt der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin, so werden die Familienzulagen noch während des laufenden Monats und der drei darauf folgenden Monate ausgerich- tet. Art. 10a22 Dauer des Anspruchs der Selbstständigerwerbenden (Art. 13 Abs. 2bis FamZG) 1 Der Anspruch auf Familienzulagen für Selbstständigerwerbende beginnt am ersten Tag des Monats, in dem die selbstständige Erwerbstätigkeit aufgenommen wird, und endet am letzten Tag des Monats, in dem die selbstständige Erwerbstätigkeit aufge- geben wird. 2 Für den Anspruch auf Familienzulagen für Selbstständigerwerbende bei Unterbrü- chen der Erwerbstätigkeit und beim Tod der selbstständigerwerbenden Person gilt Ar- tikel 10 sinngemäss. 19 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 26. Okt. 2011, in Kraft seit 1. Jan. 2012 (AS 2011 4951). 20 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 26. Okt. 2011, in Kraft seit 1. Jan. 2012 (AS 2011 4951). 21 Fassung gemäss Anhang Ziff. 2 der V vom 24. Aug. 2022, in Kraft seit 1. Jan. 2023 (AS 2022 497). 22 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 26. Okt. 2011, in Kraft seit 1. Jan. 2013 (AS 2011 4951). Familienzulagen 6 / 14 836.21 Art. 10b23 Bestimmung des Einkommens bei mehreren Erwerbstätigkeiten (Art. 13 Abs. 3 FamZG) Ist eine Person bei mehreren Arbeitgebern beschäftigt oder ist sie gleichzeitig selbst- ständig und unselbstständig erwerbstätig, so werden zur Bestimmung des Einkom- mens die Einkommen zusammengezählt. Art. 11 Zuständige Familienausgleichskasse bei mehreren Erwerbstätigkeiten24 (Art. 13 Abs. 4 Bst. b FamZG) 1 Ist eine Person bei mehreren Arbeitgebern beschäftigt, so ist die Familienausgleichs- kasse des Arbeitgebers zuständig, der den höchsten Lohn ausrichtet. 1bis Ist eine Person gleichzeitig selbstständig und unselbstständig erwerbstätig, so ist die Familienausgleichskasse ihres Arbeitgebers zuständig, sofern: a. das Arbeitsverhältnis für mehr als sechs Monate eingegangen worden ist oder unbefristet ist; und b. das Mindesteinkommen nach Artikel 13 Absatz 3 FamZG im Rahmen dieses Arbeitsverhältnisses erreicht wird.25 2 Das BSV26 erlässt Weisungen über die Bestimmung der zuständigen Familienaus- gleichskasse für Personen, die mehrere selbstständige oder unselbstständige Erwerbs- tätigkeiten unregelmässig oder während kurzer Zeit ausüben.27 Art. 12 Zugelassene Familienausgleichskassen (Art. 14 FamZG) 1 Eine Familienausgleichskasse eines einzelnen Arbeitgebers (Betriebskasse) darf nicht als Familienausgleichskasse nach Artikel 14 Buchstabe a FamZG anerkannt werden. 2 Familienausgleichskassen nach Artikel 14 Buchstabe c FamZG müssen sich bei der zuständigen Behörde des Kantons, in dem sie tätig sein wollen, anmelden. Art. 13 Finanzierung der Familienausgleichskassen (Art. 15 Abs. 1 Bst. b und 3 FamZG) 1 Die Familienausgleichskassen werden durch die Beiträge, die Erträge und Bezüge aus der Schwankungsreserve sowie die Zahlungen aus einem allfälligen kantonalen Lastenausgleich finanziert. 23 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 26. Okt. 2011, in Kraft seit 1. Jan. 2013 (AS 2011 4951). 24 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 26. Okt. 2011, in Kraft seit 1. Jan. 2013 (AS 2011 4951). 25 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 26. Okt. 2011, in Kraft seit 1. Jan. 2013 (AS 2011 4951). 26 Ausdruck gemäss Ziff. I Abs. 1 der V vom 19. Juni 2020, in Kraft seit 1. Aug. 2020 (AS 2020 2779). Diese Änd. wurde im ganzen Erlass berücksichtigt. 27 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 26. Okt. 2011, in Kraft seit 1. Jan. 2013 (AS 2011 4951). Familienzulagenverordnung 7 / 14 836.21 2 Die Schwankungsreserve ist angemessen, wenn ihr Bestand mindestens 20 und höchstens 100 Prozent einer durchschnittlichen Jahresausgabe für Familienzulagen beträgt. Art. 14 Verwendung der Liquidationsüberschüsse (Art. 17 Abs. 2 Bst. e FamZG) Ein bei einem Zusammenschluss oder bei einer Auflösung von Familienausgleichs- kassen im Sinne von Artikel 14 Buchstabe a oder c FamZG anfallender Überschuss wird für Familienzulagen verwendet. 3. Abschnitt: Familienausgleichskasse der Eidgenössischen Ausgleichskasse Art. 15 1 Die Eidgenössische Ausgleichskasse (EAK) führt für die Bundesverwaltung, die eidgenössischen Gerichte und die Bundesanstalten eine Familienausgleichskasse. Es können sich ihr auch andere Institutionen anschliessen, die der Oberaufsicht des Bun- des unterstellt sind oder zum Bund in enger Beziehung stehen. 2 Die Familienausgleichskasse der EAK ist ein Spezialfonds des Bundes im Sinne von Artikel 52 des Finanzhaushaltgesetzes vom 7. Oktober 200528. 3 Der Bund stellt der Familienausgleichskasse der EAK das erforderliche Personal, die Räumlichkeiten und die Betriebsmittel gegen Entschädigung zur Verfügung. Die Entschädigung des Bundes und die übrigen Verwaltungskosten gehen zulasten der Arbeitgeber. Die Arbeitgeber beteiligen sich auch an der Bildung der Schwankungs- reserve. 4 Das Eidgenössische Finanzdepartement kann im Einvernehmen mit dem Eidgenös- sischen Departement des Innern und dem Eidgenössischen Departement für auswär- tige Angelegenheiten Ausführungsbestimmungen insbesondere über die Organisa- tion, die Kassenzugehörigkeit, die Arbeitgeberkontrolle, die Beitragsgestaltung, die Verwaltungskosten, die Bildung der Schwankungsreserve und die Kassenrevision er- lassen. 4. Abschnitt: Familienzulagenordnung für Nichterwerbstätige Art. 16 Nichterwerbstätige Personen (Art. 19 Abs. 1 FamZG) Nicht als nichterwerbstätige Personen im Sinne des FamZG gelten: a. Personen, die nach Erreichen des ordentlichen Rentenalters eine Altersrente der AHV beziehen; 28 SR 611.0 Familienzulagen 8 / 14 836.21 b.29 Personen, die in ungetrennter Ehe leben und deren Ehemann oder Ehefrau eine Altersrente der AHV bezieht; c. Personen, deren AHV-Beiträge nach Artikel 3 Absatz 3 AHVG30 als bezahlt gelten; d.31 Asylsuchende, vorläufig Aufgenommene, Schutzbedürftige ohne Aufent- haltsbewilligung und weggewiesene Personen mit Anspruch auf Nothilfe nach Artikel 82 des Asylgesetzes vom 26. Juni 199832, deren Beiträge nach Artikel 14 Absatz 2bis des AHVG noch nicht festgesetzt sind. Art. 16a33 Arbeitslose Mütter (Art. 19 Abs. 1ter FamZG) 1 Als arbeitslose Mütter gelten Frauen, die im Zeitpunkt der Geburt ihres Kindes die Voraussetzungen nach Artikel 29 der Verordnung vom 24. November 200434 zum Er- werbsersatzgesetz erfüllen. 2 Als Mutterschaftsentschädigung nach dem Erwerbsersatzgesetz vom 25. September 195235 (EOG) gilt auch die von den Kantonen im Sinne von Artikel 16h EOG vorge- sehene länger dauernde Mutterschaftsentschädigung. 3 Der Anspruch auf Familienzulagen für das Kind beginnt am ersten Tag des Monats, in dem das Kind geboren wurde. Art. 17 Bemessung des Einkommens der Nichterwerbstätigen (Art. 19 Abs. 2 FamZG) Für die Bemessung des Einkommens der Nichterwerbstätigen ist das steuerbare Ein- kommen nach dem Bundesgesetz vom 14. Dezember 199036 über die direkte Bundes- steuer massgebend. Art. 18 Vorbehalt von kantonalen Regelungen Die Kantone können für die Berechtigten günstigere Regelungen festlegen. 29 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 26. Okt. 2011, in Kraft seit 1. Jan. 2013 (AS 2011 4951). 30 SR 831.10 31 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 28. Okt. 2009, in Kraft seit 8. Nov. 2009 (AS 2009 5367). 32 SR 142.31 33 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 19. Juni 2020, in Kraft seit 1. Aug. 2020 (AS 2020 2779). 34 SR 834.11 35 SR 834.1 36 SR 642.11 Familienzulagenverordnung 9 / 14 836.21 4a. Abschnitt:37 Familienzulagenregister Art. 18a Inhalt des Familienzulagenregisters 1 Das Familienzulagenregister enthält die folgenden Daten: a.38 AHV-Nummer39, Familienname, Vornamen, Geburtsdatum, Geschlecht und Wohnsitzstaat des anspruchsbegründenden Kindes; b. AHV-Nummer, Familienname, Vornamen, Geburtsdatum und Geschlecht der anspruchsberechtigten Person; c. die Beziehung des anspruchsbegründenden Kindes zur anspruchsberechtigten Person; d. den Erwerbsstatus der anspruchsberechtigten Person; e. die für die Festsetzung und Ausrichtung der Familienzulage zuständige Stelle nach Artikel 21c FamZG; f. die für die Dossierführung zuständige Zweig- oder Abrechnungsstelle, sofern sie nicht mit der Stelle nach Buchstabe e identisch ist; g. die Art der Familienzulage; h. die gesetzliche Grundlage der Familienzulage; i. den Beginn und das Ende des Anspruchs; j. den Arbeitgeber, sofern die Familienausgleichskasse, der er angeschlossen ist, dies verlangt. 2 Das BSV erlässt Weisungen über die Einzelheiten der zu erfassenden Daten. Art. 18b Zugangsberechtigte Stellen Die folgenden Stellen haben mittels Abrufverfahren Zugang zum Familienzulagenre- gister: a. die Stellen nach Artikel 21c FamZG; b. die schweizerischen Stellen, die für die Koordination der Familienzulagen im internationalen Verhältnis zuständig sind; c. die kantonalen Behörden, welche die Aufsicht nach Artikel 17 Absatz 2 Fa- mZG ausüben; d. das BSV, soweit es Aufgaben nach Artikel 27 Absatz 2 FamZG und Artikel 72 Absatz 1 erster Satz AHVG erfüllt; 37 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 8. Sept. 2010, in Kraft seit 15. Okt. 2010 (AS 2010 4495). 38 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 19. Juni 2020, in Kraft seit 1. Aug. 2020 (AS 2020 2779). 39 Ausdruck gemäss Anhang Ziff. II 40 der V vom 17. Nov. 2021, in Kraft seit 1. Jan. 2022 (AS 2021 800). Diese Änd. wurde in den in der AS genannten Bestimmungen vorgenom- men. Familienzulagen 10 / 14 836.21 e. das Staatssekretariat für Wirtschaft, soweit es Aufgaben nach Artikel 83 Ab- satz 1 des Arbeitslosenversicherungsgesetzes vom 25. Juni 198240 erfüllt. Art. 18c Ausnahmen von der öffentlichen Zugänglichkeit 1 Die für die Adoption und Kindesschutzmassnahmen zuständigen Behörden können die Zentrale Ausgleichsstelle anweisen, zur Wahrung des Kindeswohls die Daten zu einem Kind von der öffentlichen Zugänglichkeit auszunehmen. 2 Die Zentrale Ausgleichsstelle nimmt die Daten innerhalb eines Arbeitstages nach Eingang der Anweisung von der öffentlichen Zugänglichkeit aus. Art. 18d Meldepflicht 1 Genehmigen die Stellen nach Artikel 21c FamZG einen Antrag auf Familienzulagen oder nehmen sie eine den Zulagenanspruch beeinflussende Änderung vor, so melden sie der Zentralen Ausgleichsstelle die Daten nach Artikel 18a Absatz 1 innerhalb eines Arbeitstages. 2 Die Arbeitgeber melden den Stellen nach Artikel 21c FamZG laufend die für die Erfüllung der Meldepflicht nach Absatz 1 erforderlichen Daten. Erhalten sie Kenntnis von einer den Zulagenanspruch beeinflussenden Änderung, so melden sie diese inner- halb von zehn Arbeitstagen. Art. 18e Kontrolle der Meldepflicht 1 Das BSV kontrolliert mindestens einmal pro Jahr die Anzahl der eingegangenen Meldungen jeder Stelle nach Artikel 21c FamZG. 2 Stellt es Mängel fest oder vermutet es Versäumnisse, so fordert es die betreffende Stelle unter Fristansetzung auf, die erforderlichen Daten nachzuliefern. 3 Kommt die Stelle der Aufforderung nicht nach, so meldet das BSV sie bei der zu- ständigen Aufsichtsbehörde. Art. 18f Meldeverkehr und Datenbearbeitung 1 Der Meldeverkehr zwischen den Stellen nach Artikel 21c FamZG und der Zentralen Ausgleichsstelle erfolgt in einem elektronischen Verfahren. 2 Die Zentrale Ausgleichsstelle erfasst die Daten im Familienzulagenregister, nach- dem sie die nötigen Überprüfungen vorgenommen hat. 3 Die Stellen nach Artikel 21c FamZG sind für die Richtigkeit der Daten verantwort- lich. Art. 18g Mitwirkung 1 Die Stellen nach Artikel 21c FamZG wirken beim Betrieb und bei der Weiterent- wicklung des Familienzulagenregisters mit. 40 SR 837.0 Familienzulagenverordnung 11 / 14 836.21 2 Sie können insbesondere Vorschläge für die Weiterentwicklung einbringen und zu Vorschlägen des Bundes Stellung nehmen. Art. 18h Datenschutz und Informatiksicherheit 1 Der Datenschutz und die Informatiksicherheit richten sich nach: a. der Verordnung vom 14. Juni 199341 zum Bundesgesetz über den Daten- schutz; b.42 der Cyberrisikenverordnung vom 27. Mai 202043; c.44 … 2 Die Zentrale Ausgleichsstelle, die Stellen nach Artikel 21c FamZG und die Arbeit- geber treffen die notwendigen organisatorischen und technischen Massnahmen zur Sicherung der Daten. Art. 18i Aufbewahrungsdauer 1 Die Daten des Familienzulagenregisters werden ab Ende des Monats, in dem der Anspruch auf die Familienzulage endet, fünf Jahre aufbewahrt; nach Ablauf dieser Frist werden sie dem Bundesarchiv zur Archivierung angeboten. 2 Die vom Bundesarchiv als nicht archivwürdig eingestuften Daten werden vernichtet. 5. Abschnitt: Beschwerdebefugnis der Behörden Art. 19 1 Das BSV und die beteiligten Familienausgleichskassen sind berechtigt, gegen Ent- scheide der kantonalen Versicherungsgerichte beim Bundesgericht Beschwerde zu er- heben. Das BSV ist auch zur Beschwerde gegen Entscheide des Bundesverwaltungs- gerichts berechtigt. 2 Die Entscheide sind den beschwerdeberechtigten Behörden mit eingeschriebenem Brief zuzustellen. 41 SR 235.11 42 Fassung gemäss Anhang Ziff. 18 der V vom 25. Nov. 2020 über die digitale Transforma- tion und die Informatik, in Kraft seit 1. Jan. 2021 (AS 2020 5871). 43 SR 120.73 44 Aufgehoben durch Anhang Ziff. 32 der V vom 24. Febr. 2021, mit Wirkung seit 1. April 2021 (AS 2021 132). Familienzulagen 12 / 14 836.21 6. Abschnitt: Statistik Art. 20 1 Über die Familienzulagen wird eine gesamtschweizerische Statistik erstellt. Einbe- zogen werden alle Leistungen im Sinne des FamZG an Arbeitnehmerinnen und Ar- beitnehmer, an Selbstständigerwerbende und an Nichterwerbstätige.45 2 Die Statistik enthält insbesondere Angaben über: a.46 die Familienausgleichskassen, die ihnen angeschlossenen Arbeitgeber und Selbstständigerwerbenden sowie die der Beitragspflicht unterstellten Einkom- men; b. die Finanzierung der Familienzulagen und der Verwaltungskosten; c. die Höhe der ausgerichteten Leistungen; d. die anspruchsberechtigten Personen und die Kinder. 3 Die Kantone erheben die Daten bei den Familienausgleichskassen. Das BSV erlässt Weisungen über die Erhebung der Daten und deren Zusammenstellung und Aufberei- tung nach Kantonen. 7. Abschnitt: Schlussbestimmungen Art. 2147 Vollzug und Aufsicht 1 Das BSV vollzieht diese Verordnung unter Vorbehalt der Artikel 15 und 23 Ab- satz 2. 2 Es sorgt für eine einheitliche Rechtsanwendung und kann zu diesem Zweck den Durchführungsstellen allgemeine Weisungen über den Vollzug der Bestimmungen er- teilen. Art. 22 Änderung bisherigen Rechts Die Änderung bisherigen Rechts wird im Anhang geregelt. Art. 23 Übergangsbestimmungen 1 Übersteigt die Schwankungsreserve nach Artikel 13 Absatz 2 im Zeitpunkt des In- krafttretens des FamZG eine durchschnittliche Jahresausgabe, so ist sie innerhalb von drei Jahren abzubauen. 45 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 26. Okt. 2011, in Kraft seit 1. Jan. 2013 (AS 2011 4951). 46 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 26. Okt. 2011, in Kraft seit 1. Jan. 2013 (AS 2011 4951). 47 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 19. Juni 2020, in Kraft seit 1. Aug. 2020 (AS 2020 2779). Familienzulagenverordnung 13 / 14 836.21 2 Die Familienausgleichskasse der EAK erstattet dem Bund die Kosten für ihre Er- richtung zuzüglich einer marktüblichen Verzinsung innerhalb von drei Jahren nach dem Inkrafttreten dieser Verordnung zurück. Sie überwälzt diese Kosten auf die Ar- beitgeber. Art. 23a48 Übergangsbestimmungen zur Änderung vom 8. September 2010 1 Das Familienzulagenregister wird im Laufe des Jahres 2011 in Betrieb genommen. Das BSV bestimmt in Absprache mit der Zentralen Ausgleichsstelle den Zeitpunkt und informiert die Stellen nach Artikel 21c FamZG mindestens zwei Monate im Vo- raus. 2 Die Stellen nach Artikel 21c FamZG melden der Zentralen Ausgleichsstelle bis zum 15. des Monats vor Inbetriebnahme die Daten nach Artikel 18a Absatz 1 für sämtliche Familienzulagen, die sie ab dem Zeitpunkt der Inbetriebnahme ausrichten. Art. 23b49 Übergangsbestimmung zur Änderung vom 19. Juni 2020 Die Zuordnung der Wohnsitzstaaten nach Artikel 8 Absatz 3 wird erstmals auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Änderung vorgenommen. Art. 24 Inkrafttreten Diese Verordnung tritt am 1. Januar 2009 in Kraft. 48 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 8. Sept. 2010, in Kraft seit 15. Okt. 2010 (AS 2010 4495). 49 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 19. Juni 2020, in Kraft seit 1. Aug. 2020 (AS 2020 2779). Familienzulagen 14 / 14 836.21 Anhang (Art. 22) Änderung bisherigen Rechts Die nachstehenden Verordnungen werden wie folgt geändert: …50 50 Die Änderungen können unter AS 2008 145 konsultiert werden. 1. Abschnitt: Allgemeine Bestimmungen Art. 1 Ausbildungszulage Art. 2 Geburtszulage Art. 3 Adoptionszulage Art. 4 Stiefkinder Art. 5 Pflegekinder Art. 6 Geschwister und Enkelkinder; überwiegender Unterhalt Art. 7 Kinder im Ausland Art. 8 Kinder mit Wohnsitz im Ausland; Kaufkraftanpassung der Familienzulagen 2. Abschnitt: Familienzulagenordnung für Erwerbstätige Art. 9 Zweigniederlassungen Art. 10 Dauer des Anspruchs nach Erlöschen des Lohnanspruchs; Koordination Art. 10a Dauer des Anspruchs der Selbstständigerwerbenden Art. 10b Bestimmung des Einkommens bei mehreren Erwerbstätigkeiten Art. 11 Zuständige Familienausgleichskasse bei mehreren Erwerbstätigkeiten Art. 12 Zugelassene Familienausgleichskassen Art. 13 Finanzierung der Familienausgleichskassen Art. 14 Verwendung der Liquidationsüberschüsse 3. Abschnitt: Familienausgleichskasse der Eidgenössischen Ausgleichskasse Art. 15 4. Abschnitt: Familienzulagenordnung für Nichterwerbstätige Art. 16 Nichterwerbstätige Personen Art. 16a Arbeitslose Mütter Art. 17 Bemessung des Einkommens der Nichterwerbstätigen Art. 18 Vorbehalt von kantonalen Regelungen 4a. Abschnitt: Familienzulagenregister Art. 18a Inhalt des Familienzulagenregisters Art. 18b Zugangsberechtigte Stellen Art. 18c Ausnahmen von der öffentlichen Zugänglichkeit Art. 18d Meldepflicht Art. 18e Kontrolle der Meldepflicht Art. 18f Meldeverkehr und Datenbearbeitung Art. 18g Mitwirkung Art. 18h Datenschutz und Informatiksicherheit Art. 18i Aufbewahrungsdauer 5. Abschnitt: Beschwerdebefugnis der Behörden Art. 19 6. Abschnitt: Statistik Art. 20 7. Abschnitt: Schlussbestimmungen Art. 21 Vollzug und Aufsicht Art. 22 Änderung bisherigen Rechts Art. 23 Übergangsbestimmungen Art. 23a Übergangsbestimmungen zur Änderung vom 8. September 2010 Art. 23b Übergangsbestimmung zur Änderung vom 19. Juni 2020 Art. 24 Inkrafttreten Anhang Änderung bisherigen Rechts | de |
686da2ca-291c-4d2d-84e1-f9284fe38520 | Sachverhalt
ab Seite 522
BGE 141 V 521 S. 522
A.
A., geboren 1974, ist Staatsangehöriger von Guatemala. Er lebt mit seiner bulgarischen Frau und den gemeinsamen beiden Söhnen (B. und C.) in Bulgarien. Ab 5. Mai 2013 war er bei dem in Basel domizilierten Unternehmen D. AG angestellt. Am 26. März 2014 stellte er das Gesuch um Ausrichtung von Kinderzulagen für seine beiden Söhne. Die Familienausgleichskasse Arbeitgeber Basel (nachfolgend: FAK) verneinte einen Anspruch auf Kinderzulagen mit Verfügung vom 29. April 2014, bestätigt mit Einspracheentscheid vom 24. Juni 2014.
B.
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt wies die dagegen erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 11. Februar 2015 ab.
C.
A. führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids, des Einspracheentscheids und der Verfügung vom 29. April 2014 seien ihm Kinderzulagen für seine beiden Söhne zuzusprechen.
Die FAK verzichtet auf eine Vernehmlassung. Die Vorinstanz und das Bundesamt für Sozialversicherungen schliessen auf Abweisung der Beschwerde. (...)
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
(Auszug) Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Streitig ist der Anspruch des Beschwerdeführers auf Kinderzulagen für seine beiden Söhne B. und C.
3.
Die Vorinstanz hat den Anspruch auf Familienzulagen abgelehnt, da der Beschwerdeführer, dessen Kinder im Ausland wohnen, nach
BGE 141 V 521 S. 523
Art. 13 des Bundesgesetzes vom 24. März 2006 über die Familienzulagen (Familienzulagengesetz, FamZG; SR 836.2) in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 der Verordnung vom 31. Oktober 2007 über die Familienzulagen (Familienzulagenverordnung, FamZV; SR 836.21) nur gestützt auf eine Vereinbarung in einem zwischenstaatlichen Abkommen Anspruch auf Familienzulagen für seine Kinder habe, er aber nicht in den persönlichen Anwendungsbereich des Abkommens vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (FZA; SR 0.142.112.681) in Verbindung mit der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (SR 0.831.109.268.1; nachfolgend: Verordnung [EG] Nr. 883/2004) falle und weder mit Bulgarien noch mit Guatemala ein bilaterales Sozialversicherungsabkommen bestehe, das einen solchen Anspruch statuiere.
4.
4.1
Nach
Art. 7 Abs. 1 FamZV
besteht nur dann Anspruch auf Familienzulagen für im Ausland lebende Kinder, wenn dies eine zwischenstaatliche Vereinbarung vorschreibt. Das Bundesgericht hat festgestellt, dass diese Bestimmung sich an die Vorgaben gemäss FamZG hält und weder
Art. 8 Abs. 1 und 2 BV
(Gleichbehandlungsgebot, Diskriminierungsverbot) noch Bestimmungen des Übereinkommens vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes (UN-Kinderrechtskonvention, KRK; SR 0.107) verletzt (
BGE 136 I 297
; vgl. auch
BGE 138 V 392
).
4.2
Wie die Vorinstanz zutreffend festhält - und vom Beschwerdeführer auch nicht bestritten wird - gibt es keine zwischenstaatliche Vereinbarung zwischen der Schweiz und Bulgarien (nach Art. 2 Abs. 1 Ziff. 1 des Abkommens vom 15. März 2006 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Republik Bulgarien über Soziale Sicherheit [SR 0.831.109.214.1], werden bezüglich der Schweiz nur Leistungen gemäss Bundesgesetz über die Familienzulagen in der Landwirtschaft erfasst) resp. zwischen der Schweiz und Guatemala, die ihm einen Anspruch auf Familienzulagen nach FamZG einräumen würde.
4.3
Zu prüfen bleibt, ob der Beschwerdeführer unter Anwendung des FZA einen Anspruch auf Familienzulagen hat.
4.3.1
Gemäss
Art. 8 FZA
gewähren die Vertragsparteien die Koordination der sozialen Systeme gemäss den in Anhang II
BGE 141 V 521 S. 524
aufgeführten Erlassen.
Art. 1 Ziff. 1 Anhang II FZA
erklärt die in Abschnitt A dieses Anhangs genannten Rechtsakte der Europäischen Union in der durch diesen Abschnitt geänderten Fassung oder gleichwertige Vorschriften für massgebend. Dabei handelt es sich einerseits um die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 sowie die Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (SR 831.109.268.11; je mit den explizit aufgeführten Änderungen und Abweichungen für einzelne Bereiche) und um deren Vorgängerverordnungen (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 und (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 (soweit darauf in den Verordnungen [EG] Nr. 883/2004 oder [EG] Nr. 987/2009 Bezug genommen wird oder Fälle aus der Vergangenheit betroffen sind) sowie andererseits um die Richtlinie 98/49/EG des Rates vom 29. Juni 1998 zur Wahrung ergänzender Rentenansprüche von Arbeitnehmern und Selbständigen, die innerhalb der Europäischen Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. L 209 vom 25. Juli 1998 S. 46; vgl. zum Ganzen auch den Beschluss Nr. 1/2012 des gemischten Ausschusses, eingesetzt im Rahmen des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit, vom 31. März 2012 zur Ersetzung des Anhangs II dieses Abkommens über die Koordinierung der sozialen Sicherheit, ABl. L 103 vom 13. April 2012 S. 51-59, sowie
BGE 141 V 43
E. 3.2 S. 46).
Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers werden Drittstaatsangehörige nicht grundsätzlich von der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 erfasst; dies erfolgt vielmehr durch die von den beiden Verordnungen (EG) Nr. 883/2004 und (EG) Nr. 987/2009 unabhängige Verordnung (EU) Nr. 1231/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. November 2010 zur Ausdehnung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 und der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 auf Drittstaatsangehörige, die ausschliesslich aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit nicht bereits unter diese Verordnungen fallen (ABl. L 344 vom 29. Dezember 2010 S. 1), auf welche sich der Beschwerdeführer denn auch massgeblich beruft. Diese ist jedoch im Anhang II Abschnitt A des FZA nicht aufgeführt, weshalb sie im Verhältnis Schweiz-EU auch keine Anwendung findet (vgl. auch MAXIMILIAN FUCHS, in: Europäisches Sozialrecht,
derselbe
[Hrsg.], 6. Aufl. 2013, N. 42
BGE 141 V 521 S. 525
Einführung, sowie BERNHARD SPIEGEL, in: Europäisches Sozialrecht, a.a.O., N. 4 zu Art. 2 VO 883/2004). Bereits gemäss der früheren Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 galt die damalige Verordnung (EG) Nr. 859/2003 des Rates vom 14. Mai 2003 zur Ausdehnung der Bestimmungen der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 und der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 auf Drittstaatsangehörige, die ausschliesslich aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit nicht bereits unter diese Bestimmungen fallen (ABl. L 124 vom 20. Mai 2003 S. 1) im Verhältnis zwischen der Schweiz und EU-Mitgliedstaaten nicht, da diese Verordnung von der Schweiz nicht explizit übernommen wurde (GÄCHTER/BURCH, § 1 Nationale und internationale Rechtsquellen, in: Recht der sozialen Sicherheit, Steiger-Sackmann/Mosimann [Hrsg.],2014, S. 30 f. Rz. 1.87; ebenso EDLYN HÖLLER, in: Europäisches Sozialrecht, a.a.O., N. 91 Sozialrecht in den Assoziationsabkommen). Folglich findet auch die Verordnung (EU) Nr. 1231/2010 ohne explizite Übernahme durch die Schweiz keine Anwendung im Verhältnis zwischen den EU-Mitgliedstaaten und der Schweiz. Der Beschwerdeführer kann somit nichts zu seinen Gunsten aus dieser allein im Verhältnis zwischen EU-Mitgliedstaaten geltenden Verordnung für Drittstaatsangehörige ableiten.
4.3.2
Ein Leistungsbezug nach Art. 67 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 setzt voraus, dass die Person, welche für ihre in einem andern als dem zuständigen Mitgliedstaat wohnhaften Familienangehörigen Anspruch auf Familienleistungen erhebt, selbst in den personellen Anwendungsbereich der Verordnung fällt (vgl. auch GERHARD IGL, in: Europäisches Sozialrecht, a.a.O., N. 2 zu Art. 67 VO 883/2004). Nach Art. 2 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 gilt diese Verordnung für Staatsangehörige eines Mitgliedstaates, Staatenlose und Flüchtlinge mit Wohnort in einem Mitgliedstaat, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, sowie für ihre Familienangehörigen und Hinterbliebenen. Mit anderen Worten muss im Rahmen des FZA einerseits eine entsprechende Nationalität (oder Staatenlosigkeit resp. Flüchtlingseigenschaft mit Wohnort in der EU oder der Schweiz) oder ein ausreichender Familienstatus sowie andererseits ein grenzüberschreitender Sachverhalt gegeben sein.
4.3.3
Der Beschwerdeführer ist weder Staatsangehöriger eines EU-Mitgliedstaates noch Schweizerbürger. Auch ist er weder Staatenloser noch Flüchtling. Damit erfüllt er die Voraussetzung der Nationalität nicht. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass seine
BGE 141 V 521 S. 526
Familienangehörigen (Ehefrau und Kinder) als Bulgaren Staatsangehörige eines EU-Mitgliedstaates sind. Denn im Rahmen der Verträge zwischen der EU und der Schweiz können Drittstaatsangehörige mangels Geltung der Verordnung (EU) Nr. 1231/2010 (vgl. dazu E. 4.3.1) in ihrer Eigenschaft als Familienangehörige oder Hinterlassene nur einen abgeleiteten Anspruch auf Leistungen bei Krankheit oder Witwen-/Witwerversorgung in der Unfall- oder Rentenversicherung geltend machen (vgl. SPIEGEL, a.a.O., N. 5 zu Art. 2 VO 883/2004). Nachdem aber der Beschwerdeführer Drittstaatsangehöriger ist und (allenfalls) anspruchsberechtigt wäre, kann er sich nicht auf diese Regelung für Familienangehörige berufen.
4.3.4
Schliesslich kann er auch nichts zu seinen Gunsten daraus ableiten, dass seine Ehefrau und Kinder bulgarische und damit EU-Staatsangehörige sind. Denn diese leben in Bulgarien und haben somit von ihrem Freizügigkeitsrecht keinen Gebrauch gemacht, so dass bei ihnen der für die Unterstellung unter die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 notwendige grenzüberschreitende Sachverhalt nicht gegeben ist. Sie unterstehen der bulgarischen Rechtsordnung. Als ihr Familienangehöriger kann der Beschwerdeführer daher keine weitergehenden Ansprüche und insbesondere keinen Diskriminierungstatbestand geltend machen.
4.4
Nach dem Gesagten hat der Beschwerdeführer weder gestützt auf das FZA noch auf eine andere zwischenstaatliche Vereinbarung Anspruch auf Familienzulagen für seine beiden Söhne. Daran ändert auch
BGE 139 V 393
(auch veröffentlicht in: Pra 2014 Nr. 10 S. 71 ff.) nichts. Bei diesem Entscheid ging es um einen peruanischen Staatsangehörigen, der mit einer britischen Staatsangehörigen verheiratet ist und mit seiner Ehefrau nach mehreren Jahren Wohnsitz und Erwerbstätigkeit in der Schweiz den Wohnsitz nach Grossbritannien verlegt hatte. Das Bundesgericht entschied, dieser Drittstaatsangehörige habe in seiner Eigenschaft als Familienangehöriger gestützt auf das FZA weiterhin Anspruch auf seine AHV-Altersrente. Dieser Sachverhalt, bei welchem es um den Anspruch eines Drittstaatsangehörigen ging, welcher mit einer EU-Bürgerin verheiratet war, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hatte, ist nicht mit dem vorliegenden vergleichbar. Denn anders als bei
BGE 139 V 393
, bei welchem es um eine Leistung ging, die sowohl Erwerbstätigen wie Nichterwerbstätigen zukommt, hängt der Leistungsanspruch des Beschwerdeführers von seiner Eigenschaft als Arbeitnehmer ab. In diesen Konstellationen aber, bei welchen es
BGE 141 V 521 S. 527
um eine Leistung geht, die an die Eigenschaft als Arbeitnehmer anknüpft, ist keine Ausdehnung auf Drittstaatsangehörige als Familienmitglieder denkbar (
BGE 139 V 393
E. 5.3 S. 398 sowie SPIEGEL, a.a.O., N. 18 zu Art. 2 VO 883/2004).
4.5
Ebenso ist unerheblich, dass auf dem erzielten Arbeitseinkommen Beiträge an die Familienausgleichskasse geleistet werden. Zwar können die Kantone vorsehen, dass auch die Arbeitnehmer einen Teil der Beitragszahlungen zu leisten haben (
Art. 17 Abs. 2 lit. j FamZG
); mit wenigen Ausnahmen haben sämtliche Kantone davon abgesehen. Somit ist denn auch entgegen seiner Ansicht nicht der Beschwerdeführer Beitragszahler, sondern diese Beiträge gehen vollumfänglich zu Lasten des Arbeitgebers (vgl. dazu auch die aufgelegten Lohnabrechnungen, welche keine entsprechenden Abzüge ausweisen). | de |
5d0234a6-140d-41c6-9f55-80897d36d93b | Sachverhalt
ab Seite 1
BGE 128 III 1 S. 1
Die Parteien heirateten 1997 in Biel und leben seit 1. Oktober 1999 getrennt. Mit Urteil vom 29. November 2000 schied der Gerichtspräsident 2 des Gerichtskreises II Biel-Nidau die Ehe der Parteien gestützt auf
Art. 115 ZGB
. Der Appellationshof des Kantons Bern bestätigte das vom Beklagten angefochtene Urteil. Das Bundesgericht weist die Berufung des Beklagten ab.
BGE 128 III 1 S. 2 Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Die Vorinstanz hat die schwere psychische Krankheit des Beklagten angesichts ihrer erheblichen Auswirkungen auf die Ehe der Parteien und auf die Klägerin als schwerwiegenden Grund sowie die fortwährende eheliche Bindung der Klägerin an den Beklagten als unzumutbar erachtet und die Ehe gestützt auf
Art. 115 ZGB
geschieden.
Der Beklagte macht geltend, die Vorinstanz habe diese Bestimmung zu Unrecht angewandt. Die gesamte Situation seiner Krankheit und der Trennung belaste die Klägerin zwar möglicherweise, doch werde dadurch das im Rahmen einer Scheidung übliche Mass nicht überschritten. Da die Ehescheidung infolge seiner psychischen Krankheit ausgesprochen worden sei, müsse zur Auslegung von
Art. 115 ZGB
aArt. 141 ZGB beigezogen werden. Die dortigen Voraussetzungen seien nicht erfüllt, die Ehe könne deshalb auch nach
Art. 115 ZGB
nicht geschieden werden.
a) aa) Noch vor Inkrafttreten des neuen Scheidungsrechts wurde von der Lehre vorgeschlagen, im Zusammenhang mit dem Erfordernis des schwerwiegenden Grundes gemäss
Art. 115 ZGB
Fallgruppen zu bilden. Unheilbare Krankheiten sind nach dieser Lehrmeinung in die Fallgruppe der objektiven Ursachen einzureihen; aus ethischen Gründen müsse dabei verlangt werden, dass die Voraussetzungen gemäss aArt. 141 ZGB erfüllt sind - allenfalls unter Verzicht auf die Erfordernisse des Gutachtens und der dreijährigen Frist (DANIEL STECK, Scheidungsklagen, in: Das neue Scheidungsrecht, 1999, S. 25 ff., S. 36).
bb) Gemäss aArt. 141 ZGB konnte ein Ehegatte die Scheidung beantragen, wenn ihm die Ehe aufgrund einer schon seit drei Jahren andauernden und von einem Sachverständigen für unheilbar erklärten Geisteskrankheit des anderen nicht mehr zugemutet werden durfte. Diese Bestimmung normierte zwar einen Scheidungsgrund, brachte aber - durch die sehr restriktiven Voraussetzungen - vor allem zum Ausdruck, dass Krankheit nach dem Willen des damaligen Gesetzgebers als Scheidungsgrund weitgehend ausgeschlossen war. Dieser Ausschluss war darin begründet, dass die eheliche Beistandspflicht gebot, das Unglück einer Krankheit mit beidseitigem Opferwillen gemeinsam zu tragen (BÜHLER/SPÜHLER, Berner Kommentar, 1980, N. 102 zu
Art. 142 ZGB
mit Hinweis auf die Gesetzesmaterialien).
BGE 128 III 1 S. 3
cc) Bei Erlass des geltenden Scheidungsrechts hat der Gesetzgeber auf die Normierung besonderer Scheidungsgründe bewusst verzichtet (Botschaft über die Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches vom 15. November 1995, BBl 1996 I 1, S. 83). Ein Wille, im Zusammenhang mit der Unzumutbarkeit gemäss
Art. 115 ZGB
bestimmte Gründe auszuschliessen, ist nicht ersichtlich (Botschaft S. 92).
Art. 115 ZGB
ist bewusst offen formuliert, damit die Gerichte den Umständen des Einzelfalles Rechnung tragen können. Ob ein schwerwiegender Grund besteht, ist daher nach Recht und Billigkeit zu beurteilen (
Art. 4 ZGB
;
BGE 127 III 129
E. 3b S. 134, 347 E. 2a S. 349 mit weiteren Hinweisen). Beeinträchtigungen, die normalerweise mit einer Scheidung einhergehen, geben keinen solchen Grund ab (
BGE 127 III 342
E. 3d). An dessen Vorliegen dürfen jedoch auch keine übertriebene Anforderungen gestellt werden. Massgeblich ist, ob unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände das Fortbestehen der Ehe der Klägerin seelisch zumutbar ist, beziehungsweise ob die geistig-emotionale Reaktion, das Fortbestehen der Ehe während vier Jahren als unerträglich zu betrachten, objektiv nachvollziehbar ist (
BGE 127 III 129
E. 3b S. 134). In diesem Zusammenhang ist auch zu prüfen, ob dem klagenden Ehepartner allenfalls aufgrund seiner ehelichen Beistandspflicht das Abwarten der vierjährigen Frist zuzumuten ist (HEGNAUER, Grundriss des Eherechts, 4. Aufl. 2000, § 9 Rz. 9.37).
b) Der Appellationshof ist zu Recht davon ausgegangen, dass die Belastung der Klägerin nicht nur das bei Scheidungen übliche Mass klarerweise übersteigt, sondern die Fortdauer der Ehe auch bei getrennten Haushalten als für sie unzumutbar erscheinen lässt. Der Beklagte ist krankhaft auf die Klägerin fixiert. Vor seinen zahlreichen hartnäckigen Versuchen, mit ihr in Kontakt zu treten, kann sie sich kaum schützen. Angesichts dieser Hartnäckigkeit und Intensität, mit welcher der Beklagte sie in ihrem Privatleben beeinträchtigt, und angesichts der kurzen Dauer der Ehe kann ihr ein längeres Ertragen dieser Situation auch nicht aufgrund der ehelichen Beistandspflicht zugemutet werden. Vielmehr beurteilt das Bundesgericht diese Situation wie die Vorinstanz als für sie in nachvollziehbarer Weise unerträglich. Der Appellationshof hat die Ehe der Parteien demnach zu Recht in Anwendung von
Art. 115 ZGB
geschieden, weshalb die Berufung des Beklagten abzuweisen ist, soweit darauf eingetreten werden kann. | de |
29dc3a5d-86d8-479b-8775-71cd249cb4ef | Sachverhalt
ab Seite 218
BGE 144 III 217 S. 218
A.
A. ist eine von elf Bedachten im Nachlass von C. (gest. 1994). Der Erblasser hatte als einzigen Erben D. eingesetzt. Laut Testament soll A. ein Zwanzigstel des Nettonachlasses zukommen. Als Willensvollstrecker amtete Advokat und Notar B.
B.
Am 30. Dezember 1997 unterbreitete B. dem Erben und sämtlichen Vermächtnisnehmern seine Nachlassabrechnung. Demnach beträgt der Nettonachlass knapp 54 Mio. Fr. und das Vermächtnis von A. Fr. 2'691'391.40. Als Honorar für B. (einschliesslich des Honorars der Bank E. sowie Mehrwertsteuer) ist auf der Abrechnung der Betrag von Fr. 600'000.- angegeben. D. genehmigte diese Abrechnung am 7. Januar 1998.
C.
Am 4. September 2006 bat A. B. um Substanziierung des Willensvollstreckerhonorars. In einem Schreiben vom 9. Mai 2007 erklärten B. und sein Bürokollege, dass sie das Honorar entsprechend dem prozentualen Tarif gemäss Basler Notariatsgebührentarif berechnet hätten.
D.
Am 10. November 2009 verklagte A. den Willensvollstrecker vor dem Zivilgericht des Kantons Basel-Stadt. Soweit vor Bundesgericht noch relevant, beantragte sie, B. zu verurteilen, ihr mindestens den Betrag von Fr. 35'800.- nebst Zins zu 5 % seit dem 1. Dezember 2009 zu bezahlen, unter Vorbehalt einer Teilklage bzw. Mehrforderung. Das Zivilgericht wies die Klage mit Entscheid vom 6. November 2013 ab, soweit es darauf eintrat. Auf Berufung der Klägerin hin bestätigte das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt am 24. Juni 2015 den erstinstanzlichen Entscheid. A. legte Beschwerde beim Bundesgericht ein. Dieses hob den Entscheid des Appellationsgerichts auf und wies die Sache zur weiteren Behandlung an die Vorinstanz zurück (Urteil 5A_705/2015 vom 21. Juni 2016). Am 10. April 2017 fällte das Appellationsgericht seinen neuen Entscheid. Abermals wies es die Berufung der Klägerin ab.
E.
Mit Beschwerde vom 11. Mai 2017 wendet sich A. (Beschwerdeführerin) erneut an das Bundesgericht. Sie verlangt, den Entscheid
BGE 144 III 217 S. 219
des Appellationsgerichts aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. B. (Beschwerdegegner) beantragt, die Beschwerde in Bestätigung des Entscheids des Appellationsgerichts vollumfänglich abzuweisen. In diesem Sinn äussert sich auch die Vorinstanz. Das Bundesgericht hat die Sache am 22. Februar 2018 öffentlich beraten. Es weist die Beschwerde ab.
(Zusammenfassung) Erwägungen
Aus den Erwägungen:
5.
(...)
5.2.1
Zu beurteilen ist die Frage, ob die Beschwerdeführerin den Beschwerdegegner mit einer Verantwortlichkeitsklage auf Ersatz des Schadens belangen kann, den sie dadurch erlitten haben will, dass der Beschwerdegegner durch die vorwerfbar pflichtwidrige Berechnung seines Honorars das Reinvermögen des Nachlasses vermindert und so das Quotenvermächtnis der Beschwerdeführerin geschmälert hat (vgl. nicht publ. E. 3). Dass es sich dabei nicht um einen erbrechtlichen Anspruch auf Auslieferung des Vermächtnisses, sondern um eine gegen den Willensvollstrecker persönlich gerichtete Forderung handelt, hat das Bundesgericht bereits im Urteil 5A_705/2015 vom 21. Juni 2016 (dort E. 5.2) klargestellt.
5.2.2
Die Verantwortlichkeitsklage gegen den Willensvollstrecker richtet sich nach Auftragsrecht und nach
Art. 97 OR
; sie hat die Pflichtverletzung, den Schaden, den Kausalzusammenhang zwischen diesen beiden Elementen sowie das Verschulden zum Thema (
BGE 142 III 9
E. 4.1 S. 10;
BGE 108 II 535
E. 7 S. 541;
BGE 101 II 47
E. 2 S. 53 f.). Der Willensvollstrecker hat für die getreue und sorgfältige Ausführung des ihm übertragenen Geschäfts einzustehen (
Art. 398 Abs. 2 OR
analog;
BGE 142 III 9
E. 4.3 S. 11). Er steht, soweit der Erblasser nichts anderes verfügt, in den Rechten und Pflichten des amtlichen Erbschaftsverwalters (
Art. 518 Abs. 1 ZGB
). Er hat den Willen des Erbassers zu vertreten und gilt insbesondere als beauftragt, die Erbschaft zu verwalten, die Schulden des Erblassers zu bezahlen, die Vermächtnisse auszurichten und die Teilung nach den vom Erblasser getroffenen Anordnungen oder nach Vorschrift des Gesetzes auszuführen (
Art. 518 Abs. 2 ZGB
). Im Rahmen der ihm übertragenen Verwaltungsbefugnisse hat der Willensvollstrecker die Schulden des Erblassers freilich nur insoweit zu tilgen, als dies erforderlich ist, die fraglichen Verpflichtungen also ausgewiesen sind (WOLF/GENNA, Erbrecht, SPR Bd. IV/1, 2012, S. 338; HANS RAINER
BGE 144 III 217 S. 220
KÜNZLE, Berner Kommentar, 2011 [nachfolgend: Berner Kommentar], N. 115 zu
Art. 517-518 ZGB
; ähnlich GRÉGOIRE PILLER, in: Commentaire romand, Code civil, Bd. II, 2016, N. 62 zu
Art. 518 ZGB
; CAROLINE SCHULER-BUCHE, L'exécuteur testamentaire, l'administrateur officiel et le liquidateur officiel: étude et comparaison, 2003, S. 69; FLORENCE GUILLAUME, La responsabilité de l'exécuteur testamentaire, in: Quelques actions en responsabilité, Bohnet [Hrsg.], 2008, S. 13 und 22). Zu den Schulden des Erblassers zählen auch die Erbgangsschulden, darunter die Vergütung des Willensvollstreckers (Urteile 5A_522/2014 vom 16. Dezember 2015 E. 9.4, nicht publ. in:
BGE 142 III 9
; 5A_881/2012 vom 26. April 2013 E. 5.1 mit Hinweis). Der Willensvollstrecker ist befugt, sein Honorar gestützt auf Zwischenabrechnungen über seine Tätigkeit als Vorschuss direkt dem Nachlass zu belasten oder erst nach Abschluss seiner Tätigkeit in der Teilungsrechnung unter den Passiven aufzuführen und vom zu teilenden Nachlass vorweg in Abzug zu bringen (Urteil 5A_672/2013 vom 24. Februar 2014 E. 6.1). Freilich darf er seine Position nicht dazu ausnutzen, um zu seinem eigenen Vorteil diejenigen Ansprüche zu regeln, die ihm gegenüber der Erbschaft zustehen (GUILLAUME, a.a.O., S. 19). Aus der (analog anwendbaren) auftragsrechtlichen Abrechnungspflicht (
Art. 400 Abs. 1 OR
) folgt, dass der Willensvollstrecker für seine eigenen Bemühungen eine detaillierte Abrechnung zu erstellen hat, in welcher Vergütung, Spesen und Auslagen getrennt ausgewiesen sind (HANS RAINER KÜNZLE, Der Willensvollstrecker im schweizerischen und US-amerikanischen Recht, 2000 [nachfolgend: Willensvollstrecker], S. 332 f.).
5.2.3
In einem Urteil aus dem Jahr 1975 hielt das Bundesgericht fest, dass die Verantwortlichkeitsklage gegen den Willensvollstrecker "im Prinzip" ("en principe") den Erben und den anderen vom Erblasser begünstigten Personen zustehe (
BGE 101 II 47
E. 1 S. 52 mit Hinweis auf PETER TUOR, Berner Kommentar, 2. Aufl. 1952, N. 24 zu
Art. 518 ZGB
, ARNOLD ESCHER, Zürcher Kommentar, 3. Aufl. 1959, N. 14 zu
Art. 518 ZGB
und JEAN LOB, Les pouvoirs de l'exécuteur testamentaire en droit suisse, 1952, S. 123).
Für einen Teil der Lehre bedeutet diese Passage, dass als vom Erben begünstigte Personen auch die Vermächtnisnehmer grundsätzlich zur Verantwortlichkeitsklage gegen den Willensvollstrecker berechtigt sind (PILLER, a.a.O., N. 192 zu
Art. 518 ZGB
; KARRER/VOGT/LEU, in: Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch, Bd. II, 5. Aufl. 2015, N. 113 zu
Art. 518 ZGB
; PAUL-HENRI STEINAUER, Le droit des
BGE 144 III 217 S. 221
successions, 2. Aufl. 2015, S. 609; WOLF/GENNA, a.a.O, S. 351; KÜNZLE, Berner Kommentar, a.a.O., N. 422 zu
Art. 517-518 ZGB
;
derselbe
, Willensvollstrecker, a.a.O., S. 335 f.; SCHULER-BUCHE, a.a.O., S. 138 f.; THOMAS HUX, Die Anwendbarkeit des Auftragsrechts auf die Willensvollstreckung, die Erbschaftsverwaltung, die Erbschaftsliquidation und die Erbenvertretung, 1985, S. 78; BRUNO DERRER, Die Aufsicht der zuständigen Behörde über den Willensvollstrecker und den Erbschaftsliquidator, 1985, S. 104; vgl. aus der Zeit vor 1975 HANSJÜRG BRACHER, Der Willensvollstrecker insbesondere im zürcherischen Zivilprozessrecht, 1966, S. 154; GIUSEPPE TORRICELLI, L'esecutore testamentario in diritto svizzero, 1953, S. 217; HANS SEEGER, Die Rechtsstellung des Willensvollstreckers nach schweizerischem Zivilgesetzbuch, 1927, S. 76 und 98). Andere Autoren finden, der erwähnte
BGE 101 II 47
könne nicht als Grundsatzentscheid zur Untermauerung der Auffassung angeführt werden, dass jeder einzelne Vermächtnisnehmer eine Verantwortlichkeitsklage gegen den Willensvollstrecker erheben kann (CHRIST/EICHNER, in: Erbrecht, Abt/Weibel [Hrsg.], 3. Aufl. 2015, N. 104b zu
Art. 518 ZGB
). Einen Schritt weiter gehen diejenigen Stimmen in der Lehre, die den Vermächtnisnehmern eine direkte Verantwortlichkeitsklage gegen den Willensvollstrecker versagen und der Meinung sind, die Vermächtnisnehmer müssten sich nach Massgabe von
Art. 562 Abs. 3 ZGB
zwingend an die Erben halten (so GUINAND/STETTLER/LEUBA, Droit des successions, 6. Aufl. 2005, S. 256; ALFRED SCHREIBER, L'exécution testamentaire en droit suisse, 1940, S. 110 f.; ähnlich JEAN CARRARD, Les pouvoirs de l'exécuteur testamentaire, 1923, S. 72). Zur Begründung dieser Auffassung findet sich im Schrifttum das Argument, dass eine Schädigung durch Wertverminderung des Nachlasses aus Sicht des Vermächtnisnehmers ein Reflexschaden sei, dessen Ersatz keinen Schutz verdiene (JEAN NICOLAS DRUEY, Die Aufgaben des Willensvollstreckers, in: Willensvollstreckung, Druey/Breitschmid [Hrsg.], 2001, S. 7 f.). Weniger apodiktisch äussert sich ITEN: Für ihn ist der Schaden des Vermächtnisnehmers bloss "regelmässig" ein nicht ersatzfähiger Reflexschaden (MARC' ANTONIO ITEN, Die zivilrechtliche Verantwortlichkeit des Willensvollstreckers, Sorgfaltspflichten und andere ausgewählte Rechtsprobleme, 2012 [nachfolgend: Verantwortlichkeit], S. 156 f.;
derselbe
, IN: HAFTPFLICHTKOMMENTAR, FISCHER/LUTERBACHER [HRSG], 2016, N. 56 ZU
ART. 518 ZGB
) - jedenfalls solange der Vermächtnisnehmer (im Falle eines Barlegats) nicht alle Erben fruchtlos gepfändet hat (
derselbe
, Vom Schwarzen Peter im Erbrecht: Haftet der Nachlass, die
BGE 144 III 217 S. 222
überlebende Ehegattin, der Willensvollstrecker oder haften die Erben?, TREX 2017 S. 79). Auch KÜNZLE meint, dass beim Vermächtnisnehmer "häufiger" ein indirekter Schaden vorliege. Er spricht dem Vermächtnisnehmer einen Ersatzanspruch aber nicht kategorisch ab, sondern handelt das Thema unter dem Gesichtspunkt der Feststellung des Schadens ab (KÜNZLE, Berner Kommentar, a.a.O., N. 425 zu
Art. 517-518 ZGB
).
5.2.4
Vorab ist klarzustellen, dass die erwähnte Rechtsprechung aus dem Jahr 1975 mit Blick auf die hier zu beurteilende Verantwortlichkeitsklage einer Quotenvermächtnisnehmerin nicht als Präjudiz gelten kann. Schon vom Wortlaut her ist in der zitierten Erwägung lediglich von einem "Prinzip" die Rede. Ausnahmen bleiben also vorbehalten. Vor allem aber hatte das Bundesgericht in
BGE 101 II 47
gar nicht zu beurteilen, ob einem Vermächtnisnehmer gegen den Willensvollstrecker Verantwortlichkeitsansprüche zustehen. Umstritten war die Klagelegitimation von Werner R., eines Neffen der Erblasserin. Im Unterschied zu den anderen Nichten und Neffen war Werner R. nicht als Erbe eingesetzt. Er war auch nicht als Vermächtnisnehmer begünstigt, sondern hatte von den Erben je einen Sechszehntel ihrer Erbteile zediert erhalten. Das Bundesgericht befand, um gegen den Willensvollstrecker persönlich klagen zu können, hätte sich Werner R. ausdrücklich auch die Rechte der Erben gegen den Willensvollstrecker abtreten lassen müssen. In den Akten deute jedoch nichts darauf hin, dass dies geschehen wäre (
BGE 101 II 47
E. 1 S. 52 f.).
5.2.5
Ausgangspunkt für die Beurteilung des vorliegenden Falls ist die Erkenntnis, dass der Willensvollstrecker gemäss
Art. 518 Abs. 2 ZGB
verpflichtet ist, die Vermächtnisse auszurichten. Daraus wird in der Lehre verschiedentlich gefolgert, dass der Willensvollstrecker bei der Besorgung seiner Geschäfte die Interessen der Vermächtnisnehmer gebührend zu wahren und nicht nur den Erben, sondern auch den Vermächtnisnehmern gegenüber für die getreue und sorgfältige Erfüllung der Vermächtnisforderung einzustehen habe (ITEN, Verantwortlichkeit, a.a.O., S. 127 und 132 f.; KÜNZLE, Willensvollstrecker, a.a.O., S. 336; HUX, a.a.O.; SEEGER, a.a.O., S. 97 f.; ablehnend SCHREIBER, a.a.O.). Indem das Gesetz den Willensvollstrecker direkt beauftrage, die Vermächtnisse auszurichten (
Art. 518 Abs. 2 ZGB
), lasse es mit der Eröffnung des Erbgangs zwischen dem Willensvollstrecker und dem Vermächtnisnehmer ein "eigenständiges gesetzliches Schuldverhältnis" entstehen, das auf der Verfügung von
BGE 144 III 217 S. 223
Todes wegen beruhe, in welcher der Erblasser einerseits die Ausrichtung eines Vermächtnisses und anderseits die Willensvollstreckung anordnete (ITEN, Verantwortlichkeit, a.a.O., S. 127 und 129). In diesem Zusammenhang wird betont, dass der Willensvollstrecker den Vermächtnisnehmern korrekte Geschäftsbesorgung schulde, "soweit ein Vermächtnis zu vollziehen ist" (HUX, a.a.O.), und die Vermächtnisnehmer zur Verantwortlichkeitsklage legitimiert sind, "soweit es um die Ausrichtung der Vermächtnisse geht" (KÜNZLE, Berner Kommentar, a.a.O., N. 422 zu
Art. 517-518 ZGB
). Hängt das (angeblich) fehlbare Verhalten des Willensvollstreckers mit der Ausrichtung des fraglichen Vermächtnisses nicht unmittelbar zusammen, so besteht auch diesen Lehrmeinungen zufolge kein Grund, den Willensvollstrecker gegenüber den Vermächtnisnehmern zur Rechenschaft und zur sorgfältigen Besorgung seines Auftrags zu verpflichten, ihn für allfällige Verfehlungen oder Versäumnisse zur Verantwortung zu ziehen und zu diesem Zweck zwischen ihm und den Vermächtnisnehmern ein Schuldverhältnis zu konstruieren. Dies ergibt sich aus der gesetzlichen Ordnung und steht auch im Einklang mit den Grundprinzipien des schweizerischen Haftpflichtrechts.
5.2.6
Schädigt der Willensvollstrecker das Nachlassvermögen, so schädigt er die Erben, denen der Nachlass als Ganzes mit dem Tode des Erblassers kraft Gesetzes zufällt (
Art. 560 Abs. 1 und 2 ZGB
). Die Vermächtnisnehmer sind davon grundsätzlich nicht direkt betroffen. Denn nach der klaren gesetzlichen Ordnung von
Art. 562 Abs. 1 ZGB
beschwert das Vermächtnis weder das Nachlassvermögen noch den Willensvollstrecker, sondern als persönliche (obligatorische) Verbindlichkeit ausschliesslich den oder die Erben (
BGE 83 II 427
E. 2a S. 441; ITEN, Verantwortlichkeit, a.a.O., S. 156). Dementsprechend kann ein Vermächtnisnehmer die beschwerten Erben nach Massgabe von
Art. 562 Abs. 3 ZGB
auf Schadenersatz belangen, falls diese ihrer Verpflichtung nicht nachkommen. Diese Beurteilung der Rechtslage steht im Einklang mit dem haftpflichtrechtlichen Grundsatz, dass dem Drittbetroffenen ein direkter Ersatzanspruch gegen den Urheber der schädigenden Handlung versagt bleiben muss, wenn dieser keine Verhaltensnorm verletzt hat, die den Dritten nach ihrem Zweck vor Beeinträchtigungen der eingetretenen Art schützen soll (s.
BGE 138 III 276
mit Hinweisen). Steht die beschriebene Pflicht zur gehörigen Ausrichtung des Vermächtnisses, mit der im Schrifttum das "gesetzliche Schuldverhältnis" zwischen Willensvollstrecker und Vermächtnisnehmer
BGE 144 III 217 S. 224
begründet wird, jedoch nicht in Frage, so fehlt es an einer Verhaltensnorm, die einen allfälligen Schaden des Vermächtnisnehmers aus der Sicht des Willensvolltreckers als widerrechtlich zugefügten Direktschaden erscheinen liesse und es dem Vermächtnisnehmer ermöglichen würde, den Willensvollstrecker auf Ersatz dieses Schadens zu belangen.
Die vorigen Erwägungen gelten auch im Streit um die angemessene Vergütung des Willensvollstreckers (
Art. 517 Abs. 3 ZGB
). Wie bereits ausgeführt, handelt es sich dabei um eine Erbgangsschuld, die durch die Liquidation des Nachlasses verursacht wird (E. 5.2.2). Für diese Schuld haften neben dem Nachlass die Erben persönlich, es sei denn, der Willensvollstrecker handle auf Grund der letztwilligen Verfügung ausschliesslich im Interesse eines einzigen Erben oder Vermächtnisnehmers; diesfalls ist nur dieser belastet (Urteil 2P.139/ 2001 vom 3. September 2001 E. 5). Soweit eine solche Ausnahmesituation nicht gegeben ist, besteht nach dem Gesagten kein Grund, den Willensvollstrecker direkt gegenüber dem Vermächtnisnehmer für die Folgen einer allfälligen Pflichtverletzung verantwortlich zu machen oder seinen Vergütungsanspruch in Frage zu stellen.
5.3
5.3.1
Die Beschwerdeführerin macht zur Begründung ihrer Verantwortlichkeitsklage nicht geltend, dass der Beschwerdegegner sein Honorar gerade im Zusammenhang mit der Ausrichtung ihres Vermächtnisses auf pflichtwidrige Art und Weise festgesetzt und bezogen habe. Im vorliegenden Streit geht es auch nicht darum, dass der Willensvollstrecker eine vermachte Erbschaftssache beschädigt oder bei der Erhaltung derselben unnötigen Aufwand betrieben haben soll. Hier geht es der Beschwerdeführerin einzig und allein darum, die angeblich "krass überhöhte" Honorarforderung insgesamt nicht gelten zu lassen (s. E. 5.2.1).
5.3.2
Dass das Willensvollstreckerhonorar und das Vermächtnis miteinander zusammenhängen, trifft zwar zu. Das Vermächtnis ist als Quote des Nettonachlasses festgesetzt; der Nettonachlass wird vom Honorar des Willensvollstreckers beeinflusst. Wie die Beschwerdeführerin selbst anerkennt, ist die von ihr beanstandete Schmälerung ihres Vermächtnisanspruchs eine Folge der vermeintlich unrechtmässigen Schmälerung des Nettonachlasses. Mit anderen Worten sind die Interessen der Beschwerdeführerin durch das angeblich schädigende Verhalten des Beschwerdegegners nicht direkt, sondern indirekt berührt. Von dieser
mittelbaren
Betroffenheit her zieht die
BGE 144 III 217 S. 225
Beschwerdeführerin den Rückschluss, dass der Beschwerdegegner (auch) ihr gegenüber
direkt
in der Verantwortung stehe. Warum aber die blosse Festsetzung der Vermächtnisse als Quote die Bedachten vor pflichtwidrigen Eingriffen des Willensvollstreckers schützen soll, vermag die Beschwerdeführerin nicht zu erklären und ist auch nicht ersichtlich. Nach der allgemeinen Lebenserfahrung entscheidet sich ein Erblasser namentlich dann für ein Quotenvermächtnis, wenn er sich über die mutmassliche Höhe seines späteren (Netto-)Nachlasses keine Klarheit verschaffen kann (oder will), seine Erben jedoch - abhängig vom dereinst vorhandenen Nachlass - nicht über eine bestimmte Grenze hinaus zu beschweren gedenkt. Eine solche Vorgehensweise zielt darauf ab, eine nach den Vorstellungen des Erblassers ausgeglichene Nachlassregelung zu treffen. Eine spezielle, an den Willensvollstrecker gerichtete Verhaltensnorm, die im beschriebenen Sinn ihrem Zweck nach die Quotenvermächtnisnehmer vor überhöhten Honorarforderungen oder -bezügen bewahren soll, lässt sich allein aus der Aussetzung eines Quotenvermächtnisses nicht ableiten. Mithin fehlt es der Beschwerdeführerin an einer Haftungsgrundlage, um im vorliegenden Prozess das angeblich treuwidrige Verhalten des Beschwerdegegners unter dem Titel einer Verantwortlichkeitsklage ins Recht fassen zu können. Die Beschwerdeführerin täuscht sich, wenn sie meint, sie habe allein aufgrund ihrer Stellung als Quotenvermächtnisnehmerin bzw. wegen des beschriebenen wirtschaftlichen Zusammenhangs mit dem "rechtlichen Schicksal" des Nachlasses etwas zu tun und könne vom Beschwerdegegner Rechenschaft und Auskunft über seine Honorarbezüge verlangen. Andere Gründe, um den Beschwerdegegner für sein Honorar zur Verantwortung zu ziehen, nennt die Beschwerdeführerin nicht.
5.3.3
Die vorigen Erwägungen genügen, um den angefochtenen Entscheid zu bestätigen. Aus den dargelegten Gründen ist dem Appellationsgericht darin beizupflichten, dass der Verantwortlichkeitsklage aus rechtlichen Gründen kein Erfolg beschieden ist. Damit erübrigt es sich, auf weitere Punkte einzugehen, die im angefochtenen Entscheid zur Sprache kommen und von der Beschwerdeführerin beanstandet werden. Insbesondere kann offenbleiben, ob sich die Beschwerdeführerin im Verantwortlichkeitsprozess den Umstand entgegenhalten lassen muss, dass der Alleinerbe die Nachlassabrechnung genehmigt hat, bzw. ob es dem Richter verwehrt ist, eine zwischen dem Alleinerben und dem Beschwerdegegner getroffene Honorarvereinbarung auf ihre Angemessenheit hin zu überprüfen. Denn
BGE 144 III 217 S. 226
selbst wenn diese Fragen mit der Beschwerdeführerin zu verneinen wären, bliebe es dabei, dass es der Beschwerdeführerin an einer Haftungsgrundlage fehlt. Ebenso wenig braucht das Bundesgericht auf die vorinstanzlichen Erwägungen einzugehen, wonach sich die Beschwerdeführerin ausschliesslich an den Alleinerben halten muss, wenn sie aus dem Umstand, dass dieser die Honorarrechnung genehmigt hat, Rechte ableiten will. Auch die Frage, ob neben der im Gesetz verankerten Haftung der beschwerten Erben für die gehörige Ausrichtung des Vermächtnisses (Art. 562 Abs. 3 i.V.m.
Art. 485 Abs. 2 ZGB
) Platz für eine konkurrierende direkte zivilrechtliche Verantwortlichkeit des Willensvollstreckers bleibt (bejahend ITEN, Verantwortlichkeit, a.a.O., S. 133 f.), stellt sich von vornherein nur dann, wenn die Grundlagen beider Ansprüche gegeben sind. Das aber ist nach dem Gesagten gerade nicht der Fall. Schliesslich kann dahingestellt bleiben, ob die Klageforderung der Beschwerdeführerin der verkürzten Verjährungsfrist von fünf Jahren gemäss
Art. 128 OR
unterliegt und verjährt sei, worauf sich der Beschwerdegegner mit der Begründung beruft, dass der Erblasser ihn als langjährigen "Hausanwalt" zum Willensvollstrecker bestimmt habe. | de |
fd3fae57-9aeb-4b46-a458-c9a65bdbcb05 | Erwägungen
ab Seite 325
BGE 131 V 325 S. 325
Aus den Erwägungen:
2.
[2.1-2.3 : Rechtliche Grundlagen; vgl.
BGE 131 V 316
Erw. 3.1-3.3]
BGE 131 V 325 S. 326
2.4
Im Kanton Zürich wird das Verfahren in sozialversicherungsrechtlichen Streitigkeiten durch das Gesetz über das Sozialversicherungsgericht vom 7. März 1993 (GSVGer; LS 212.81) geregelt. Dieses bestimmt in § 13 in der bis Ende 2004 geltenden Fassung, dass "die gesetzlichen und richterlichen Fristen, die nach Tagen bestimmt sind", stillstehen
a. vom siebten Tag vor Ostern bis und mit dem siebten Tag nach Ostern;
b. vom 15. Juli bis und mit dem 15. August;
c. vom 18. Dezember bis und mit dem 1. Januar.
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich räumte - in einem früheren Entscheid - zwar ein, es lasse sich aufgrund des Wortlautes dieser Bestimmung die Auffassung vertreten, die Vorschrift umfasse sämtliche Fristen und bezwecke eine Abgrenzung lediglich gegenüber den Terminen (d.h. der auf ein bestimmtes Datum festgesetzten richterlichen Fristen). Auch treffe es zu, dass der entstehungsgeschichtliche Zusammenhang (Einführung des
Art. 22a VwVG
) und das Postulat einer Vereinheitlichung des sozialversicherungsrechtlichen Verfahrens für eine generelle Anwendbarkeit der Bestimmung des § 13 GSVGer sprächen. Das kantonale Gericht erkannte jedoch, dass diese Norm nach Wortlaut sowie Sinn und Zweck sowie den Besonderheiten des erstinstanzlichen Beschwerdeverfahrens nach UVG (längere Beschwerdefrist, vorausgehendes Einspracheverfahren) auf die nach Monaten bestimmte Frist des
Art. 106 Abs. 1 UVG
(in der bis Ende 2002 gültigen Fassung) nicht anwendbar sei. Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat diese Beurteilung weder als willkürlich befunden noch darin einen Verstoss gegen Bundesrecht erblickt, nachdem seinerzeit gegen den kantonalen Entscheid Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhoben worden war (SVR 1998 UV Nr. 10 S. 27 Erw. 2c).
(...)
4.
4.1
Das UVG in der bis Ende 2002 geltenden Fassung kannte im Gegensatz zu
Art. 96 AHVG
(in Kraft bis Ende 2002), welcher die Art. 20 bis 24 VwVG anwendbar erklärte, keine Vorschrift, wonach die Bestimmungen über die Fristen gemäss VwVG auch im kantonalen Beschwerdeverfahren gemäss
Art. 108 UVG
anwendbar seien. Insbesondere fand die mit der Revision des OG
BGE 131 V 325 S. 327
vom 4. Oktober 1991 auf den 15. Februar 1992 in Kraft getretene Bestimmung des
Art. 22a VwVG
über den Fristenstillstand im Verwaltungsverfahren auf das erstinstanzliche Beschwerdeverfahren nach UVG keine Anwendung (RKUV 1994 Nr. U 194 S. 208). Anderseits schloss das UVG die Anwendung kantonalrechtlicher Fristenstillstandsbestimmungen im erstinstanzlichen Beschwerdeverfahren nicht aus (
BGE 116 V 265
). Es war somit bisher den Kantonen anheimgestellt, ob sie für das Beschwerdeverfahren nach
Art. 108 UVG
Gerichtsferien vorsehen wollten oder nicht (SVR 1998 UV 10 S. 26 Erw. 2a).
4.2
(vgl.
BGE 131 V 323
Erw. 5.2)
4.3
Die Argumente der Versicherten, welche für die Anwendung des ATSG und seiner Bestimmungen zum Fristenstillstand plädiert, dringen nicht durch.
Art. 82 Abs. 2 ATSG
räumt dem kantonalen Gesetzgeber für die Anpassung an das ATSG eine Übergangsfrist von fünf Jahren ein, kantonale Bestimmungen, die mit Bundesrecht (insbesondere mit
Art. 60 und 61 ATSG
) nicht vereinbar sind, anzupassen (vgl. Erw. 4.2 hievor). Mit dieser einzigen verfahrensrechtlichen Übergangsbestimmung hat sich der Gesetzgeber für eine kantonal unterschiedliche Verfahrensordnung während längerer Zeit entschieden. Er hat damit insbesondere auch in Kauf genommen, dass der Fristenstillstand in der Sozialversicherungsrechtspflege je nach kantonaler Verfahrensordnung unterschiedlich ausfällt. Es geht nicht darum, dass die Kantone damit befugt wären, über das In-Kraft-Treten des Bundesrechts zu bestimmen, denn spätestens am 1. Januar 2008 müssen die kantonalen Regelungen an das ATSG angepasst worden sein; der Bundesgesetzgeber hat die intertemporalrechtliche Weichenstellung in
Art. 82 Abs. 2 ATSG
vorgenommen. Das ATSG ist zwar darauf angelegt, dass formelle Bestimmungen (z.B. für das Verwaltungsverfahren) grundsätzlich sofort in Kraft treten, jedoch besteht eine Ausnahme in
Art. 82 Abs. 2 ATSG
, welche für das Rechtspflegeverfahren zwingend ist, auch wenn damit
während der Übergangszeit
das angestrebte Ziel der Rechtseinheit (noch) nicht erreicht wird. Die Argumentation mit "Sinn und Zweck" des ATSG ist in diesem Zusammenhang untauglich, weil dieses Auslegungselement im intertemporalrechtlichen Kontext nicht mit der Wünschbarkeit einer einheitlichen Regelung der Fristberechnung inkl. Fristenstillstand gleichgesetzt werden darf (vgl.
BGE 116 V 270
Erw. 5a).
BGE 131 V 325 S. 328
Wenn die Beschwerdeführerin schliesslich geltend macht, nach § 13 GSVGer seien die Fristen den Parteien in der Rechtsmittelbelehrung anzuzeigen, ist darauf hinzuweisen, dass diese kantonale Regelung die SUVA als eidgenössische Institution nicht bindet, da sie im Rahmen des Verwaltungsverfahrens - zu welchem auch der Erlass des Einspracheentscheides gehört - nicht dem kantonalen Recht unterworfen ist. Ob dies bei einer kantonalen Behörde - wie z.B. der IV-Stelle - anders ist, braucht hier nicht entschieden zu werden.
4.4
§ 13 Abs. 3 GSVGer in der bis Ende 2004 geltenden Fassung unterwirft lediglich die nach Tagen bestimmte Frist dem Fristenstillstand. Daraus hat sich eine konstante zürcherische und vom Eidgenössischen Versicherungsgericht geschützte Praxis entwickelt, wonach Monatsfristen wie diejenige von drei Monaten gemäss
Art. 106 Abs. 1 UVG
in der bis Ende 2002 gültigen Fassung dem Regime des Fristenstillstandes nicht unterworfen sind (SVR 1998 UV Nr. 10 S. 27 Erw. 2c). Diese negative Regelung hat längstens bis Ende 2007 resp. bis zur vorher erfolgten Einführung des Fristenstillstands für Monatsfristen Bestand (vgl. Erw. 4.2 f. hievor). Deshalb ist die vorinstanzliche Beschwerde offensichtlich verspätet eingereicht worden und das kantonale Gericht zu Recht darauf nicht eingetreten. | de |
52478d7a-986c-4999-9b2b-d69e9dfe4972 | Sachverhalt
ab Seite 332
BGE 146 V 331 S. 332
A.
B. wurde vom 1. November 2013 bis zum 30. April 2018 durch die Regionalen Sozialdienste A. unterstützt. Gestützt auf eine Verfügung der IV-Stelle Bern vom 8. Februar 2018 bezog er rückwirkend ab November 2014 eine ganze Rente der Invalidenversicherung. Im April 2018 erhielt er sein Freizügigkeitsguthaben aus beruflicher Vorsorge in Höhe von Fr. 111'393.- ausbezahlt. Im Juni 2018 meldete er sich bei der Ausgleichskasse des Kantons Bern (fortan: Ausgleichskasse) zum Bezug von Ergänzungsleistungen an. Die Verwaltung gewährte mit Verfügungen vom 7. November 2018 rückwirkend ab 1. November 2014 Ergänzungsleistungen in verschiedener Höhe, wobei sie bei den Einnahmen ab 1. November 2014 einen Verzehr des im April 2018 ausbezahlten Freizügigkeitsguthabens berücksichtigte. Auf Einsprache hin brachte sie von diesem die im Rahmen der Sonderveranlagung errechnete Steuer von Fr. 5'569.80 in Abzug (Einspracheentscheid vom 29. Juli 2019).
B.
Die hiergegen eingereichten Beschwerden der Regionalen Sozialdienste A. sowie des B. wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern nach Vereinigung der Verfahren mit Entscheid vom 14. Januar 2020 ab.
C.
Die Regionalen Sozialdienste A. und B. führen Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Sie beantragen, es sei der vorinstanzliche Entscheid vom 14. Januar 2020 aufzuheben und das vom Versicherten per 10. April 2018 herausgelöste Freizügigkeitsguthaben in Höhe von Fr. 111'393.- abzüglich der Steuerbelastung von Fr. 5'569.80 und des Vermögensfreibetrags von Fr. 37'500.- bei der Berechnung des Anspruchs auf Ergänzungsleistungen einnahmeseitig (erst) ab 1. März 2018, eventualiter ab 8. Februar 2018,
BGE 146 V 331 S. 333
als Vermögen zu berücksichtigen. Zur Neuberechnung sei die Sache an die Ausgleichskasse zurückzuweisen.
Die Ausgleichskasse beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung. Die Regionalen Sozialdienste A. nehmen mit Eingabe vom 11. Mai 2020 abschliessend Stellung.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut. Erwägungen
Erwägungen:
1.
Das Bundesgericht prüft seine Zuständigkeit und die (weiteren) Eintretensvoraussetzungen von Amtes wegen und mit freier Kognition (
Art. 29 Abs. 1 BGG
;
BGE 145 V 380
E. 1 S. 382 mit Hinweis).
1.1
Die Regionalen Sozialdienste A. sind nicht Verfügungsadressat im materiellen Sinn, sondern Dritte. Die Beschwerdelegitimation bei Drittbeschwerden ist zurückhaltend zu bejahen. Es bedarf eines spezifischen Rechtsschutzinteresses, das heisst eines unmittelbaren und konkreten Interesses der Drittperson an der Aufhebung oder Änderung der Verfügung. Das allgemeine Interesse an der richtigen Auslegung und Durchsetzung des Bundesrechts genügt nicht (
BGE 133 V 188
E. 4.3.3 S. 192 f. mit Hinweisen und E. 4.5 S. 194 f.). Soweit die Sozialhilfebehörde einen Ergänzungsleistungsanspruch im Anmeldeverfahren geltend machen könnte, weil sie den Versicherten unterstützt (
Art. 20 Abs. 1 ELV
[SR 831.301] i.V.m.
Art. 67 Abs. 1 AHVV
[SR 831.101]), kann daraus grundsätzlich eine Beschwerdelegitimation abgeleitet werden (zit.
BGE 133 V 188
E. 4.4.1 S. 193 mit Verweis auf Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts P 27/01 vom 31. Januar 2003 [E. 2.2], in: SVR 2005 EL Nr. 7 S. 15). Die Sozialhilfebehörde macht zudem geltend, durch die Zusprache einer zu tiefen Ergänzungsleistung entstehe ihr insofern ein Schaden, als das Substrat geschmälert werde, auf das sie im Umfang der geleisteten Bevorschussung Anspruch erheben könne (Möglichkeit der direkten Vergütung gemäss
Art. 22 Abs. 4 ELV
). Ihre Beschwerdebefugnis ist zu bejahen.
1.2
B. ist vom streitgegenständlichen Einspracheentscheid direkt betroffen und damit ebenfalls beschwerdelegitimiert.
2.
Das kantonale Gericht hat die gesetzlichen Bestimmungen insbesondere betreffend die Anrechnung von Einnahmen aus Vermögensverzehr (
Art. 11 Abs. 1 lit. c ELG
[SR 831.30]) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.
BGE 146 V 331 S. 334
3.
Strittig ist, ob das Guthaben eines Freizügigkeitskontos bei rückwirkender Zusprache einer ganzen Invalidenrente und Ergänzungsleistungen in der Berechnung des Ergänzungsleistungsanspruchs ebenfalls rückwirkend als (verzehrbares) Vermögen zu berücksichtigen ist. Es handelt sich um eine vom Bundesgericht frei überprüfbare Rechtsfrage (Art. 95 lit. a i.V.m.
Art. 106 Abs. 1 BGG
).
3.1
Die Vorinstanz erwog im Wesentlichen, Freizügigkeitsguthaben der beruflichen Vorsorge seien bei der Berechnung des Anspruchs auf Ergänzungsleistungen als Vermögen entsprechend
Art. 11 Abs. 1 lit. c ELG
zu berücksichtigen, wenn sie bezogen werden könnten. Gemäss
Art. 16 Abs. 2 FZV
(SR 831.425) könne die versicherte Person die vorzeitige Auszahlung der Altersleistung verlangen, wenn sie eine ganze Rente der Eidgenössischen Invalidenversicherung beziehe. Demzufolge sei das Freizügigkeitskapital ab dem Zeitpunkt des Beginns des Rentenanspruchs anzurechnen, auch bei rückwirkender Rentenzusprache durch die Invalidenversicherung. Dieser Auffassung schliesst sich die Ausgleichskasse an. Sie verweist darauf, es sei die rückwirkende Berechnung der Ergänzungsleistung analog wie bei einer Rückerstattungsverfügung vorzunehmen.
3.2
Die Beschwerdeführer rügen demgegenüber, es dürften einnahmeseitig nur tatsächlich vorhandene Einkünfte und Vermögenswerte berücksichtigt werden, über die der Leistungsansprecher ungeschmälert verfügen könne. Vorliegend sei deshalb das Freizügigkeitsguthaben ab 1. März 2018 als Vermögenswert einzusetzen (als dem der Rentenverfügung vom 8. Februar 2018 folgenden Monat) bzw. - eventualiter - ab dem Verfügungsdatum am 8. Februar 2018.
3.3
Beide Seiten stützen ihre Standpunkte auf die bundesgerichtliche Praxis. Diese zeigt folgendes Bild:
3.3.1
In
BGE 140 V 201
E. 2.2 S. 203 f. hielt das Bundesgericht fest: "Demzufolge ist der EL-berechtigten Person das Freizügigkeitskapital, welches sie gestützt auf
Art. 16 Abs. 2 FZV
beziehen könnte, in dem Zeitpunkt, in dem sie Anspruch auf eine ganze Invalidenrente begründet, als Vermögen anzurechnen (Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts P 56/05 vom 29. Mai 2006 E. 3, in: SVR 2007 EL Nr. 3 S. 5 und Urteil 9C_612/2012 vom 28. November 2012 E. 3.3; CARIGIET/KOCH, Ergänzungsleistungen zur AHV/IV, 2. Aufl. 2009, S. 164)." Im zu beurteilenden Fall wurde der Versicherten am 11. April 2011 rückwirkend ab 1. Juli 2010 eine ganze Rente der Invalidenversicherung zugesprochen, mit Verfügung vom
BGE 146 V 331 S. 335
10. Mai 2012 monatliche Ergänzungsleistungen und Beihilfen ebenfalls für die Zeit ab 1. Juli 2010. Das vorhandene Freizügigkeitsguthaben liess sich die Versicherte erst am 10. Juli 2012 auszahlen; es wurde indes bei der EL-Berechnung bereits mit Wirkung ab 2011 berücksichtigt. Das Bundesgericht erwog, es reiche der mögliche Bezug des Freizügigkeitskontos für dessen Berücksichtigung in der EL-Berechnung und schützte die Anrechnung ab dem Jahr 2011. Wie die Beschwerdeführer indes richtig aufzeigen, war Streitgegenstand einzig die Höhe der Ergänzungsleistungen ab Mai 2011. Das Bundesgericht hatte sich mit der Frage einer Anrechnung von Freizügigkeitsguthaben rückwirkend auf den Zeitpunkt des Anspruchsbeginns für Invalidenrente und Ergänzungsleistungen angesichts des Verbots, über die Parteibegehren hinauszugehen (
Art. 107 Abs. 1 BGG
), gar nicht zu befassen.
3.3.2
In seinem Urteil 9C_612/2012 vom 28. November 2012 waren EL-Leistungen ab 1. Dezember 2010 streitig bei Rentenbezug seit 1. Juli 2008. Das Bundesgericht erwog abermals, Freizügigkeitsguthaben der beruflichen Vorsorge seien bei der Berechnung des EL-Anspruchs als Vermögen zu berücksichtigen, wenn sie bezogen werden könnten. Gemäss
Art. 16 Abs. 2 FZV
könne die versicherte Person die vorzeitige Auszahlung von Freizügigkeitspolicen und Freizügigkeitskonten verlangen, wenn sie eine volle (recte: ganze) Rente der Eidgenössischen Invalidenversicherung beziehe. Demzufolge sei das Freizügigkeitskapital in dem Zeitpunkt als Vermögen anzurechnen, in dem die berechtigte Person Anspruch auf eine ganze Invalidenrente begründe. Auch in diesem Fall musste sich das Bundesgericht zur Möglichkeit der rückwirkenden Anrechnung nicht äussern.
3.3.3
Nichts anderes ergibt sich aus dem Urteil 9C_390/2012 vom 20. Juli 2012, wonach Freizügigkeitskapital anrechenbares Vermögen bildet, sofern die Auszahlung verlangt werden könnte. Die dort zitierten Urteile 9C_41/2011 vom 16. August 2011 E. 6.2 und 9C_ 112/2011 vom 5. August 2011 E. 2 äussern sich zur hier strittigen Frage nicht. Das erste betraf den Erlass einer Rückforderung von Ergänzungsleistungen. Die Versicherte hatte es unterlassen, nach Zusprache einer ganzen Invalidenrente (auch) an ihren Ehemann der EL-Durchführungsstelle dessen Freizügigkeitskonto anzugeben. Die Rückforderung betraf nicht den Zeitraum ab Berentung des Ehemannes, sondern ab Kenntnis der diesbezüglichen Verfügung. Das zweite Urteil betraf die Verwirkung eines Rückforderungsanspruchs und damit zusammenhängend die Frage, inwieweit aus dem
BGE 146 V 331 S. 336
Anmeldeformular zum Bezug von Ergänzungsleistungen hervorging, dass auch Freizügigkeitsguthaben aufzuführen gewesen wären. Betroffen war auch hier ein Rückforderungsanspruch für die Zeit nach Erlass der Rentenverfügung der Invalidenversicherung. Schliesslich beschlägt der ebenfalls zitierte
BGE 135 I 288
E. 2.4 S. 289 f. die Fälligkeit der Freizügigkeitsleistung bei Wegzug ins Ausland.
3.3.4
Auch das Eidgenössische Versicherungsgericht äusserte sich mit Urteil P 56/05 vom 29. Mai 2006 einzig zur Zulässigkeit einer Anrechnung im Zeitraum zwischen erfolgter Verfügung und effektivem Bezug, ohne sich zur hier interessierenden Frage der rückwirkenden Berücksichtigung zu äussern. Zwar durfte es - anders als heute das Bundesgericht - über die Begehren der Parteien zu deren Gunsten oder Lasten hinausgehen (Art. 132 Abs. 1 lit. c aOG). Es war dazu jedoch nicht verpflichtet (
BGE 144 V 153
E. 4.2.1 S. 156 mit Verweis auf
BGE 119 V 241
E. 5 S. 249), weshalb sich aus der fehlenden Anrechnung rückwirkend ab Beginn des Rentenanspruchs nicht deren Unzulässigkeit ableiten lässt.
3.3.5
Zusammenfassend hat sich das Bundesgericht (bzw. zuvor das Eidgenössische Versicherungsgericht) zur hier strittigen Frage noch nicht explizit geäussert.
3.4
In der Lehre äussern sich - soweit ersichtlich - zur Frage einer Anrechnung des Freizügigkeitskapitals vor Zusprache einer ganzen Invalidenrente einzig CARIGIET/KOCH (a.a.O., S. 164). Indem diese ohne weitere Begründung nur unter Verweis auf das referierte Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts P 56/05 (vorne E. 3.3.4) für den Fall rückwirkender Rentenerhöhung den Grundsatz der rückwirkenden Anrechnung des Freizügigkeitskapitals postulieren, verkennen sie, dass eine solche im zitierten Entscheid gerade nicht thematisiert wurde (vgl. E. 3.3.4).
4.
Die Anrechnung des Freizügigkeitskapitals als verzehrbarer Vermögenswert im Sinne des
Art. 11 Abs. 1 lit. c ELG
setzt nach der referierten Rechtsprechung nicht einen tatsächlich erfolgten Bezug, sondern den bloss möglichen im Sinne eines rechtlich zulässigen Bezuges voraus. Möglich ist der Bezug des Guthabens, wenn der Versicherte eine volle (recte: ganze) Rente der Invalidenversicherung bezieht (
Art. 16 Abs. 2 FZV
). Die Beantwortung der Streitfrage hängt mithin davon ab, ab welchem Zeitpunkt im Sinne von
Art. 16 Abs. 2 FZV
von einem Bezug der Invalidenrente auszugehen ist. Es ist auszulegen, ob damit der Zeitpunkt des - oft
BGE 146 V 331 S. 337
rückwirkenden - Anspruchsbeginns gemeint ist oder der Zeitpunkt, in dem der Rentenanspruch hoheitlich feststeht und damit die Renten(nach)zahlung ausgelöst wird.
5.
Das Gesetz ist in erster Linie nach seinem Wortlaut auszulegen. Ist der Text nicht ganz klar und sind verschiedene Auslegungen möglich, so muss das Gericht unter Berücksichtigung aller Auslegungselemente nach der wahren Tragweite der Norm suchen. Dabei hat es insbesondere den Willen des Gesetzgebers zu berücksichtigen, wie er sich namentlich aus den Gesetzesmaterialien ergibt (historische Auslegung). Weiter hat das Gericht nach dem Zweck, dem Sinn und den dem Text zugrunde liegenden Wertungen zu forschen, namentlich nach dem durch die Norm geschützten Interesse (teleologische Auslegung). Wichtig ist auch der Sinn, der einer Norm im Kontext zukommt, und das Verhältnis, in welchem sie zu anderen Gesetzesvorschriften steht (systematische Auslegung). Das Bundesgericht befolgt bei der Auslegung von Gesetzesnormen einen pragmatischen Methodenpluralismus und lehnt es ab, die einzelnen Auslegungselemente einer Prioritätsordnung zu unterstellen (zum Ganzen:
BGE 146 V 95
E. 4.3.1 S. 101 mit Hinweisen).
5.1
Art. 16 Abs. 2 FZV
lautet in den drei Sprachfassungen wie folgt:
Art. 16 Auszahlung der Altersleistungen
2
Beziehen die Versicherten eine volle Invalidenrente der Eidgenössischen Invalidenversicherung und wird das Invaliditätsrisiko nach Artikel 10 Absätze 2 und 3 zweiter Satz nicht zusätzlich versichert, so wird die Altersleistung auf Begehren der Versicherten vorzeitig ausbezahlt.
Art. 16 Paiement des prestations de vieillesse
2
Si l'assuré perçoit une rente entière d'invalidité de l'assurance fédérale et si le risque d'invalidité n'est pas assuré à titre complémentaire au sens de l'art. 10, al. 2 et 3, deuxième phrase, la prestation de vieillesse lui est versée plus tôt, sur sa demande.
Art. 16 Pagamento delle prestazioni di vecchiaia
2
Se gli assicurati percepiscono una rendita completa d'invalidità dell'assicurazione federale invalidità e il rischio d'invalidità non è coperto a titolo complementare secondo l'articolo 10 capoversi 2 e 3 secondo periodo, la prestazione di vecchiaia è versata anticipatamente su domanda dell'assicurato.
5.2
Bei Renten der Invalidenversicherung sind auseinanderzuhalten die Anspruchsentstehung, der Anspruchsbeginn und die Rentenzahlung (Urteil 9C_348/2018 vom 23. Januar 2019 E. 3.2; MEYER/REICHMUTH, Bundesgesetz über die Invalidenversicherung, 3. Aufl. 2014,
BGE 146 V 331 S. 338
N. 1 zu
Art. 29 IVG
; zur Abgrenzung zwischen Anspruchsentstehung und Anspruchsbeginn vgl. auch Urteile 9C_953/2011 vom 25. Oktober 2012 E. 6.2, in: SVR 2013 IV Nr. 12 S. 29; 9C_ 432/2012 und 9C_441/2012 vom 31. August 2012 E. 3.2 f.). Der Rentenanspruch
entsteht
grundsätzlich - mit Gestaltungsverfügung der IV-Stelle, die einerseits die Erfüllung der gesetzlichen Anspruchserfordernisse, die Anspruchsentstehung und den Anspruchsbeginn feststellt, anderseits gestützt darauf eine Rente hoheitlich zuspricht (vgl. Urteil 9C_341/2017 vom 27. September 2017 E. 5.2.2) - rückwirkend frühestens mit Ablauf von sechs Monaten nach Geltendmachung (
Art. 29 Abs. 1 IVG
i.V.m.
Art. 29 Abs. 1 ATSG
) auf den Zeitpunkt, in dem mit Erfüllung des leistungsbegründenden Sachverhalts (
Art. 28 Abs. 1 IVG
) der Versicherungsfall eingetreten ist. Anspruchs
beginn
ist der Beginn des Monats, in dem der Rentenanspruch entsteht (
Art. 29 Abs. 3 IVG
). Erst die Rentenverfügung löst die effektive Renten(nach)zahlung aus.
Die drei Sprachfassungen von
Art. 16 Abs. 2 FZV
knüpfen die Entstehung des Anspruchs auf Auszahlung des Freizügigkeitsguthabens übereinstimmend an den Bezug bzw. den Erhalt einer ganzen Rente. Ob damit der Beginn des Rentenanspruchs oder aber der Zeitpunkt der Leistungsverfügung der IV-Stelle als Auslöser der Rentenzahlung gemeint ist, ergibt sich aus diesem Wortlaut nicht unmittelbar (vgl. auch
BGE 139 V 442
E. 4.2.1 S. 447). Es ist demnach nach der wahren Tragweite der Norm zu suchen (oben E. 5 Ingress).
5.3
Die berufliche Vorsorge bezweckt die Absicherung der älteren Menschen, der Hinterbliebenen und Invaliden beim Eintritt eines Versicherungsfalles (Alter, Tod oder Invalidität,
Art. 1 Abs. 1 BVG
). Der Auszahlungsanspruch nach
Art. 16 Abs. 2 FZV
knüpft am Versicherungsfall Invalidität an. Für die dort vorgesehene vorzeitige Auszahlung ist aus teleologischer Sicht entscheidend, dass kein Interesse mehr besteht an der weiteren Erhaltung des Vorsorgeschutzes (vgl.
Art. 4 FZG
[SR 831.42]). Das trifft zu, wenn der Vorsorgefall bereits in Form einer mindestens 70 %igen Invalidität eingetreten ist und aufgrund dessen eine ganze Rente der Invalidenversicherung fliesst. Erst wenn dies bewiesen ist, d.h. der Rentenanspruch durch die zuständige Behörde (Verwaltung bzw. Gericht) rechtskräftig zugesprochen ist, fällt das Interesse an der Erhaltung des Vorsorgeschutzes dahin und ist der Zugriff auf das Vorsorgeguthaben möglich.
BGE 146 V 331 S. 339
5.4
Nicht mit der Auszahlung der Freizügigkeitsleistung vergleichbar ist - entgegen der Beschwerdegegnerin, die zu Recht darauf hinweist, dass eine rückwirkende Berücksichtigung zumindest das Bestehen des Anspruchs im fraglichen Zeitraum voraussetzt - die Nachzahlung von Dauerleistungen (etwa: Renten der Invalidenversicherung oder einer Pensionskasse). Dabei handelt es sich um Leistungen, die in Erfüllung eines rückwirkend entstandenen Anspruchs (oben E. 5.2) nachträglich ausgerichtet werden, und die für die rückwirkende Festsetzung des Ergänzungsleistungsanspruchs diesen Zeitraum betreffend grundsätzlich zu berücksichtigen sind, ansonsten eine Überentschädigung resultieren würde (vgl.
BGE 122 V 134
E. 2d S. 138 f.; Urteil 8C_205/2008 vom 1. Oktober 2008 E. 4.2). Demgegenüber kann der hier strittige Anspruch auf Auszahlung des Freizügigkeitsguthabens nach dem soeben (E. 5.3) Gesagten erst mit rechtskräftiger Zusprache einer ganzen Rente der Invalidenversicherung entstehen; von einer Verfügbarkeit des Vermögenswerts vor diesem Zeitpunkt kann keine Rede sein. Damit unterscheidet sich der zu beurteilende Fall auch von der Berücksichtigung des Anteils an einer unverteilten Erbschaft, die - bei hinreichender Klarheit über den Anteil - grundsätzlich rückwirkend ab dem Zeitpunkt des Erwerbs der Erbschaft im Zeitpunkt des Todes der Erblasserin angerechnet wird (Urteil 9C_447/2016 vom 1. März 2017 E. 4.2.2).
5.5
Zusammenfassend ist
Art. 16 Abs. 2 FZV
dahingehend auszulegen, dass der Anspruch auf Auszahlung des Guthabens eines Freizügigkeitskontos bei rückwirkender Zusprache einer ganzen Rente der Invalidenversicherung mit deren Rechtskraft entsteht. Erst ab diesem Zeitpunkt kann das Guthaben als verzehrbarer Vermögenswert angerechnet werden. Es besteht kein Anlass, von der Rechtsprechung abzuweichen, wonach grundsätzlich nur verfügbare Vermögenswerte anzurechnen sind (vgl. etwa zit. Urteil 9C_447/2016 E. 4.2.1 mit Hinweisen).
5.6
Vorliegend erwuchs die Verfügung der Invalidenversicherung vom 8. Februar 2018 unangefochten in Rechtskraft; die Beschwerdeführer verlangen die Berücksichtigung des Freizügigkeitsguthabens ab dem 1. März 2018. Das Bundesgericht darf nicht über die Begehren der Parteien hinausgehen (
Art. 107 Abs. 1 BGG
), so dass sich Weiterungen zum Zeitpunkt der - jedenfalls nach dem 1. März 2018 eingetretenen - Rechtskraft der Rentenverfügung erübrigen. Damit ist das strittige Guthaben ab 1. März 2018 in die Anspruchsberechnung einzubeziehen.
BGE 146 V 331 S. 340
6.
Nach dem Gesagten hat die Vorinstanz Bundesrecht verletzt, indem sie eine Anrechnung des Freizügigkeitsguthabens bereits ab 1. November 2014 geschützt hat. Die Beschwerde ist begründet. Der vorinstanzliche Entscheid vom 14. Januar 2020 und der Einspracheentscheid vom 29. Juli 2019 sind aufzuheben. Es wird festgestellt, dass das per 10. April 2018 herausgelöste Freizügigkeitsguthaben in Höhe von Fr. 111'393.- abzüglich der Steuerbelastung von Fr. 5'569.80 und des Vermögensfreibetrags von Fr. 37'500.- bei der Berechnung des Anspruchs auf Ergänzungsleistungen einnahmeseitig ab 1. März 2018 als verzehrbares Vermögen zu berücksichtigen ist. Zur Berechnung des Leistungsanspruchs ist die Sache an die Ausgleichskasse zurückzuweisen.
7.
Die unterliegende Beschwerdegegnerin trägt die Gerichtskosten (
Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG
). Die Regionalen Sozialdienste A. haben keinen Anspruch auf Parteientschädigung (
Art. 68 Abs. 3 BGG
). Der durch diese vertretene B. hat ebenfalls keinen Anspruch auf Parteientschädigung, schliesst er sich doch vollumfänglich dem Rechtsstandpunkt der in eigenem Namen prozessierenden Regionalen Sozialdienste A. an. Für die Wahrung seiner Interessen sind damit weder ihm selbst noch der Vertretung entschädigungspflichtige Arbeitsaufwände angefallen. Aus demselben Grund erübrigt sich auch eine Rückweisung an die Vorinstanz zur Neuverlegung der Parteientschädigung im kantonalen Gerichtsverfahren. | de |
23269577-73d9-4e8e-9e23-7b4479345678 | Sachverhalt
ab Seite 55
BGE 141 IV 55 S. 55
A.
Das Bezirksgericht Hinwil verurteilte X. am 12. Mai 2005 u.a. wegen mehrfachen Diebstahls und mehrfacher sexueller Handlungen mit Kindern zu einer unbedingten Gefängnisstrafe von 18 Monaten. X. verbüsste diese Strafe zusammen mit diversen anderen Freiheitsstrafen im Umfang von insgesamt 46 Monaten und 16 Tagen in der Strafanstalt Saxerriet seit dem 2. Juli 2004. Am 16. August 2007 entliess ihn das Amt für Justizvollzug des Kantons Zürich per 12. September 2007 bedingt aus dem Strafvollzug bei einer der Reststrafe entsprechenden Probezeit von 645 Tagen bis 18. Juni 2009.
BGE 141 IV 55 S. 56
Am Tag der bedingten Entlassung wurde X. wegen Verdachts auf sexuelle Handlungen mit einem Kind vorübergehend in Untersuchungshaft genommen. Das Kreisgericht Obertoggenburg-Neutoggenburg verurteilte ihn am 11. September 2008 wegen mehrfacher sexueller Handlungen mit einem Kind und mehrfacher Schändung zu einer Freiheitsstrafe von dreieinhalb Jahren, teilweise als Zusatzstrafe zum Urteil des Bezirksgerichts Hinwil vom 12. Mai 2005. Das Kantonsgericht St. Gallen wies die dagegen gerichtete Berufung am 8. Juni 2010 ab. Die kantonalen Gerichte hielten für erstellt, dass X. seine Tochter während des Strafvollzugs anlässlich von Hafturlauben zwischen dem 12. September 2004 und dem 2. November 2006 mehrfach sexuell missbrauchte. Das Bundesgericht wies die von X. dagegen erhobene Beschwerde am 14. April 2011 ab (Verfahren 6B_793/2010).
Am 25. Mai 2011 verurteilte das Bezirksgericht Hinwil X. u.a. wegen mehrfachen Diebstahls, begangen von April bis August 2010, zu einer Freiheitsstrafe von 9 Monaten, teilweise als Zusatzstrafe zum Urteil des Kantonsgerichts St. Gallen vom 8. Juni 2010.
X. verbüsst derzeit die Freiheitsstrafen gemäss den Urteilen des Kantonsgerichts St. Gallen vom 8. Juni 2010 und des Bezirksgerichts Hinwil vom 25. Mai 2011 (vgl. Verfahren 6B_715/2014).
B.
Am 11. September 2013 widerrief das Amt für Justizvollzug des Kantons Zürich die bedingte Entlassung vom 16. August 2007 und ordnete den Vollzug der Reststrafe von 645 Tagen an.
Den dagegen erhobenen Rekurs von X. hiess die Justizdirektion des Kantons Zürich am 6. Februar 2014 teilweise gut. Sie bestätigte den Widerruf der bedingten Entlassung, hob den Entscheid des Amts für Justizvollzug aber insofern auf, als damit der Vollzug der Reststrafe angeordnet wurde.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich hiess die dagegen gerichtete Beschwerde am 28. Juli 2014 teilweise gut, soweit es darauf eintrat. In Abänderung des Entscheids vom 6. Februar 2014 verpflichtete es die Justizdirektion, den Rechtsvertreter von X. für seine Bemühungen mit Fr. 3'819.90 aus der Staatskasse zu entschädigen. Im Übrigen wies es die Beschwerde in Bestätigung des Entscheids der Justizdirektion ab.
C.
X. wendete sich mit einer übermässig weitschweifigen Beschwerde an das Bundesgericht. Mit Verfügung des Instruktionsrichters vom 8. Oktober 2014 wurde er zu deren Verbesserung aufgefordert. Am
BGE 141 IV 55 S. 57 13. Dezember 2014 reichte er fristgerecht eine verbesserte Beschwerdeeingabe ein. Er beantragt im Wesentlichen, es sei vom Widerruf der bedingten Entlassung abzusehen. Das Urteil des Verwaltungsgerichts sei aufzuheben und die Angelegenheit im Sinne der Erwägungen zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Er ersucht überdies um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.
D.
Das Verwaltungsgericht beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei. Das Amt für Justizvollzug schliesst auf Abweisung der Beschwerde.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
3.1
Gemäss
Art. 86 Abs. 1 StGB
ist der Gefangene, der zwei Drittel seiner Strafe, mindestens aber drei Monate verbüsst hat, durch die zuständige Behörde bedingt zu entlassen, wenn es sein Verhalten im Strafvollzug rechtfertigt und nicht anzunehmen ist, er werde weitere Verbrechen oder Vergehen begehen. Dem bedingt Entlassenen wird eine Probezeit auferlegt, deren Dauer dem Strafrest entspricht. Sie beträgt jedoch mindestens ein Jahr und höchstens fünf Jahre (
Art. 87 StGB
). Begeht der bedingt Entlassene während der Probezeit ein Verbrechen oder Vergehen, so ordnet das für die Beurteilung der neuen Tat zuständige Gericht die Rückversetzung an (
Art. 89 Abs. 1 StGB
).
3.2
Nach dem klaren Wortlaut von
Art. 89 Abs. 1 StGB
kann eine neue Straftat nur dann zum Widerruf der bedingten Entlassung und zur Rückversetzung in den Strafvollzug führen, wenn sie in die Probezeit fällt. Für Taten, die vor Beginn oder nach Ablauf der Probezeit verübt wurden, enthält
Art. 89 StGB
keine Regelung. Das geltende Recht beschränkt den Widerruf wegen erneuter Straffälligkeit somit ausschliesslich auf Straftaten, die innerhalb der dem bedingt Entlassenen auferlegten Bewährungszeit liegen. Ein Widerruf nach
Art. 89 Abs. 1 StGB
kommt mit anderen Worten nicht in Betracht, wenn der bedingt Entlassene ausserhalb des massgebenden Zeitraums der Probezeit straffällig wird.
3.3
Der Beschwerdeführer beging die Straftaten, welche Anlass zum Widerruf der bedingten Entlassung vom 6. August 2007 gaben, nicht während der ihm auferlegten Probezeit, sondern anlässlich von
BGE 141 IV 55 S. 58
Hafturlauben während des Strafvollzugs zwischen dem 12. September 2004 und dem 2. November 2006. Es geht hier folglich nicht um ein zu sanktionierendes Bewährungsversagen während des massgebenden Zeitraums der Probezeit und damit offensichtlich nicht um einen Widerruf der bedingten Entlassung im Sinne von
Art. 89 Abs. 1 StGB
. Die Vorinstanz stellt sich unter diesen Umständen grundsätzlich zu Recht auf den Standpunkt, dass die für den Widerruf der bedingten Entlassung massgebenden Bestimmungen im StGB nicht zur Anwendung kommen.
3.4
3.4.1
Der Sache nach geht es vorliegend um die Frage der Zulässigkeit des Widerrufs einer als ursprünglich fehlerhaft erkannten Verfügung. Nach dem Dafürhalten der Vorinstanz wäre der Beschwerdeführer nicht bedingt entlassen worden, wenn man im Verfügungszeitpunkt um seine Straftaten gewusst hätte, die er während des Strafvollzugs verübte. Damit lägen revisionsähnliche Gründe vor, die es auch ohne ausdrückliche Gesetzesregelung erlaubten, auf die zu Unrecht gewährte bedingte Entlassung zurückzukommen. Dass bis zum Widerruf der bedingten Entlassung vom 11. September 2013 mehr als sechs Jahre vergangen seien, stehe einer Rücknahme der Verfügung nicht entgegen.
3.4.2
Verfügungen werden nach unbenutztem Ablauf der Rechtsmittelfrist oder nach Abschluss des Rechtsmittelverfahrens formell rechtskräftig und damit grundsätzlich unabänderlich. Nach Lehre und Rechtsprechung des Bundesgerichts kann auf eine als materiell fehlerhaft erkannte Verfügung dennoch insbesondere wegen unrichtiger Sachverhaltsfeststellung, fehlerhafter Rechtsanwendung oder nachträglicher Änderung der Sach- oder Rechtslage zurückgekommen werden, sofern wichtige öffentliche Interessen berührt sind. Fehlen positivrechtliche Bestimmungen über die Möglichkeit einer Änderung einer Verfügung, so ist darüber anhand einer Interessenabwägung zu befinden, bei welcher das Interesse an der richtigen Anwendung des objektiven Rechts dem Interesse am Vertrauensschutz gegenüberzustellen ist (vgl.
BGE 127 I 69
E. 2.2 ff.;
BGE 127 II 306
E. 7a;
BGE 120 Ib 42
E. 2b-c; siehe ANNETTE GUCKELBERGER, Der Widerruf von Verfügungen im schweizerischen Verwaltungsrecht, ZBl 6/2007 S. 293 ff.; KÖLZ/HÄNER, Verwaltungsverfahren und Verwaltungsrechtspflege des Bundes, 3. Aufl. 2013, Rz. 712; HÄFELIN/MÜLLER/UHLMANN, Allgemeines Verwaltungsrecht, 6. Aufl. 2010, Rz. 994 ff. und Rz. 997 ff.; TSCHANNEN/ZIMMERLI/MÜLLER, Allgemeines Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 2009, S. 287).
BGE 141 IV 55 S. 59
3.4.3
Die Vorinstanz stützt ihre Entscheidung auf diese Grundsätze. Beim Widerruf einer Verfügung über die bedingte Entlassung handelt es sich indessen nicht um eine reine Administrativmassnahme. Es geht um die Strafvollstreckung, wobei über die für den Betroffenen folgenschwere Frage entschieden wird, ob ihm die Freiheit erneut entzogen wird und er die Strafe doch noch verbüssen muss. Es geht damit um schwerwiegende Eingriffe in das Grundrecht der persönlichen Freiheit. Ob vor diesem Hintergrund ein Widerruf der bedingten Entlassung auf der Grundlage von allgemeinen verwaltungsrechtlichen Prinzipien überhaupt zulässig ist bzw. insofern nicht vielmehr eine ausdrückliche Gesetzesgrundlage mit expliziter Verfahrensregelung notwendig wäre, ist fraglich, kann hier allerdings offenbleiben, weil sich der zu beurteilende Verfügungswiderruf aus dem nachfolgenden Grund als unzulässig erweist.
3.4.4
Der Widerruf einer Verfügung, gestützt auf welche ein Verurteilter bedingt entlassen wird, hat weitreichende Konsequenzen. Er führt wie der Widerruf einer bedingten Entlassung nach
Art. 89 Abs. 1 StGB
im Ergebnis zu einer Rückversetzung in den Strafvollzug. Der Betroffene ist mit einem erneuten Freiheitsentzug konfrontiert. Im Hinblick auf die Bedeutung des Entscheids für den Betroffenen ist ein Widerruf daher nicht unbeschränkt zuzulassen, es sind ihm vielmehr feste zeitliche Grenzen zu setzen. Das legen Rechtssicherheitserwägungen und Vertrauensschutzgesichtspunkte, aber auch Überlegungen zum Legalitäts- und Verhältnismässigkeitsprinzip nahe. Der Betroffene soll nicht über Gebühr mit der Ungewissheit eines Widerrufs belastet bleiben. Es ist darüber sobald wie möglich innerhalb eines bestimmten Zeitraums zu entscheiden. Angesichts derselben einschneidenden Konsequenzen, die ein Verfügungswiderruf und ein Widerruf der bedingten Entlassung nach
Art. 89 Abs. 1 StGB
zur Folge haben, rechtfertigt es sich deshalb, die Fristenregelung, wie sie das StGB für den Widerruf bzw. die Rückversetzung in den Strafvollzug vorsieht, analog anzuwenden.
3.4.5
Das StGB in der Fassung von 1937 hat die Rückversetzung in den Strafvollzug zeitlich unbeschränkt zugelassen. Aufgrund der daraus sich ergebenden offenkundigen Härten für die Betroffenen hat die Teilrevision von 1971 die Möglichkeit des Widerrufs auf eine Maximalfrist von 5 Jahren seit Ablauf der Probezeit beschränkt. Die jetzige Revision des StGB hat diese Zeit auf drei Jahre verkürzt (
Art. 89 Abs. 4 StGB
; vgl. GÜNTER STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil II: Strafen und Massnahmen, 2. Aufl. 2006, § 4 Rz. 92; CORNELIA KOLLER, in: Basler Kommentar,
BGE 141 IV 55 S. 60
Strafrecht, Bd. I, 3. Aufl. 2013, N. 8 zu
Art. 89 StGB
; vgl. auch
Art. 46 Abs. 2 StGB
, welcher für den Widerruf des bedingten Strafvollzugs die gleiche Fristenregelung kennt).
3.4.6
Der Widerruf einer Verfügung, mit welcher einem Verurteilten die bedingte Entlassung gewährt wird, hat sich somit an der zeitlichen Grenze von
Art. 89 Abs. 4 StGB
zu orientieren (vgl. zur Anwendbarkeit der Bestimmungen des neuen Rechts über das Vollzugsregime für Täter, die nach bisherigem Recht verurteilt wurden:
BGE 133 IV 201
E. 2.1; Urteil 6B_303/2007 vom 6. Dezember 2007;
Art. 388 Abs. 3 StGB
und Ziff. 1 Abs. 3 der Schlussbestimmungen der Änderungen vom 13. Dezember 2002). Danach kommt ein Widerruf bzw. eine Rückversetzung in den Strafvollzug drei Jahre nach Ablauf der Probezeit nicht mehr in Frage. In diesem Zeitraum muss ein entsprechender Entscheid vorliegen, andernfalls ein Widerruf unzulässig wird (vgl.
BGE 113 IV 49
E. 5b). Es handelt sich dabei um einen Zeitraum, welcher ausreichend Gelegenheit zur Korrektur einer als ursprünglich fehlerhaft eingestuften Verfügung gibt. Diese zeitliche Grenze wurde vorliegend nicht eingehalten. Die dem Beschwerdeführer mit der Entlassungsverfügung vom 16. August 2007 auferlegte Probezeit von 645 Tagen endete am 18. Juni 2009. Gestützt auf die analog anwendbare Fristenregelung von
Art. 89 Abs. 4 StGB
war ein Widerruf folglich bis am 18. Juni 2012 möglich und zulässig. Der Beschwerdegegner kam erst am 11. September 2013 auf seine Verfügung betreffend bedingte Entlassung zurück. Weshalb er mit dem Widerruf derart lange zuwartete, ist nicht ersichtlich. Das Strafverfahren, welches wegen der während des Strafvollzugs begangenen Straftaten des Beschwerdeführers durchgeführt wurde, war in diesem Zeitpunkt bereits rechtskräftig abgeschlossen (vgl. Urteil 6B_793/2010 vom 14. April 2011). Dass der Beschwerdegegner davon keine Kenntnis gehabt hat, stellt die Vorinstanz nicht fest. Sie geht im Gegenteil davon aus, dieser habe nach Eintritt der Rechtskraft der Verurteilung ungerechtfertigterweise zwei Jahre bis zum Widerruf verstreichen lassen, und wirft ihm insofern eine Rechtsverzögerung vor. Die Entscheidung über den Widerruf wurde damit ungebührlich lange hinausgezögert und erfolgte (zudem) nicht innerhalb des massgebenden Zeitraums von drei Jahren seit Ablauf der Probezeit. Der Widerruf der bedingten Entlassung erweist sich daher als bundesrechtswidrig. | de |
df8b9019-06bc-42bb-aadc-444f1a72230f | Erwägungen
ab Seite 312
BGE 137 IV 312 S. 312
Aus den Erwägungen:
2.
2.3
Gemäss
Art. 89 Abs. 6 StGB
bildet das Gericht in Anwendung von Artikel 49 eine Gesamtstrafe, wenn auf Grund der neuen Straftat die Voraussetzungen für eine unbedingte Freiheitsstrafe erfüllt sind und diese mit der durch den Widerruf vollziehbar gewordenen
BGE 137 IV 312 S. 313
Reststrafe zusammentrifft. Zu prüfen ist, ob die Vorinstanz vorliegend zu Recht eine Gesamtstrafe gebildet hat.
2.4
Die Vorbringen des Beschwerdeführers, in denen er die Ausfällung einer Geldstrafe oder von gemeinnütziger Arbeit verlangt, gehen fehl. Mit
Art. 41 StGB
hat der Gesetzgeber zwar für Strafen unter sechs Monaten eine gesetzliche Prioritätsordnung zugunsten nicht freiheitsentziehender Sanktionen eingeführt. Dahinter steckt das zentrale Anliegen des reformierten Sanktionenrechts, die sozial desintegrierenden kurzen Freiheitsstrafen zurückzudrängen (
BGE 134 IV 97
E. 4.2.2 mit weiteren Hinweisen). Eine Gesamtstrafe nach
Art. 89 Abs. 6 StGB
kann nur ausgefällt werden, wenn im konkreten Fall sowohl bei der neuen Strafe als auch bei der Reststrafe die Voraussetzungen des unbedingten Vollzugs gegeben sind. Da diese zusammen vollzogen werden, ist auf die Gesamtlänge der Strafe abzustellen, die der Täter zu verbüssen hat. Eine Strafe ab sechs Monaten fällt nicht mehr in den Anwendungsbereich von
Art. 41 StGB
. Dies gilt auch, wenn es sich um eine Gesamtstrafe handelt. Führen die Reststrafe und die neue Strafe zu einer Gesamtstrafe von sechs Monaten oder mehr, steht daher
Art. 41 StGB
nicht mehr zur Diskussion. | de |
75e2a59a-6bb2-45f3-b5ac-76801c6aa230 | Sachverhalt
ab Seite 12
BGE 109 Ia 12 S. 12
Am 14. Dezember 1981 erstattete X. bei der Bezirksanwaltschaft Zürich Strafanzeige gegen Unbekannt wegen Freiheitsberaubung, eventuell Nötigung, in Verbindung mit Amtsmissbrauch. Die aufgrund dieser Anzeige geführte Strafuntersuchung wurde von der Bezirksanwaltschaft Zürich am 5. Juli 1982 eingestellt, und die Untersuchungskosten von Fr. 330.50 wurden der Verzeigerin überbunden. X. rekurrierte gegen die Einstellungsverfügung an die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich mit dem Antrag, die Untersuchung zu ergänzen, eventuell die Untersuchungskosten auf die Staatskasse zu nehmen.
BGE 109 Ia 12 S. 13
Mit Verfügung vom 28. Juli 1982 forderte die Staatsanwaltschaft die Rekurrentin auf, innert 10 Tagen Fr. 800.-- zur Deckung der ihr allenfalls aufzuerlegenden Kosten und einer eventuellen Umtriebsentschädigung an die Gegenpartei zu leisten, widrigenfalls der Rekurs von der Hand gewiesen würde.
X. führt gegen die Verfügung der Staatsanwaltschaft staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von
Art. 4 BV . Das Bundesgericht heisst die Beschwerde im Sinne der Erwägungen gut.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
b) Weiter stellt sich die Frage, ob die Kautionsauflage den direkt aus
Art. 4 BV
abzuleitenden Anspruch der Beschwerdeführerin auf unentgeltliche Rechtspflege verletzt. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts hat eine bedürftige Partei in einem nicht aussichtslosen Prozess unmittelbar aufgrund von
Art. 4 BV
Anspruch darauf, dass der Richter für sie ohne Hinterlegung oder Sicherstellung von Kosten tätig wird, und dass ihr ein unentgeltlicher Rechtsbeistand ernannt wird, wenn sie eines solchen zur gehörigen Wahrung ihrer Interessen bedarf (
BGE 104 Ia 73
, 326,
BGE 99 Ia 327
). Das Bundesgericht hat dies meist für den Zivilprozess ausgesprochen, doch muss es sinngemäss auch für den Strafprozess gelten. Dabei geht es in der Praxis im Strafprozess zumeist um den Anspruch auf Offizialverteidigung, doch kann es keinem Zweifel unterliegen, dass einer unbemittelten Partei im Strafverfahren auch nicht das Ergreifen von nicht aussichtslosen Rechtsmitteln durch das Begehren nach Kostensicherstellung verunmöglicht werden darf. Dies muss in gleicher Weise für den Verurteilten wie für den Geschädigten gelten, dem nach kantonalem Prozess Parteistellung und Weiterziehungsrecht zukommen.
Für den subsidiären Privatkläger nach § 46 der zürcherischen Strafprozessordnung (StPO) hat das Bundesgericht freilich in
BGE 66 I 18
f. sowie in einem in ZR 51 Nr. 109 teilweise publizierten Urteil vom 18. Januar 1952 die Verweigerung der unentgeltlichen Rechtspflege als mit
Art. 4 BV
vereinbar erklärt, dies im wesentlichen mit folgender Begründung: Der Grundsatz der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz enthalte keine Verpflichtung des Staates, unter allen Umständen und für jedes Verfahren Unentgeltlichkeit zu bewilligen. Ein Anspruch auf Einräumung des Armenrechts bestehe nur insoweit, als die mittellose Partei im Falle der Verweigerung in ihrem verfassungsmässigen Recht auf
BGE 109 Ia 12 S. 14
staatlichen Rechtsschutz verkürzt würde. Unentgeltliche Prozessführung brauche nicht bewilligt zu werden für Verfahren, die mit Kosten und Vorschüssen verbunden seien, wenn der Staat seinen Schutz in einem anderen Verfahren unter genügenden Garantien kostenfrei gewähre. Soweit verschiedene Verfahren zur Verfügung ständen, dürfe die bedürftige Partei auf das für sie kostenfreie verwiesen und beschränkt werden. Da nach der Zürcher StPO Vergehen allgemein auf Anzeige hin von Amtes wegen verfolgt werden könnten in einem Verfahren, das für den Geschädigten grundsätzlich kostenfrei sei, liege keine Verweigerung des staatlichen Schutzes darin, dass Unentgeltlichkeit für die Privatstrafklage nach
§ 46 StPO
nicht bewilligt werde.
Das Bundesgericht begründet also die Zulässigkeit der Verweigerung des Kostenerlasses im subsidiären Privatklageverfahren gerade damit, dass das Offizialverfahren für den Geschädigten kostenfrei sei und ihm genügende Garantien biete. Solche Garantien gewährleistet das Offizialverfahren dem bedürftigen Geschädigten aber nur dann, wenn er sich auch ohne Hinterlegung von Kosten gegen eine ungerechtfertigte Einstellung des Verfahrens mit Rekurs zur Wehr setzen kann. Andernfalls ist ihm der gleiche Rechtsschutz wie dem Bemittelten nicht gewährleistet. Räumt das kantonale Recht dem Geschädigten ein Rekursrecht ein, so muss ihm dieses Rechtsmittel ungeachtet seiner finanziellen Verhältnisse offen stehen. Nur damit wird der Garantie der Rechtsgleichheit gemäss
Art. 4 BV
Genüge getan, die verlangt, dass eine bedürftige Partei in einem für sie nicht aussichtslosen Verfahren den Richter ohne Vorschussleistung für Prozesskosten angehen kann. Selbstverständlich darf nicht davon ausgegangen werden, Einstellungen erfolgten immer zu Recht und Rekurse dagegen hätten ohnehin keine Erfolgsaussichten.
Die Beschwerdeführerin begründet ihr Interesse am Rekurs gegen die Einstellungsverfügung u.a. damit, dass ihr nach Art. 7 KV ein Schadenersatz- und Genugtuungsanspruch gegen den Staat zustehe. Wenn sie diesen nach dem kantonalen Haftungsgesetz geltend machen wolle, so könne ihr nach § 21 dieses Gesetzes die Rechtskraft der Einstellungsverfügung entgegengehalten werden. Ob dies zutrifft, kann offengelassen werden. Auch ohne derartiges Interesse hat sie Anspruch darauf, als Partei die ihr vom kantonalen Recht gewährten Rechtsmittel ohne Rücksicht auf ihre finanzielle Lage wahrzunehmen und sich auch gegen die Kostenauflage zur Wehr zu setzen.
BGE 109 Ia 12 S. 15
Dies führt zum Ergebnis, dass die Beschwerdeführerin im Rekursverfahren aufgrund von
Art. 4 BV
Anspruch auf Befreiung von der Kautionspflicht hat, falls sie unbemittelt ist und der Rekurs nicht als aussichtslos erscheint. Ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist von der Staatsanwaltschaft nicht überprüft worden und kann den Akten nicht entnommen werden. Die angefochtene Verfügung ist daher aufzuheben. Die Staatsanwaltschaft wird zu prüfen haben, ob die erwähnten Voraussetzungen vorliegen. | de |
17cd2a28-9dd2-4cc8-ba10-f6a3283eb4c2 | Sachverhalt
ab Seite 13
BGE 108 V 13 S. 13
A.-
Der 1916 geborene italienische Staatsangehörige Italino Primus meldete sich 1972 zum Bezug einer Rente der schweizerischen Invalidenversicherung an. Am 23. Januar 1974 lehnte die Schweizerische Ausgleichskasse dieses Begehren verfügungsweise ab.
BGE 108 V 13 S. 14 Italino Primus beschwerte sich hiegegen am 22. Februar 1974 bei der Eidgenössischen Rekurskommission der AHV/IV für die im Ausland wohnenden Personen und reichte, als deren Entscheid auf sich warten liess, am 4. April 1977 beim Eidg. Versicherungsgericht Rechtsverzögerungsbeschwerde ein. Diese wurde teilweise gutgeheissen, indem das Eidg. Versicherungsgericht die Rekurskommission anwies, die bei ihr anhängige Beschwerde im Sinne der Erwägungen an die Hand zu nehmen und so rasch als möglich zum Entscheid zu führen (Urteil vom 19. Dezember 1977).
Mit Entscheid vom 21. Februar 1978 hiess die Rekurskommission die Beschwerde vom 22. Februar 1974 in dem Sinne gut, dass sie Italino Primus ab 1. Juli 1973 eine ganze einfache Invalidenrente zusprach. Daraufhin wandte sich der Anwalt des Versicherten am 2. März 1978 an die Schweizerische Ausgleichskasse mit dem Begehren, es sei für die lange Wartezeit ein Zins zu 5% seit mittlerem Verfall zusätzlich zu den Rentenzahlungen auszurichten. Gestützt auf Art. 8 lit. c in Verbindung mit Art. 7 lit. a des schweizerisch-italienischen Abkommens über Soziale Sicherheit verfügte die Schweizerische Ausgleichskasse am 14. Juni 1978 anstelle derRente eine Abfindung von Fr. 11'241.--. Mit separater Verfügung vom 30. Juni 1978 lehnte die Kasse das Begehren um Ausrichtung von Verzugszinsen ab.
B.-
Die gegen die Verfügung vom 30. Juni 1978 erhobene Beschwerde wies die Eidgenössische Rekurskommission der AHV/IV für die im Ausland wohnenden Personen mit Entscheid vom 13. September 1979 ab.
C.-
Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt Italino Primus beantragen, es sei der vorinstanzliche Entscheid aufzuheben und es sei die Schweizerische Ausgleichskasse anzuweisen, ihm "als Zins den Betrag von Fr. 2'810.25 nebst Zins darauf zu 5% ab 1. Juli 1978 zu bezahlen". Auf die Begründung wird, soweit erforderlich, in den Erwägungen eingegangen. Die Schweizerische Ausgleichskasse und das Bundesamt für Sozialversicherung schliessen auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
Erwägungen
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Das vorliegende Verfahren betrifft Verzugszinsen auf einer Sozialversicherungsleistung. Es handelt sich mithin um einen Streit um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen,
BGE 108 V 13 S. 15
weshalb dem Eidg. Versicherungsgericht die umfassende Überprüfungsbefugnis gemäss
Art. 132 OG
zusteht (
BGE 101 V 117
Erw. 2).
2.
a) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts gilt für öffentlichrechtliche Geldforderungen der allgemeine ungeschriebene Rechtsgrundsatz, dass der Schuldner Verzugszinsen zu entrichten hat, wenn er sich mit seiner Leistung im Verzug befindet (
BGE 101 Ib 258
Erw. 4b,
BGE 95 I 263
mit Hinweisen; Urteile vom 30. Mai 1980 in Praxis 70/1981 Nr. 86 und vom 11. November 1977 in ZBl 79/1978 S. 550 ff.). Wiederholt hat das Bundesgericht jedoch auf die Möglichkeit von Ausnahmen hingewiesen (
BGE 95 I 263
, zitiertes Urteil vom 30. Mai 1980). Eine solche besteht namentlich auf dem Gebiet der Sozialversicherung. Das Eidg. Versicherungsgericht hat seit jeher festgehalten, dass es im Sozialversicherungsrecht keine Verzugszinsen gibt, sofern solche nicht gesetzlich vorgesehen sind (
BGE 103 V 156
Erw. 7b,
BGE 101 V 117
Erw. 3; EVGE 1968 S. 21 Erw. 2 und S. 172 Erw. 4, 1967 S. 64 Erw. 4, 1960 S. 94, 1952 S. 88; RSKV 1979 S. 12, 1973 S. 77 und 123; unveröffentlichtes Urteil Wipf vom 17. Januar 1978). Die Doktrin hat dieser Rechtsprechung teils ausdrücklich, teils stillschweigend zugestimmt (MAURER, Schweizerisches Sozialversicherungsrecht, Band I S. 306 Fussnote 688; derselbe, Rechtsfortbildung durch die sozialgerichtliche Rechtsprechung in der Schweiz, SZS 16/1972 S. 190; KNAPP, Précis de droit administratif, Nr. 431 S. 96; GRISEL, Droit administratif suisse, S. 325; IMBODEN, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, 4. Aufl., Band I Nr. 123 I S. 31; anderer Meinung dagegen IMBODEN/RHINOW, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, 5. Aufl., Band I Nr. 31 II S. 188 f., sowie Luzius MÜLLER, Die Rückerstattung rechtswidriger Leistungen als Grundsatz des öffentlichen Rechts, Basler Studien zur Rechtswissenschaft, Heft 117, S. 105).
In
BGE 101 V 117
Erw. 3 hat das Eidg. Versicherungsgericht seine Rechtsprechung einlässlich dargelegt und festgehalten, dass der Hauptgrund für die Verneinung einer Verzugszinspflicht sich aus der Rolle ergibt, welche der Verwaltung zukommt. Sie tritt als Inhaberin der öffentlichen Gewalt auf und ist verpflichtet, die Leistungsbegehren der Versicherten zu prüfen, was manchmal längere Zeit in Anspruch nimmt, und das Recht in objektiver Weise darauf anzuwenden. Wollte man ihr durchwegs Verzugszinsen auferlegen, so käme dies einer Bestrafung für die sorgfältige Erfüllung ihrer Aufgaben gleich. Nach dem Grundsatz der Gleichbehandlung
BGE 108 V 13 S. 16
muss anderseits auch der Versicherte von der Bezahlung von Verzugszinsen befreit sein, wenn er glaubt, sein Recht verteidigt zu haben.
b) Allerdings hat das Eidg. Versicherungsgericht schon im Jahre 1967 die Möglichkeit von Ausnahmen bei besonderen Umständen ("circonstances particulières") vorbehalten, diese aber nicht näher umschrieben (EVGE 1967 S. 64 Erw. 4 in fine; vgl. auch
BGE 103 V 156
Erw. 7b, EVGE 1968 S. 21 Erw. 2, S. 173, RSKV 1973 S. 123). In
BGE 101 V 118
hat es entschieden, dass die ausnahmsweise Auferlegung von Verzugszinsen bei widerrechtlichen oder auch nur trölerischen Machenschaften von Verwaltungsorganen ("manoeuvres illicites ou purement dilatoires") gerechtfertigt ist (vgl. auch RSKV 1979 S. 12).
Diese Voraussetzungen sah das Eidg. Versicherungsgericht bislang nur in besonders krassen Einzelfällen als erfüllt an. So wurden im Bereiche der Krankenversicherung solche Umstände darin erblickt, dass eine Versicherte ihre Beitragsschuld bestritten hatte, ohne irgendeinen Entschuldigungsgrund dafür anzugeben; auch hatte sie keinen Vergleich mit der Krankenkasse angestrebt und sich auch nicht die Mühe genommen, sich sobald als möglich von Verpflichtungen zu befreien, die sie nicht mehr tragen wollte oder konnte; durch ihr Verhalten hatte sie der Kasse erhebliche Umtriebe verursacht. Das Gericht stellte fest, gegenüber denjenigen Versicherten, die ihrer Beitragspflicht regelmässig nachkommen, wäre es unbillig, wenn die Kasse die ganze Belastung durch diesen Streitfall zu übernehmen hätte, und bestätigte die von der Vorinstanz angeordnete Auferlegung von Verzugszinsen (EVGE 1968 S. 21 Erw. 2). In einem andern Fall nahm das Eidg. Versicherungsgericht eine Ausnahme vom Grundsatz der Nichtverzinsbarkeit deshalb an, weil eine Ausgleichskasse sich in willkürlicher Weise wiederholt und während einer langen Dauer geweigert hatte, einen von der zuständigen Invalidenversicherungs-Kommission gefassten Beschluss durch Verfügung zu eröffnen und der Versicherten eine Invalidenrente zuzusprechen (
BGE 101 V 119
Erw. 4). Keine besonderen Umstände im Sinne einer Ausnahme vom allgemeinen Grundsatz lagen hingegen vor, als Krankenkassen auf den von einem Arzt eingereichten Rechnungen Abzüge vornahmen, welche sich als unrechtmässig erwiesen (
BGE 103 V 156
Erw. 7b), als sie Krankengelder bzw. eine Invaliditätsentschädigung zu Unrecht vorenthielten (EVGE 1968 S. 167 ff., 1967 S. 57 ff.; RSKV 1979 S. 3 ff., 1973 S. 68 ff.) und als sich die Auszahlung von Arbeitslosenentschädigungen
BGE 108 V 13 S. 17
zufolge der Erhebung einer Verwaltungsgerichtsbeschwerde durch die Arbeitslosenkasse verzögerte (unveröffentlichtes Urteil Wipf vom 17. Januar 1978).
3.
a) Der Beschwerdeführer wendet sich in seiner Verwaltungsgerichtsbeschwerde zunächst grundsätzlich gegen die erwähnte Rechtsprechung. Dazu bringt er im wesentlichen vor, es bestehe kein sachlicher Grund dafür, die Verzugszinsfrage im Sozialversicherungsrecht anders zu entscheiden als in den übrigen Gebieten des öffentlichen Rechts. Der Empfänger von Sozialversicherungsleistungen sei in besonderem Masse darauf angewiesen, dass die ihm zustehenden Leistungen möglichst rasch ausbezahlt werden. Wer sie mit Verspätung erhalte, sei schlechtergestellt als derjenige, dem sie unverzüglich zugehen. Darin liege eine Rechtsungleichheit, die es - gestützt auf
Art. 4 BV
- durch Zahlung von Verzugszinsen auszugleichen gelte. Dass die Versicherung für die einlässliche Prüfung der Leistungspflicht Zeit benötige, sei kein Argument für die Ablehnung von Verzugszinsen. Die Sozialversicherung geniesse im Falle der nicht rechtzeitigen Auszahlung Vorteile zu Lasten der Versicherten, indem sie - bei Überschüssen - die Gelder zinsbringend anlegen bzw. - bei Überschuldung - Zinsen sparen könne. Ferner hebt der Beschwerdeführer hervor, dass mit der 9. AHV-Revision im Beitragsbereich die Verzugszinspflicht eingeführt worden sei, weshalb es nicht mehr als recht und billig sei, sie nun auch für den Leistungsbereich vorzusehen.
b) Praxisänderungen lassen sich im allgemeinen nur rechtfertigen, wenn die neue Lösung besserer Erkenntnis der ratio legis, veränderten äusseren Verhältnissen oder gewandelten Rechtsanschauungen entspricht (
BGE 107 V 82
Erw. 5a mit Hinweisen). Wie das Gesamtgericht, dem die Rechtsfrage der Verzugszinspflicht wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung unterbreitet wurde, entschieden hat, sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt. Die Rechtsprechung des Eidg. Versicherungsgerichts geht dem Grundsatz nach davon aus, dass Verzugszinsen nicht geschuldet sind, sofern sie das Gesetz nicht vorsieht, und nimmt mithin ein qualifiziertes Schweigen des Gesetzes an (MAURER, Sozialversicherungsrecht, S. 232 und 306 Fussnote 688). An diesem Rechtszustand änderte sich bis zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Kassenverfügung (30. Juni 1978) nichts. Dass auf den 1. Januar 1979 mit der 9. AHV-Revision im Bereich der Beitragserhebung die Verzugszinspflicht eingeführt wurde, spricht entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers nicht gegen, sondern vielmehr für die bisherige
BGE 108 V 13 S. 18
Rechtsprechung. In seiner Botschaft über die 9. AHV-Revision vom 7. Juli 1976 (BBl 1976 III 28) führte der Bundesrat nach der Darlegung der für Verzugs- und Vergütungszinsen im Beitragssektor sprechenden Gründe folgendes aus:
"Dagegen dürfte es sich erübrigen, eine Regelung zu treffen für Vergütungszinsen, die nach der Praxis des EVG zu bezahlen sind, wenn Versicherungsleistungen in schwer schuldhafter Weise mit erheblicher Verspätung ausgerichtet werden; die hiefür von der Rechtsprechung aufgestellten Voraussetzungen werden bei der AHV/IV nach bisheriger Erfahrung nur selten erfüllt sein. Solche Tatbestände können daher vorderhand in den Verwaltungsweisungen geordnet werden."
In den Beratungen der Kommissionen der eidgenössischen Räte und auch im Plenum selber stand eine allfällige Ausdehnung der Verzugszinspflicht auf den Leistungsbereich in keinem Zeitpunkt zur Diskussion (vgl. Protokolle der nationalrätlichen Kommission vom 14. Februar 1977, S. 28 ff., und der ständerätlichen Kommission vom 31. März 1977, S. 36; Amtl. Bull. 1977 N 307, S. 256). Es ist daher nach wie vor davon auszugehen, dass die grundsätzliche Verneinung von Verzugszinsen auf Leistungen der Sozialversicherung auf einem qualifizierten Schweigen des Gesetzes beruht. Angesichts dieser klaren Situation kann auch nicht gesagt werden, die generelle Einführung von Verzugszinsen im Sozialversicherungsrecht entspreche gewandelten Rechtsanschauungen. Demnach ist daran festzuhalten, dass das Sozialversicherungsrecht grundsätzlich keine Verzugszinsen kennt, sofern solche nicht gesetzlich vorgesehen sind.
c) Der Hinweis des Beschwerdeführers auf das Gleichbehandlungsgebot vermag hieran nichts zu ändern. Wird um die Ausrichtung einer Rente der Invalidenversicherung nachgesucht, so hat die Verwaltung bezüglich der Leistungspflicht verschiedene Abklärungen (etwa über die Versicherteneigenschaft, die gesundheitlichen und erwerblichen Verhältnisse, die Eingliederungsmöglichkeiten, die Faktoren der Rentenberechnung) vorzunehmen, deren Dauer in starkem Masse von den Gegebenheiten im konkreten Einzelfall abhängt. Erfahrungsgemäss hat dies (sowie der Umstand, dass die Leistungen der Invalidenversicherung für die zwölf der Anmeldung vorangehenden Monate ausgerichtet werden können; vgl.
Art. 48 Abs. 2 IVG
) zur Folge, dass es, wenn - möglicherweise erst nach Durchlaufen des Beschwerdeweges - die Leistungspflicht bejaht wird, praktisch in allen Fällen zu einer rückwirkenden Zusprechung von Renten (und auch von Hilflosenentschädigungen und Taggeldern)
BGE 108 V 13 S. 19
kommt. Insofern liegen die Verhältnisse bei der überwiegenden Zahl der Gesuchsteller grundsätzlich gleich, weshalb nicht von einer rechtsungleichen Behandlung der einen Versicherten im Vergleich zu andern gesprochen und daraus die Notwendigkeit eines Zinsausgleichs abgeleitet werden kann.
Auch die übrigen Vorbringen des Beschwerdeführers sind nicht stichhaltig. Zwar mag es zutreffen, dass sich im Falle der Nichtverzinsbarkeit im Leistungsbereich für die Sozialversicherung gewisse Zinsvorteile ergeben können. Indessen gilt es zu bedenken, dass eine generelle Bejahung der Verzugszinspflicht angesichts der grossen Zahl von Leistungsbegehren, welche die Verwaltung zu bearbeiten hat, zu einer erheblichen Vermehrung des administrativen Aufwandes und zu einer Verminderung der Leistungsfähigkeit der Sozialversicherung führen würde, was letztlich dem Interesse der Allgemeinheit der Versicherten zuwiderliefe. Dem könnte zwar entgegengehalten werden, die Frage nach dem Verhältnis zwischen Aufwand und Nutzen stelle sich auch bezüglich der Verzugszinspflicht im Beitragssektor. Zu beachten ist aber, dass hier Verzugszinsen nicht bei jeder verspäteten Beitragszahlung, sondern in der Regel erst dann geschuldet sind, wenn die Beiträge nicht innert vier Monaten nach Beginn des Zinslaufs bezahlt werden (
Art. 41bis Abs. 1 und 2 AHVV
), und dass auf Beiträgen von weniger als Fr. 3'000.-- generell keine Verzugszinsen zu entrichten sind (
Art. 41bis Abs. 4 AHVV
). Daraus folgt, dass sich die Verzugszinsfrage bloss bei einem Teil der verspäteten Beitragszahlungen stellt, wogegen sie im Falle der generellen Bejahung der Verzugszinspflicht im Leistungsbereich nach dem zuvor Gesagten praktisch bei jeder Gewährung von Geldleistungen zu prüfen wäre.
4.
a) Sodann macht der Beschwerdeführer geltend, in seinem Falle müsse die Verpflichtung zur Entrichtung von Verzugszinsen schon im Hinblick auf die Ausnahmepraxis des Eidg. Versicherungsgerichts bejaht werden; denn es sei zu einer krassen widerrechtlichen Rechtsverzögerung gekommen. Ob dabei ein Verschulden mitgespielt habe, sei unerheblich, sehe doch Art. 3 Abs. 1 des Bundesgesetzes über die Verantwortlichkeit des Bundes sowie seiner Behördemitglieder und Beamten vom 14. März 1958 (VG) eine vom Verschulden unabhängige Haftung vor.
b) Gemäss Beschluss des Gesamtgerichts ist daran festzuhalten, dass die ausnahmsweise Bejahung der Verzugszinspflicht nur bei besonderen Umständen in Betracht kommen kann. Solche sind nur gegeben bei widerrechtlichen oder trölerischen Machenschaften;
BGE 108 V 13 S. 20
dabei bedarf es neben der Rechtswidrigkeit auch eines schuldhaften Verhaltens der Verwaltung (oder einer Rekursbehörde). Ferner hat es das Gesamtgericht abgelehnt, die Verzugszinspflicht generell für bestimmte Gruppen von Fällen (etwa gerichtlich festgestellte Rechtsverzögerungen) zu bejahen. Wegleitend dafür ist die Überlegung, dass die Auferlegung von Verzugszinsen im Sozialversicherungsrecht nach wie vor nur ausnahmsweise und in Einzelfällen gerechtfertigt ist, bei denen das Rechtsempfinden in besonderer Weise tangiert ist.
c) Im Urteil vom 19. Dezember 1977 betreffend die Rechtsverzögerungsbeschwerde des Beschwerdeführers (vgl. den Parallelfall in
BGE 103 V 190
ff.) hat das Eidg. Versicherungsgericht ausgeführt, dass eine unrechtmässige Rechtsverzögerung dann vorliegt, wenn die Umstände, welche zur unangemessenen Verlängerung des Verfahrens führten, objektiv nicht gerechtfertigt sind; unerheblich ist dabei, auf welche Gründe - beispielsweise auf ein Fehlverhalten der Behörden oder auf andere Umstände - die Rechtsverzögerung zurückzuführen ist (
BGE 103 V 194
Erw. 3c). Das Gericht sah in jenem Verfahren die vom Beschwerdeführer erhobene Rüge als berechtigt an und stellte eine objektiv nicht gerechtfertigte Verzögerung fest. Die Frage eines subjektiven Verschuldens war dabei nicht zu prüfen. Angesichts des in Erw. 4b hievor Gesagten kann der Beschwerdeführer aus dem erwähnten Urteil für die hier streitige Frage der Verzugszinspflicht nichts zu seinen Gunsten ableiten. Im übrigen bringt er in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde nichts vor, was auf ein Verschulden bei der von der Rekurskommission begangenen Rechtsverzögerung in dem am 21. Februar 1978 erledigten Verfahren schliessen bzw. die im vorinstanzlichen Entscheid zur Verneinung eines Verschuldens angeführten Überlegungen als fragwürdig erscheinen liesse.
Somit sind die Voraussetzungen für eine ausnahmsweise Auferlegung von Verzugszinsen nicht erfüllt. Soweit der Beschwerdeführer sein Begehren, die Schweizerische Ausgleichskasse habe ihm den Betrag von Fr. 2'810.25 samt Zins ab 1. Juli 1978 zu bezahlen, auf
Art. 3 Abs. 1 VG
abstützt, ist auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde schon deshalb nicht einzutreten, weil Staatshaftungsforderungen nicht in die sachliche Zuständigkeit des Eidg. Versicherungsgerichts fallen (
Art. 10 Abs. 1 VG
) und im übrigen ohnehin nicht mittels Beschwerde, sondern auf dem Klageweg zu verfolgen sind (
Art. 10 Abs. 2 VG
,
Art. 116 lit. c OG
,
Art. 5 Abs. 3 VwVG
).
BGE 108 V 13 S. 21 | de |
32819c03-ab1e-434c-b486-e6da308d1e61 | Sachverhalt
ab Seite 190
BGE 103 V 190 S. 190
A.-
Mit Rechtsverzögerungsbeschwerde vom 4. April 1977 gelangt Advokat Dr. S. an das Eidg. Versicherungsgericht und führt aus, sein Mandant Attilio Scattareggia habe am 6. Februar 1974 bei der Rekurskommission der Alters-,
BGE 103 V 190 S. 191
Hinterlassenen- und Invalidenversicherung für die im Ausland wohnenden Personen eine Beschwerde eingelegt, die immer noch nicht erledigt sei. Dadurch werde Art. 6 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten verletzt, wonach jedermann darauf Anspruch habe, dass seine Sache innerhalb einer angemessenen Frist gehört werde. Er beantrage daher, es sei der Rekurskommission eine kurze Frist zur materiellen Entscheidung des Streitfalles anzusetzen.
B.-
In ihrer Vernehmlassung vom 27. April 1977 bestätigt die Rekurskommission, dass die Beschwerde am angeführten Datum bei ihr eingereicht worden sei. Die Rekurskommission habe seit 1972 in jedem Jahresbericht ihre Aufsichtsbehörde auf die durch die starke Geschäftszunahme bewirkte, bedauerliche Verzögerung in der Behandlung der Beschwerdefälle hingewiesen. Mit einer Wartedauer von bisher 3 Jahren und 2 Monaten sei der Beschwerdeführer nicht schlechter gestellt als zahlreiche andere Gesuchsteller, die sich mit dem Entscheid der Eidgenössischen Ausgleichskasse nicht abfänden. Wenn der vorliegende Fall erledigt werden müsse, bevor er an der Reihe sei, habe dies eine starke Bevorzugung des Beschwerdeführers gegenüber andern, die schon länger auf ihren Entscheid warten müssten, zur Folge. Daraus ergäbe sich eine weitere Verzögerung älterer Verfahren. Die Verzögerungsbeschwerde sei daher abzuweisen.
Das Eidgenössische Departement des Innern als administrative Aufsichtsbehörde über die Rekurskommission der Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung für die im Ausland wohnenden Personen bedauert in seiner Stellungnahme vom 18. Mai 1977 die grossen Verzögerungen, die teilweise auf Personalmangel zurückzuführen seien. Erwägungen
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Gemäss
Art. 128 OG
beurteilt das Eidg. Versicherungsgericht letztinstanzlich Verwaltungsgerichtsbeschwerden gegen Verfügungen im Sinne der
Art. 97 und 98 lit. b-h OG
auf dem Gebiete der Sozialversicherung. Laut
Art. 97 Abs. 2 OG
gilt als Verfügung auch das unrechtmässige Verweigern oder Verzögern einer Verfügung. Da der Beschwerdeführer eine Rechtsverzögerung durch die Rekurskommission der Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung für die im
BGE 103 V 190 S. 192
Ausland wohnenden Personen - mithin durch eine eidgenössische Rekurskommission nach
Art. 98 lit. e OG
- rügt, ist auf die Rechtsverzögerungsbeschwerde einzutreten.
2.
a) Zur Begründung seiner Rechtsverzögerungsbeschwerde beruft sich der Beschwerdeführer auf die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK), welche von der Schweiz am 28. November 1974 ratifiziert wurde und am gleichen Tag für ihr Gebiet in Kraft trat (AS 1974 II S. 2151 ff.). Mit ihrem Inkrafttreten wurde die EMRK (Abschnitt I) in bezug auf ihre materiellen Garantien mit Ausnahme von Art. 13 in der Schweiz direkt anwendbar; sie gilt in der schweizerischen Rechtsordnung gleich wie ein Bundesgesetz (
BGE 102 Ia 481
Erw. 7a; SCHINDLER, Die Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention für die Schweiz, ZSR 94/1975 I S. 366 ff.; J.-P. MÜLLER, Die Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention in der Schweiz, ZSR 94/1975 I S. 373 ff., insbesondere S. 377 ff.).
Gemäss
Art. 6 Ziff. 1 Satz 1 EMRK
hat jedermann Anspruch darauf, dass seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist gehört wird, und zwar von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über die Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage zu entscheiden hat. Die Frage, ob auch die allgemeinen und besondern Verwaltungsgerichte unter diese Bestimmung fallen, ist umstritten (vgl. dazu: PARTSCH, Die Rechte und Freiheiten der Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 142 ff.; SCHUBARTH, Die Artikel 5 und 6 der Konvention, insbesondere im Hinblick auf das schweizerische Strafprozessrecht, ZSR 94/1975 I S. 495; SCHORN, Die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, S. 184/5, Ziff. 15 und 16). Diese Frage kann offen bleiben, wie sich aus den nachfolgenden Erwägungen ergibt.
b) Art. 6 der Konvention enthält verschiedene Garantien, die nach bisherigem schweizerischem Verfassungsrecht zum Teil im Willkürverbot des
Art. 4 BV
(und der dazu entwickelten Rechtsprechung), zum Teil in der Garantie des verfassungsmässigen Richters von
Art. 58 BV
und zum Teil in ungeschriebenen rechtsstaatlichen Grundsätzen enthalten
BGE 103 V 190 S. 193
sind, zum Teil aber auch über diese Grundsätze hinausgehen und so für die Schweiz neues Recht schaffen (SCHUBARTH, a.a.O., S. 494). Was das in Art. 6 enthaltene Beschleunigungsgebot - die Garantie, dass die gerichtlichen Verfahren ohne unnötige Verzögerung durchgeführt werden - anbetrifft, liegt kein neues Recht vor (vgl. SCHUBARTH, a.a.O., S. 503). Dies scheint auch der Meinung des Bundesrates zu entsprechen, der in seinem Bericht vom 9. Dezember 1968 zur Menschenrechtskonvention festhält, dass "das schweizerische Recht im allgemeinen mit den Regeln des Art. 6 übereinstimmt", und nur die Forderungen hinsichtlich der Öffentlichkeit des Verfahrens und der Garantie eines gerechten Prozesses im Hinblick auf unser innerstaatliches Recht einer nähern Prüfung unterzieht (BBl 1968 II S. 1111); dabei bringt er hinsichtlich des Grundsatzes der Öffentlichkeit des Verfahrens einen Vorbehalt und hinsichtlich der Garantie eines gerechten Prozesses eine Erklärung an (AS 1974 II S. 2173; BBl a.a.O. und 1972 I S. 995).
Da der von der Konvention gebotene Schutz nur insoweit selbständige Bedeutung hat, als er den durch die Verfassungen und Gesetze des Bundes und der Kantone gewährten Schutz übersteigt (
BGE 101 Ia 69
und
BGE 101 IV 253
), kann die Konvention im vorliegenden Fall ausser Betracht bleiben.
3.
a) Das Rechtsschrifttum ist sich darin einig, dass eine Verletzung des Willkürverbots des
Art. 4 BV
(willkürliche Rechtsverweigerung) vorliegt, wenn eine Gerichts- oder Verwaltungsbehörde ein Gesuch, dessen Erledigung in ihre Kompetenz fällt, nicht an die Hand nimmt und behandelt (FLEINER-GIACOMETTI, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, S. 418; BURCKHARDT, Kommentar BV, 1931, S. 49; BIRCHMEIER, Organisation der Bundesrechtspflege, Art. 84, S. 314 f.; AUBERT, Traité de droit constitutionnel suisse, Bd. 2, S. 649; GRISEL, Droit administratif suisse, S. 178; IMBODEN/RHINOW, Verwaltungsrechtsprechung, 5. Aufl., Nr. 80, B. II, S. 496; KOTTUSCH, Zum Verhältnis von Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit, Diss. Zürich 1973, S. 101).
Da in der Praxis regelmässig Fälle zu beurteilen waren, in welchen sich die kantonale Behörde geweigert hatte, tätig zu werden, befasst sich das Rechtsschrifttum nicht näher mit der Frage, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit die Verzögerung eines Entscheides durch die zuständige Behörde zu einer Verletzung des Willkürverbots des
Art. 4 BV
wird.
BGE 103 V 190 S. 194
Einzig FAVRE (Droit constitutionnel suisse, 1970, S. 264) spricht sich nicht nur zur Rechtsverweigerung im engern Sinne, sondern auch zur Rechtsverzögerung aus, indem er festhält:
"Le déni de justice peut consister dans le retard injustifié; le délai dans lequel l'autorité doit agir doit s'apprécier d'après la nature de l'affaire et les circonstances."
b) Das Bundesgericht hat in einer umfangreichen staatsrechtlichen Rechtsprechung zum Willkürverbot des
Art. 4 BV
, vom ersten publizierten Entscheid (BGE 1 S. 3) bis heute, die Rechtsfrage der formellen Rechtsverweigerung zu klären versucht. Es hat bereits in BGE 4 S. 194 ausgeführt:
"Eine Rechtsverweigerung, welche als eine Verfassungsverletzung involvierend das Bundesgericht zur Intervention berechtigt, liegt dann vor, wenn eine Behörde sich weigert, eine in ihren Geschäftskreis fallende Angelegenheit an Hand zu nehmen und zu behandeln, sei es, dass sie die Behandlung ausdrücklich ablehnt, sei es, dass sie dieselbe stillschweigend unterlässt."
(Vgl. auch: BGE 3 S. 429, 15 S. 28, 23 S. 979, 24 I 182, 30 I 7 und 36 I 345.)
In
BGE 87 I 246
fasst es zusammen:
"Das Bundesgericht hat von jeher angenommen, dass eine kantonale Behörde eine formelle Rechtsverweigerung begehe und
Art. 4 BV
verletze, wenn sie ein bei ihr gestelltes Gesuch nicht an die Hand nehme und behandle."
Da das Bundesgericht in der Regel Fälle zu entscheiden hatte, in welchen eine Behörde überhaupt nicht tätig werden wollte, kam es nicht dazu abzuklären, was für Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit eine Verzögerung einer behördlichen Handlung zur formellen Rechtsverweigerung wird. Einzig in
BGE 94 I 101
hält es zur Frage der Rechtsverzögerung durch eine Verwaltungsbehörde fest:
"Avant qu'elle puisse être incriminée, dans les affaires de ce genre, de déni de justice, il faut que l'autorité ait au moins le temps matériel d'intervenir de manière appropriée. Si un délai, dont l'étendue doit s'apprécier en rapport avec la nature de l'affaire et au vu des circonstances, s'est écoulé sans qu'elle ne fasse rien, alors, mais alors seulement, elle se rend coupable d'un déni de justice formel."
c) Aus dem Gesagten ergibt sich, dass eine unrechtmässige Verzögerung einer Verfügung und damit eine formelle Rechtsverweigerung
BGE 103 V 190 S. 195
dann vorliegt, wenn die zuständige Behörde sich zwar bereit zeigt, die Verfügung zu erlassen, sie aber nicht binnen der Frist erlässt, welche nach der Natur der Sache und nach der Gesamtheit der übrigen Umstände als angemessen erscheint.
In der Gerichtspraxis zur formellen Rechtsverweigerung ist der Richter bisher stets von den objektiven Gegebenheiten ausgegangen. Wenn dies für die Rechtsverweigerung im engern Sinne gilt, muss es auch für die Rechtsverweigerung im weitern Sinne, die Rechtsverzögerung, Geltung haben. Für den Rechtsuchenden ist es in der Tat unerheblich, auf welche Gründe - beispielsweise auf ein Fehlverhalten der Behörden oder auf andere Umstände - die Rechtsverweigerung oder die Rechtsverzögerung zurückzuführen ist; entscheidend für ihn ist ausschliesslich, dass die Behörde nicht oder nicht fristgerecht handelt. Bei der Feststellung einer unrechtmässigen Rechtsverzögerung geht es deshalb um die Würdigung objektiver Gegebenheiten. Eine unrechtmässige Rechtsverzögerung liegt dann vor, wenn die Umstände, welche zur unangemessenen Verlängerung des Verfahrens führten, objektiv nicht gerechtfertigt sind.
Ob sich die gegebene Prozessdauer mit dem dargelegten Anspruch des Bürgers auf Rechtsschutz innert angemessener Frist verträgt oder nicht, ist am konkreten Einzelfall zu prüfen.
4.
In
Art. 85 Abs. 2 AHVG
, der laut
Art. 69 IVG
für den Bereich der Invalidenversicherung sinngemäss anwendbar ist, beauftragt der Bundesgesetzgeber die Kantone mit der Regelung des Rekursverfahrens; er schreibt ihnen aber vor (lit. a), dass das Verfahren einfach, rasch und für die Parteien grundsätzlich kostenlos sein muss. Zwar richtet sich das Verfahren der Rekurskommission der Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung für die im Ausland wohnenden Personen nicht nach den Vorschriften des
Art. 85 AHVG
, sondern gemäss Art. 12 der VO über verschiedene Rekurskommissionen vom 3. September 1975 (SR 831.161) nach dem Bundesgesetz über das Verwaltungsverfahren. Weder im VwVG noch in den ergänzenden Bestimmungen der erwähnten Verordnung findet sich eine dem
Art. 85 Abs. 2 lit. a AHVG
entsprechende Bestimmung in bezug auf die Einfachheit und Raschheit des Verfahrens. Es Wäre jedoch nicht einzusehen, weshalb diese
BGE 103 V 190 S. 196
Vorschrift nur für die kantonalen Rekursbehörden in Sozialversicherungsstreitigkeiten Verbindlichkeit haben sollte, während die eidgenössische Rekursbehörde davon befreit wäre. Eine solche Auslegung würde eine die Rechtsgleichheit verletzende Benachteiligung der im Ausland wohnenden Versicherten mit sich bringen.
Art. 85 Abs. 2 lit. a AHVG
hat demnach für die Rekurskommission analog zu gelten.
Die Frage, ob die Bestimmung des
Art. 85 Abs. 2 lit. a AHVG
einen allgemeinen Verfahrensgrundsatz oder nur eine verbindliche Weisung an die staatlichen Organe darstellt, die keinen unmittelbaren Anspruch des Bürgers zu begründen vermöchte, kann offen bleiben. Die Bestimmung zeigt, dass der Gesetzgeber hinsichtlich des fristgerechten Rechtsschutzes im Bereich der Sozialversicherung besonders hohe Anforderungen stellt.
5.
Im Zeitpunkt der Rechtsverzögerungsbeschwerde, am 4. April 1977, war die erstinstanzliche Beschwerde des Versicherten vom 6. Februar 1974 knapp drei Jahre und zwei Monate rechtshängig, ohne dass sie von der Vorinstanz an die Hand genommen worden war. Darin liegt ohne Zweifel eine bedeutende Verzögerung des Prozesses. Ob mit dieser Verzögerung der aus
Art. 4 BV
fliessende Anspruch auf Rechtsschutz innert angemessener Frist verletzt wird, ist im folgenden zu prüfen.
a) Bezüglich der Geschäftslast der Rekurskommission ergibt sich aus ihren jährlichen Geschäftsberichten folgende Entwicklung:
Fälle eingegangen erledigt hängig (31.12.)
1970 534 529 207
1971 503 450 260
1972 1008 405 863
1973 978 535 1306
1974 1079 540 1845
1975 1114 606 2353
1976 1396 600 3149
Der Vernehmlassung der Rekurskommission ist zu entnehmen, dass die Eingänge im 1. Quartal 1977 gegenüber dem 1. Quartal des Vorjahres von 267 Fällen um 64% auf 438 Fälle zugenommen haben. Unter den anhängigen Fällen befinden sich noch rund 200 Beschwerden aus dem Jahre 1973.
BGE 103 V 190 S. 197
Nachdem die Aufsicht über die Rekurskommission auf den 1. Januar 1975 an das Eidgenössische Departement des Innern übergegangen war, machte der Bundesrat im Bericht über seine Geschäftsführung im Jahre 1975 (S. 47) darauf aufmerksam, dass die Zahl der erledigten Beschwerden wie schon in den vergangenen Jahren viel kleiner sei als die Zahl der neueingereichten und dass das Beschwerdeverfahren oft rund drei Jahre dauere. Im Geschäftsbericht 1976 (S. 41) wurde auf die steigenden Rückstände und die Tatsache hingewiesen, dass das Beschwerdeverfahren oft rund 4 Jahre in Anspruch nehme.
Die Geschäftsprüfungskommissionen des Nationalrates und des Ständerates liessen sich im Frühjahr 1976 über die Rückstände orientieren.
b) Hinsichtlich der personellen Situation der Rekurskommission zeigt sich folgende Lage:
In der (im Bundesblatt nicht veröffentlichten) Botschaft vom 12. Mai 1976 zum "Voranschlag 1976 Nachtrag I" beantragte der Bundesrat die Erhöhung des Personalbestandes um 78 Stellen. Dabei erwähnte er in der Begründung - neben andern Amtsstellen - ausdrücklich die Rekurskommission der Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung für die im Ausland wohnenden Personen. Das Parlament lehnte die Schaffung der zusätzlichen 78 Stellen ab (Amtl.Bull. Nationalrat 1976 S. 787, Ständerat 1976 S. 324). Dabei wurde in den Verhandlungen die Meinung vertreten, dass der Bundesrat den Personalbedarf der überlasteten Verwaltungszweige durch interne Verschiebungen zu decken habe. Tatsächlich konnte darauf hingewiesen werden, dass beispielsweise 1975 insgesamt 407 Stellen umbesetzt wurden, 349 innerhalb der Departemente und 58 zwischen den verschiedenen Departementen (Amtl.Bull. Ständerat 1976 S. 181). Eine genügende personelle Verstärkung der Rekurskommission wurde in der Folge nicht durchgeführt.
Schliesslich ist bekannt, dass es nicht immer leicht hält, freiwerdende Stellen mit geeigneten Personen zu besetzen. Aus dem Geschäftsbericht der Rekurskommission für das Jahr 1975 geht hervor, dass die Stelle eines dritten Gerichtsschreibers nicht besetzt werden konnte, aus dem Geschäftsbericht 1976, dass die Besetzung einer neugeschaffenen Richterstelle noch ausstand.
BGE 103 V 190 S. 198
c) Seit 1970 verdeutlichte sich durch eine steigende Zahl von Eingängen und Pendenzen von Jahr zu Jahr das Übermass der Geschäftslast der Rekurskommission und der in personeller Hinsicht unbefriedigende Zustand. Eine Verminderung der Zahl eingehender Beschwerden konnte nicht erwartet werden. Rechtzeitige Massnahmen im organisatorischen, verfahrensmässigen und/oder personellen Bereich hätten die heutige Lage abwenden können, auch wenn man berücksichtigt, dass solche Massnahmen eine gewisse Zeit brauchen, bis sie sich praktisch auswirken.
Da somit die Verzögerung keine objektive Rechtfertigung findet, die gegenüber dem Rechtsschutzanspruch des Bürgers Bestand hätte, erweist sich die Rüge des Beschwerdeführers als berechtigt. Es ist Aufgabe des Rechtsstaates, das Recht jedes Bürgers auf staatlichen Rechtsschutz zu gewährleisten. Wenn dieser Rechtsanspruch des Bürgers durch Überlastung und personelle Unterdotierung einer Gerichtsbehörde beeinträchtigt wird, ist es Sache des Rechtsstaates, die nötigen und geeigneten Massnahmen zu treffen, um die Justizgarantie wiederherzustellen. Geschäftslast und Personalmangel können es nicht rechtfertigen, Verfassungsrecht zu durchbrechen.
6.
Der Rechtsvertreter des Versicherten verlangt, dass der Rekurskommission eine kurze Frist zur materiellen Entscheidung des Streitfalles anzusetzen sei. Diesem Antrag kann nicht stattgegeben werden.
a) Es ist ausserordentlich schwierig, den zeitlichen Verlauf eines Verfahrens zum voraus abzuschätzen. Bei der Rekurskommission der Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung für die im Ausland wohnenden Personen erweist sich eine zeitliche Bestimmung als besonders schwierig. Der Verkehr mit dem Ausland, vor allem die Abklärung bei ausländischen Behörden und Fachleuten, ist erfahrungsgemäss zeitraubend. Der Rekurskommission ist es in vielen Fällen verwehrt, auf eine beförderliche Erledigung der von ausländischen Instanzen zu tätigenden Geschäfte Einfluss zu nehmen. Der zeitliche Verlauf des Verfahrens wird damit neben den allgemeinen Umständen des Prozesses (Vorarbeit der Verwaltung, Einwände des Versicherten, Beweismassnahmen usw.) auch vom besondern Umstand des Verkehrs mit dem Ausland bestimmt. Es ist daher nicht gerechtfertigt, der Rekurskommission eine Frist zu setzen, deren Einhaltung nur zum Teil von ihr selber abhängt.
BGE 103 V 190 S. 199
b) Das Eidg. Versicherungsgericht hat nur zu prüfen, ob im vorliegenden Fall das Rechtsschutzgebot verletzt ist. Es ist jedoch nicht zu übersehen, dass der Anspruch des Beschwerdeführers auf fristgerechten staatlichen Rechtsschutz den in der gleichen Verfassungsbestimmung verankerten Grundsatz der Rechtsgleichheit anderer Versicherter, die ebenfalls an die Rekurskommission der Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung für die im Ausland wohnenden Personen gelangt sind, nicht verletzen darf.
7.
Da dem Eidg. Versicherungsgericht die tatsächlichen und rechtlichen Mittel nicht zur Verfügung stehen, die zu den erheblichen Verzögerungen führenden Ursachen mit geeigneten Massnahmen zu bekämpfen, rechtfertigt sich die Zustellung des Urteils an den Bundesrat. | de |
be757264-2386-4fa7-a8dd-eebbab785db3 | Sachverhalt
ab Seite 170
BGE 133 II 169 S. 170
Die Abwasserreinigungsanlage (ARA) Kiesen besteht seit 1977. Sie wird vom Gemeindeverband ARA Region Unteres Kiesental (im Folgenden: Gemeindeverband) betrieben. In der Anlage wird das Abwasser aus dem Einzugsgebiet gereinigt. Seit den neunziger Jahren wurden dort auch Speiseöl- und Speisefettabfälle aus der Speisefettindustrie sowie ab dem Jahr 2000 zusätzlich Flotatschlämme (Schlachtabfälle) aus Schlachthäusern, teilweise von Betrieben ausserhalb des Einzugsgebiets, verwertet. Diese Abfälle werden nach Bedarf bei der Vergärung von Klärschlämmen aus der Abwasserreinigung beigegeben. Bei der sog. Co-Vergärung entsteht Biogas, das zur Stromerzeugung in Blockheizkraftwerken genutzt wird. 1998 erhielt der Gemeindeverband die Baubewilligung zur Errichtung eines Blockheizkraftwerks, zwei Silos à 50 m
3
Fettverwertung und eines Silos à 50 m
3
Trübwasserstapel. 2002 wurde der Neubau eines weiteren Blockheizkraftwerks und eines Warmwasserspeichers
BGE 133 II 169 S. 171
bewilligt. Die bewilligten Anlagen für die Vergärung und Stromerzeugung sind gebaut und in Betrieb.
Auf Klagen aus der Nachbarschaft über Geruchs- und Verkehrsprobleme im Zusammenhang mit dem Betrieb der Kläranlage traf die Einwohnergemeinde Kiesen am 3. September 2003 eine Verfügung zur Wiederherstellung des rechtmässigen Zustands. Dabei ordnete sie an, dass die besonders geruchsintensiven Flotate aus Schlachthäusern nur noch in kleineren Mengen und von Schlachthäusern aus dem Einzugsgebiet der ARA angenommen werden dürften. Zusätzlich wurde die Verwertung von fetthaltigen Abfällen auf insgesamt 1000 Tonnen pro Jahr begrenzt.
In der Folge reichte der Gemeindeverband beim Regierungsstatthalteramt Konolfingen drei Baugesuche ein; gegen alle drei Bauvorhaben gingen zahlreiche Einsprachen von Nachbarn und Bewohnern von Kiesen ein.
- Das erste Gesuch betraf die Sanierung und Erneuerung der Abwasserstrasse (Biologie) der Kläranlage. Der Regierungsstatthalter bewilligte das Baugesuch am 8. Juli 2004; dieser Entscheid ist rechtskräftig.
- Mit dem zweiten Gesuch strebte der Gemeindeverband die Annahme von 1600 Tonnen Flotaten aus Schlachthäusern in der Kläranlage an; das entsprechende Begehren wurde jedoch am 8. Oktober 2004 zurückgezogen.
- Das dritte Gesuch bezweckte eine Verwertung von Speiseöl- und Speisefettabfällen im Umfang von 2000 Tonnen pro Jahr. Dabei geht es um eine Erhöhung der zuvor zugelassenen Menge um 1000 Tonnen pro Jahr; bauliche Massnahmen sind nicht geplant. Der Regierungsstatthalter erteilte hierfür am 20. Dezember 2004 die Gesamtbewilligung.
X., Ehepaar Z. sowie Y., die mit ihren Einsprachen unterlegen waren, fochten die Bewilligung vom 20. Dezember 2004 mit gemeinsamer Beschwerde bei der Bau-, Verkehrs- und Energiedirektion des Kantons Bern (im Folgenden: BVE) an. Die BVE hiess die Beschwerde am 11. August 2005 gut, soweit sie darauf eintrat. Die Behörde erwog, die erforderliche Umweltverträglichkeitsprüfung sei nicht für die ganze Kläranlage durchgeführt worden, sondern lediglich isoliert für das betreffende Vorhaben. Demzufolge hob die BVE die Bewilligung vom 20. Dezember 2004 auf und wies die Angelegenheit an den Regierungsstatthalter zurück.
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Der Gemeindeverband zog den Entscheid der BVE an das Verwaltungsgericht des Kantons Bern weiter. Das Gericht hiess seine Beschwerde mit Urteil vom 29. Mai 2006 teilweise gut. Es hob den Entscheid der BVE auf und schützte die Bewilligung des Regierungsstatthalters vom 20. Dezember 2004 unter Ergänzung bzw. Änderung von zwei Auflagen.
Gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts haben X. sowie Y. beim Bundesgericht Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhoben. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
2.1
Das Verwaltungsgericht hielt eine Rückweisung des Verfahrens zur Vervollständigung der bereits erfolgten Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) für unverhältnismässig. Es nahm aufgrund der vorhandenen Daten der einzelnen Anlageteile und der entsprechenden Fachbeurteilungen selbst eine entsprechende Gesamtbeurteilung vor. Dass im angefochtenen Urteil keine Ergänzung der UVP für nötig befunden worden ist, erachten die Beschwerdeführer als bundesrechtswidrig. Das Verwaltungsgericht habe zu wenig berücksichtigt, dass sie unter penetranten Geruchs- und Lärmimmissionen der Kläranlage in ihrem bisherigen Zustand zu leiden hätten.
2.2
Die Beteiligten gehen zu Recht davon aus, dass das hier umstrittene Bauvorhaben der UVP-Pflicht im Sinne von Art. 9 des Bundesgesetzes vom 7. Oktober 1983 über den Umweltschutz (USG; SR 814.01) unterliegt (vgl. Art. 1 und Anhang Nr. 40.7 der Verordnung vom 19. Oktober 1988 über die Umweltverträglichkeitsprüfung [UVPV; SR 814.011]). Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung kann jedoch ausnahmsweise auf eine nachträgliche UVP im förmlichen Sinne verzichtet werden, wenn die vorgenommenen Sachverhaltsabklärungen materiell genügen, um die Vereinbarkeit des Vorhabens mit den Umweltschutzvorschriften beurteilen zu können (
BGE 124 II 460
E. 3a S. 469; Urteile 1E.8/2002 vom 4. November 2002, E. 2.3, publ. in: URP 2003 S. 655; 1A.136/2004 vom 5. November 2004, E. 2.5, publ. in: URP 2005 S. 1). Immerhin ist eine derartige Ausnahmesituation nicht leichthin anzunehmen. Gerade in Fällen wie dem vorliegenden, bei denen ein Bauvorhaben in verschiedene Teilschritte und Bewilligungsverfahren aufgeteilt wird, besteht die Gefahr, dass die Gesamtauswirkungen möglicherweise
BGE 133 II 169 S. 173
zumindest zum Teil ungeprüft bleiben (vgl.
BGE 124 II 293
E. 26b S. 347). Auch bei einem nachträglichen Verzicht auf eine formelle UVP bzw. auf die Vervollständigung einer mangelhaften UVP muss Gewähr geboten sein, dass der Massstab einer im Ergebnis umfassenden und korrekten Ermittlung des umweltrechtlich relevanten Sachverhalts durch Fachpersonen (Ingenieure und Naturwissenschafter) keinesfalls unterschritten wird.
2.3
Der Beschwerdegegner, d.h. der Trägerverband der Abwasserreinigungsanlage, hatte in Reaktion auf die ihm gegenüber getroffene Wiederherstellungsverfügung vom 3. September 2003 parallel drei Baugesuche eingereicht. Diese betrafen unterschiedliche Anliegen. Einerseits sollte der Teilbereich der Abwasserstrasse saniert werden; anderseits wurde mittels nachträglicher Baugesuche die Erlaubnis für die Verwertung einer markant höheren Menge an Flotaten (Schlachtabfällen) und Speisefettabfällen angestrebt. Die Kapazitäten für die Vergärung derartiger Abfallmengen waren baulich bereits geschaffen worden; die baulichen Massnahmen hatten sich auf eine rechtskräftige Baubewilligung gestützt. Die Rechtmässigkeit jener Bewilligung war im Nachhinein nicht in Zweifel zu ziehen. Mit den beiden nachträglichen Baugesuchen ging es vielmehr um eine teilweise Nutzungsänderung, um die geschaffenen Kapazitäten auch ausschöpfen zu können. Bezüglich Flotaten und Fettverwertung wurden zwei getrennte Gesuche gestellt, namentlich weil nur beim ersteren eine Biofilteranlage zur Reinigung der Abluft vorgesehen war. Umweltverträglichkeitsberichte sind zudem bloss für die Projekte Flotate und Fettverwertung erstellt worden, indessen nicht im Hinblick auf die Sanierung der Abwasserstrasse. Immerhin sind alle drei Baugesuche erstinstanzlich je für sich im koordinierten Verfahren behandelt worden.
2.4
Zu Recht hat das Verwaltungsgericht die mangelhafte Koordination der Verfahren untereinander gerügt. Die UVP, die für das hier betroffene Baugesuch bezüglich Fettverwertung erfolgt ist, erweist sich als mangelhaft, weil sie auf diese Fragestellung beschränkt war, statt sich mit der Umweltbelastung der gesamten Kläranlage zu befassen. Wenn das Verwaltungsgericht die vorhandenen Abklärungen dennoch materiell für genügend erachtete, konnte es sich für seine Gesamtbeurteilung auf eine Mehrzahl von Fachberichten stützen, die punktuell Angaben zur Umweltverträglichkeit der gesamten Kläranlage liefern. Für jedes der drei Bauvorhaben liegen Fachberichte der zuständigen Amtsstellen vor, die sich mit Umweltschutzfragen
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auseinander setzen. Hier interessieren besonders die Fachberichte zum Immissionsschutz, die von der unter anderem für Luftreinhaltung und betrieblichen Lärmschutz zuständigen Stelle des kantonalen Amts für Berner Wirtschaft (beco) verfasst worden sind. Die Berichte dieser Stelle zu den drei Bauprojekten nehmen aufeinander Bezug. Zusätzlich hat sich diese Fachstelle im vorliegenden Beschwerdeverfahren vor der BVE am 1. Februar 2005 vernehmen lassen. Es wird im Folgenden zu prüfen sein, ob sich gestützt darauf der Schluss rechtfertigt, das Verwaltungsgericht habe zu Recht von einer nachträglichen, vollständigen UVP abgesehen. Ein solcher Schluss wäre dann nicht zulässig, wenn weiterer Abklärungsbedarf besteht.
2.5
Die Beschwerdeführer kritisieren, dass die Klagen von Anwohnern über Geruchs- und Lärmimmissionen aus dem Betrieb der gesamten Kläranlage weder im Fachbericht Immissionsschutz des beco vom 2. April 2004 zum Gesuch betreffend Speisefettabfälle noch in der darauf gestützten Gesamtbeurteilung der kantonalen Koordinationsstelle für Umweltschutz (KUS) vom 11. Mai 2004 erwähnt worden sind.
Dieser Vorwurf scheint zwar vordergründig zuzutreffen. Die Beschwerdeführer blenden aber aus, dass die Geruchsklagen bereits im Fachbericht Immissionsschutz des beco vom 4. Februar 2004 zum Gesuch betreffend Sanierung Abwasserstrasse in differenzierter Weise angesprochen worden sind. Wie diese Fachstelle in ihrer Vernehmlassung vom 1. Februar 2005 näher erläuterte, hatte sie in ihrem Bericht vom 2. April 2004 vor dem ihr bekannten Hintergrund Auflagen aus Sicht der Lufthygiene aufgestellt, um übermässige Geruchsimmissionen zu vermeiden. Im Rahmen der Vernehmlassung vom 1. Februar 2005 machte die Fachstelle auch Ausführungen zur Geruchsproblematik der Kläranlage als Ganzes und insbesondere zur Behandlung von Klärschlamm mit oder ohne Fettabfälle.
Weiter befasste sich der erwähnte Fachbericht vom 2. April 2004 mit der Lärmschutzproblematik und verwies dabei auf den diesbezüglich eingehenden Bericht vom 4. Februar 2004. In der Gesamtbeurteilung der KUS vom 11. Mai 2004 ist im Übrigen auch die Stellungnahme des kantonalen Tiefbauamtes aufgeführt, welches das Vorhaben aus Sicht des Strassenlärms für unproblematisch erachtet hat.
Das Bundesamt für Umwelt (BAFU) pflichtet in seiner Vernehmlassung dem Verwaltungsgericht bei, dass die vorhandenen Angaben
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zu den Gesamtauswirkungen der Kläranlage genügen. Eine Ergänzung der UVP im Zusammenhang mit den von den Beschwerdeführern angesprochenen Geruchs- und Lärmklagen zum Betrieb der Gesamtanlage erweist sich folglich nicht als notwendig.
3.
Hingegen wendet das BAFU ein, in einem Einzelaspekt seien die bisherigen Abklärungen ungenügend. Eine genauere Untersuchung sei geboten im Hinblick auf allfällige Massnahmen zur Verringerung der Geruchsemissionen beim Betanken der Fettsilos mit den angelieferten Speiseölen und -fetten. Insofern kommen nach Auffassung des BAFU Biofilter oder Bio-Abluftwäscher in Betracht.
3.1
Nach
Art. 11 Abs. 2 USG
sind Emissionen im Rahmen der Vorsorge unabhängig von der bestehenden Umweltbelastung so weit zu begrenzen, als dies technisch und betrieblich möglich und wirtschaftlich tragbar ist. Wenn feststeht oder zu erwarten ist, dass die Einwirkungen unter Berücksichtigung der bestehenden Umweltbelastung schädlich oder lästig werden, sind die Emissionsbegrenzungen zu verschärfen (
Art. 11 Abs. 3 USG
). Solche Begrenzungen werden gemäss
Art. 12 Abs. 2 USG
durch Verordnungen oder, soweit diese nichts vorsehen, durch unmittelbar auf das Umweltschutzgesetz abgestützte Verfügungen vorgeschrieben. Schutzmassnahmen nach
Art. 12 Abs. 2 USG
sind nicht erst zu ergreifen, wenn die Umweltbelastung schädlich oder lästig wird, sondern es müssen gestützt auf das Vorsorgeprinzip die unnötigen Emissionen vermieden werden (
BGE 126 II 366
E. 2b S. 368;
BGE 124 II 517
E. 4b S. 522).
3.2
Diese Grundsätze sind allerdings nicht so zu verstehen, dass jeder im strengen Sinne unnötige Lärm völlig untersagt werden müsste. Es gibt keinen Anspruch auf absolute Ruhe; vielmehr sind geringfügige, nicht erhebliche Störungen hinzunehmen (
Art. 15 USG
;
BGE 126 II 300
E. 4c/bb S. 307,
BGE 126 II 366
E. 2b S. 368). Ebenso wenig besteht ein Recht darauf, dass eine Anlage absolut geruchsfrei funktionieren müsste; auch insofern ist eine geringfügige Belästigung der Umgebung zumutbar (vgl. Urteile 1A.214/2005 vom 31. Januar 2006, E. 6.3.1; 1A.65/2005 vom 20. Dezember 2005, E. 5.3 nicht publ. in
BGE 132 I 82
). Das Vorsorgeprinzip hat nach der Konzeption des Umweltschutzgesetzes emissionsbegrenzenden und nicht -eliminierenden Charakter (
BGE 126 II 399
E. 4c S. 406 mit Hinweis).
In der bisherigen Rechtsprechung wurde diesbezüglich der Satz verwendet, das Vorsorgeprinzip finde in umweltrechtlichen Bagatellfällen keine Anwendung (vgl.
BGE 124 II 219
E. 8b S. 233 mit
BGE 133 II 169 S. 176
Hinweis). Eine solche Aussage greift indessen zu kurz. Daraus könnte abgeleitet werden, bei niedrigen Emissionswerten müssten Massnahmen der Vorsorge von vornherein weder geprüft noch ergriffen werden (vgl. ALAIN GRIFFEL, Die Grundprinzipien des schweizerischen Umweltrechts, Zürich 2001, Rz. 87; BEATRICE WAGNER PFEIFER, Umweltrecht I, 2. Aufl., Zürich 2002, S. 36). Richtig besehen muss das Verhältnismässigkeitsprinzip als Verfassungsgrundsatz (
Art. 5 Abs. 2 BV
) auch bei niedrigen Emissionswerten zur Anwendung gelangen. Es hat aber dort zur Folge, dass sich besondere Anordnungen im Sinne der Vorsorge in der Regel nicht rechtfertigen (so ANDRÉ SCHRADE/THEO LORETAN, in: Kommentar USG, 2. Aufl. 1998, Rz. 35 zu
Art. 11 USG
).
In diesem Sinne ist zu präzisieren: Sofern sich geringfügige Emissionen mit kleinem Aufwand erheblich verringern lassen, so dürfte es grundsätzlich verhältnismässig sein, entsprechende Massnahmen zu verlangen. Wenn sich eine Reduktion bei derartigen Emissionen hingegen als unverhältnismässig oder sogar als unmöglich erweist, so ist dahingehend zu entscheiden, dass solche Immissionen von den Betroffenen hinzunehmen sind. Gestützt auf eine solche Interessenabwägung ist auch die generell-abstrakte Festlegung eines unteren Schwellenwerts denkbar, bei dem - vorbehältlich neuer Erkenntnisse - keine zusätzlichen Massnahmen mehr gefordert werden können (vgl. z.B. Art. 4 i.V.m. Anhang 1 der Verordnung vom 23. Dezember 1999 über den Schutz vor nichtionisierender Strahlung [NISV; SR 814.710] und dazu
BGE 126 II 399
E. 4c S. 407 f.).
3.3
Die vom BAFU angesprochenen geruchsbekämpfenden Massnahmen beziehen sich hier hauptsächlich auf die Verdrängungsluft, die beim Befüllen der Silos ungefiltert entweicht. Kurzzeitige Geruchsemissionen können auch bei allfälligen Betriebsstörungen (Leckagen) auftreten; im Übrigen erfolgt die Fettverwertung in einem geschlossenen System. Nach den verbindlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts sind die entsprechenden Geruchsbelästigungen geringfügig. Diese Würdigung bezieht sich auf das Geruchspotential von Speiseölen und -fetten - in der hier interessierenden Form als Abfälle - an sich wie auch auf die begrenzte Zeitdauer einzelner Immissionen. Der Beschwerdegegner hat im bundesgerichtlichen Verfahren erläutert, dass das Betanken im Schnitt einmal pro Arbeitstag erfolgt und jeweils rund eine halbe Stunde dauert. Wie bereits aus dem Umweltverträglichkeitsbericht im Zusammenhang mit dem Baugesuch für die Erhöhung der Fettverwertung folgt,
BGE 133 II 169 S. 177
beträgt die Anliefermenge pro Lastwagentransport jeweils 8 bzw. 16 Tonnen.
3.4
Bei dieser Sachlage ist zu prüfen, ob es verhältnismässig ist, die vom BAFU zur Diskussion gestellten Biofilter bzw. Bio-Abluftwäscher zur Auflage der Baubewilligung zu machen. Bei den angeführten Massnahmen handelt es sich um Anlagen zur biologischen Abluftreinigung. Beim Biofilter wird die Abluft - nach einer Vorbehandlung, insbesondere nach einer Vorbefeuchtung - durch eine Filterschicht aus organischem Material geleitet. Beim sog. Biowäscher werden die Geruchsstoffe in einer Waschflüssigkeit absorbiert und anschliessend durch Mikroorganismen abgebaut (vgl. Brockhaus, Enzyklopädie in 30 Bänden, 21. Aufl. 2006, Bd. 4, Stichworte "Biofilter" und "Biowäscher"). Der Einbau einer Biofilteranlage war beim zurückgezogenen Projekt bezüglich der Flotate aus Schlachthäusern vorgesehen gewesen. Im Vergleich dazu müsste eine Abluftreinigungsanlage für die Fettverwertung nicht dieselbe Behandlungskapazität aufweisen; namentlich bestehen bei der hier umstrittenen Fettverwertung weniger Emissionsquellen. Dennoch geht es um eine technisch anspruchsvolle Anlage mit erheblichen Investitionskosten. Es ist offensichtlich, dass die Forderung nach einer Abluftreinigungsanlage im vorliegenden Zusammenhang in keinem angemessenen Verhältnis zur Geringfügigkeit der Geruchsimmissionen steht. Entgegen der Auffassung des BAFU ist es nicht zu beanstanden, wenn das Verwaltungsgericht im Sinne einer antizipierten Beweiswürdigung auf eine genauere Untersuchung zum Einsatz von Biofiltern oder Biowäschern verzichtet hat.
4.
4.1
In einer weiteren Rüge bestreiten die Beschwerdeführer die Umweltverträglichkeit der Gesamtanlage wie auch des konkreten Bauvorhabens. Die Kläranlage sei vielmehr in ihrem bisherigen Zustand namentlich aufgrund der Geruchsemissionen des Betriebs wie auch wegen des Verkehrslärms der betrieblichen Lastwagen-Transporte sanierungsbedürftig. Die Bewilligung des Vorhabens, mit der die bestehende Gesamtanlage wesentlich geändert werde, verstosse ohne gleichzeitige Anordnung einer Sanierung dieser Anlage gegen
Art. 16 ff. USG
.
4.2
Nach dem angefochtenen Entscheid ist die bestehende Gesamtanlage nicht sanierungsbedürftig. Mit Abschluss der Sanierung der Abwasserstrasse (Biologie), die am 8. Juli 2004 bewilligt wurde,
BGE 133 II 169 S. 178
gelte die Kläranlage gemäss dem kantonalen Sachplan Siedlungsentwässerung als saniert. Ausserdem stellte das Gericht bei seiner Würdigung - mit besonderem Bezug auf die Lufthygiene - auf die im Umweltverträglichkeitsbericht wiedergegebene Messung der Geruchsemissionen der Gesamtanlage im Ist-Zustand ab. Danach hatte der entsprechende Wert weniger als 100 Geruchseinheiten pro m
3
(GE/m
3
) betragen. Ferner berücksichtigte das Gericht die Auskunft der Standortgemeinde, dass vor dem Jahr 2003 keine Reklamationen über Geruchsbelästigungen eingegangen seien. Das Gericht nahm an, selbst wenn nach der Wiederherstellungsverfügung vom 3. September 2003 weiterhin kleinere Mengen von Flotaten aus Schlachthäusern im Einzugsgebiet der Kläranlage behandelt werden dürften, seien keine übermässigen Geruchsemissionen der Gesamtanlage zu befürchten. Das BAFU schliesst sich dieser Beurteilung in seinem Schreiben vom 4. November 2006 im Wesentlichen an. Es ortet bei der Gesamtanlage, mit Ausnahme der bereits bei E. 3 behandelten Geruchsemissionen, keinen umweltrechtlichen Handlungsbedarf.
4.3
Bei den umstrittenen Geruchsemissionen müsste - wenn überhaupt - eine Begrenzung im Einzelfall angeordnet werden. Insofern stellte das Verwaltungsgericht im angefochtenen Urteil einen Vergleich mit der in seinem Urteil vom 14. Juni 2005 behandelten Emissionsbegrenzung für eine andernorts gelegene Entsorgungsanlage von tierischen Abfällen an. Dort war ein Grenzwert von 300 GE/ m
3
festgelegt worden (Bernische Verwaltungsrechtsprechung [BVR] 2006 S. 335, E. 6.1 S. 339; vgl. dazu Urteil des Bundesgerichts 1A.214/2005 vom 23. Januar 2006, E. 5). Im Umweltverträglichkeitsbericht zu dem hier zurückgezogenen Gesuch für die Verwertung von Flotatschlämmen aus Schlachthäusern wird der bei E. 4.2 genannte Messwert unter Bezugnahme auf den Expertenbericht von M. HANGARTNER (Grundlagen zur Beurteilung von Geruchsproblemen, Expertenbericht des Instituts für Hygiene und Arbeitsphysiologie der ETH Zürich, Hrsg. BUWAL [heute: BAFU], Schriftenreihe Umweltschutz Nr. 115, Bern 1989, S. 30) wie folgt erläutert: Bei einer Geruchskonzentration unter 100 GE/m
3
seien die Geruchsemissionen in der Umgebung nicht wahrnehmbar. Bei einer Konzentration von 100-300 GE/m
3
sei die Wahrnehmung dann nicht negativ, wenn das Belästigungspotenzial des Geruchs klein sei und ein genügender Abstand zum Wohngebiet von über 300 Metern eingehalten werde.
BGE 133 II 169 S. 179
Mit der Bedeutung des Werts von 100 GE/m
3
setzen sich die Beschwerdeführer nicht auseinander. Die Beschwerdeführer stellen auch nicht in Zweifel, dass seit der Wiederherstellungsverfügung vom 3. September 2003 lediglich geringe Mengen an Flotatschlämmen aus Schlachthäusern in die Kläranlage gelangen; das vorliegende Bauvorhaben bringt insofern keine Veränderung. Zwar hat die Standortgemeinde im bundesgerichtlichen Verfahren eingeräumt, dass bei ihr sehr selten Geruchsklagen von Anwohnern eingehen. Auch vor diesem Hintergrund lässt sich aber annehmen, dass der bestehende Anlagenbetrieb im Allgemeinen keine nennenswerten Geruchsimmissionen in der Umgebung verursacht. Wesentlich ist, dass die Gesamtanlage dem heutigen Stand der Technik und den einschlägigen Vorschriften entspricht. Es wird weder von den Beschwerdeführern dargetan noch ist ersichtlich, inwiefern dies hier nicht der Fall sein sollte.
Dass die geplante Erhöhung der Fettverwertung vorliegend ohne Einbau einer Abluftreinigungsanlage umweltverträglich ist, wurde bereits bei E. 3 dargelegt. Insgesamt steht zu erwarten, dass die Gesamtanlage auch nach der Verwirklichung des geplanten Vorhabens in aller Regel für die Wohnbevölkerung in der Umgebung keine rechtsrelevante Geruchsbelästigung mit sich bringt. Punktuelle und kurzzeitige Ausnahmen gebieten keine weitergehenden umweltschutzrechtlichen Massnahmen in dieser Hinsicht.
4.4
Was den Lärm der betrieblichen Lastwagentransporte betrifft, wird von den Beschwerdeführern nicht einmal ansatzweise aufgezeigt, inwiefern sie dadurch konkret gestört werden. Es kann offenbleiben, ob die Beschwerdeschrift in diesem Punkt den Anforderungen von
Art. 108 Abs. 2 OG
entspricht (vgl. dazu
BGE 131 II 449
E. 1.3 S. 452 mit Hinweisen). Die entsprechende Rüge vermöchte ohnehin nicht durchzudringen. Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts bewirkt die zusätzliche Verwertung von Speisefettabfällen eine Verkehrszunahme um einen Lastwagentransport bzw. zwei Vorbeifahrten pro Arbeitstag. Dem Umweltverträglichkeitsbericht und den bei E. 2.5 erwähnten Ausführungen der Fachstelle Immissionsschutz des beco ist zu entnehmen, dass für den Kläranlagen-Betrieb insgesamt weniger als 600 Lastwagentransporte pro Jahr benötigt werden. Bei derartigen Zahlenwerten, zu denen sich die Beschwerdeschrift wiederum nicht äussert, brauchte das Verwaltungsgericht keine diesbezüglichen Lärmvorkehren zu fordern.
BGE 133 II 169 S. 180
4.5
Zusammengefasst lässt sich dem Verwaltungsgericht keine Verletzung von Bundesrecht vorwerfen, wenn es die Umweltverträglichkeit der umstrittenen Erhöhung bei der Speiseöl- bzw. Speisefettverwertung bejaht und einen Sanierungsbedarf der Gesamtanlage verneint hat. Die vom Gericht zusätzlich verlangten Auflagen beziehen sich nicht auf die von den Beschwerdeführern kritisierten Gerüche und Betriebstransporte, sondern auf die gewässerschutzrechtliche Koordination der Bewilligungen vom 8. Juli und vom 20. Dezember 2004; dieses Anliegen ist unbestritten. Wie das kantonale Gericht in seiner Vernehmlassung ausgeführt hat, genügt es auch zur Wahrung der betroffenen öffentlichen Interessen, dass die zuständigen kantonalen und kommunalen Instanzen die Einhaltung der Bewilligungsauflagen bzw. der umweltschutzrechtlichen Vorschriften überwachen. Die Einrichtung eines zusätzlichen Monitoring-Systems im Hinblick auf Geruchsimmissionen, wie von der Standortgemeinde vorgeschlagen, kann sich zwar als vertrauensbildende Massnahme für die offenbar sensibilisierte Anwohnerschaft eignen, ist aber umweltrechtlich nicht geboten. | de |
ae819588-2dc7-4a4c-b64a-d8e6ce680462 | Sachverhalt
ab Seite 99
BGE 138 V 98 S. 99
A.
S. und G. wohnten und lebten seit 1997 zusammen. G. bezog u.a. von der Basellandschaftlichen Pensionskasse (BLPK) Altersleistungen der beruflichen Vorsorge, als sie verstarb. Die BLPK lehnte die Ausrichtung einer Lebenspartnerrente an S. ab (Einspracheentscheid vom 23. Juni 2010).
B.
Am 25. August 2010 liess S. beim Kantonsgericht Basel-Landschaft Klage gegen die BLPK einreichen mit dem Rechtsbegehren, die Beklagte sei zu verpflichten, ihm eine Lebenspartnerrente, eventualiter eine Abfindung auszurichten. Nach Antwort der Vorsorgeeinrichtung und einem zweiten Schriftenwechsel wies die Abteilung Sozialversicherungsrecht des angerufenen Gerichts mit Entscheid vom 26. Mai 2011 das Rechtsmittel ab.
C.
S. lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 26. Mai 2011 sei aufzuheben und die BLPK zu verpflichten, ihm eine Lebenspartnerrente, eventualiter eine Abfindung auszurichten; subeventualiter sei die Sache zur Neuentscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
BGE 138 V 98 S. 100
Die BLPK beantragt die Abweisung der Beschwerde. Kantonales Gericht und Bundesamt für Sozialversicherungen haben auf eine Vernehmlassung verzichtet.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (
Art. 82 ff. BGG
) kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (
Art. 97 Abs. 1 BGG
). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zu Grunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (
Art. 105 Abs. 1 BGG
). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von
Art. 95 BGG
beruht (
Art. 105 Abs. 2 BGG
).
2.
Nach
Art. 20a Abs. 1 BVG
(SR 831.40) kann die Vorsorgeeinrichtung in ihrem Reglement neben den Anspruchsberechtigten nach den Artikeln 19 (überlebender Ehegatte) und 20 (Waisen) begünstigte Personen für die Hinterlassenenleistungen vorsehen, u.a. natürliche Personen, die vom Versicherten in erheblichem Masse unterstützt worden sind, oder die Person, die mit diesem in den letzten fünf Jahren bis zu seinem Tod ununterbrochen eine Lebensgemeinschaft geführt hat oder die für den Unterhalt eines oder mehrerer gemeinsamer Kinder aufkommen muss (lit. a).
§ 39 des Dekrets vom 22. April 2004 über die berufliche Vorsorge durch die Basellandschaftliche Pensionskasse (BLPK Dekret; SGS 834.2) regelt den Anspruch auf eine Lebenspartnerrente beim Tod einer versicherten Person und die Bemessung der Leistung. Danach gelten die Bedingungen (für verheiratete Paare) gemäss Absatz 1 sinngemäss für unverheiratete Paare, sofern die überlebende Person mittels beweiskräftiger Dokumente den Nachweis erbringen kann, dass a. das Paar zum Zeitpunkt des Todes ununterbrochen während mindestens fünf Jahren in einer Lebensgemeinschaft mit gemeinsamem Haushalt zusammen gelebt hat und b. die hinterbliebene Person von der verstorbenen Person in erheblichem Masse unterstützt worden ist und die hinterbliebene Person keine Witwer- oder
BGE 138 V 98 S. 101
Witwenrente aus der beruflichen Vorsorge bezieht (Abs. 2). Erfüllt der Ehegatte bzw. die unterstützte Person diese Voraussetzungen nicht, besteht Anspruch auf eine einmalige Abfindung in der Höhe von drei Jahres-Lebenspartnerrenten oder, sofern dieser höher ist, auf die Abfindung gemäss § 44 dieses Dekrets (Abs. 3).
3.
Die Vorinstanz hat den Anspruch des Beschwerdeführers auf eine Lebenspartnerrente gestützt auf § 39 Abs. 2 BLPK Dekret verneint. Zum einen sei es zulässig vorauszusetzen, dass die beiden erstgenannten Tatbestände in
Art. 20a Abs. 1 lit. a BVG
("vom Versicherten in erheblichem Masse unterstützt worden" oder "mit diesem in den letzten fünf Jahren bis zu seinem Tod ununterbrochen eine Lebensgemeinschaft geführt") kumulativ erfüllt seien. Zum anderen könne bei einem von der verstorbenen Versicherten übernommenen Anteil an den Lebenshaltungskosten ihres Lebenspartners von 17,4 % nicht von einer erheblichen Unterstützung im Sinne von § 39 Abs. 2 BLPK Dekret gesprochen werden. Nach dem Wegfall der Einkünfte seiner Lebenspartnerin habe der Kläger seine bisherige Lebensweise zwar teilweise einschränken müssen. Das reiche unter den gegebenen Umständen jedoch nicht aus, um den Anspruch auf eine Lebenspartnerrente zu begründen.
4.
Der Beschwerdeführer rügt, die in § 39 Abs. 2 BLPK Dekret verlangte kumulative Voraussetzung einer fünfjährigen Lebensgemeinschaft und einer erheblichen Unterstützung der hinterbliebenen Person sei bundesrechtswidrig. Die Tatbestände in
Art. 20a Abs. 1 lit. a BVG
stellten zwingend alternative Anspruchsvoraussetzungen dar. Habe sich die Vorsorgeeinrichtung entschlossen, unverheiratete Paare zu begünstigen, sei sie an die Alternativität der Voraussetzungen eines fünfjährigen Zusammenlebens oder einer Unterstützung in erheblichem Masse gebunden. Wie das Bundesgericht in
BGE 137 V 383
entschieden hat, ist es den Vorsorgeeinrichtungen in den Schranken von Rechtsgleichheitsgebot und Diskriminierungsverbot jedoch grundsätzlich erlaubt, etwa aus Gründen der Rechtssicherheit (Beweis anspruchsbegründender Umstände) oder auch im Hinblick auf die Finanzierbarkeit der Leistungen, den Kreis der zu begünstigenden Personen enger zu fassen als im Gesetz umschrieben. Sie können somit die Ausrichtung von Hinterlassenenleistungen an den Lebenspartner der verstorbenen versicherten Person unter die doppelte Voraussetzung stellen, von dieser in erheblichem Masse unterstützt worden zu sein
und
mit ihr in den letzten fünf Jahren
BGE 138 V 98 S. 102
bis zu ihrem Tod ununterbrochen eine Lebensgemeinschaft geführt zu haben. Das tut § 39 Abs. 2 BLPK Dekret, was nach dem Gesagten
Art. 20a Abs. 1 lit. a BVG
nicht verletzt.
5.
Weiter ist der Beschwerdeführer der Auffassung, der Begriff der Unterstützung in erheblichem Masse nach
Art. 20a Abs. 1 lit. a BVG
(recte: § 39 Abs. 2 lit. b BLPK Dekret) sei dahingehend auszulegen, dass die versicherte Person einen überwiegenden Beitrag (mehr als 50 %) an die gemeinsamen Lebenshaltungskosten leiste.
5.1
Soweit die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen strittig ist, prüft das Bundesgericht die Anwendung kantonalen oder kommunalen öffentlichen Vorsorgerechts frei (
BGE 134 V 199
). Es ist somit weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden. Es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen oder mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (
BGE 133 II 249
E. 1.4.1 und 1.4.2 S. 254; SVR 2010 IV Nr. 21 S. 63, 9C_493/2009 E. 1).
Da es sich bei § 39 Abs. 2 BLPK Dekret um eine Bestimmung des öffentlichen Rechts handelt, hat seine Interpretation nach den Regeln der Gesetzesauslegung zu erfolgen (
BGE 133 V 314
E. 4.1 S. 316).
5.2
Der Ausdruck "in erheblichem Masse unterstützt" ist unbestimmt. Die Rechtsprechung hat die Frage bisher nicht geklärt. Mit Bezug auf gleich oder ähnlich lautende Begriffe in reglementarischen Begünstigungsregelungen (ausserhalb des zeitlichen Anwendungsbereichs von
Art. 20a Abs. 1 lit. a BVG
) konnte offengelassen werden, ob die verstorbene versicherte Person für mehr als die Hälfte des Unterhalts der unterstützten Person aufgekommen sein musste oder ob es genügt, dass sie einen überwiegenden Beitrag an die gemeinsamen Haushaltungskosten geleistet hatte (vgl.
BGE 131 V 27
E. 5.1 S. 32 und Urteile des Eidg. Versicherungsgerichts B 117/05 vom 19. Oktober 2006 E. 4.4; B 134/05 vom 6. September 2006 E. 4.4). Da es den Trägern der beruflichen Vorsorge grundsätzlich erlaubt ist, den Kreis der zu begünstigenden Personen enger zu fassen als im Gesetz umschrieben (vgl. E. 4 vorne), können sie bzw. kann der Gesetzgeber bei öffentlich-rechtlichen Vorsorgeeinrichtungen auch umschreiben, wann eine Person als vom oder von der verstorbenen Versicherten "in erheblichem Masse unterstützt" zu gelten hat.
BGE 138 V 98 S. 103
5.3
Das Wort "unterstützen" umfasst sowohl eine materielle als auch eine immaterielle Komponente. Die Systematik von § 39 Abs. 2 BLPK Dekret spricht für den materiellen Aspekt. Die gegenseitige moralische Unterstützung ist einer jeden Lebensgemeinschaft immanent (
BGE 137 V 383
E. 4.1 S. 389), so dass sie nicht (nochmals) der ausdrücklichen Erwähnung bedarf. Zudem geht es im Rahmen der fraglichen Bestimmung primär um den Versorgerschaden, der durch den Tod der versicherten Person allenfalls entsteht. Die Ausrichtung einer Lebenspartnerrente bezweckt nichts anderes als diejenige einer Ehegattenrente, nämlich das Risiko eines finanziellen Nachteils aufzufangen, den ein hinterlassener Partner erleiden kann. Schliesslich wird in der regierungsrätlichen Vorlage vom 16. September 2003 an den Landrat festgehalten, die Unterstützung müsse nicht unbedingt finanzieller Art sein, sie könne auch in Form von Arbeit oder Pflege erbracht werden (vgl.
http://www.baselland.ch/2003-213_3-htm.299435.0.html
). Damit sind Naturalleistungen gemeint, denen ebenfalls ein materieller Wert zukommt.
Mit dem Wort "unterstützen" wird demnach zum Ausdruck gebracht, dass der eine (verstorbene) Lebenspartner zumindest teilweise für Lebenskosten des anderen aufgekommen ist. Das Wort "erheblich" macht deutlich, dass die Unterstützungsleistung ein gewisses Mass erreicht haben muss. Eine geringfügige Unterstützung soll nicht Anrecht auf eine Rente geben, was mit dem Vorsorgezweck einhergeht.
6.
6.1
Es steht fest und ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer und die Versicherte mehr als 10 Jahre zusammen gewohnt und gelebt hatten. Die Vorinstanz hat für das Bundesgericht verbindlich festgestellt (vgl. E. 1), dass - einerseits - das von beiden Lebenspartnern erzielte Einkommen laufend ausgegeben wurde. Anderseits waren die gemeinsamen Lebenshaltungskosten für beide etwa gleich hoch. Damit ist eine Sachverhaltskonstellation gegeben, in welcher das gesamthaft zur Verfügung gestandene Einkommen zu gleichen Teilen konsumiert wurde. Dabei hat sich nach unbestrittener Berechnung der Vorinstanz die Versicherte mit Fr. 973.- an den (hälftigen) Lebenskosten des Beschwerdeführers beteiligt (durchschnittliches Einkommen 2004-2008 der Versicherten bzw. des Beschwerdeführers: Fr. 6'568.- bzw. Fr. 4'621.- [= Fr. 11'190.-/2 = Fr. 5'595.-]), was einem Unterstützungsanteil von 17,4 % entspricht (Fr. 973.-/Fr. 5'595.-). Eine Unterstützung in Form von Arbeit oder Pflege ist weder behauptet noch aktenkundig.
BGE 138 V 98 S. 104
Zwar spricht die Vorinstanz gleichzeitig sowohl von Lebensunterhaltskosten und Lebenskosten. Sie versteht die beiden Begriffe jedoch zu Recht synonym. Unter Lebenshaltungskosten werden regelmässig die Kosten verstanden, die von einem Haushalt aufgewendet werden müssen, um das Leben zu bestreiten.
6.2
6.2.1
Grundlage der vorinstanzlichen Berechnung bildeten die Einkommensverhältnisse ohne Wertschriftenertrag. Weshalb diese Einkommensquelle ausgeblendet bleiben soll, leuchtet nicht ein, steht sie doch ebenfalls zur Bestreitung des Lebens zur Verfügung. In der Klage hatte sich der Beschwerdeführer noch auf den Standpunkt gestellt, es sei auf das steuerbare Einkommen abzustellen, jedoch ohne Anrechnung des Eigenmietwertes als quasi hypothetisches Einkommen, das er effektiv nicht erzielt habe. Die Vorinstanz hat eine Orientierung am steuerbaren Einkommen abgelehnt, u.a. weil der Kläger in grösserem Ausmasse als seine verstorbene Lebenspartnerin von steuerrechtlichen Abzügen habe profitieren können. Ebenfalls würden die abzugsfähigen Krankheitskosten teilweise stark voneinander differieren.
6.2.2
Unter Berücksichtigung verwaltungsökonomischer Grundsätze widerspiegelt das individuelle steuerbare Einkommen die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit einer Person am besten. Es erfasst sämtliche Einkommensbestandteile und zwingenden Aufwendungen und stellt somit die Grösse dar, die einem Partner für die Bestreitung der Lebensgemeinschaft zur Verfügung steht. Dazu gehört auch ein allfälliger Eigenmietwert. Dabei handelt es sich zwar um hypothetisches Einkommen, das jedoch als Beitrag an die Lebenskosten in Form einer Naturalleistung (Zurverfügungstellung der Liegenschaft zu Wohnzwecken) gilt. Gerade auch der Umstand, dass die steuerlichen Abzüge der Lebenspartner differieren können, spricht für ein Heranziehen des steuerbaren Einkommens. Denn sie bestimmen letztlich über seine effektive finanzielle Leistungsfähigkeit; zu denken ist zum Beispiel an eine Alimentenpflicht auf Grund einer früheren Beziehung. Wohl kann ein Teil der Abzüge (beispielsweise Krankenkosten) ebenfalls als Lebenskosten bezeichnet werden. Aber auch diese sind in der Regel individuell unterschiedlich und somit für die individuelle Leistungsfähigkeit einer Person relevant. Es ist nicht nach der gemeinsamen, sondern nach der individuellen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zu fragen, um allfällige Unterstützungsleistungen zu eruieren und zu quantifizieren.
BGE 138 V 98 S. 105
Gemäss Akten betrug das steuerbare Einkommen 2004-2008 durchschnittlich Fr. 55'545.- (Beschwerdeführer) und Fr. 72'348.- (Versicherte). Daraus ergibt sich bei gleich hohen Lebenshaltungskosten von je Fr. 63'947.- ([Fr. 55'545.- + Fr. 72' 348.-]/2), dass die verstorbene Vorsorgenehmerin einen Beitrag von Fr. 8'402.- oder prozentual rund 13 % (Fr. 8'402.-/Fr. 63'947.-) an die Lebenskosten ihres Lebenspartners geleistet hatte.
6.3
6.3.1
Weder der regierungsrätlichen Vorlage vom 16. September 2003 noch den Protokollen der Landratssitzungen zur Totalrevision der Statuten der Basellandschaftlichen Pensionskasse lassen sich Hinweise entnehmen, welche der in E. 5.2 erwähnten zwei Formeln zur Anwendung gelangen soll. Die Frage kann offengelassen werden. Ihrer Beantwortung kommt in concreto keine entscheidende Bedeutung zu. Ob der Unterstützungsanteil an die Lebenskosten des Beschwerdeführers nun 17,4 % oder 13 % beträgt, so kann von vornherein nicht gesagt werden, die Versicherte sei für mehr als die Hälfte des Unterhalts des Beschwerdeführers aufgekommen. Ebenso wenig kann bei einer Unterstützungsleistung, die deutlich weniger als 20 % ausmacht, von einem überwiegenden Beitrag an die gemeinsamen Lebenshaltungskosten gesprochen werden.
6.3.2
Die Auffassung des Beschwerdeführers, es reiche für den Anspruch auf eine Lebenspartnerrente allein aus, dass die versicherte Person einen Beitrag von mehr als 50 % an die gemeinsamen Lebenshaltungskosten geleistet habe, findet in den Materialien keinen Halt. In der Beratung der regierungsrätlichen Vorlage für eine Totalrevision der Statuten der kantonalen Pensionskasse war eine Besserstellung unverheirateter Paare in Bezug auf Hinterlassenenleistungen beim Tod einer versicherten Person unbestritten, eine Gleichstellung mit Verheirateten oder sogar eine Besserstellung wurde jedoch grossmehrheitlich abgelehnt. Anträge, lit. a und lit. b von § 39 Abs. 2 als alternative Voraussetzungen für den Anspruch auf eine Lebenspartnerrente zu verstehen oder lit. b zu streichen, wurden verworfen. Weiter wurde von verschiedener Seite darauf hingewiesen, dass eine Deckungslücke (Deckungsgrad: 82,4 %) bestehe, welche frühestens in zehn Jahren und nur unter optimistischen Annahmen in Bezug auf die Anlageperformance geschlossen werden könne. Leistungsausdehnungen sollten daher mit den Worten des zuständigen Regierungsrates nicht ohne Not erfolgen. Ebenfalls wurde im Zusammenhang mit der Lebenspartnerrente auf die Gefahr des Missbrauchs
BGE 138 V 98 S. 106
hingewiesen (Protokolle der Landratssitzungen vom 18. März und 22. April 2004;
http://www.baselland.ch/teil_10-htm.279455.0.html
und
http://www.baselland.ch/teil_3-htm.279457.0.html
).
Im Übrigen vermag der Beschwerdeführer mit seinen weitgehend bereits in der Klage enthaltenen Vorbringen zum Merkblatt "Lebenspartnerrente für unverheiratete Personen (Leistungsprimat)" der Beschwerdegegnerin bzw. zu deren Schreiben vom 17. Juni 2009 nicht darzutun, inwiefern die vorinstanzliche Auffassung - unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben - bundesrechtswidrig sein soll. | de |
4944b0e8-1348-4f07-a4df-13f2be62e3bf | Sachverhalt
ab Seite 273
BGE 133 III 273 S. 273
A.
Die Z. Inc. (Klägerin) ist Miturheberin des Computer-Videospiels "Enter the Matrix". In der Schweiz ist die G. GmbH zum
BGE 133 III 273 S. 274
alleinigen Vertrieb von "Enter the Matrix" berechtigt. Die X. AG (Beklagte 1) handelt unter anderem mit Computer-Videospielen. Sie bezieht die Verkaufsware bei Lieferanten im Ausland oder in der Schweiz. Als Zwischenhändlerin bedient sie Endverkäufer in der Schweiz, unter anderem die Y. AG (Beklagte 2). In dieser Funktion als Zwischenhändlerin hat die Beklagte 1 das Computer-Videospiel "Enter the Matrix" bei Lieferanten aus Deutschland und Italien bezogen ("parallel importiert") und an die Beklagte 2 verkauft. Die Beklagte 2 hat die Computer-Videospiele "Enter the Matrix" an Endkonsumenten in der Schweiz vertrieben.
B.
Am 23. Mai 2003 reichte die Klägerin beim Obergericht des Kantons Zürich gegen die Beklagten Klage ein wegen Verletzung ihrer Miturheberrechte am Computer-Videospiel "Enter the Matrix" und stellte folgende Anträge:
"1. Es sei den Beklagten mit sofortiger Wirkung zu verbieten, Werkexemplare von "Enter The Matrix", die nicht von der - durch die Klägerin exklusiv zum Vertrieb in der Schweiz ermächtigten - G. GmbH bezogen worden sind, in der Schweiz anzubieten, weiter zu veräussern oder sonstwie zu verbreiten.
2. Die Beklagten seien zu verpflichten, die Anzahl der unautorisiert in die Schweiz importierten Werkexemplare von "Enter The Matrix", d.h. Lagerbestand und Anzahl bereits an Dritte weiterverbreiteten Werkexemplare, sowie deren Herkunft anzugeben.
3. Die Beklagten seien zur Rechnungslegung betreffend die unautorisiert in die Schweiz importierten bzw. hier zu Lande verbreiteten Werkexemplare "Enter The Matrix" zu verpflichten.
4. Für den Fall der Widerhandlung gegen die beantragten Anordnungen sei den Beklagten bzw. ihren Organen die Bestrafung gemäss
Art. 292 StGB
anzudrohen.
5. Es seien die in Ziff. 1 und 2 beantragten Anordnungen superprovisorisch, ohne Anhörung der Beklagten im vorliegenden Hauptprozess anzuordnen; eventualiter seien diese Anordnungen nach Anhörung der Beklagten als vorsorgliche Massnahmen im Hauptprozess anzuordnen.
6. Die Beklagten seien zur Leistung von Schadenersatz bzw. zur Herausgabe des unrechtmässig erzielten Gewinnes zu verpflichten.
7. Alles unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten der Beklagten."
Gestützt auf das Massnahmebegehren gemäss Ziff. 5 der Anträge hat der Referent den Beklagten mit Verfügung vom 27. Mai 2003 superprovisorisch verboten, das Computer-Videospiel "Enter the
BGE 133 III 273 S. 275
Matrix" durch andere Lieferanten als die G. GmbH in die Schweiz zu importieren oder zu erwerben und zu vertreiben.
Die Beklagten erhoben mit der Klageantwort vom 18. Juni 2003 Widerklage mit dem Begehren, die Klägerin sei zu verpflichten, ihnen den entgangenen Gewinn wegen des durch die vorsorglichen Massnahmen verunmöglichten Verkaufs der Computer-Videospiele "Enter the Matrix" bzw. sämtlichen aus dem verunmöglichten Angebot dieser Computer-Videospiele entstandenen Schaden zu ersetzen.
Am 26. September 2006 fällte das Obergericht des Kantons Zürich folgendes Teilurteil:
"1. a) Die Beklagten werden verpflichtet, innert 60 Tagen ab Rechtskraft dieses Teilurteils schriftlich Auskunft zu erteilen und Rechnung zu legen über:
- die Menge, die Einstandspreise und die Verkaufspreise der von ihnen bis 31. März 2004 eingekauften und verkauften Computerspiele "Enter the Matrix", wobei Menge und Preise separat nach Monat, Version (Xbox, PS2, CD-Rom, Game-Cube) und Sprache (deutsch, franz., ital.) auszuweisen sind
- ihre unmittelbar im Hinblick auf den betreffenden Gewinn getätigten Aufwendungen (Gestehungskosten), aufgeschlüsselt nach Kostenfaktoren.
b) Die Beklagten werden zudem verpflichtet, innert 60 Tagen ab Rechtskraft dieses Teilurteils der Klägerin folgende Dokumente aus ihren Geschäftsbuchhaltungen, erfassend den Zeitraum bis 31. März 2004, vorzulegen:
- Kopien der Verträge, Rechnungen, Lieferscheine und dergleichen mit der Menge und den Einstandspreisen der eingekauften Exemplare "Enter the Matrix" sowie die entsprechenden Aufwandkontenauszüge ihrer Buchhaltungen
- Verträge, Rechnungen, Lieferscheine, Preislisten und Tarife mit der Menge und den Verkaufspreisen der verkauften Exemplare von "Enter the Matrix" sowie die entsprechenden Ertragskontenauszüge ihrer Buchhaltungen
- Weitere Unterlagen ihrer Geschäftsbuchhaltungen, aus denen sich die von ihnen im Rahmen der Auskunftserteilung geltend gemachten Aufwendungen belegen lassen, also Kostenkalkulationen und dazugehörige Aufwandkontenauszüge.
1. [in der berichtigten Fassung gemäss Verfügung des Obergerichtes vom 3. Oktober 2006] Die Verpflichtungen der Beklagten gemäss Ziff. 1 erfolgen unter der Androhung der Bestrafung ihrer Organe wegen Ungehorsams gegen eine amtliche Verfügung im Sinne von
BGE 133 III 273 S. 276
Art. 292 StGB
(Bestrafung mit Haft oder Busse) im Unterlassungsfall. Die Anordnung weiterer Vollstreckungsmittel bleibt vorbehalten.
Der Klägerin wird aufgegeben, der I. Zivilkammer von der erfolgten Auskunft und Rechnungslegung durch die Beklagten umgehend Mitteilung zu machen."
C. | de |
ecda617c-ca72-4962-98b4-94a8129c8304 | Sachverhalt
ab Seite 234
BGE 142 V 233 S. 234
A.
C. war ab 1. September 2013 bei der Pensionskasse B. (nachfolgend: Pensionskasse) für die berufliche Vorsorge versichert. Als er im April 2014 verstarb, hinterliess er seine Lebenspartnerin A. sowie seine Eltern. Testamentarisch hatte er A. als Alleinerbin und Willensvollstreckerin eingesetzt. Sie erkundigte sich am 30. Mai 2014 bei der Pensionskasse nach Hinterlassenenleistungen, wobei sie geltend machte, der Verstorbene und sie hätten seit Juni 2007 eine Lebensgemeinschaft geführt. In der Folge verneinte die Vorsorgeeinrichtung einen Leistungsanspruch von A. Eine reglementarische Lebenspartnerrente entfalle, weil der Verstorbene zu Lebzeiten das bestehende Konkubinatsverhältnis der Pensionskasse nicht gemeldet habe. Das Todesfallkapital gelange mangels einer eindeutigen schriftlichen Begünstigungserklärung seitens des Versicherten ebenfalls nicht zur Ausrichtung.
B.
A. erhob am 3. Dezember 2014 beim Verwaltungsgericht des Kantons Bern Klage mit dem Rechtsbegehren, die Pensionskasse sei zu verpflichten, ihr das Todesfallkapital von Fr. 61'318.- auszuzahlen,
BGE 142 V 233 S. 235
zuzüglich Zins zu 5 % seit April 2014. Das Gericht wies die Klage mit Entscheid vom 16. März 2015 ab.
C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten erneuert A. ihr vorinstanzliches Rechtsbegehren.
Während die Pensionskasse (sinngemäss) auf Abweisung der Beschwerde schliesst, hat sich das Bundesamt für Sozialversicherungen dazu nicht vernehmen lassen.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
1.1
Nach
Art. 20a Abs. 1 BVG
kann die Vorsorgeeinrichtung in ihrem Reglement neben den Anspruchsberechtigten nach den Art. 19 (überlebender Ehegatte), 19a (eingetragene Partnerinnen oder Partner) und 20 (Waisen) begünstigte Personen für die Hinterlassenenleistungen vorsehen, u.a. natürliche Personen, die vom Versicherten in erheblichem Masse unterstützt worden sind, oder die Person, die mit diesem in den letzten fünf Jahren bis zu seinem Tod ununterbrochen eine Lebensgemeinschaft geführt hat oder die für den Unterhalt eines oder mehrerer gemeinsamer Kinder aufkommen muss (lit. a). Eine Vorsorgeeinrichtung muss nicht alle der in
Art. 20a Abs. 1 lit. a BVG
aufgezählten Personen begünstigen und kann den Kreis der Anspruchsberechtigten enger fassen als im Gesetz umschrieben, insbesondere ist sie befugt, von einem restriktiveren Begriff der Lebensgemeinschaft auszugehen. Denn die Begünstigung der in
Art. 20a Abs. 1 BVG
genannten Personen gehört zur weitergehenden bzw. überobligatorischen beruflichen Vorsorge (
Art. 49 Abs. 2 Ziff. 3 BVG
und
Art. 89a Abs. 6 Ziff. 3 ZGB
). Die Vorsorgeeinrichtungen sind somit frei zu bestimmen, ob sie überhaupt und für welche dieser Personen sie Hinterlassenenleistungen vorsehen wollen. Zwingend zu beachten sind lediglich die in lit. a-c von
Art. 20a Abs. 1 BVG
aufgeführten Personenkategorien sowie die Kaskadenfolge. Umso mehr muss es den Vorsorgeeinrichtungen daher grundsätzlich erlaubt sein, etwa aus Gründen der Rechtssicherheit (Beweis anspruchsbegründender Umstände) oder auch im Hinblick auf die Finanzierbarkeit der Leistungen, den Kreis der zu begünstigenden Personen enger zu fassen als im Gesetz umschrieben (
BGE 137 V 383
E. 3.2 S. 388;
BGE 136 V 49
E. 3.2 S. 51,
BGE 136 V 127
E. 4.4 S. 130;
BGE 134 V 369
E. 6.3.1.2 S. 378; je mit Hinweisen auf die Lehre).
BGE 142 V 233 S. 236
1.2
Unter dem Titel "Todesfallkapital" finden sich im seit 1. Januar 2014 geltenden Vorsorgereglement der Pensionskasse folgende Bestimmungen:
"Art. 42 Grundsatz
Stirbt eine aktive versicherte Person, ohne dass Anspruch auf eine Ehegattenrente (Art. 36) oder auf eine Lebenspartnerrente (Art. 37) entsteht, so wird ein Todesfallkapital fällig.
Art. 43 Anspruchsberechtigte
1
Anspruch auf das Todesfallkapital haben die Hinterlassenen des Verstorbenen - unabhängig vom Erbrecht -, sofern sie vom Verstorbenen schriftlich bezeichnet worden sind:
a. der überlebende Ehegatte;
b. bei dessen Fehlen: die waisenrentenberechtigten Kinder des Verstorbenen;
c. bei deren Fehlen: der überlebende Lebenspartner, sofern er, unabhängig des Geschlechts, beim Tod der versicherten Person, mit ihr eine auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaft führte und bereits während mindestens zwei Jahren im gemeinsamen Haushalt gelebt hat;
d. bei dessen Fehlen: die vom Verstorbenen in erheblichem Masse unterstützten Personen;
e. bei deren Fehlen: die nicht waisenrentenberechtigten Kinder des Verstorbenen.
2
Die Anspruchsberechtigten müssen ihren Anspruch spätestens sechs Monate nach dem Tod der versicherten Person gegenüber der Kasse geltend machen, indem sie der Kasse ihre schriftliche Bezeichnung durch den Verstorbenen einreichen.
3
Fehlen Anspruchsberechtigte im Sinne von Abs. 1, so verfällt das Todesfallkapital der Kasse.
Art. 44 Betrag des Todesfallkapitals
Der Betrag des Todesfallkapitals entspricht einer einmaligen Abfindung in der Höhe eines beitragspflichtigen Jahreslohns."
2.
Streitig und zu prüfen ist der Anspruch der Beschwerdeführerin auf das reglementarische Todesfallkapital. Während Pensionskasse und Vorinstanz eine Berechtigung auf diese weitergehende Hinterlassenenleistung mangels einer schriftlichen Begünstigungserklärung verneinen, erblickt die Beschwerdeführerin im Testament ihres Lebenspartners eine hinreichende derartige Erklärung.
2.1
Die - im vorliegenden Fall klageweise nicht geltend gemachte - Lebenspartnerrente gemäss Art. 37 Vorsorgereglement setzt u.a. eine von der versicherten Person
zu Lebzeiten
der Pensionskasse
BGE 142 V 233 S. 237
eingereichte Begünstigungserklärung voraus, d.h. die schriftliche Meldung über eine bestehende Lebenspartnerschaft und die Bezeichnung der andern daran beteiligten Person als Anspruchsberechtigte/r (Abs. 1 und 3 der genannten Reglementsbestimmung). Beim hier interessierenden Todesfallkapital kann demgegenüber die Begünstigungserklärung des Verstorbenen zugunsten der überlebenden Lebenspartnerin (das Reglement spricht ebenfalls von deren "schriftliche[r] Bezeichnung" [als Anspruchsberechtigte]) der Pensionskasse auch noch innert sechs Monaten nach dem Tod der versicherten Person eingereicht werden (Art. 43 Abs. 1 Ingress und lit. c, Abs. 2 Vorsorgereglement). Das Bundesgericht hat beide Varianten reglementarisch verlangter Begünstigungserklärungen für zulässig erklärt; sie bilden nicht blosse Beweisvorschriften mit Ordnungscharakter, sondern mit
Art. 20a BVG
vereinbare formelle Anspruchserfordernisse mit konstitutiver Wirkung (
BGE 140 V 50
E. 3.3.2 S. 54;
BGE 137 V 105
E. 8 S. 111;
BGE 136 V 127
; SVR 2015 BVG Nr. 16 S. 63, 9C_345/ 2014 E. 3.3.2; 2014 BVG Nr. 33 S. 123, 9C_339/2013 E. 2.2; 2009 BVG Nr. 18 S. 65, 9C_710/2007 E. 5.3; 2006 BVG Nr. 13 S. 47, B 92/04 E. 5.2; Urteil 9C_161/2014 vom 14. Juli 2014 E. 3.3).
2.2
Das Vorliegen einer Lebensgemeinschaft bedeutet nicht zwangsläufig, dass die versicherte Person den Lebenspartner auch tatsächlich begünstigen will. Im Gegensatz zu den obligatorischen Hinterlassenenansprüchen des überlebenden Ehegatten bzw. des überlebenden eingetragenen Partners hat die versicherte Person bei einer Lebensgemeinschaft eine Wahlmöglichkeit (
BGE 137 V 105
E. 8.2 in fine S. 111). Diese Autonomie dürfte u.a. ein wichtiger Grund dafür sein, dass manche Paare die (nichteheliche) Lebensgemeinschaft der Ehe vorziehen. Die Meldung ist demnach unmissverständlicher Ausdruck dafür, dass eine Begünstigung gewollt ist. Dabei kann es keinen Unterschied machen, in welcher Form die Willenserklärung abzugeben ist, ob in Gestalt einer expliziten Begünstigungserklärung oder eines schriftlichen Unterstützungsvertrages oder aber in der einfachen Meldung der Lebenspartnerschaft bzw. des Lebenspartners. Auf die Abgabe einer verbalisierten Willenserklärung kommt es an. Darüber hinaus bleibt auch ihr Sinn und Zweck - unabhängig von der Form - der gleiche: Die Lebenspartnerrente stellt (wie das hier im Streite liegende Todesfallkapital) eine neue Leistung dar. Sie wird ohne Beitragserhöhung finanziert. Die Vorsorgeeinrichtung hat daher ein schützenswertes Interesse zu wissen, wie viele Versicherte im Todesfall solche Leistungen auslösen können. Überdies möchte sie in
BGE 142 V 233 S. 238
beweisrechtlicher Hinsicht grösstmögliche Klarheit in Bezug auf die Person des Begünstigten (
BGE 137 V 105
E. 9.4 S. 113;
BGE 136 V 127
E. 4.5 S. 130;
BGE 133 V 314
E. 4.2.3 S. 318; SVR 2015 BVG Nr. 17 S. 66, 9C_161/2014 E. 3.3; vgl. auch ESTHER AMSTUTZ, Die Begünstigtenordnung der beruflichen Vorsorge, 2014, S. 236 Rz. 635).
2.3
Die Beschwerdeführerin beruft sich - soweit relevant - einzig auf die eigenhändige letztwillige Verfügung des Versicherten vom 31. Dezember 2013 (ohne Ortsangabe), mit welcher der Verstorbene seine Lebenspartnerin als Erbin des (gesamten) Nachlasses eingesetzt und zur Willensvollstreckerin ernannt hat. Ferner wurden seine Eltern "angehalten", auf ihre Pflichtteile zu verzichten.
Die gesetzlichen (
Art. 18-20 BVG
) und reglementarischen (vgl.
Art. 20a BVG
) Ansprüche der Hinterbliebenen aus beruflicher Vorsorge stehen nach der Rechtsprechung vollständig ausserhalb des Erbrechts: Weder fallen sie in den Nachlass noch unterliegen sie der erbrechtlichen Herabsetzung noch werden sie durch eine Ausschlagung der Erbschaft tangiert (
BGE 140 V 50
E. 3.1 S. 52;
BGE 130 I 205
E. 8 S. 220;
BGE 129 III 305
E. 2 S. 307; GUSTAVO SCARTAZZINI, in: BVG und FZG, 2010, N. 7 zu
Art. 20a BVG
; HERMANN WALSER, Weitergehende berufliche Vorsorge, in: Soziale Sicherheit, SBVR Bd. XIV, 3. Aufl. 2016, S. 2198 Rz. 103). Trotz gänzlichem Fehlen eines erbrechtlichen Bezugs der berufsvorsorgerechtlichen Hinterlassenenleistungen kann eine entsprechende Begünstigungserklärung auch im Rahmen einer letztwilligen Verfügung erfolgen (vgl. Urteil 9C_3/ 2010 vom 31. März 2010 E. 3.2, nicht publ. in:
BGE 136 V 127
, aber in: SVR 2010 BVG Nr. 44 S. 167; vgl. SVR 2006 BVG Nr. 13 S. 47, B 92/04 E. 5.2). Die in einem Testament verbalisierte Willenserklärung, den Lebenspartner hinsichtlich der reglementarischen Hinterlassenenleistungen zu begünstigen, bedarf indessen eines ausdrücklichen Hinweises auf die einschlägigen Reglementsbestimmungen oder wenigstens auf die berufliche Vorsorge (SVR 2006 BVG Nr. 13 S. 47, B 92/04 E. 5.2 und 5.3). Letztwillige Verfügungen, mit denen - wie hier - die Lebenspartnerin des Versicherten (bloss) als Erbin eingesetzt wird, lassen nicht auf einen berufsvorsorgerechtlichen Begünstigungswillen schliessen, selbst dann nicht, wenn die Partnerin zur Alleinerbin bestimmt wird (Konkretisierung der Rechtsprechung gemäss Urteil 9C_3/2010 vom 31. März 2010 E. 3.2, nicht publ. in:
BGE 136 V 127
, aber in: SVR 2010 BVG Nr. 44 S. 167). (...) | de |
1673cf9f-8845-41b0-991c-afcfe261f006 | Sachverhalt
ab Seite 222
BGE 116 Ia 221 S. 222
Der Regierungsrat des Kantons Solothurn hat am 12. Juli 1988 beschlossen:
"1. Die Ortsplanung der Gemeinde Kappel, bestehend aus
- Zonenplan 1:2500
- Zonenreglement - Verkehrsrichtplan wird im Sinne der Erwägungen teilweise genehmigt.
2. Die Gebiete
- Einfamilienhauszone E2, "Bohlacker"
- Ortsbildschutzzone OSCH und Reservegebiet, "Unterdorf"
- Industrie-Reservegebiet, "Höchimatten"
- unüberbauter Teil von Parzelle GB Nr. 445 werden von der Genehmigung ausgenommen.
BGE 116 Ia 221 S. 223
Der Ortsbildschutzperimeter ist auf die Liegenschaft GB Nr. 28 südlich der Mittelgäustrasse auszudehnen.
3. § 7 Abs. 2 des Bau- und Zonenreglementes wird von der Genehmigung ausgenommen.
4. Der Verkehrsrichtplan ist im Gebiet "Bohlacker" entsprechend den Erwägungen in Kap. IV.a) anzupassen.
5.-12. ..."
Gegen diesen Entscheid führen die Einwohnergemeinde Kappel sowie verschiedene private Grundeigentümer staatsrechtliche Beschwerde beim Bundesgericht. Sie beantragen, die Ziffern 2, 3 und 4 des genannten Regierungsratsbeschlusses seien aufzuheben (siehe auch
BGE 116 Ia 193
ff., 197 ff., 236 f.).
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
b) Der Rechtsvertreter der Beschwerdeführer teilte dem Bundesgericht am 28. August 1989 mit, die Beschwerdeführerin X. habe das vom teilweisen Nichtgenehmigungsentscheid des Regierungsrats betroffene Grundstück an den früheren Eigentümer zurückverkauft. Ihre Beschwerde sei damit gegenstandslos. Durch den Grundstücksverkauf ist die Beschwerde von X. indessen nach der Praxis des Bundesgerichts nicht gegenstandslos geworden. Das OG enthält keine Bestimmungen über die Folgen, welche die Veräusserung des Streitgegenstands durch eine Beschwerdepartei auf das Beschwerdeverfahren hat. Es ist deshalb gemäss
Art. 40 OG
auf die Regeln des Bundeszivilprozesses zurückzugreifen. Laut
Art. 21 BZP
ist die Veränderung der im Streit liegenden Sache ohne Einfluss auf die Legitimation in der Sache. Ein Parteiwechsel ist nur mit Zustimmung der Gegenpartei zulässig (
Art. 17 Abs. 1 BZP
). Dies gilt auch im Fall der Veräusserung der im Streit liegenden Sache. Fehlt - wie hier - die erforderliche Vereinbarung, wird der Prozess nicht gegenstandslos, sondern im Namen der ursprünglichen Beschwerdeführerin fortgesetzt (vgl.
BGE 98 Ib 371
; ZBl 80/1979 S. 481 E. 3a; FRITZ GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl., Bern 1983, S. 182; WALTER KÄLIN, Das Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde, Bern 1984, S. 220). Die Gegenstandslosigkeit wäre allerdings eingetreten, wenn X. ihre Beschwerde zurückgezogen hätte (WALTER KÄLIN, a.a.O., S. 220). Im erwähnten Brief ihres Vertreters vom 28. August 1989 wurde indessen kein Beschwerderückzug erklärt, so dass X. weiterhin als Beschwerdeführerin zu betrachten ist.
BGE 116 Ia 221 S. 224
c) Die Einwohnergemeinde Kappel macht geltend, insoweit der Regierungsrat im angefochtenen Entscheid ihre Ortsplanungsrevision nicht genehmige, verletze er die Gemeindeautonomie. Im Zusammenhang mit dem Vorwurf der Autonomieverletzung rügt die Gemeinde auch einen Verstoss gegen
Art. 4 BV
durch eine willkürliche Anwendung des kantonalen Rechts. Schliesslich wird in der Beschwerde die Auffassung vertreten, der angefochtene Entscheid verletze die Eigentumsgarantie (
Art. 22ter BV
). Die "Auszonungen" würden schwerwiegende Eingriffe in dieses Grundrecht darstellen und seien nur aufgrund eines hinreichenden öffentlichen Interesses zulässig.
Der angefochtene Nichtgenehmigungsentscheid trifft die Einwohnergemeinde Kappel in ihrer Eigenschaft als Trägerin hoheitlicher Gewalt. Sie ist daher berechtigt, mit staatsrechtlicher Beschwerde eine Verletzung ihrer Autonomie zu rügen. Ob ihr im betreffenden Bereich tatsächlich Autonomie zusteht, ist keine Frage der Legitimation, sondern Gegenstand der materiellen Beurteilung (
BGE 114 Ia 76
E. 1, 81 E. 1a;
BGE 113 Ia 202
E. 1a, je mit Hinweisen). Die Gemeinde kann neben der Verletzung ihrer Autonomie auch einen Verstoss gegen das Willkürverbot (
Art. 4 BV
) geltend machen, wenn diese Rüge mit jener der Verletzung der Gemeindeautonomie eng zusammenhängt (
BGE 113 Ia 333
E. 1b, 110 Ia 51, je mit Hinweis).
d) Der angefochtene Entscheid ist teilweise ein Rückweisungsentscheid und insofern ein Zwischenentscheid, der das umstrittene Ortsplanungsverfahren nicht abschliesst. Staatsrechtliche Beschwerden gegen Zwischenentscheide, die lediglich einen Schritt auf dem Weg zu einem letztinstanzlichen Endentscheid darstellen, sind gemäss
Art. 87 OG
wegen Verletzung von
Art. 4 BV
nicht zulässig, es sei denn, der Zwischenentscheid habe für den Betroffenen einen nicht wiedergutzumachenden Nachteil zur Folge. Soweit andere Rügen erhoben werden, können letztinstanzliche Zwischenentscheide auch dann angefochten werden, wenn sie keinen nicht wiedergutzumachenden Nachteil bewirken (
Art. 86 OG
). Werden neben der Verletzung von
Art. 4 BV
noch weitere Beschwerdegründe vorgebracht, so tritt das Bundesgericht auf die Beschwerde in vollem Umfang ein, allerdings nur dann, wenn die neben der Verletzung von
Art. 4 BV
geltend gemachten Verfassungsrügen nicht mit der Willkürrüge zusammenfallen, somit selbständige Bedeutung haben und nicht offensichtlich unzulässig oder unbegründet sind (
BGE 115 Ia 314
E. 2b mit Hinweisen).
BGE 116 Ia 221 S. 225
aa) Die Gemeinde beruft sich im vorliegenden Fall auf den verfassungsrechtlichen Schutz der Gemeindeautonomie und macht geltend, die Anwendung des eidgenössischen und kantonalen Planungsrechts durch den Regierungsrat sei unhaltbar. Das Bundesgericht prüft diese Rüge auf Willkür (
Art. 4 BV
) hin, da hier nicht die Auslegung oder Anwendung von Verfassungsrecht in Frage steht (vgl. hinten E. 2a). Insoweit fällt die Rüge der Verletzung der Gemeindeautonomie mit der Rüge wegen Verletzung von
Art. 4 BV
zusammen und hat keine selbständige Bedeutung (
BGE 116 Ib 43
f. E. 1b, 115 Ia 314 E. 2b,
BGE 114 Ia 78
f. E. 3b,
BGE 106 Ia 227
E. 1). Unter diesen Umständen ist zu prüfen, ob der angefochtene Entscheid für die Gemeinde einen nicht wiedergutzumachenden Nachteil zur Folge hat (
Art. 87 OG
).
Nach der Praxis des Bundesgerichts kann ein nicht wiedergutzumachender Nachteil für eine Gemeinde dann vorliegen, wenn sie verpflichtet wird, im Sinne des Entscheids der kantonalen Behörde direkt eine neue, ihrer Auffassung widersprechende Anordnung zu treffen. Im Kanton Solothurn besteht im Verfahren der Ortsplanung nur eine einzige Rekursinstanz (Regierungsrat). Der Rückweisungsentscheid trifft die Gemeinde derart, dass sie gezwungen wäre, entgegen ihrer Rechtsauffassung der Weisung des Regierungsrats Folge zu leisten. Würde auf die Beschwerde nicht eingetreten, so wäre es der Gemeinde in der vorliegenden Angelegenheit verwehrt, sich je über eine Verletzung ihrer Autonomie vor Bundesgericht zu beschweren. Die Beschwerde der Gemeinde ist deshalb zulässig (vgl.
BGE 116 Ia 44
E. 1b mit zahlreichen Hinweisen und nicht publizierten Entscheid vom 13. September 1989 i.S. Gemeinde Flims E. 1b).
bb) Die Rüge der privaten Beschwerdeführer, der Regierungsrat habe mit dem angefochtenen Entscheid die Eigentumsgarantie verletzt, hat selbständige, über die Rüge der Verletzung des Willkürverbots (
Art. 4 BV
) hinausgehende Bedeutung, da das Bundesgericht grundsätzlich frei prüft, ob die angefochtenen Planungsmassnahmen durch das von der Verfassung geforderte überwiegende öffentliche Interesse gedeckt sind (
BGE 114 Ia 243
E. 4, 338 E. 2a, je mit Hinweisen). Dass die Berufung auf
Art. 22ter BV
bei der gegebenen Sachlage offensichtlich unbegründet sei, lässt sich nicht von vornherein sagen. Die gegen den letztinstanzlichen Rückweisungsentscheid des Regierungsrats eingereichte staatsrechtliche Beschwerde der privaten Grundeigentümer ist daher
BGE 116 Ia 221 S. 226
gestützt auf
Art. 86 Abs. 2 OG
zulässig (nicht publizierte Erwägung 3 von
BGE 115 Ia 345
).
e) Die privaten Beschwerdeführer waren im Zeitpunkt der teilweisen Nichtgenehmigung der Ortsplanung Kappel durch den Regierungsrat Grundeigentümer im Gebiet Bohlacker, welches nach Auffassung des Regierungsrats nicht zur Bauzone geschlagen werden soll. Hinsichtlich ihrer Legitimation zur staatsrechtlichen Beschwerde (
Art. 88 OG
) ist zu beachten, dass noch keine definitiven, ihr Eigentum betreffende Beschränkungen erlassen wurden und damit fraglich ist, ob sie vom angefochtenen Entscheid in ihren rechtlich geschützten Interessen betroffen sind. Eine definitive Eigentumsbeschränkung aufgrund einer Nutzungsplanungsmassnahme erfolgt im Hinblick auf
Art. 26 Abs. 1 RPG
erst, wenn diese vom Regierungsrat genehmigt worden ist. Das ist hier in bezug auf die umstrittenen Gebiete noch nicht geschehen. Mit der Behandlung der Autonomiebeschwerde der Gemeinde wird indessen bezüglich der Dimensionierung der Bauzone weitgehend über dieselben materiellen Fragen entschieden, die auch die privaten Beschwerdeführer in ihrer staatsrechtlichen Beschwerde aufwerfen. Der angefochtene Entscheid berührt somit auch die privaten Grundeigentümer in ihren rechtlich geschützten Interessen, soweit er aufgrund der Beschwerde der Gemeinde vom Bundesgericht zu überprüfen ist. Schon aus diesem Grund sowie auch aus Gründen der Prozessökonomie ist die Beschwerde der privaten Beschwerdeführer gleichzeitig mit jener der Gemeinde zu behandeln. Sie werfen dem Regierungsrat vor, er habe im angefochtenen Entscheid die Eigentumsgarantie (
Art. 22ter BV
) und
Art. 4 BV
verletzt und machen hilfsweise eine Verletzung der Gemeindeautonomie geltend, was nach der Praxis zulässig ist (
BGE 114 Ia 292
E. 3a mit Hinweisen).
2.
a) (Hinweis auf
BGE 114 Ia 372
E. 2a mit Zitaten.)
b) Mit dem angefochtenen Entscheid hat der Regierungsrat im Genehmigungsverfahren die von der Einwohnergemeinde Kappel beschlossene Ortsplanungsrevision teilweise nicht genehmigt. Aufgrund der §§ 9 ff. des Baugesetzes des Kantons Solothurn vom 3. Dezember 1978 (BauG) steht den Gemeinden des Kantons Solothurn auf dem Gebiet der Ortsplanung Autonomie zu. Dies wird vom Regierungsrat denn auch zu Recht nicht bestritten.
c) Wann eine Gemeinde durch den Entscheid einer kantonalen Rechtsmittelbehörde in ihrer Autonomie verletzt ist, hängt vom Umfang der Überprüfungsbefugnis der kantonalen Instanz ab
BGE 116 Ia 221 S. 227
(
BGE 113 Ia 194
E. 2d). Nach § 18 Abs. 1 BauG sind die Nutzungspläne durch den Regierungsrat zu genehmigen. Der Regierungsrat entscheidet über die Beschwerden, überprüft die Pläne auf ihre Recht- und Zweckmässigkeit und auf die Übereinstimmung mit den kantonalen und regionalen Plänen. Pläne, die rechtswidrig oder offensichtlich unzweckmässig sind, und Pläne, die übergeordneten Planungen widersprechen, weist er an die Gemeinde zurück (§ 18 Abs. 2 BauG). Der Regierungsrat kann allfällige Änderungen selbst beschliessen, wenn deren Inhalt eindeutig bestimmbar ist und die Änderungen der Behebung offensichtlicher Mängel oder Planungsfehler dienen (§ 18 Abs. 3 BauG). Gemäss § 133 Abs. 1 BauG können die Gemeinden in einem Reglement eigene Vorschriften erlassen, soweit sie dem kantonalen Baureglement nicht widersprechen. Solche Vorschriften bedürfen der Genehmigung durch den Regierungsrat, der sie auf die Recht- und Zweckmässigkeit überprüft (§ 133 Abs. 3 BauG).
Im Hinblick auf diese Vorschriften kann die Gemeinde eine Verletzung ihrer Autonomie nur dann mit Erfolg geltend machen, wenn der Eingriff des Regierungsrats in die kommunale Gestaltungsfreiheit sich nicht mit vernünftigen, sachlichen Gründen vertreten lässt. Auch darf der Regierungsrat nicht einfach das Ermessen der Gemeinde durch sein eigenes ersetzen. Er hat es in Übereinstimmung mit der Regel von
Art. 2 Abs. 3 RPG
den Gemeinden zu überlassen, unter mehreren verfügbaren und zweckmässigen Lösungen zu wählen. Der Regierungsrat kann jedoch bei seiner Zweckmässigkeitskontrolle nicht erst einschreiten, wenn die Lösung der Gemeinde ohne sachliche Gründe getroffen wurde und schlechthin unhaltbar ist. Die kantonalen Behörden dürfen sie vielmehr korrigieren, wenn sie sich aufgrund überkommunaler öffentlicher Interessen als unzweckmässig erweist oder wenn sie den wegleitenden Grundsätzen und Zielen der Raumplanung nicht entspricht oder unzureichend Rechnung trägt. Verlangt die kantonale Behörde von der Gemeinde mit vernünftiger, sachlicher Begründung eine Änderung der Zonenplanung, um diese mit den gesetzlichen Anforderungen in Übereinstimmung zu bringen, so kann sich die Gemeinde nicht mit Erfolg über eine Verletzung ihrer Autonomie beklagen (
BGE 113 Ia 194
f. E. 2d;
BGE 112 Ia 284
E. 3d,
BGE 111 Ia 70
E. 3d, je mit Hinweisen; Urteil vom 12. Februar 1986 in ZBl 88/1987, S. 131 f., E. 3c).
3.
Die Gemeinde hält das Argument des Regierungsrats für unzutreffend, wonach der Nichtgenehmigungsentscheid
BGE 116 Ia 221 S. 228
namentlich zur Verhinderung einer übergrossen, den Anforderungen von
Art. 15 RPG
nicht entsprechenden Bauzone rechtlich geboten sei, und sie erblickt darin eine Verletzung ihrer Autonomie.
a) Der Regierungsrat führt dazu im angefochtenen Entscheid im wesentlichen aus, dass das Gesetz (RPG und BauG) die zulässige Grösse einer Bauzone bestimme. Diese habe nach § 26 BauG jenes Land zu umfassen, das bereits weitgehend überbaut und erschlossen sei oder das nach objektiven Planungsgrundsätzen in absehbarer Zeit -
Art. 15 RPG
lege 15 Jahre fest - für eine geordnete Besiedlung benötigt werde und auch erschlossen werden könne. Zur Konkretisierung dieser Bestimmungen sei der Planungsgrundsatz des Faktors 2 aufgestellt und in den kantonalen Richtplan über die Besiedlung und Landschaft von 1982 aufgenommen worden. Nach diesem Grundsatz dürfe die Bauzone höchstens so gross bemessen sein, dass sie, gesamthaft gesehen, der doppelten heutigen Einwohnerzahl einer Gemeinde Platz biete. Dieser Faktor 2 stelle eine alleroberste, allen Eventualitäten Rechnung tragende Grenze dar, damit die Bauzonengrösse den gesetzlichen Anforderungen noch genügen könne. Eine Bauzone, welche über diese maximale Grösse hinausgehe, sei nicht nur unzweckmässig, sondern gesetzwidrig. Die Berechnung des Fassungsvermögens der Bauzone von Kappel habe ergeben, dass Faktor 2 deutlich überschritten sei (Faktor ca. 2,2). Das Fassungsvermögen der Bauzone sei somit um ca. 300 Einwohner zu gross. Die Gemeinde halte diese Berechnung des Fassungsvermögens indessen für unrichtig. Sie berufe sich dabei auf eine Zusicherung des damaligen Kreisplaners, wonach in der Wohnzone W3 ein Splitting der Ausnützungsziffer zulässig sei, um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass grössere Teile der Wohnzone W3 lediglich mit zweigeschossigen Bauten genutzt würden. Der Einwohnerwert für die Wohnzone W3 müsse gemäss dieser Absprache mit 100 E./ha angenommen werden und nicht wie üblich mit 120 E./ha. Bei Berücksichtigung dieser Argumente wäre Faktor 2 eingehalten. Dazu erklärt der Regierungsrat im angefochtenen Entscheid, die Ermittlung des Fassungsvermögens der Bauzone erfolge in ständiger Praxis nach einer genau definierten Methode, welche für alle Gemeinden des Kantons in gleichem Masse Gültigkeit besitze. Nur durch eine exakt definierte Methode sei eine gleichwertige Behandlung verschiedener Ortsplanungen gewährleistet. Die Einwohnerdichtewerte für die verschiedenen Nutzungszonen würden hierbei gemäss der Richtlinie "Quartierplananalysen" (= Richtlinie
BGE 116 Ia 221 S. 229
zur Ortsplanung, ARP, Oktober 1977) festgelegt. Entgegen der offenbar gemachten Zusicherung des zuständigen Kreisplaners sei ein Splitting der Ausnützungsziffer in nicht voll ausgenützten Wohnzonen unzulässig. Auch die damit verbundene Herabsetzung der massgeblichen Einwohnerdichtewerte lasse sich nicht rechtfertigen, da der Kanton bei seinen Berechnungen stets von der Annahme voll ausgenützter Nutzungszonen ausgehe. Dem vorliegenden Problem der "Unternutzung" von Wohnzonen werde nämlich insofern bereits Rechnung getragen, als der Grenzwert von Faktor 2 bewusst hoch angesetzt worden sei. Der Regierungsrat ist der Auffassung, dass die Zusicherung eines Kreisplaners die Genehmigungsinstanz an sich nicht zu binden vermöge. Die von der Gemeinde geltend gemachten Einwände seien sachlich nicht haltbar, da die spezielle Berechnungsart eine Ausnahme darstellen würde und damit eine Rechtsungleichheit gegenüber anderen Gemeinden entstünde. Gleichzeitig sei jedoch zu beachten, dass die Gemeinde sich während der gesamten Planungsphase auf diese Zusicherung verlassen habe und deshalb eine Zurückweisung der Planung gemäss § 18 Abs. 2 BauG gegen Treu und Glauben verstossen würde. Aus diesem Grund hat sich der Regierungsrat bei der Überprüfung der Zweckmässigkeit der Zonenabgrenzung auf diejenigen Gebiete beschränkt, welche neben einer allgemeinen Eignung zur Auszonung (geringer Erschliessungsgrad, periphere Lage, landwirtschaftliche Eignung) vor allem auch aus ortsbild- und landschaftsschützerischen Gründen bzw. aus Gründen der überörtlichen Planung problematisch seien. Es handelt sich dabei um die drei folgenden Gebiete:
a) Einfamilienhauszone E2: "Bohlacker", Parzellen GB Nrn. 666, 668-671, 680, 681, 703, 704, 968, 1583
b) Wohnzone W2OSCH und Reservegebiet: "Unterdorf", Parzellen GB Nrn. 28, 270-272, 280-282, 284, 290, 291, 293
c) Industrie-Reservegebiet: "Höchimatten", Parzellen GB Nrn. 476, 479, 491-495, 498, 500, 501, 503, 504, 1153
Aus diesen Erwägungen ergibt sich, dass der Regierungsrat sich bei der Überprüfung der Ortsplanungsrevision der Einwohnergemeinde Kappel trotz der nach seiner Ansicht nicht bindenden Zusicherung des Kreisplaners aus Gründen von Treu und Glauben über den Planungsgrundsatz "Faktor 2" hinweggesetzt hat. Er ist indessen selbst der Meinung, die Ausrichtung einer Bauzone auf die Verdoppelung der Bevölkerung sei das Äusserste, was im Hinblick auf
Art. 15 RPG
überhaupt noch als zulässig erscheine.
BGE 116 Ia 221 S. 230
In der Vernehmlassung des Bau-Departements wird sodann dargelegt, die Begrenzung der Bauzone sei eine äusserst wichtige, wenn nicht die wichtigste Massnahme der Raumplanung überhaupt. Der Planungsgrundsatz "Faktor 2" sei im Hinblick auf die engen Bestimmungen des Raumplanungsgesetzes, welche die Bauzone auf einen Bedarf an Land für 15 Jahre begrenzten, äusserst grosszügig und müsse somit die äusserste Grenze für das Ausmass der Bauzone bilden. Es sei einzuräumen, dass man den "Faktor 2" nicht zur Rechtsnorm hochstilisieren dürfe; de facto werde er es aber, weil viele Gemeinden - auch Kappel - unbedingt die Grösse der Bauzone auf diese oberste Grenze ausrichten oder gar darüber hinausgehen wollten. Irgendwo müsse - zumal die Solothurner Lösung im Verhältnis zum Bundesrecht (vorsichtig formuliert) eine sehr large Lösung darstelle - eine oberste Grenze sein.
b) Diese Erwägungen des Regierungsrats und des Bau-Departements erweisen sich in verschiedener Hinsicht als problematisch, weil sie mit den in
Art. 15 RPG
enthaltenen Grundsätzen zur Dimensionierung der Bauzonen teilweise nicht übereinstimmen. Das im Kanton Solothurn praktizierte Vorgehen zur Bestimmung der maximalen Bauzonengrösse ist mit der generellen Berücksichtigung des Planungsgrundsatzes "Faktor 2" zu schematisch und nimmt insbesondere auf die Kriterien des in den letzten Jahren erfolgten Flächenverbrauchs, des voraussichtlichen Flächenbedarfs, der Bevölkerungsentwicklung der letzten Jahre und der Bevölkerungsprognose für die nächsten 15 Jahre keine oder jedenfalls nicht genügend Rücksicht. Betrachtet man den "Faktor 2" neben diesen Gesichtspunkten als einen Planungsgrundsatz, der die Grenze dessen, was nach
Art. 15 RPG
hinsichtlich der Grösse einer Bauzone im äussersten Fall noch zulässig ist, bestimmt, so ist er als Planungsgrundsatz aus der Sicht des Bundesrechts nicht zu beanstanden (vgl. nicht publiziertes Urteil vom 24. Februar 1987 i.S. V. B. c. Gem. Wisen, E. 3). Wird der "Faktor 2" aber so verstanden, dass die Bauzonengrösse generell auf die doppelte Bevölkerungszahl ausgerichtet werden soll, ohne dass auf die speziellen Verhältnisse der einzelnen Gemeinde eingegangen wird, ist er mit den Grundsätzen des Raumplanungsgesetzes des Bundes nicht vereinbar. In diesem letztgenannten Sinne soll er aber nach den Ausführungen des Regierungsrats und des Bau-Departements im Kanton Solothurn verbreitet Anwendung finden. Wie erwähnt, scheint der Regierungsrat im vorliegenden Fall für die Einwohnergemeinde Kappel sogar eine grössere Bauzone zuzulassen, als dies
BGE 116 Ia 221 S. 231
der "Faktor 2" vorsieht. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts liegen jedoch Massnahmen im öffentlichen Interesse, die geeignet sind, das Entstehen überdimensionierter Bauzonen zu verhindern oder solche Bauzonen zu verkleinern (
BGE 114 Ia 369
). Diese Praxis geht schon auf die Zeit vor dem Inkrafttreten des Raumplanungsgesetzes zurück (vgl.
BGE 103 Ia 252
mit Hinweisen). Dafür sprechen gewichtige planerische Gründe wie die Vermeidung der Streubauweise, Erwägungen des Landschaftsschutzes und die Notwendigkeit, die Infrastrukturanlagen und -kosten zu beschränken. Zu gross bemessene Bauzonen sind nicht nur unzweckmässig, sondern gesetzwidrig (
BGE 114 Ia 255
E. 3e mit Hinweisen).
Im Jahre 1977, d.h. vor Inkrafttreten des Raumplanungsgesetzes hat das Bundesgericht erklärt, es habe bisher nicht näher umschrieben, wann eine Bauzone zu gross sei und ihre Verkleinerung demnach im öffentlichen Interesse liege. Es bezeichnete die ausgeschiedene Bauzone als offensichtlich überdimensioniert, wenn sie aller Voraussicht nach bis weit über das Jahr 2000 hinaus ausreichte, wenn sie beim Bevölkerungsstand in den Jahren 2020-2040 voraussichtlich nicht benötigt würde oder wenn sie wesentlich mehr als die doppelte Bevölkerungszahl aufzunehmen vermöchte, die in den nächsten 10-15 Jahren erwartet werden könnte (
BGE 103 Ia 252
E. 2b). Inzwischen hat sich jedoch die Rechtslage geändert. Seit dem 1. Januar 1980 besteht in
Art. 15 RPG
eine bundesrechtliche Vorschrift, die sich eingehend mit der Bemessung der Bauzone befasst (vgl.
BGE 103 Ia 253
). Es gibt verschiedene Methoden zur Berechnung des Fassungsvermögens von Bauzonen im Sinne von
Art. 15 RPG
. Im Kanton Zürich bildet Ausgangspunkt dieser Prognose das Verhältnis der überbauten zu den innerhalb der Bauzone gelegenen noch unüberbauten Flächen. Aus der jährlichen Gegenüberstellung dieser Flächen wird die tatsächliche Beanspruchung der Baulandreserven in den vergangenen Jahren berechnet und danach der im Planungszeitraum zu erwartende Bedarf geschätzt. Diese Methode hat das Bundesgericht verschiedentlich als sachlich vertretbar und zulässig erklärt (vgl.
BGE 114 Ia 369
, ZBl 84/1983, S. 319). Ein zu dieser Problematik vom Bundesamt für Raumplanung herausgegebener Bericht mit dem Titel "Ermittlung der möglichen Bevölkerungsentwicklung bei vorgegebenen Bauzonen" (erschienen in der Reihe "Materialien zur Raumplanung" im Juni 1981) nimmt auf die verschiedenen Methoden zur Berechnung des Fassungsvermögens von Bauzonen
BGE 116 Ia 221 S. 232
Bezug und erläutert, wie diese eingesetzt werden können und was bei der Abschätzung der möglichen Bevölkerungsentwicklung zu beachten ist, ohne sich auf eine konkrete Methode festzulegen. Immerhin ergibt sich daraus, dass für die Dimensionierung der Bauzone zunächst die Bevölkerungsentwicklung für den Planungszeitraum aufgrund der Planungsmassnahmen abzuschätzen und anschliessend die hiefür benötigte Baulandreserve zu ermitteln ist, was ohne Zweifel sachlich richtig ist und dem Wortlaut von
Art. 15 RPG
sowie dem Sinn und Zweck des Raumplanungsgesetzes entspricht (vgl. insbesondere den zitierten Bericht S. 21 ff.). Es ist zudem zu beachten, dass für das Festlegen der Bauzonen nach der neuesten Rechtsprechung des Bundesgerichts
Art. 15 RPG
nicht allein massgebend ist. Die Bauzonenausscheidung hat wie alle Raumplanung eine auf die erwünschte Entwicklung des Landes ausgerichtete Ordnung der Besiedlung zu verwirklichen (
Art. 22quater Abs. 1 BV
). Sie stellt eine Gestaltungsaufgabe dar und unterliegt einer gesamthaften Abwägung und Abstimmung aller räumlich wesentlichen Gesichtspunkte und Interessen (
Art. 1 Abs. 1,
Art. 2 Abs. 1 RPG
;
BGE 114 Ia 369
;
BGE 113 Ib 230
f. E. 2c;
BGE 107 Ia 37
ff.).
Betrachtet man die Verhältnisse in der Einwohnergemeinde Kappel im Lichte dieser Rechtsprechung, so ergibt sich, dass das Vorgehen des Regierungsrats verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist, soweit er eine Nichtgenehmigung der Ortsplanung Kappel ausgesprochen hat. Viel näher liegt die im vorliegenden Verfahren nicht zur Diskussion stehende Frage, ob der Regierungsrat der Gemeinde im angefochtenen Entscheid nicht zu weit entgegengekommen ist und eine zu grosse,
Art. 15 RPG
widersprechende Bauzone akzeptiert hat. Ein Blick auf die Materialien der hier zu beurteilenden Ortsplanungsrevision zeigt nämlich deutlich, dass eine Bauzonengrösse, welche auf die Verdoppelung der Bevölkerung ausgerichtet ist, weit von denjenigen Planungszielen entfernt ist, welche das Raumplanungsgesetz insbesondere in
Art. 15 RPG
umschreibt. Auch wenn man von den Berechnungen des Gemeinderats ausgeht, ergibt sich eine viel zu grosse Bauzone. Aus dem Vorprüfungsbericht des kantonalen Amtes für Raumplanung geht hervor, dass der Zonenplan 1968 der Einwohnergemeinde Kappel ein Fassungsvermögen von 7460 Einwohnern aufweist. Die Gemeinde zählte am 1. Januar 1984 1913 Einwohner und wies nach den Angaben der Beschwerdeführer im Februar 1988 einen Bevölkerungsstand von 2052 Einwohnern auf. Im erwähnten
BGE 116 Ia 221 S. 233
Vorprüfungsbericht wird erklärt, die Bevölkerungsentwicklung seit 1980 sei leicht ansteigend (ca. 40 Einwohner pro Jahr). Im Hinblick auf diese Zahlen kann in den nächsten 15 Jahren niemals mit einer Verdoppelung der Bevölkerung gerechnet werden, und zwar gleichgültig, ob man dieser Prognose die Zahlen der Gemeinde oder diejenigen des Regierungsrats zugrunde legt. Das bedeutet, dass wohl schon die vom Regierungsrat akzeptierte Bauzonengrösse
Art. 15 RPG
widerspricht. Umso grösser wäre der Widerspruch, wenn dem Begehren der Gemeinde oder der privaten Beschwerdeführer entsprochen würde. Deshalb kann im Nichtgenehmigungsentscheid des Regierungsrats unter dem Aspekt der Bauzonengrösse weder eine Verletzung der Gemeindeautonomie noch eine andere Verletzung verfassungsmässiger Rechte erblickt werden. Auch der Umstand, dass sich Land bisher in einer Bauzone befand, steht einer Nichteinzonung grundsätzlich nicht entgegen, wenn es darum geht, einen Zonenplan mit einer derart übergrossen Bauzone wie diejenige des Zonenplans der Einwohnergemeinde Kappel aus dem Jahre 1968 den Planungsgrundsätzen des Raumplanungsgesetzes anzupassen bzw. diesen anzunähern (
BGE 115 Ia 387
E. 4;
BGE 114 Ia 33
mit Hinweisen).
Der frühere Zonenplan aus dem Jahre 1968 stellt angesichts der Grösse der darin ausgeschiedenen Bauzone nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts keinen Nutzungsplan im Sinne der
Art. 14 ff. RPG
dar. Die vom Regierungsrat im angefochtenen Nichtgenehmigungsentscheid verlangten Planungsmassnahmen sind daher nicht als Aus-, sondern als Nichteinzonungen in die Bauzone zu bezeichnen (
BGE 115 Ia 345
E. 5).
4.
a) Die Beschwerdeführer wenden sich insbesondere dagegen, dass der Regierungsrat dem Einbezug des Bohlackers in die Bauzone die Genehmigung verweigert hat. Sie erklären zunächst, dieses Vorgehen verstosse gegen den kantonalen Richtplan aus dem Jahre 1982, wo dieses Land ausdrücklich der Bauzone zugeteilt sei.
Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass nur für den unüberbauten Teil des Gebietes Bohlacker die Einzonungsgenehmigung verweigert worden ist. Sodann ist zu beachten, dass der Bohlacker weder im kantonalen Richtplan noch im Koordinationsplan "der Bauzone zugeteilt" worden ist. Wie das Bau-Departement in seiner Vernehmlassung zutreffend darlegt, stellt der Richtplan des Kantons Solothurn - jedenfalls in diesem Zusammenhang betrachtet - keinen Vornutzungsplan dar. Er gibt lediglich zu
BGE 116 Ia 221 S. 234
Informationszwecken den damaligen Stand der den Anforderungen der Raumplanung noch nicht angepassten Ortsplanung hinsichtlich der Baugebietsabgrenzung wieder (nicht publizierte Erwägung 3d von
BGE 114 Ia 254
ff.). Im Richtplantext werden die Gemeinden im weiteren aufgefordert, den bestehenden Planungsstand den Kriterien des Raumplanungsgesetzes und des Baugesetzes anzupassen. In der Legende zum Siedlungsgebiet wird wörtlich erklärt: "Die bestehenden Bauzonen sind nach Möglichkeit mindestens um so viel zu reduzieren, dass sie höchstens das doppelte Fassungsvermögen der bisherigen Einwohnerzahl aufweisen." Die Rüge, der Regierungsrat habe sich im angefochtenen Entscheid über den Richtplan hinweggesetzt, ist somit unbegründet. Das gleiche gilt für den Koordinationsplan 1984. Der am 14. März 1980 vom Regierungsrat genehmigte Erschliessungsplan Bohlacker war auf den Zonenplan 1968 ausgerichtet, der namentlich wegen seiner übergrossen Bauzone nicht als Nutzungsplan im Sinne der
Art. 14 ff. RPG
betrachtet werden kann. Er ist daher der neuen Nutzungsplanung anzupassen. Dabei ist zu beachten, dass sich der Erschliessungsplan auf den Nutzungsplan auszurichten hat und nicht umgekehrt der Nutzungsplan auf den Erschliessungsplan (§ 99 BauG,
Art. 19 RPG
). Nachdem der Zonenplan 1968 bundesrechtswidrig ist, ist eine Anpassung des Erschliessungsplans an die neue Nutzungsplanung unerlässlich. Inwiefern sich der Regierungsrat dadurch, dass er sich über den überholten und insoweit auch rechtswidrigen Erschliessungsplan hinweggesetzt hat, verfassungswidrig verhalten haben soll, ist nicht ersichtlich.
Die Behauptung der Beschwerdeführer, der Bohlacker sei in jeder Beziehung erschlossen, ist aktenwidrig. Es fehlt vielmehr die Feinerschliessung für das zur Nichteinzonung vorgesehene unüberbaute Gebiet. Es bestehen nur im bereits überbauten, vom Nichtgenehmigungsentscheid des Regierungsrats nicht betroffenen Gebiet genügende Erschliessungsstrassen. Dass die Gemeinde ihre Erschliessungsplanung den neuen, sich aus dem Raumplanungsgesetz, insbesondere aus den
Art. 14 ff. RPG
ergebenden Bauzonenverhältnissen anzupassen hat, versteht sich von selbst und ist keinesfalls verfassungswidrig.
Auch wenn der Bohlacker landwirtschaftlich uninteressant ist und das Land lediglich im Gesamtinteresse landwirtschaftlich genutzt werden soll (
Art. 16 Abs. 1 lit. b RPG
), ändert das nichts daran, dass eine Nichteinzonung namentlich im Hinblick auf die Gesichtspunkte der Bauzonendimensionierung als
BGE 116 Ia 221 S. 235
verfassungskonform erscheint (vgl. vorne E. 3b). Dazu kommen Gründe des Landschaftsschutzes. Die Nichteinzonung bezieht sich nur auf den unüberbauten, in der Nähe des Waldes gelegenen Teil des fraglichen Gebiets. Die von den Beschwerdeführern vorgebrachten Ausführungen gegen die Schutzwürdigkeit des dort gelegenen unüberbauten Landes vermögen nicht zu überzeugen.
Der Nichteinbezug des Bohlackers in die Bauzone entspricht den Zielsetzungen des Raumplanungsgesetzes, wie sie namentlich in den
Art. 14 ff. RPG
enthalten sind. Er verstösst deshalb nicht gegen die Eigentumsgarantie. Diese vermittelt in Verhältnissen, wie sie hier vorliegen, keinen Rechtsanspruch darauf, dass Land einer Bauzone zugeteilt wird. Im weiteren ist zu beachten, dass sich die Frage der Rechtssicherheit und damit der Planbeständigkeit nach der bundesgerichtlichen Praxis nur für bundesrechtskonforme Pläne stellt (
BGE 114 Ia 32
ff. mit Hinweisen).
d) Die Beschwerdeführer erklären im weiteren, auch für den Fall, dass entgegen ihrer Auffassung anzunehmen sei, das Baugebiet sei offensichtlich zu gross, sei es nicht Sache des Regierungsrats, die Reduktion nach seiner Wahl vorzunehmen. Ein solches Vorgehen widerspreche der gesetzlichen Ordnung. Solange die Gemeinde nicht in Verzug sei, sei es ihre Aufgabe, die Bauzone im Rahmen von § 25 BauG zu redimensionieren.
Hinsichtlich der erwähnten zeitlichen Komponente ist darauf hinzuweisen, dass in der Gemeinde Kappel nun bereits seit über 10 Jahren ein bundesrechtswidriger Zonenplan besteht. Es darf deshalb durchaus von einer gewissen zeitlichen Dringlichkeit für die Anpassung dieser Ortsplanung an das Raumplanungsgesetz ausgegangen werden. Im übrigen gibt das kantonale Baugesetz dem Regierungsrat in § 18 BauG die Möglichkeit von Gebietsbezeichnungen. Gemäss § 18 Abs. 3 BauG kann der Regierungsrat sogar allfällige Änderungen selber beschliessen, wenn deren Inhalt eindeutig bestimmbar ist und die Änderungen der Behebung offensichtlicher Mängel oder Planungsfehler dienen. Im vorliegenden Fall hat der Regierungsrat nicht so gehandelt, sondern es bei einer blossen Nichtgenehmigung einzelner Teile der ihm vorgelegten Ortsplanungsrevision bewenden lassen. Das ist - im Lichte des kantonalen Rechts betrachtet - verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Im übrigen wusste die Einwohnergemeinde Kappel seit Jahren, dass der Regierungsrat den Einbezug gewisser Teile des Gemeindegebiets in die Bauzone ablehnte. Die Gemeinde hat den ihr gegenüber von den kantonalen Behörden wiederholt
BGE 116 Ia 221 S. 236
geäusserten Vorstellungen betreffend die Zonierung und die Dimensionierung ihrer Bauzone nicht nur nicht entsprochen, sondern sie hat auch keine eigenen Alternativen zur Redimensionierung der übergrossen Bauzone vorgelegt. Bei dieser Situation hatte der Regierungsrat gar keine andere Wahl, als den Einbezug bestimmter Gebiete in die Bauzone nicht zu genehmigen. Statt dessen wäre lediglich die Rückweisung der gesamten Ortsplanungsrevision an die Gemeinde in Frage gekommen. So weit wollte der Regierungsrat wie bereits dargelegt jedoch nicht gehen. Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen. | de |
19e46fe2-59ec-4678-b374-b054c239c194 | Sachverhalt
ab Seite 383
BGE 141 III 382 S. 383
A.
A.a
Am 5. Oktober 2001 gingen die SAirGroup AG und die SAirLines AG in die (provisorische, dann definitive) Nachlassstundung, und am 20. Juni 2003 bestätigte das Bezirksgericht Zürich (als Nachlassgericht) die Nachlassverträge mit Vermögensabtretung (
Art. 317 ff. SchKG
). Zur Feststellung der am Liquidationsergebnis teilnehmenden Gläubiger erstellten die Liquidatoren die Kollokationspläne (
Art. 321 SchKG
).
A.b
In beiden Nachlassverfahren hatten der Staat Belgien, die Société Fédérale de Participations et d'Investissement (S.F.P.I.) SA (bzw. deren Rechtsvorgänger) sowie die SA Zephyr-Fin, alle drei Sabena-Aktionäre, Forderungen im Umfang von mehreren Milliarden Franken angemeldet. Die Forderungen dieser Gläubiger wurden von den Liquidatoren der SAirGroup AG und der SAirLines AG in Nachlassliquidation im Kollokationsplan (Auflage vom 19. Juli 2006) nicht zugelassen.
A.c
Gegen die abweisende Kollokationsverfügung erhoben die Gläubiger der SAirLines AG Beschwerde. Sie machten geltend, bereits im Juli 2001, vor Gewährung der (provisorischen) Nachlassstundung, in Belgien einen Prozess gegen die SAirLines AG anhängig gemacht zu haben, dessen Gegenstand die angemeldeten Forderungen seien. Sie verlangten, dass die angemeldeten Forderungen im Kollokationsplan
pro memoria
mit Fr. 1.- bis zur rechtskräftigen Erledigung der von ihnen in Belgien anhängig gemachten Klage vorzumerken seien. Die Kompetenz der Liquidatoren zum Entscheid über die Kollokation wurde von den kantonalen Aufsichtsbehörden in Schuldbetreibungs- und Konkurssachen des Kantons Zürich sowie vom Bundesgericht am 23. April 2007 jedoch bestätigt (
BGE 133 III 386
).
BGE 141 III 382 S. 384
A.d
Gegen die abweisenden Kollokationsverfügungen erhoben die Gläubiger am 8. August 2006 bzw. 2. November 2006 jeweils Klage beim Bezirksgericht Zürich (als Kollokationsgericht) gemäss
Art. 250 Abs. 1 SchKG
gegen die Nachlassmassen SAirGroup AG und SAirLines AG. Die Kläger verlangen je Nachlassmasse die Kollokation von Forderungen in der Dritten Klasse von 746,7 Mio. Franken.
A.e
Mit der Kollokationsklage vom 8. August 2006 stellten die Kläger u.a. den Antrag, die Kollokationsklage sei bis zum Vorliegen eines rechtskräftigen Urteils der Cour d'Appel de Bruxelles zu sistieren. Mit Verfügung vom 29. September 2006 sistierte der Einzelrichter den Kollokationsprozess. Das Bundesgericht hob die Sistierung des Kollokationsprozesses am 30. September 2008 auf (
BGE 135 III 127
).
A.f
Die beiden Kollokationsklagen wurden am 11. Mai 2009 vereinigt. Mit Urteil vom 22. Februar 2011 wies der Einzelrichter am Bezirksgericht Zürich die Klagen ab, soweit darauf eingetreten wurde.
B.
Gegen das Urteil gelangten die Kläger mit Berufung an das Obergericht des Kantons Zürich. Im Berufungsverfahren legten sie das Urteil der Cour d'Appel de Bruxelles vom 27. Januar 2011 vor (R.G. 2004/AR/1114, 2004/AR/1190; Appellation gegen das Urteil des Tribunal de commerce de Bruxelles vom 20. November 2003). Mit dem Urteil wurden Ansprüche teils gutgeheissen, teils abgewiesen und die Beurteilung weiterer Ansprüche bis zum Abschluss der in Belgien hängigen Strafverfahren ausgesetzt. Die Kläger verlangten im Berufungsverfahren die Teilanerkennung des Urteils der Cour d'Appel de Bruxelles vom 27. Januar 2011 und die Verfahrenssistierung bis zum vollständigen Abschluss der Zivilverfahren in Belgien sowie die nachfolgende Neubeurteilung der Sache und die Kollokation der von den belgischen Gerichten zugesprochenen Forderungen. Mit Urteil vom 28. Mai 2013 wies das Obergericht sowohl den Sistierungsantrag als auch die Klagen ab.
C.
Der Staat Belgien, die Société Fédérale de Participations et d'Investissement (S.F.P.I.) SA sowie die SA Zephyr-Fin haben am 1. Juli 2013 Beschwerde in Zivilsachen erhoben. Die Beschwerdeführer beantragen die Aufhebung des Urteils des Obergerichts vom 28. Mai 2013 und die Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur Neubeurteilung. Eventualiter verlangen sie (wie im kantonalen Verfahren) die Anerkennung des Urteils der Cour d'Appel de Bruxelles vom 27. Januar 2011 und die Verfahrenssistierung. Subeventuell wird die Kollokation der Forderungen verlangt. (...)
BGE 141 III 382 S. 385
Das Bundesgericht weist die Beschwerde in Zivilsachen ab.
(Auszug) Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Anlass zur vorliegenden Beschwerde geben die Kollokationsklagen der Beschwerdeführer, mit welchen sie die Kollokationsverfügungen in den Nachlassverfahren der SAirGroup AG und der SAirLines AG anfechten.
3.1
Das Obergericht hat die Kollokationsklagen der Beschwerdeführer abgewiesen, was zur Folge hat, dass ihre Forderungen am Liquidationsergebnis nicht teilnehmen (Art. 321 i.V.m.
Art. 250 Abs. 1 SchKG
). Die Beschwerdeführer machen geltend, dass die Forderungen, welche im Kollokationsprozess zur Diskussion stehen, Gegenstand eines in Belgien hängigen Prozesses seien, welcher am 3. Juli 2001 - schon vor der Bewilligung der (provisorischen) Nachlassstundung vom 5. Oktober 2001 - eingeleitet worden sei. Die Beschwerdeführer werfen dem Obergericht im Wesentlichen eine Verletzung des Lugano-Übereinkommens (LugÜ; SR 0.275.12) sowie von Bundesrecht vor, weil es die Anerkennbarkeit des in jenem Prozess ergangenen Urteils der Cour d'Appel de Bruxelles vom 27. Januar 2011 sowie dessen Verbindlichkeit im Kollokationsverfahren verneinte und sich weigerte, den Entscheid über die Kollokationsklage auszusetzen.
3.2
Ob das in Belgien am 27. Januar 2011 ergangene Urteil in der Schweiz anerkannt und vollstreckt werden kann, richtet sich nach dem (revidierten) Lugano-Übereinkommen vom 30. Oktober 2007 über die gerichtliche Zuständigkeit und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Art. 63 Abs. 2 Bst. a LugÜ). Streitpunkt ist im Wesentlichen, ob das belgische Urteil gestützt auf das LugÜ im schweizerischen Kollokationsverfahren anzuerkennen ("verbindlich") ist.
3.3
Das Bundesgericht folgt bei der Auslegung des Lugano-Übereinkommens nach ständiger Praxis grundsätzlich (unter Berücksichtigung gemeinschaftsrechtlicher Grundsätze) der Rechtsprechung des EuGH zum Europäischen Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 27. September 1968 (EuGVÜ) sowie zur Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung
BGE 141 III 382 S. 386
und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVVO; ABl. L 12 vom 16. Januar 2001 S. 1 ff.), die das EuGVÜ für die Vertragsstaaten der Europäischen Union ersetzt hat (vgl.
BGE 139 III 232
E. 2.2 S. 234;
BGE 135 III 185
E. 3.2 S. 189).
3.4
Die schweizerischen Konkurs- und Nachlassverfahren fallen als eigentliche Insolvenzverfahren nicht unter das LugÜ. Sie fallen unter die sog. "Gesamtverfahren", welche auf der Zahlungseinstellung bzw. Erschütterung des Kredits des Schuldners beruhen oder in eine zwangsweise kollektive Liquidation der Vermögenswerte des Schuldners oder zumindest eine Kontrolle durch die Gerichte münden (Art. 1 Abs. 2 Bst. b LugÜ; vgl. Urteil des EuGH vom 22. Februar 1979 C-133/78
Gourdain gegen Nadler
, Randnr. 4; GAUDEMET-TALLON, Competénce et exécution des jugements en Europe, 4. Aufl. 2010, Ziff. 44, S. 39). Aber auch Einzelverfahren im Zusammenhang mit einem Gesamtverfahren (sog. "Annexverfahren") sind vom Ausnahmebereich erfasst. Voraussetzung ist, dass die Einzelverfahren Entscheidungen sind, die unmittelbar aus einem Insolvenzverfahren hervorgehen und sich eng innerhalb des Rahmens eines Konkurs- oder Vergleichsverfahrens in dem vorgenannten Sinne halten (Urteil
Gourdain gegen Nadler
, a.a.O., Randnr. 4). Es handelt sich grundsätzlich um Klagen, die ohne Eröffnung des Gesamtverfahrens ihrerseits keine Grundlage hätten bzw. nicht geführt würden (
BGE 133 III 386
E. 4.3.1 S. 389; vgl. MARKUS, Internationales Zivilprozessrecht, 2014, S. 189 ff., Rz. 704 ff., 711).
3.5
Zweck des Kollokationsverfahrens im Konkurs (Art. 244 bis 251 SchKG) ist - wie im Nachlassverfahren (
Art. 321 SchKG
) - die Feststellung der Passivmasse, d.h. der Forderungen, die am Konkurs- bzw. Liquidationsergebnis nach Bestand, Höhe, Rang und allfälligen Vorzugsrechten am Vermögen des Schuldners teilzunehmen haben.
3.5.1
Der Kollokationsprozess dient ausschliesslich der Bereinigung des Kollokationsplanes und hat so wenig wie dieser irgendwelche Rechtskraftwirkung über das Konkursverfahren hinaus. Das Schuldverhältnis als solches - zwischen Schuldner und Gläubiger - wird dadurch nicht rechtskräftig festgelegt. Im Kollokationsprozess kann der Bestand einer Forderung wohl Gegenstand gerichtlicher Prüfung (Vorfrage), nicht aber Gegenstand rechtskräftiger Beurteilung sein. Vielmehr ist Gegenstand des Kollokationsurteils nur die Feststellung, inwieweit die streitigen Gläubigeransprüche bei der Liquidationsmasse zu berücksichtigen sind (
BGE 65 III 28
E. 1 S. 30).
BGE 141 III 382 S. 387
3.5.2
Die Kollokationsklage (
Art. 250 SchKG
) als sog. konkursrechtliche Klage mit Reflexwirkung auf das materielle Recht (
BGE 133 III 386
E. 4.3.3 S. 390 f.) ist ein Rechtsbehelf, der eng mit der Struktur des Konkursrechts und seinen Besonderheiten verbunden ist und einen integrierenden Bestandteil der Konkursliquidation bildet (
BGE 35 II 341
E. 2 S. 358, 359; GILLIÉRON, Commentaire de la loi fédérale sur la poursuite pour dettes et la faillite, Bd. III, 2001, N. 47 zu
Art. 247 SchKG
). Die Klage ist daher im Lichte der erwähnten Rechtsprechung zu den konkursrechtlichen Verfahren gemäss Art. 1 Abs. 2 Bst. b LugÜ (Ausschluss) zu zählen. Das wird in der Rechtsprechung (
BGE 133 III 386
E. 4.3.2 und 4.3.3 S. 389 ff.;
BGE 140 III 320
E. 7.3 S. 328) sowie in der Lehre bestätigt (anstelle vieler BUCHER, in: Commentaire romand, Loi sur le droit international privé, Convention de Lugano, 2011, N. 13 zu
Art. 1 LugÜ
; ACOCELLA, in: Lugano- Übereinkommen zum internationalen Zivilverfahrensrecht, Schnyder [Hrsg.], 2011, N. 110 zu
Art. 1 LugÜ
; ROHNER/LERCH, in: Basler Kommentar, Lugano-Übereinkommen, 2011, N. 93 Bst. e zu
Art. 1 LugÜ
mit weiteren Hinweisen; ferner Engl. High Court of Justice vom 16. Januar 2014,
Enasarco gegen Lehman Brothers
, [2014] EWHC 34 (Ch), Ziff. 42, in:
www.bailii.org
).
4.
Beruht eine angemeldete Forderung auf einem bereits
vor
der Konkurseröffnung in Rechtskraft erwachsenen und - nach Staatsvertrag oder IPRG - anerkenn- und vollstreckbaren Gerichtsurteil, ist die Konkursverwaltung an die urteilsmässigen Feststellungen über Bestand und Höhe der Forderung gebunden (vgl. HIERHOLZER, in: Basler Kommentar, Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs, Bd. II, 2. Aufl. 2010, N. 15 zu
Art. 244 SchKG
). Andere Konstellationen von Kollokationsverfahren und ausländischem Prozess bildeten - wie folgt - bereits Gegenstand gerichtlicher Beurteilung.
4.1
In
BGE 140 III 320
wurde die Frage der Anerkennung und Vollstreckbarerklärung - wie im konkreten Fall - des Urteils der Cour d'Appel de Bruxelles vom 27. Januar 2011 (R.G. 2004/AR/1114, 2004/AR/1190) beurteilt, mit welchem auch über die Klage der
Sabena SA (en faillite)
gegen die Beschwerdegegnerinnen entschieden wurde. Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass die betreffenden Forderungen (der Sabena) zu einem Zeitpunkt vor dem belgischen Gericht geltend gemacht wurden, als sich die SAirGroup AG und die SAirLines AG
bereits
im Nachlassverfahren und somit in einem Gesamtverfahren befanden. Nach dem Urteil des EuGH vom 2. Juli 2009, C-111/08
SCT Industri gegen Alpenblume
, sei die
BGE 141 III 382 S. 388
"Enge des Zusammenhangs" massgeblich (
BGE 140 III 320
E. 6.4 S. 323), und diese spreche für den Ausschluss vom Lugano-Übereinkommen, da bei Anhängigmachung der Klage absehbar war, dass das Urteil ausschliesslich im schweizerischen Nachlassverfahren würde vollstreckt werden können. Die resultierende Konzentration (vis attractiva) der nach Insolvenzeröffnung eingeleiteten Verfahren am Konkursort komme letztlich der Gläubigergesamtheit zu Gute. Der Zusammenhang sei vorliegend sogar enger als im Ausgangsverfahren von
SCT Industri gegen Alpenblume
, indem sich hier nicht bloss eine insolvenzrechtliche Vorfrage stelle, sondern die insolvenzrechtliche Wirkung des Entscheids das eigentliche Klageziel gewesen sei. Nach dem Urteil des Bundesgerichts stellten die
nach
Insolvenzeröffnung erhobenen Klagebegehren ihrer Funktion nach ein insolvenzrechtliches Verfahren dar (Art. 1 Abs. 2 Bst. b LugÜ), das nicht unter das LugÜ fiel; das Urteil konnte daher nicht nach dessen Bestimmungen anerkannt werden (
BGE 140 III 320
E. 9.4 S. 333).
4.2
In
BGE 135 III 127
(vgl. lit. A.e) ging es um die Sistierung des Kollokationsprozesses gegen die SAirLines AG in Nachlassliquidation im Hinblick auf den in Belgien gegen dieselbe Beklagte
hängigen
Zivilprozess. Das Bundesgericht hob die kantonal gewährte Sistierung auf. Es verneinte, dass der belgische Richter für den schweizerischen Kollokationsrichter verbindlich über den Bestand der Forderung entscheiden könne (
BGE 135 III 127
E. 3.3.2 S. 132 f.), und lehnte die "Anerkennbarkeit eines ausländischen Urteils als Kollokationsurteil" ab (
BGE 135 III 127
E. 3.3.3 S. 133 f.). Es wies darauf hin, dass
Art. 207 Abs. 1 SchKG
sowie
Art. 63 KOV
(SR 281.32) für das Binnenverhältnis anordnen, dass ein bei Konkurseröffnung bereits hängiger Zivilprozess grundsätzlich eingestellt wird, später aber von der Masse oder von einzelnen Gläubigern nach
Art. 260 SchKG
fortgeführt werden kann und der Zivilprozess deshalb (
ex lege
) zum Kollokationsprozess wird (
BGE 135 III 127
E. 3.3.1 S. 132). Dadurch werde grundsätzlich verhindert, dass während des Konkursverfahrens parallel zum Kollokationsstreit ein Zivilprozess über die zu kollozierende Forderung stattfindet und darin ein Urteil ergeht. Im internationalen Verhältnis, wo entsprechende Koordinationsregeln fehlen, nehme das Kollokationsverfahren am schweizerischen Konkursort demgegenüber unbeeinflusst von der Rechtshängigkeit eines ausländischen Forderungsprozesses seinen Lauf (vgl.
BGE 140 III 320
E. 7.1 S. 326).
BGE 141 III 382 S. 389
4.3
Bereits in
BGE 133 III 386
(vgl. lit. A.c) erkannte das Bundesgericht, dass die blosse Vormerkung von im Ausland streitigen Forderungen (
pro memoria
) im Kollokationsplan der SAirLines mangels Rechtsgrundlage ausser Betracht falle. Entscheidend sei die verfahrensrechtliche Natur der Auseinandersetzung, aus welcher sich ergibt, dass das Territorialitätsprinzip gilt und die Schweiz für das Kollokationsverfahren (Art. 244 bis 251 SchKG) im hierzulande durchgeführten Nachlassvertrag international zuständig ist; das LugÜ biete jedenfalls keine staatsvertragliche Grundlage, um die hoheitliche Kompetenz der schweizerischen Konkursverwaltung zu beschneiden (
Art. 245 SchKG
) und ihre Kollokationsverfügung der Anfechtung vor dem schweizerischen Kollokationsrichter zu entziehen (
BGE 133 III 386
E. 4.3.3 S. 390 ff.).
5.
Die Beschwerdeführer betonen, dass das belgische Urteil im Zivilprozess erging, welcher von ihnen
vor
Eröffnung des Gesamtverfahrens in der Schweiz eingeleitet worden ist. Sie leiten aus dem LugÜ im Wesentlichen ab, dass die materiellen und insolvenzrechtlichen Aspekte der Kollokationsklage zu unterscheiden seien, weshalb dem belgischen Urteil im schweizerischen Kollokationsprozess verbindliche Wirkung mit Bezug auf materielle Vorfragen zuerkannt werden müsse. Sie wenden sich im Wesentlichen gegen den Schluss des Bundesgerichts, wonach das in Belgien ergehende Urteil "hinsichtlich der Konkursforderungen in materieller Hinsicht für den schweizerischen Kollokationsrichter nicht verbindlich sei". Nach ihrer Auffassung übernimmt das belgische Verfahren gestützt auf das LugÜ die Kontrolle von Forderungsbestand und Gläubigereigenschaft.
5.1
Mit Bezug auf den LugÜ-Anwendungsbereich halten die Beschwerdeführer fest, dass für den Ausschluss (Art. 1 Abs. 2 Bst. b LugÜ) einer Klage nicht die blosse Tatsache ausreicht, dass eine Konkurs- oder Insolvenzverwaltung am Rechtsstreit beteiligt ist (vgl. Urteil des EuGH vom 4. September 2014 C-157/13
Nickel u. Goeldner Spedition gegen Kintra UAB
, Randnr. 26 ff. betreffend Aktivprozess eines Insolvenzverwalters). Etwas anderes lässt sich der Rechtsprechung des Bundesgerichts nicht entnehmen (vgl.
BGE 125 III 108
E. 3d S. 110 f.). In dem von den Beschwerdeführern zitierten Urteil des EuGH vom 10. September 2009 C-292/08
German Graphics Graphische Maschinen GmbH gegen van der Schee
(Randnr. 33) ging es um eine Klage der deutschen Verkäuferin (German Graphics) auf Sicherung bzw. Herausgabe von Eigentum an
BGE 141 III 382 S. 390
Mobilien, welche in den Niederlanden - bei der in den Konkurs gefallenen Beklagten - lagen. Für den EuGH war klar, dass die konkrete Klage eine
Aussonderungsklage
darstellte, welche ohnehin nicht in den Anwendungsbereich der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren (EuInsVO; ABl. L 160 vom 30. Juni 2000 S. 1 ff.) fiel (vgl. THOLE, Vis attractiva concursus europei? [...], in: Zeitschrift für europäisches Privatrecht [ZEuP] 2010 S. 922; MANKOWSKI, in: Europäisches Zivilprozess- und Kollisionsrecht, Rauscher [Hrsg.], 2011, N. 21 zu Art. 1 Brüssel I-VO). Daran änderte die Beteiligung der betreffenden Insolvenzverwaltung am Rechtsstreit nichts. Die Vorbringen der Beschwerdeführer vermögen nicht in Frage zu stellen, dass das Verfahren der
Kollokation
(Verfügung und Klage) vom LugÜ nicht erfasst ist.
5.2
Wohl ist hier die ausländische Forderungsstreitigkeit - der belgische Prozess - nicht aus dem Insolvenzrecht entstanden, wie die Beschwerdeführer betonen. Nach der neuesten Rechtsprechung schliesst allerdings der Umstand, dass ein Verfahren nicht unmittelbar aus dem Nachlassverfahren hervorgeht, nicht aus, dass es dennoch unter den LugÜ-Ausschluss fällt, wenn Ziel und Funktion des ausländischen Verfahrens insolvenzrechtlich sind. Entscheidend ist gemäss
BGE 140 III 320
(E. 9.4 S. 333 f.) die "Enge des Zusammenhangs", d.h. die Frage, ob für die Klägerin "absehbar" bzw. "klar" sein musste, dass die Auseinandersetzung über die Forderung im Kollokationsprozess stattfinden werde. Ob den Beschwerdeführern - aufgrund von Kenntnissen im Juli 2001 über die finanzielle Situation der Beschwerdegegnerinnen - eine "Absehbarkeit" bzw. "Klarheit" für ihre drei Monate
vor
der Bewilligung der Nachlassstundung eingeleitete Klage vorgehalten werden kann, ist hier nicht erheblich. Selbst wenn der belgische Prozess ein LugÜ-Verfahren bleibt, heisst das nicht, dass das entsprechende Zivilverfahren bzw. -urteil den Kollokationsrichter bindet. Dies ergibt sich aus der Rechtshängigkeit und der
vis attractiva concursus
(vgl.
BGE 140 III 320
E. 8.3.2 S. 330, E. 9.4 S. 334). Darauf ist im Folgenden einzugehen.
5.3
Der Ausschluss der Kollokationsklage (
Art. 250 SchKG
) vom Anwendungsbereich des LugÜ bedeutet zunächst, dass das Institut der Rechtshängigkeit keine Rolle spielt, wenn es um einen Rechtsstreit in einem anderen Vertragsstaat geht (vgl. RODRIGUEZ, Belgium vs. Switzerland on Airline Insolvencies - High noon at The Hague called off, in: International Insolvency Law Review [IILR]2011 S. 427; vgl. SIMONS, in: unalex Kommentar, Brüssel
BGE 141 III 382 S. 391
I-Verordnung, 2012, N. 6 zu Art. 27). Am Ausschluss und damit an der generellen Nichtanwendbarkeit des LugÜ - wie betreffend die Kollokationklage (
Art. 250 SchKG
) - ändert nichts, falls sich vorfrageweise eine an sich dem LugÜ unterstehende Rechtsfrage stellt (vgl. Urteil des EuGH vom 25. Juli 1991 C-190/89
Rich gegen Società Italiana Impianti
, Randnr. 26; GAUDEMET-TALLON, a.a.O., Ziff. 50 a.E. S. 47 f.). Entsprechend ist in der Schweiz für die Frage, ob das ausländische Verfahren berücksichtigt werden kann, schweizerisches Recht massgebend (RODRIGUEZ, a.a.O., S. 427, 429). Nach der (in E. 4) dargelegten Rechtsprechung des Bundesgerichts nimmt das Kollokationsverfahren unbeeinflusst von der Rechtshängigkeit eines ausländischen (LugÜ-)Prozesses seinen Lauf.
5.4
Das Bundesgericht gibt in
BGE 140 III 320
(E. 9.4 S. 334) dem schweizerischen Kollokationsverfahren den Vorrang auch mit Blick auf die
vis attractiva concursus
. Damit wird bestätigt, dass die Hängigkeit des ausländischen Prozesses weder die hoheitliche Kompetenz der schweizerischen Konkursverwaltung (
Art. 245 SchKG
) zu beschneiden, noch deren Kollokationsverfügung der Anfechtung vor dem schweizerischen Kollokationsrichter zu entziehen vermag. Für den Kollokationsstreit als betreibungsrechtliche Zwischenstreitigkeit in einem in der Schweiz durchgeführten Zwangsvollstreckungsverfahren sind alle in dessen Verlauf auftauchenden, mit ihm zusammenhängenden Rechtsfragen im Streitfall ausschliesslich von den in der Schweiz örtlich zuständigen Behörden (Aufsichtsbehörden und Gerichte) zu beurteilen; die Anerkennbarkeit eines ausländischen Urteils als Kollokationsurteil wurde verneint (
BGE 135 III 127
E. 3.3.2, 3.3.3 S. 132 f. mit Hinweisen). Wenn das Bundesgericht zum Schluss gelangt ist, das in Belgien ergehende Urteil sei betreffend "Konkursforderungen in materieller Hinsicht für den schweizerischen Kollokationsrichter nicht verbindlich" (
BGE 135 III 127
E. 3.3.4 S. 134), wurde - unabhängig von der Eigenschaft des belgischen Prozesses als LugÜ-Verfahren - entschieden, dass das schweizerische Recht die Entscheidung im Rahmen des Verfahrens nach Art. 244 bis
Art. 251 SchKG
von den schweizerischen Behörden und Gerichten verlangt. Damit kommt zum Ausdruck, dass der Kollokationsplan und -prozess (
Art. 250 SchKG
) von der
vis attractiva concursus
geprägt ist (
BGE 35 II 341
E. 2 S. 359, 360: "comme étant de droit impératif, ou d'ordre public").
5.5
Entgegen der Meinung der Beschwerdeführer verbietet das LugÜ der Schweiz nicht, die Zuständigkeit für die Kollokationsklage an sich zu ziehen.
BGE 141 III 382 S. 392
5.5.1
Die Konzentrierung sämtlicher sich unmittelbar aus der Insolvenz ergebenden Klagen vor den Gerichten des Staates, welcher für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens zuständig ist, entspricht dem Zweck, die Effizienz des Insolvenzverfahrens zu verbessern und dieses zu beschleunigen. Dieses Prinzip (
vis attractiva
) ist in verschiedenen Rechtsordnungen sowie in der Rechtsprechung des EuGH anerkannt. Im Urteil des EuGH vom 12. Februar 2009 C-339/07
Seagon gegen Deko Marty Belgium NV
(Randnr. 18 ff.) wurde entschieden, dass Art. 3 Abs. 1 EuInsVO nicht nur die direkte Zuständigkeit, sondern auch eine
vis attractiva concursus
für insolvenzrechtliche Annexverfahren vorsieht (vgl.
BGE 140 III 320
E. 9.4 S. 334). Die Attraktivzuständigkeit in einem Mitgliedstaat gilt sogar ohne Rücksicht auf einen Gerichtsstand - wie Wohnsitz des Beklagten - in einem LugÜ-Staat (Urteil des EuGH vom 16. Januar 2014 C-328/12
Schmid gegen Hertel
, Randnr. 33).
5.5.2
Weiter regelt Art. 15 EuInsVO mit der Verweisung auf das Recht des Staates, in dem die Streitigkeit über einen Gegenstand oder ein Recht der Masse (d.h. allgemein "un droit dont le débiteur est dessaisi") bereits anhängig ist, dass eine Attraktivzuständigkeit der Gerichte im Insolvenzstaat für bereits anhängige Klagen gerade
verhindert
wird (MOSS/FLETCHER/ISAACS, The EC Regulation on Insolvency Proceedings, 2. Aufl. 2009, Rz. 8.238, S. 298). Die EuInsVO schliesst sodann die Anerkennung von ausländischen Annexentscheidungen ausdrücklich mit ein (vgl. Art. 25 Abs. 1 Unterabsatz 2 EuInsVO).
5.5.3
Allein diese Regeln zeigen, dass für EU-Staaten mit der EuInsVO das Instrument besteht, von dessen Anwendungsbereich die insolvenzrechtlichen (Annex-)Verfahren aufgefangen werden. Die hier relevanten Fragen - Eröffnung des Insolvenzverfahrens im einen Staat, Wirkung auf ein hängiges Verfahren im anderen Staat sowie Anerkennung der Annexentscheidung - werden von der EuInsVO erfasst. Die EuInsVO ist indes komplementär zur EuGVVO (vgl. GAUDEMET-TALLON, a.a.O., Ziff. 44 S. 38). Im Verhältnis zur Schweiz besteht kein paralleles Instrument, sondern mit dem LugÜ lediglich das Parallelinstrument zur EuGVVO. Das fehlende komplementäre Instrument kann indessen nicht durch das bestehende Instrument - das LugÜ - ersetzt werden (vgl. bereits WALDER, in: Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs, Jaeger/Walder/Kull/Kottmann, 4. Aufl. 1997/2001, Bd. III, S. 369, zum Koordinationsbedarf). Das LugÜ selber stellt daher kein Hindernis dar, um über
BGE 141 III 382 S. 393
die Kollokation - Verfügung und Klage - in der Schweiz als Staat der Insolvenzeröffnung zu entscheiden, auch nicht bei einem bereits anhängigen Prozess gegen den Schuldner über eine zu kollozierende Forderung (vgl. RODRIGUEZ, a.a.O., S. 429, 430).
5.6
Das Bundesgericht hat in
BGE 140 III 320
(E. 9.4 a.E. S. 334) festgehalten, dass die Konzentration "nicht so weit" gehe, dass "jedem hängigen Zivilprozesses mit Eröffnung des Gesamtverfahrens die zuständigkeitsrechtliche Grundlage entzogen" oder "ausländische Entscheidungen generell nicht mehr unter dem LugÜ anerkannt und vollstreckt werden könnten, wenn ein Schuldner der Generalexekution unterliegt". Das
obiter dictum
kann Anlass zur Frage geben, ob ein ausländisches Verfahren berücksichtigt werden könnte, falls das ausländische Gericht
Art. 207 SchKG
anwenden würde.
5.6.1
Erfahrungsgemäss wird sich der ausländische Richter zwar kaum je dem schweizerischen Konkursrecht unterziehen (HIERHOLZER, a.a.O., N. 76 a.E. zu
Art. 247 SchKG
). Das Vorgehen gemäss
Art. 207 SchKG
i.V.m.
Art. 63 KOV
(vgl. LORANDI, Grenzüberschreitende Aspekte in der Insolvenz - ausgewählte Fragen, in: Sanierung und Insolvenz von Unternehmen II, in: Sprecher [Hrsg.], 2012, S. 35) kann anders als in der Schweiz (vgl.
BGE 133 III 377
E. 9 S. 386) auch nicht durchgesetzt werden. Es ist immerhin denkbar, dass ein ausländisches Gericht den gegen den Schuldner laufenden Forderungsprozess bei Ausbruch eines Insolvenzverfahrens
sistiert
und die Koordination von hängigem Verfahren und Kollokation gemäss
Art. 207 SchKG
und dem darauf beruhenden
Art. 63 KOV
(
BGE 88 III 42
E. 1 S. 45) vornimmt (vgl. Urteil der Cour de cassation, Nr. 04-17326, vom 30. Oktober 2006, Ziff. 1, in:
www.legifrance. gouv.fr
, wonach mit Exequatur des schweizerischen Konkursdekrets in Frankreich grundsätzlich die Wirkungen des schweizerischen Konkursrechts eintreten).
5.6.2
Im konkreten Fall wird indessen weder behauptet, noch gibt es Anhaltspunkte, noch lässt sich
BGE 133 III 386
- d.h. dem Entscheid über die Frage, ob die Forderung nur
pro memoria
vorzumerken sei - entnehmen, dass der umstrittene Prozess in Belgien wegen des schweizerischen Nachlassverfahrens sistiert wurde; aus
BGE 135 III 127
(E. 3.3.2 S. 132, 133; ferner Urteil 4F_16/2014 vom 27. Februar 2015 E. 3.3.2) geht weiter hervor, dass der belgische Richter im betreffenden Prozess gerade keine Einstellung des Prozesses mit Rücksicht auf das schweizerische Konkursrecht
BGE 141 III 382 S. 394
vorgenommen hat. Da es insoweit keine Rechtfertigung gab, eine blosse Vormerkung gemäss
Art. 63 KOV
vorzunehmen (vgl. HIERHOLZER, a.a.O., N. 76 a.E. zu
Art. 247 SchKG
), besteht überhaupt kein Grund, die Attraktivzuständigkeit des Kollokationsgerichts in der Schweiz für bereits anhängige Klagen zu beschränken. Einen Anlass, um den Kollokationsverfügungen - welche Gegenstand des Kollokationsprozesses sind (
BGE 35 II 341
E. 2 S. 359, 360) - nachträglich die Grundlage zu entziehen, gibt es nicht.
5.7
Nach dem Dargelegten hat die Vorinstanz - entgegen den Vorbringen der Beschwerdeführer - das LugÜ nicht verletzt, wenn sie zum Schluss gelangt ist, im Kollokationsprozess sei das belgische Urteil nicht verbindlich; die Rüge einer Verletzung von
Art. 33 LugÜ
(Anerkennung) oder
Art. 37 LugÜ
(Sistierung) ist unbegründet. Die Lücke des fehlenden - aber wünschbaren - komplementären parallelen Instrumentes zur EuInsVO kann nicht durch das LugÜ gefüllt werden.
6.
Schliesslich lässt sich weder aus dem Abkommen zwischen der Schweiz und Belgien über die Anerkennung und Vollstreckung von gerichtlichen Entscheidungen und Schiedssprüchen vom 29. April 1959 (SR 0.276.191.721), sofern es im LugÜ-Bereich überhaupt anwendbar ist (KROPHOLLER/VAN HEIN, Europäisches Zivilprozessrecht, 9. Aufl. 2011, Einleitung, N. 70), noch aus
Art. 25 ff. IPRG
eine Einschränkung der schweizerischen Kompetenzen im Kollokationsverfahren ableiten. Da das belgische Urteil nicht berücksichtigt werden muss, gehen die Vorbringen betreffend eine Berücksichtigung von Amtes wegen fehl; das Gleiche gilt für die Vorbringen, dass die Bestimmungen der ZPO betreffend Sistierung und Rückweisung (vgl.
Art. 126,
Art. 318 Abs. 1 ZPO
) verletzt worden seien. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer hat das Obergericht kein Urteil erlassen, welchem der zwingende Inhalt fehlt und welches daher die Beurteilung durch das Bundesgericht gar nicht erlaubt (
Art. 112 Abs. 1 lit. b BGG
;
BGE 135 II 145
E. 8.2 S. 153), oder welches den Begründungsanforderungen nicht genügt und den Gehörsanspruch der Beschwerdeführer verletzen würde (vgl.
Art. 29 Abs. 2 BV
;
BGE 138 I 232
E. 5.1 S. 237). Die Rüge einer unrichtigen Sachverhaltsfeststellung läuft auf eine - unbegründete - Kritik an der Rechtsauffassung der Vorinstanz hinaus. Dass die Abweisung der Kollokationsklage (unabhängig vom belgischen Urteil) rechtswidrig sei, wird schliesslich nicht begründet. | de |
1d07e55f-9ea4-444b-ac26-0905809e1a8b | Sachverhalt
ab Seite 37
BGE 96 III 35 S. 37
A.-
Die Partinvest Treuhand AG ist Inhaberin eines Wechsels über Fr. 200'000.--, den W. Gantenbein in Tagelswangen am 18. November 1966 ausgestellt und Rudy Meyer-Asensio in Madrid, für den die Bank Germann & Co. in Basel Wechselbürgschaft leistete, angenommen hat. Am 5. Mai 1967, fünf Monate vor Verfall dieses Wechsels, wurde über die Bank Germann & Co. der Konkurs eröffnet. In diesem Konkurs meldete der Vertreter der Partinvest Treuhand AG am 10. Juli 1967 deren Wechselforderung zur Kollokation an mit dem Bemerken: "Ohne Rechtspflicht wird meine Klientschaft am 5. Oktober 1967 beim Akzeptanten und /oder andern Wechselverpflichteten den Wechsel präsentieren. Um den allfällig eingehenden Betrag würde sich die Wechselforderung in der Folge reduzieren".
Das Konkursamt Basel-Stadt, das als Konkursverwaltung amtet, liess diese Forderung in dem am 18. Mai 1968 aufgelegten Nachtrag zum Kollokationsplan nach Abzug des Zwischenzinses für die Zeit vom 5. Mai bis 5. Oktober 1967 (
Art. 208 Abs. 2 SchKG
) mit Fr. 195'833.35 in 5. Klassse zu. Es fügte bei:
"Die Gläubigerin wird verpflichtet, alle Teilzahlungen der Hauptschuldner der Konkursverwaltung laufend mitzuteilen und ihre Eingabe entsprechend zu ermässigen. Dividende und Verlustschein werden nur auf die bei Abschluss des Konkursverfahrens allfällig noch bestehende Restschuld ausgerichtet".
In der Anzeige vom 18. Mai 1968, mit welcher das Konkursamt der Partinvest Treuhand AG von dieser Verfügung Kenntnis gab, wurde die voraussichtliche Höchstdividende für die Gläubiger 5. Klasse auf 5% beziffert.
Die Kollokationsverfügung wurde innert der Frist von
Art. 250 Abs. 1 SchKG
weder durch Klage noch durch Beschwerde angefochten.
B.-
Am 30. Januar 1970 legte das Konkursamt eine Abschlagsverteilungsliste auf, die für die Gläubiger 5. Klasse eine Abschlagsdividende von 10% vorsah. In der dem Vertreter
BGE 96 III 35 S. 38
der Partinvest Treuhand AG zugestellten Mitteilung über die Auflegung dieser Liste steht in der Rubrik für den Betrag der Forderung und der Abschlagsdividende:
"admittierte Maximal Forderung: Fr. 195'833.35
Zuteilung: Fr. -.-*
* Dividende (sowie später der Verlustschein) wird gemäss Kollokationsverfügung vom 18. Mai 1968 nur auf den bei Abschluss des Konkurses allfällig noch bestehenden Kapitalsaldo entrichtet. Demzufolge ist z. Zt. keine Abschlagsdividende auszurichten; diese bleibt vielmehr beim Konkursamt deponiert."
Gegen diese Verfügung führte die Partinvest Treuhand AG am 9. Februar 1970 beim Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt als Konkursgericht für Banken auf Grund von Art. 36 Abs. 2 des Bundesgesetzes über die Banken und Sparkassen vom 8. November 1934 (BankG) Beschwerde mit dem Begehren, "es sei die auf uns entfallende Abschlagsdividende in der Höhe von 10% der zugelassenen Forderung ohne Verzug auszubezahlen". Sie machte geltend, das Konkursamt verkenne, dass der Wechselbürge nicht ein blosser Ausfallbürge sei, sondern gleich wie derjenige hafte, für den er sich verbürgt.
Das Konkursamt bemerkte in seiner Vernehmlassung, es habe sich an die rechtskräftige Kollokationsverfügung gehalten; die Beschwerdeführerin habe ihre Ansprüche gegen die aufrechtstehenden übrigen Wechselverpflichteten durchzusetzen; soweit sie von diesen Zahlung erhalte, falle die Wechselbürgschaft der Gemeinschuldnerin dahin; der Beschwerdeführerin bleibe ihr Dividendenanspruch für den Fall gewahrt, dass sie von den übrigen Wechselverpflichteten bis zum Schluss des Konkursverfahrens wider Erwarten nichts oder nicht alles erhalten sollte; es wäre wenig sinnvoll, "heute eine Abschlagsdividende auszurichten und diese auf dem Regressweg wiederum bei Wechselaussteller oder Wechselakzeptanten hereinzubringen zu suchen".
Das Appellationsgericht wies die Beschwerde am 6. April 1970 ab mit der Begründung, die angefochtene Verfügung entspreche der in Rechtskraft erwachsenen Kollokationsverfügung vom 18. Mai 1968, da das Konkursverfahren noch nicht abgeschlossen sei und die Beschwerdeführerin erst in jenem Zeitpunkt Anspruch auf eine Dividende habe.
BGE 96 III 35 S. 39
D.-
Den Entscheid des Appellationsgerichts hat die Beschwerdeführerin auf Grund von
Art. 36 Abs. 2 BankG
und Art. 53 Abs. 2 der Vollziehungsverordnung zum BankG vom 30. August 1961 an das Bundesgericht weitergezogen. Erwägungen
Die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer zieht in Erwägung:
1.
Der Wechselbürge haftet nach
Art. 1022 Abs. 1 OR
in der gleichen Weise wie derjenige, für den er sich verbürgt hat. Er wird nach aussen, gegenüber dem Wechselgläubiger, nicht als Bürge behandelt, sondern ist Solidarschuldner der Wechselverbindlichkeit (
Art. 1044 Abs. 1 OR
) und hat weder wie ein einfacher Bürge die Einrede der vorgängigen Belangung desjenigen, für den er sich verbürgt hat, noch (bei mehrfacher Wechselbürgschaft) die Einrede der Teilung der Schuld (GUHL, Das schweiz. OR, 5. A. 1956, S. 740; im gleichen Sinne schon der zu Art. 808 aoR ergangene EntscheidBGE 44 II 145ff.). Seine Verpflichtung hängt zwar ihrem Inhalt nach von der Verpflichtung desjenigen ab, für den er sich verbürgt hat (
BGE 84 II 648
E. 2; GIOVANOLI, Kommentar zum revidierten Bürgschaftsrecht, 1942, N. 16 zu
Art. 492 OR
; GUHL, a.a.O.). Im übrigen handelt es sich dabei aber um eine selbständige Wechselverpflichtung (vgl. die eben genannten Autoren). Die Belangbarkeit des Wechselbürgen setzt demgemäss im Unterschied zur Belangbarkeit des Solidarbürgen (
Art. 496 OR
) nicht voraus, dass derjenige, für den er sich verbürgt hat, mit seiner Leistung in Rückstand gekommen und erfolglos gemahnt worden oder offenkundig zahlungsunfähig ist. Es steht vielmehr im Belieben des Wechselgläubigers, den Wechselbürgen vor den andern Wechselverpflichteten zu belangen (vgl.
Art. 1044 Abs. 2 OR
).
Diese Grundsätze gelten auch dann, wenn der Wechselbürge in Konkurs fällt. Der Wechselgläubiger ist auch in diesem Falle befugt, zunächst den Wechselbürgen in Anspruch zu nehmen, und zwar selbst dann, wenn die verbürgte Wechselschuld zur Zeit der Konkurseröffnung noch nicht fällig war. Als selbständige Verbindlichkeit wird die Schuldpflicht des Wechselbürgen gemäss
Art. 208 Abs. 1 SchKG
mit der Konkurseröffnung über ihn gegenüber der Konkursmasse fällig. (Auch wenn das nicht der Fall wäre, könnte übrigens die Forderung aus der Wechselbürgschaft im Konkurs des Wechselbürgen nach
BGE 96 III 35 S. 40
Art. 215 SchKG
sofort geltend gemacht werden; vgl. JAEGER N. 1 zu
Art. 215 SchKG
). Teilzahlungen, die der Wechselgläubiger vor der Anmeldung seiner Forderung im Konkurs des Wechselbürgen von andern Wechselverpflichteten erhalten hat, hindern ihn nach
Art. 217 Abs. 1 SchKG
nicht, in diesem Konkurs die Wechselforderung in ihrem vollen ursprünglichen Betrage anzumelden. Die Wechselforderung bleibt als Konkursforderung auch dann im vollen ursprünglichen Betrage aufrecht, wenn der Wechselgläubiger nach ihrer Anmeldung und Kollokation von andern Wechselverpflichteten teilweise oder ganz befriedigt wird (vgl. JAEGER N. 3 zu
Art. 217 SchKG
). Der Wechselgläubiger erhält nach
Art. 217 Abs. 3 SchKG
die auf den vollen Forderungsbetrag entfallende Dividende, soweit er darauf zu seiner vollständigen Befriedigung angewiesen ist. Aus einem allfälligen Überschuss erhalten die rückgriffsberechtigten andern Wechselverpflichteten, die Zahlungen geleistet haben, nach der gleichen Bestimmung die auf ihre Regressforderungen entfallenden Dividenden (vgl. JAEGER N. 14 zu
Art. 217 SchKG
undBGE 44 III 194). Der Rest verbleibt der Masse (Art. 217 Abs. 3 a. E. SchKG). Die Tatsache, dass der Wechselgläubiger nach der Kollokation seiner Forderung im Konkurs des Wechselbürgen von andern Wechselverpflichteten Zahlungen erhält, erlaubt der Konkursverwaltung also nicht, in Anwendung der Regeln, die gewöhnlich gelten, wenn eine kollozierte Forderung nachträglich ganz oder teilweise untergeht (
BGE 39 I 666
/67,
BGE 52 III 121
,
BGE 87 III 84
; zur Veröffentliche bestimmter Entscheid vom 16. Februar 1970 i.S. BEURET, E. 3 Abs. 3), die Auszahlung der Dividende für die volle Forderung unter Ansetzung einer Klagefrist (
BGE 52 III 121
) zu verweigern und dem teilweise befriedigten Wechselgläubiger nur die Dividende auszurichten, die auf den noch ausstehenden Betrag der Wechselforderung entfällt.
Hat sich der Gemeinschuldner für den Akzeptanten, d.h. für den Haupt- und Endschuldner aus dem gezogenen Wechsel (GUHL, a.a.O. S. 732) verbürgt, so sind mit Ausnahme des Akzeptanten alle Wechselverpflichteten, die Zahlungen leisteten, im Sinne von
Art. 217 Abs. 3 SchKG
rückgriffsberechtigt. Anderseits erwirbt die Konkursmasse des Wechselbürgen gemäss
Art. 1022 Abs. 3 OR
(der im Falle der Wechselbürgschaft anstelle von
Art. 215 Abs. 2 Satz 1 SchKG
eingreift) für den Betrag, den der Wechselgläubiger aus dem Konkurserlös
BGE 96 III 35 S. 41
erhält, die Rechte aus dem Wechsel gegenüber demjenigen, für den der Gemeinschuldner sich verbürgt hat, und gegen alle, die diesem wechselmässig haften, im Falle der Wechselbürgschaft für den Akzeptanten also die Rechte gegen diesen und nur gegen diesen, da dem Akzeptanten als dem Endschuldner aus dem gezogenen Wechsel kein anderer Wechselverpflichteter wechselmässig haftet. (Zum partiellen Übergang der Rechte aus dem Wechsel im Falle, dass der Wechselbürge die Wechselforderung nur zum Teil bezahlt, vgl. JACOBI, Wechsel- und Scheckrecht, Berlin 1955, S. 690 sowie BAUMBACH/HEFERMEHL, Wechsel- und Scheckgesetz, 7. A. 1962, N. 3 a.E. zu Art. 32 des deutschen Wechselgesetzes, der mit
Art. 1022 OR
übereinstimmt).
Diese Grundsätze hat das Konkursamt im vorliegenden Falle verkannt, indem es annahm, die Rekurrentin sei verpflichtet, ihre Ansprüche gegen die aufrechtstehenden übrigen Wechselverpflichteten durchzusetzen; sie habe, wenn sie von diesen Zahlung erhalte, nur Anspruch auf die Dividende, die auf die bei Abschluss des Konkursverfahrens allfällig noch bestehende Restforderung entfalle, und könne aus diesen Gründen an einer vorher durchgeführten Abschlagsverteilung nicht teilnehmen; die Konkursmasse des Wechselbürgen brauche sich nicht auf den Weg des Rückgriffs gegen andere Wechselverpflichtete verweisen zu lassen. Die Beschwerde, mit der die Rekurrentin die Ausrichtung der auf ihre kollozierte Forderung entfallenden Abschlagsdividende verlangt, ist nach dem Gesagten materiell begründet, da nicht geltend gemacht wird und keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Rekurrentin von andern Wechselverpflichteten Zahlungen erhalten habe, die zusammen mit dieser Dividende die volle Wechselforderung übersteigen würden. Es kann sich daher nur noch fragen, ob die Beschwerde, wie die Vorinstanz angenommen hat, an der Rechtskraft der Verfügung des Konkursamts vom 18. Mai 1968 bzw. daran scheitere, dass die Rekurrentin es unterlassen hat, jene Verfügung innert der Frist des
Art. 250 Abs. 1 SchKG
anzufechten.
2.
Nach
Art. 244 ff. SchKG
und Art. 56 ff. KV, die ohne Abweichung im Sinne von
Art. 36 Abs. 3 BankG
auch für den Konkurs einer Bank gelten (
BGE 86 III 119
), enthält der Kollokationsplan die Entscheidungen der Konkursverwaltung (eventuell des Gläubigerausschusses) über die Zulassung und
BGE 96 III 35 S. 42
den Rang der angemeldeten und der aus den Grund- und Hypothekenbüchern ersichtlichen Forderungen und Ansprüche gegen den Gemeinschuldner (wobei im Konkurs einer Bank nach
Art. 36 Abs. 4 BankG
die aus den Büchern der Bank ersichtlichen Forderungen als angemeldet gelten). Der Kollokationsplan hat sich über die Zulassung oder Abweisung einer Forderung eindeutig auszusprechen (
BGE 85 III 96
). Bedingte Zulassungen oder Abweisungen sind unstatthaft (Art. 59 Abs. 2 KV), ebenso grundsätzlich die Abweisung einer Forderung zur Zeit (
BGE 51 III 200
E. 1). Ob es sich bei der im Kreisschreiben Nr. 10 des Bundesgerichts vom 9. Juli 1915 (
BGE 41 III 240
) vorgesehenen Kollokation von Forderungen, deren vom Gemeinschuldner vorgenommene Tilgung paulianisch angefochten wird und die bei Gutheissung der Anfechtungsklage gemäss
Art. 291 Abs. 2 SchKG
wieder in Kraft treten, um die - allgemein zulässige - Kollokation einer bedingten Forderung oder um eine - für diesen Sonderfall ausnahmsweise zugelassene - bedingte Kollokation handle (im ersten SinneBGE 79 III 36, im zweiten Sinne - ohne Auseinandersetzung mit dem eben genannten Entscheide -
BGE 83 III 44
E. 2), ist praktisch bedeutungslos und kann jedenfalls im vorliegenden Falle dahingestellt bleiben, da hier die Kollokation einer solchen Forderung nicht in Frage steht. Dass die Konkursverwaltung mit der Kollokation einer Forderung Auflagen verbinden könne, ist im Gesetz nicht vorgesehen.
Ein Gläubiger, der den Kollokationsplan anfechten will, weil über den Bestand, die Höhe oder den Rang seiner eigenen Forderung oder der Forderung eines andern Gläubigers nicht richtig entschieden worden sei, hat binnen zehn Tagen seit der öffentlichen Bekanntmachung der Auflegung des Kollokationsplans gegen die Konkursmasse bzw. gegen den andern Gläubiger Klage zu erheben (
Art. 250 Abs. 1 und 2 SchKG
). Verfahrensfehler, die bei der Aufstellung des Kollokationsplans begangen wurden sein sollen, sind durch Beschwerde geltend zu machen (
BGE 85 III 97
mit Hinweisen), und zwar gilt dafür die gleiche Frist wie für die Klage (
BGE 93 III 87
, Entscheid vom 16. Februar 1970 i.S. BEURET E. 1). Vorbehalten bleibt die grundsätzlich jederzeit mögliche Aufhebung schlechthin nichtiger Verfügungen von Amtes wegen (vgl.
BGE 93 III 87
).
Im vorliegenden Falle bot die eigentliche Kollokationsverfügung des Konkursamtes der Rekurrentin weder zu einer
BGE 96 III 35 S. 43
Klage noch zu einer Beschwerde Anlass; denn die von ihr angemeldete Forderung (für die sie kein Privileg in Anspruch nahm) wurde nach Vornahme der in
Art. 208 Abs. 2 SchKG
vorgeschriebenen Diskontierung (Abzug des Zinses für die Zeit von der Konkurseröffnung bis zum Verfall des Wechsels) in klarer und unbedingter Form im vollen Betrage zugelassen.
Der Zusatz, den die Konkursverwaltung der eigentlichen Kollokationsverfügung beifügte, konnte die Rekurrentin ebenfalls nicht zu einer Klage veranlassen, da er nichts daran änderte, dass ihre Forderung entsprechend ihrer Konkurseingabe kolloziert wurde.
Die Rekurrentin brauchte den erwähnten Zusatz aber auch nicht innert der Frist des
Art. 250 Abs. 1 SchKG
durch Beschwerde anzufechten, um eine ungerechtfertigte Verschlechterung ihrer Rechtsstellung zu verhindern.
a) Haften für eine Konkursforderung neben dem Gemeinschuldner weitere Personen solidarisch, wie es für die Forderung der Rekurrentin zutrifft, so hat die Konkursverwaltung ein berechtigtes Interesse daran, von den Zahlungen, die der Gläubiger von diesen andern Personen erhält, in Kenntnis gesetzt zu werden; denn sie hat nach
Art. 217 Abs. 3 SchKG
darüber zu wachen, dass der Gläubiger von der auf den ursprünglichen Forderungsbetrag entfallenden Dividende nicht mehr erhält, als zusammen mit den Zahlungen von Mitverpflichteten des Gemeinschuldners zu seiner vollen Befriedigung nötig ist. Daher ist nicht zu beanstanden, dass die Konkursverwaltung die Rekurrentin bei der Kollokation ihrer Forderung einlud, solche Zahlungen zu melden. Die Rekurrentin wendet denn auch hiegegen nichts ein.
b) Indem die Konkursverwaltung die Rekurrentin darüber hinaus verpflichtete, ihre Konkurseingabe "entsprechend zu ermässigen", d.h. den angemeldeten Forderungsbetrag um die allfällig eingehenden Zahlungen anderer Wechselverpflichteter herabzusetzen, hat sie dagegen eine Anordnung getroffen, die nicht bloss gegen
Art. 217 SchKG
verstiess, sondern mit der sie offensichtlich den Rahmen ihrer Amtsbefugnis überschritt. Die angemeldete Forderung unter gewissen Voraussetzungen ganz oder teilweise fallen zu lassen, kann einem Gläubiger nicht befohlen werden. Diese Anordnung ist daher nichtig. Das Konkursamt hielt damit nicht etwa bloss ein von der Rekurrentin freiwillig gemachtes Zugeständnis fest. Wenn die Rekurrentin
BGE 96 III 35 S. 44
in der Konkurseingabe bemerkte, um den allfällig vom Akzeptanten oder von einem andern Wechselverpflichteten eingehenden Betrag "würde sich die Wechselforderung in der Folge reduzieren", so hiess das nur, sie lasse sich einen solchen Betrag auf ihre Forderung aus dem Wechsel anrechnen. Sie erklärte sich dagegen mit dieser Bemerkung nicht auch damit einverstanden, dass allfällige Zahlungen anderer Wechselverpflichteten entgegen
Art. 217 SchKG
von dem als Konkursforderung angemeldeten und zugelassenen Betrage nachträglich abgezogen werden.
c) Im Zusammenhang mit der Kollokation war nicht darüber zu entscheiden, auf Grund welchen Forderungsbetrages im Falle, dass nach der Kollokation andere Wechselverpflichtete Zahlungen leisten sollten, die Konkursdividende der Rekurrentin zu berechnen sei. Die Entscheidung hierüber gehörte vielmehr erst in die Verteilungsliste. Die Rekurrentin brauchte deshalb die Bemerkung des Konkursamtes im Kollokationsplan, die Dividende werde "nur auf die bei Abschluss des Konkursverfahrens allfällig noch bestehende Restschuld ausgerichtet", nicht als eine Verfügung im Sinne von
Art. 17 Abs. 1 SchKG
aufzufassen, gegen die sie bei Gefahr der Verwirkung innert der Frist von Art. 17 Abs. 2 bzw. 250 Abs. 1 SchKG hätte Beschwerde führen müssen, sondern sie durfte darin die blosse Ankündigung erblicken, nach welchen Regeln das Konkursamt in einem spätern Verfahrensstadium handeln werde, wenn bis dahin gewisse nicht bestimmt voraussehbare Tatsachen (Teilzahlungen anderer Wechselverpflichteter in unbekannter Höhe) eintreten sollten. Solche Äusserungen eines Amtes sind nicht durch Beschwerde anzufechten, weil dadurch die Rechtsstellung der Personen, an die sie sich richten, noch nicht in bestimmter, konkreter Weise beeinträchtigt wird (vgl.
BGE 43 III 93
E. 3,
BGE 85 III 92
E. 2,
BGE 94 III 88
E. 2). Die Beschwerde hat sich vielmehr gegebenenfalls erst gegen die Anordnung zu richten, die das Amt nach Eintritt der ins Auge gefassten Tatsachen in Anwendung der von ihm verkündeten Richtlinien trifft. Ein vorher durchgeführtes Beschwerdeverfahren würde sich im Falle des Nichteintritts der fraglichen Tatsachen als zwecklos erweisen. Die Rekurrentin war daher befugt, gegen die Abschlagsverteilungsliste, die ihr unter Hinweis auf die Bemerkung im Kollokationsplan die Ausrichtung einer Abschlagsdividende verweigerte, binnen zehn Tagen seit Erhalt
BGE 96 III 35 S. 45
der Anzeige der Auflegung dieser Liste (vgl. das Konkursformular Nr. 10 und
BGE 94 III 53
E. 5) wegen Verletzung der für die Verteilung des Konkurserlöses geltenden Vorschriften Beschwerde zu führen, wie sie es getan hat. Dass ihr durch die erwähnte Bemerkung im Kollokationsplan der Anspruch auf eine Abschlagsdividende von vornherein abgesprochen worden sei, konnte die Rekurrentin nach Erhalt der Anzeige über die Auflegung des Nachtrages zum Kollokationsplan vom 18. Mai 1968 um so weniger annehmen, als die Gläubiger 5. Klasse nach dieser Anzeige höchstens eine Dividende von insgesamt 5% erwarten konnten, so dass mit einer Abschlagsverteilung überhaupt nicht zu rechnen war.
Kann der Rekurrentin somit nicht schaden, dass sie es unterlassen hat, im Anschluss an die Auflegung des Nachtrags zum Kollokationsplan Beschwerde zu führen, sondern ist sie befugt, die von ihr behauptete Rechtsverletzung durch Beschwerde gegen die Abschlagsverteilungsliste (und nötigenfalls später gegen die Schlussverteilungsliste) geltend zu machen, so ist ihre Beschwerde aus den in Erwägung 1 hievor dargelegten Gründen zu schützen. Das Konkursamt kann zur Sicherung des Rückgriffsrechts der Masse verlangen, dass ihm für die Abschlagszahlung eine Quittung erteilt und diese Zahlung auf dem Wechsel vermerkt und ihm eine beglaubigte Abschrift des in der Hand der Rekurrentin bleibenden Wechsels ausgehändigt wird (vgl.
Art. 1029 Abs. 3 OR
und BAUMBACH/HEFERMEHL a.a.O.; was dieser Autor über die Zahlung eines Teilbürgen ausführt, muss auch für die Teilzahlung eines für den vollen Wechselbetrag haftenden Bürgen gelten). Der Vermerk auf dem Wechsel verhindert, dass die Rekurrentin von andern Wechselverpflichteten Zahlungen erheben könnte, die zusammen mit der Abschlagsdividende mehr als die volle Wechselforderung ausmachen würden. | de |
98de9daf-7f7b-47ed-ab0b-cea18f21aba9 | Sachverhalt
ab Seite 395
BGE 143 III 395 S. 395
A.
A.a
Am 16. Januar 2012 überwies die A. AG, mit Sitz in U., der Schweizerischen Eidgenossenschaft den Betrag von Fr. 77'947'760.- zur Bezahlung der Schweizer Mineralölsteuer (Mineralölsteuer, Mineralölsteuerzuschlag und CO
2
-Abgabe).
A.b
Einige Tage später - am 25. Januar 2012 - beantragte die A. AG die Nachlassstundung, die am 27. Januar 2012 provisorisch und am 27. März 2012 definitiv bewilligt wurde. In der Folge wurde am 18. Februar 2013 der Nachlassvertrag mit Vermögensabtretung gerichtlich bestätigt.
A.c
Die Liquidatoren der A. AG in Nachlassliquidation verlangten am 19. Dezember 2014 und 17. Februar 2015 von der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Oberzolldirektion, die Rückzahlung der im Januar 2012 bezahlten Mineralölsteuern und vorsorglich den
BGE 143 III 395 S. 396
Erlass einer anfechtbaren Verfügung über den geltend gemachten paulianischen Anfechtungsanspruch. Gleichzeitig sei das Verfahren zu sistieren, da bis am nächsten Tag, dem 18. Februar 2015, beim Obergericht des Kantons Bern die Anfechtungsklage anhängig gemacht werde.
A.d
Am 18. Februar 2015 erhob die A. AG in Nachlassliquidation paulianische Anfechtungsklage gegen die Schweizerische Eidgenossenschaft beim Obergericht des Kantons Bern mit dem Antrag, die Beklagte sei zu verpflichten, ihr Fr. 77'947'760.- nebst Zinsen zu bezahlen.
A.e
Mit Verfügung vom 18. September 2015 stellte die Oberzolldirektion fest, dass die Mineralölsteuer (mit Zuschlag und Abgabe) für die Periode vom Dezember 2011 Fr. 77'947'760.35 beträgt und wies den Antrag auf Rückzahlung ab. Die Einsprache wurde am 29. Januar 2016 abgewiesen.
B.
Das Obergericht des Kantons Bern beschränkte das Verfahren auf die Zuständigkeit zur Beurteilung der Anfechtungsklage. Mit Zwischenentscheid vom 18. Februar 2016 trat das Obergericht auf die Klage ein.
C.
Die Schweizerischen Eidgenossenschaft, Oberzolldirektion, hat am 1. April 2016 Beschwerde in Zivilsachen erhoben. Die Beschwerdeführerin verlangt, der Zwischenentscheid des Obergerichts des Kantons Bern sei aufzuheben und auf die Klage der A. AG in Nachlassliquidation (Beschwerdegegnerin) sei nicht einzutreten. (...)
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde antragsgemäss gut.
(Auszug) Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Anlass zur Beschwerde gibt die Anfechtungsklage gemäss Art. 285 ff. (i.V.m. Art. 331) SchKG der Beschwerdegegnerin, mit welcher sie die von der Schuldnerin vor der provisorischen Nachlassstundung vorgenommene Bezahlung von Mineralölsteuern (mit Zuschlag und Abgabe) an die Beschwerdeführerin anficht.
3.1
Das Obergericht hat die Zuständigkeit zur Beurteilung der Pauliana bejaht, währenddem die Beschwerdeführerin eine Verletzung der verfassungsrechtlichen Grundsätze der Besteuerung (Art. 5 Abs. 1, Art. 8 Abs. 1,
Art. 127 Abs. 1 und 2 BV
), der Regeln über die Anfechtung gemäss
Art. 285 ff. SchKG
sowie der Zuständigkeitsregeln gemäss ZPO und Verwaltungsrecht rügt.
BGE 143 III 395 S. 397
3.2
Streitgegenstand kann gemäss Anfechtungsobjekt (Eintretensentscheid) einzig die Zuständigkeit des Obergerichts zur Beurteilung der Anfechtungsklage gemäss
Art. 285 ff. SchKG
sein. Soweit die Beschwerdeführerin vorbringt, im konkreten Fall seien die Voraussetzungen, dass die bezahlten Mineralölsteuern nach
Art. 288 SchKG
(Absichtsanfechtung) anfechtbar seien, nicht erfüllt, trifft sie Ausführungen in der Sache. Darauf ist nicht einzugehen.
3.3
Gemäss
Art. 289 SchKG
ist die Anfechtungsklage beim Richter am Wohnsitz des Beklagten (bzw. am Pfändungs- oder Konkursort) einzureichen. Obwohl nur der deutsche Gesetzestext vom "Richter" spricht, wird die Anfechtungsklage bei den Verfahren vor den kantonalen Instanzen eingereiht, welche von der ZPO als gerichtliche Angelegenheiten des Schuldbetreibungs- und Konkursrechts geregelt werden (
Art. 1 lit. c ZPO
; STAEHELIN/STAEHELIN/GROLIMUND, Zivilprozessrecht, 2. Aufl. 2013, § 7 Rz. 7, 12). Vorliegend ist dieser Rechtsweg für die Anfechtungsklage gegen den Fiskus umstritten. Für die Abgrenzung der Zuständigkeiten der Verwaltungsbehörden von denjenigen der Instanzen der Zivilrechtspflege ist die Natur des in Frage stehenden Rechtsverhältnisses massgebend (
BGE 109 Ib 146
E. 1b S. 149;
BGE 138 II 134
E. 4.1 S. 137; Urteil 5A_95/2010 vom 2. September 2010 E. 5.4, 5.5).
4.
Die Beschwerdeführerin stellt die Zuständigkeit des Obergerichts mit dem Argument in Frage, dass die Anfechtungsklage gemäss
Art. 285 ff. SchKG
bzw. die darauf gestützte Rückleistung von bezahlten Steuern weder in der Steuergesetzgebung allgemein noch für Mineralölsteuern im Besonderen anwendbar sei. Im Wesentlichen macht sie geltend, dass die Regeln des Steuerrechts die Beziehung des Bürgers zum Fiskus insoweit nicht anders als hoheitlich sein könne und damit die Zuständigkeit des Zivilrichters
a priori
ausschliesse.
4.1
Die Beschwerdeführerin gibt zutreffend wieder, dass nach der Formulierung in Rechtsprechung und Lehre die anfechtbaren Handlungen ihre "zivilrechtliche" Gültigkeit behalten, aber vollstreckungsrechtlich unbeachtlich sind (
BGE 135 III 265
E. 3 S. 268; AMONN/WALTHER, Grundriss des Schuldbetreibungs- und Konkursrechts, 9. Aufl. 2013, § 52 Rz. 2), und dass die Botschaft vom 8. Mai 1991 zur Änderung des SchKG die Wirkung der erfolgreichen Anfechtung in gleicher Weise umschrieben hat (BBl 1991 III 1, 176 Ziff. 209.1). Oft wird indes nur allgemein von der Gültigkeit des "Rechtsaktes"
BGE 143 III 395 S. 398
gesprochen (PETER, in: Commentaire romand, Poursuite et faillite, 2005, N. 7, 10 zu
Art. 285 SchKG
). Der Begriff der "Rechtshandlung" des Schuldners wird ebenfalls im weitesten Sinn des Wortes verstanden (
BGE 95 III 83
E. 4a S. 86). Zuletzt hat das Bundesgericht in einem Urteil aus dem laufenden Jahr die Anfechtung der Bezahlung von Arbeitgeber-Beiträgen gestützt auf das Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG; SR 831.10) in einem Fall beurteilt, in welchem für diese privilegierten Forderungen (
Art. 219 Abs. 1 lit. b SchKG
) eine Schädigung anderer Gläubiger unbestritten war. Für die Bezahlung der Beiträge - eine dem öffentlichen Recht unterstehende Rechtshandlung - wurde erwogen, dass die gesetzliche Pflicht zur Bezahlung dieser Forderungen die Anfechtbarkeit nach
Art. 288 SchKG
nicht ausschliesst (Urteil 5A_316/2016 vom 14. März 2017 E. 3, 4.4). Sodann wird in der Lehre erwähnt, dass auch gegen den Fiskus eine Anfechtungsklage angestrengt werden kann (BLUMENSTEIN/LOCHER, System des schweizerischen Steuerrechts, 7. Aufl. 2016, S. 620; RIGOT, Le recouvrement forcé des créances de droit public selon le droit de poursuite pour dettes et la faillite, 1991, S. 409).
4.2
Die Anfechtung ist ein im Dienst der Gläubigergleichbehandlung stehendes Instrument, bei dem es darum geht, aus vollstreckungsrechtlicher Sicht unrechtmässig entäussertes Substrat wieder der Vollstreckung zuzuführen (
BGE 49 III 69
S. 74; PETER, a.a.O., N. 10 zu
Art. 285 SchKG
; KREN KOSTKIEWICZ, SchKG Kommentar, 19. Aufl. 2016, N. 1 zu
Art. 285 SchKG
). Zutreffend ist, dass die "Rechtshandlung", durch welche Vermögenswerte der Zwangsvollstreckung entzogen worden sind und dieser mittels Anfechtung gemäss
Art. 285 ff. SchKG
wiederzugeführt werden, hauptsächlich dem Privatrecht untersteht (SCHÜPBACH, Droit et action révocatoires, 1997, N. 12 zu
Art. 285 SchKG
). Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin stellt jedoch allgemein und allein
Art. 285 ff. SchKG
die Grundlage dar, um die Exekutionsrechte der Gläubiger wiederherzustellen, indem die Haftung aus einem besonders gearteten Tatbestand (obligatio ex lege) vorgesehen wird (
BGE 44 III 205
E. 1 S. 207;
131 III 227
E. 3.3 S. 232;
141 III 527
E. 2.2 S. 529). Dass eine Rechtshandlung dem öffentlichen Recht untersteht, schliesst die zwangsvollstreckungsrechtliche Haftung und damit die Anfechtbarkeit der Rechtshandlung nicht aus (SCHÜPBACH, a.a.O., N. 12 zu
Art. 285 SchKG
)
.
BGE 143 III 395 S. 399
4.3
Vom Fehlen einer verbindlichen bundesgesetzlichen Grundlage zur vorliegenden Anfechtung kann nicht die Rede sein. Aus der von der Beschwerdeführerin erwähnten Motion 03.3226 "Rückerstattung der Mineralölsteuer bei Insolvenz" (erledigt durch Abschreibung am 17. Juni 2005) kann sie nichts anderes ableiten. Soweit die Beschwerdeführerin allein aus dem Umstand, dass die angefochtene Rechtshandlung (Bezahlung von Steuern) dem öffentlichen Recht untersteht und sich gegen den Fiskus richtet, den gerichtlichen Rechtsweg ausschliessen will, gehen ihre Vorbringen fehl.
5.
Die Beschwerdeführerin macht für den Fall, dass (wie dargelegt) die Klage nach
Art. 285 ff. SchKG
nicht ausgeschlossen ist, geltend, zur Beurteilung der Anfechtbarkeit der Bezahlung einer Steuerforderung für Mineralölsteuern seien die Verwaltungsbehörden und -gerichte, und nicht die Zivilgerichte zuständig.
5.1
Für die Auffassung der Beschwerdeführerin finden sich Stimmen in der Lehre, welche für eine Anfechtungsklage gegen den Fiskus "je nach Lage des Falles" den verwaltungsrechtlichen Weg "in Betracht" ziehen (so BLUMENSTEIN, Schweizerisches Steuerrecht, Bd. II, 1929, S. 667; RIGOT, a.a.O.). Wenn die Beschwerdeführerin auf dem Verwaltungsweg besteht, betont sie den materiellen Aspekt der paulianischen Anfechtungsklage, d.h. die Belastung eines materiellen Rechts mit dem Zwangsvollstreckungsrecht zu Gunsten Dritter (vgl. u.a. PETER, a.a.O., N. 10 zu
Art. 285 SchKG
). Zutreffend bezeichnet sie die Anfechtungsklage als "betreibungsrechtliche Klage mit Reflexwirkung auf das materielle Recht" (
BGE 114 III 110
E. 3d S. 113). Sie verlangt indes, dass die Belastung des materiellen Rechts - die Beeinträchtigung der staatlichen Interessen - mit Bezug auf die Zuständigkeit ausschlaggebend sei.
5.2
Die Zwangsvollstreckung sowie gerichtlichen Streitsachen des SchKG werden - allgemein und seit jeher - als Zivilsache verstanden (vgl. LEUENBERGER, in: Schweizerische Bundesverfassung, St. Galler Kommentar, 3. Aufl. 2014, N. 22 zu
Art. 122 BV
), selbst wenn es betreibungsrechtliche Klagen mit Reflexwirkung auf öffentliches Recht sind, weil es letztlich um die Haftung des Schuldners mit seinem Vermögen geht, welche im materiellen Privatrecht gründet (vgl. GILLIÉRON, L'exécution forcée ayant pour objet une somme d'argent ou des sûretés à fournir après l'entrée en vigueur de la loi sur le Tribunal fédéral et du Code de procédure civile, JdT 2011 II S. 120). Auch der paulianische Anfechtungsstreit wird daher als Zivilstreitigkeit betrachtet, und zwar unabhängig davon, ob die Forderung
BGE 143 III 395 S. 400
(gegenüber dem Schuldner) dem öffentlichen Recht bzw. der Verwaltungsgerichtsbarkeit untersteht (SCHÜPBACH, a.a.O., N. 12, 13 zu Art. 285, N. 215 zu
Art. 289 SchKG
; GILLIÉRON, a.a.O., S. 123).
5.3
Der Anfechtungsanspruch steht sodann der Liquidationsmasse bzw. Gläubigergesamtheit, nicht dem Schuldner zu; der Anspruch entsteht überhaupt erst mit der Bildung der Liquidationsmasse (JUNOD MOSER/GAILLARD, in: Commentaire romand, Poursuite et faillite, 2005, N. 9 zu
Art. 331 SchKG
; BAUER/HARI/JEANNERET/WÜTHRICH, in: Basler Kommentar, Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs, Bd. II, 2. Aufl. 2010, N. 3 zu
Art. 331 SchKG
). Unzutreffend ist daher, wenn die Beschwerdeführerin meint, es gehe insoweit um ein Hoheitsverhältnis mit Bezug zur Nachlassschuldnerin. Die Tatbestände nach
Art. 285 ff. SchKG
dienen der Verwirklichung der Gläubigerinteressen; auch der Bund als Anfechtungskläger kann (und muss) seine Interessen in gleicher Weise wahrnehmen (
BGE 135 III 513
ff.). Da Funktion der Anfechtung die Wiederherstellung der Exekutionsrechte der Gläubiger ist und die materielle Gültigkeit der angefochtenen Rechtshandlung nicht beurteilt werden muss oder beeinflusst wird (vgl. PETER, a.a.O., N. 10 zu
Art. 285 SchKG
; AMONN/WALTHER, a.a.O., § 52 Rz. 2), liegt der Schwerpunkt auf der zwangsvollstreckungsrechtlichen Rechtsfolge (Sanktion) von Rechtshandlungen mit Bezug auf das Schuldnervermögen (vgl.
BGE 141 III 527
E. 2.3.3 S. 532). Darin unterscheidet sich der allfällige Anfechtungsanspruch betreffend die Zahlung von Mineralölsteuern nicht von einer anderen Klage nach
Art. 285 ff. SchKG
. Mit Blick auf die Natur der Anfechtung ist kein Grund ersichtlich, um eine Klage gegen den Fiskus nicht wie andere Anfechtungsklagen zu betrachten. Die gegen die Beschwerdeführerin erhobene Anfechtungsklage ist vom Richter als gerichtliche Angelegenheit des Schuldbetreibungs- und Konkursrechts im Verfahren gemäss ZPO zu behandeln (
Art. 289 SchKG
,
Art. 1 lit. c ZPO
). Der obergerichtliche Eintretensentscheid, welcher auch der Beschwerde in Zivilsachen unterliegt (
Art. 72 Abs. 2 lit. a BGG
), ist insoweit mit Bundesrecht vereinbar.
6.
Die Beschwerdeführerin kritisiert sodann, dass das Obergericht die Einrede der Rechtshängigkeit verworfen hat. Sie besteht auf der Sperrwirkung des vor den Verwaltungsbehörden mit Schreiben vom 17. Februar 2015 - d.h. einen Tag vor Anhebung der Anfechtungsklage beim Obergericht - anhängig gemachten Verwaltungsverfahrens.
BGE 143 III 395 S. 401
6.1
Gemäss
Art. 59 Abs. 2 lit. d ZPO
tritt das Gericht auf eine Klage oder ein Gesuch ein, wenn die Sache nicht anderweitig rechtshängig ist. Vorliegend kann von wirksamer Rechtshängigkeit gemäss ZPO, auf welche sich die Beschwerdeführerin beruft, nicht gesprochen werden. Es geht nicht darum, dass widersprüchliche (Anfechtungs-) Urteile verhindert werden, sondern um die Rechtswegzuständigkeit, d.h. ob der Anfechtungsanspruch gegen den Fiskus im Zivilverfahren zu beurteilen ist.
6.2
Nach der für die Zivilinstanzen massgebenden ZPO prüft das Gericht als Prozessvoraussetzung von Amtes wegen vorab, ob ein von
Art. 1 ZPO
erfasster Gegenstand vorliegt, d.h. der Rechtsweg zulässig ist (SCHWANDER, Prozessvoraussetzungen in der neuen Schweizerischen Zivilprozessordnung, ZZZ 2008/09 S. 202; ZINGG, in: Berner Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, Bd. I, 2012, N. 53 zu
Art. 59 ZPO
; BERGER, in: Berner Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, Bd. I, 2012, N. 25 zu
Art. 1 ZPO
). Wird der zivilprozessuale Rechtsweg bejaht, kann das Gericht nach Einreichung der Klage - wie die Vorinstanz es getan hat - einen Zwischenentscheid über die (Rechtsweg-) Zuständigkeit treffen (
Art. 125 lit. a ZPO
; BERGER, a.a.O., N. 25 zu
Art. 1 ZPO
).
6.3
Art. 62 ff. ZPO
über die Rechtshängigkeit ist lediglich auf die von der ZPO erfassten Verfahren anwendbar (BERGER-STEINER, in: Berner Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, Bd. I, 2012, N. 33 zu Vorbem.
Art. 62 ff. ZPO
; MÜLLER-CHEN, in: Schweizerische Zivilprozessordnung [ZPO], Bd. I, 2. Aufl. 2016, N. 14 zu
Art. 62 ZPO
), nicht auf das Verfahren vor den Verwaltungsbehörden (
BGE 140 II 298
E. 5.3 S. 301). Dem Entscheid des Obergerichts über die Rechtswegzuständigkeit steht nicht entgegen, dass ein Verfahren vor den Verwaltungs(gerichts)behörden bereits begonnen hat bzw. hängig ist (
BGE 124 III 44
E. 2b S. 48). Das Verwaltungsverfahren entfaltet daher keine Sperr- bzw. Ausschlusswirkung. Das Eintreten des Obergerichts auf die Anfechtungsklage ist insoweit nicht zu beanstanden.
7.
Die Beschwerdeführerin kritisiert schliesslich, dass das Obergericht sich als einzige kantonale Instanz zur Beurteilung der Anfechtungsklage zuständig erklärt hat. Die Vorinstanz hat ihre Zuständigkeit auf
Art. 5 Abs. 1 lit. f ZPO
und Art. 6 Abs. 2 des kantonalen Einführungsgesetzes zur Zivilprozessordnung, (...) vom 11. Juni 2009 (EG ZSJ/BE; BSG 271.1) gestützt. Nach der Bestimmung der ZPO
BGE 143 III 395 S. 402
liegt die Zuständigkeit für "Klagen gegen den Bund" bei einer einzigen kantonalen Instanz, welche gemäss kantonalem Einführungsrecht das Obergericht ist.
7.1
Die Beschwerdeführerin stützt ihre Auffassung, dass eine Anfechtungsklage nicht unter die "Klagen gegen den Bund" gemäss
Art. 5 Abs. 1 lit. f ZPO
falle, auf BRUNNER (in: Schweizerische Zivilpozessordnung [ZPO], Kommentar, Bd. I, 2. Aufl. 2016, N. 23 zuArt. 5 ZPO). Laut dem Autor sind darunter "ausschliesslich Zivilklagen" zu verstehen; es handle sich um zivile Direktprozesse (vor der kantonalen Einzelinstanz) betreffend Ansprüche auf Schadenersatz, soweit der Bund als Subjekt des Zivilrechts auftritt und nach dessen Bestimmungen haftet (mit Hinweis auf das Verantwortlichkeitsgesetz [VG; SR 170.32], bzw.
Art. 11 VG
). AuchHOFMANN/LÜSCHER (Le Code de procédure civile, 2. Aufl. 2015, Ziff. 1.2.1, S. 14) grenzen "Klagen" in
Art. 5 Abs. 1 lit. f ZPO
von anderen, nicht darunter fallenden "Streitigkeiten" gegen den Bund ab (z.B. Mietsachen;
a.M.
BOHNET/CONOD, La fin du bail et l'expulsion du locataire, in: 18
ème
Séminaire sur le droit du bail, 2014, Rz. 119, 121). Andere Autoren betonen diesbezüglich die Rolle des Bundes - als Beklagter - im Prozess (HALDY, in: CPC, Code de procédure civile commenté, 2011, N. 2 zu
Art. 5 ZPO
), ohne den "Prozess" näher zu definieren.
7.2
Der Wortlaut von
Art. 5 Abs. 1 lit. f ZPO
spricht lediglich von "Klagen" ("actions", "azioni giudiziali") gegen den Bund. Welcher Natur die Streitigkeit sein muss, wird nicht gesagt. In den anderen Fällen von
Art. 5 Abs. 1 ZPO
ist von (näher bezeichneten) "Streitigkeiten" sowie von deren Gegenstand die Rede (z.B. lit. c: Gebrauch einer Firma). Der Zusammenhang mit
Art. 1 ZPO
ergibt keine Einschränkung, da die ZPO sowohl auf Klagen in Zivilsachen als auch für Klagen des SchKG anwendbar ist. Unter diesem Blickwinkel wäre die kantonale Einzelinstanz nicht nur für Anfechtungsklagen gegen den Bund, sondern auch z.B. für Widerspruchsklagen gemäss
Art. 106 ff. SchKG
oder Kollokationsklagen gemäss
Art. 250 Abs. 2 SchKG
(
BGE 120 III 32
E. 2 S. 33) - als weitere betreibungsrechtliche Klagen mit Reflexwirkung auf das materielle Recht (AMONN/WALTHER, a.a.O., § 4 Rz. 49) - zuständig.
7.3
Die Botschaft zur ZPO hält fest, dass es sich bei den Klagen gemäss
Art. 5 Abs. 1 lit. f ZPO
um Klagen handle, für die nicht der direkte Prozess gemäss "
Art. 41 OG
bzw.
Art. 120 BGG
" vor
BGE 143 III 395 S. 403
Bundesgericht anwendbar ist (Botschaft vom 28. Juni 2006 zur ZPO, BBl 2006 7221, 7260 Ziff. 5.2.1), ohne dass der Entwurf Anlass zu Bemerkungen in der parlamentarischen Beratung gegeben hätte. Der Grund für den "doppelten" Hinweis liegt darin, dass im Zeitpunkt der Botschaft der
Art. 41 OG
("Direkte Prozesse", in der seit 1. Januar 2001 in Kraft stehenden Fassung) noch bis 31. Dezember 2006 galt, und dass
Art. 120 BGG
("Klage") mit dem Bundesgerichtsgesetz vom 17. Juni 2005 bereits verabschiedet war.
7.3.1
Gemäss
Art. 120 Abs. 1 lit. b BGG
beurteilt das Bundesgericht mit dem Bund als Beklagten lediglich "zivilrechtliche und öffentlich-rechtliche Streitigkeiten" auf Klage eines Kantons hin. Die frühere Abgrenzung der zwischen zivilrechtlichen (
Art. 41 OG
), staatsrechtlichen (
Art. 83 OG
) und verwaltungsrechtlichen (
Art. 116,
Art. 130 OG
) "Streitigkeiten" ist nicht mehr notwendig (SEILER, in: Bundesgerichtsgesetz [BGG], 2. Aufl. 2015, N. 15 zu
Art. 120 BGG
).
7.3.2
Wenn der Begriff der "zivilrechtlichen Streitigkeit" sich auf jenen des
Art. 41 OG
stützt (TAPPY, Le recours en matière civile, in: La nouvelle loi sur le Tribunal Fédéral, 2007, S. 53), so ist zu berücksichtigen, dass von dieser Bestimmung die betreibungsrechtlichen Klagen mit Reflexwirkung auf das materielle Recht nicht erfasst werden (
BGE 71 II 245
S. 246 f., betreffend Widerspruchsklage gemäss
Art. 106 ff. SchKG
gegen den Bund; HUGI YAR, Direktprozesse, in: Prozessieren vor Bundesgericht, 2. Aufl. 1998, Rz. 7.7). Die Entstehungsgeschichte scheint damit bei den "Klagen gegen den Bund" nicht bloss die beteiligten Parteien, sondern auch den Klagegegenstand zu berücksichtigen (in diesem Sinn auch u.a. GASSER/RICKLI, Schweizerische Zivilprozessordnung, 2. Aufl. 2016, N. 2 zu
Art. 5 ZPO
: "privatrechtliche Klagen").
7.4
Zweck von
Art. 5 Abs. 1 ZPO
bzw. der Zuweisung der Zuständigkeit an eine einzige kantonale Instanz ist die Materie (und die damit verbundene Konzentration von rechtlichem und fachlichem Wissen), und die Prozessbeschleunigung (vgl. HOFMANN/LÜSCHER, a.a.O.). Allerdings sieht bereits das BGG das Prinzip der
double instance
vor, wonach die Vorinstanzen des Bundesgerichts grundsätzlich als Rechtsmittelinstanzen entscheiden (
Art. 75 Abs. 2 BGG
); an diesem Prinzip hat die ZPO nichts geändert (Botschaft zur ZPO, a.a.O., S. 7259 zu Art. 4). Ausnahmen müssen in einem Bundesgesetz - wie in
Art. 5 ZPO
- vorgesehen sein (
Art. 75 Abs. 2 lit. a-c BGG
), welche den verminderten Rechtsschutz sowie die zusätzliche
BGE 143 III 395 S. 404
Belastung des Bundesgerichts rechtfertigen (CORBOZ, in: Commentaire LTF, 2. Aufl. 2014, N. 49, 51j zu
Art. 74 BGG
; vgl. Botschaft vom 28. Februar 2001 zur Totalrevision der Bundesrechtspflege, BBl 2001 4202, 4306 ff. Ziff. 4.1.3.1 insb. 4310 f. zu Art. 71). Derartige Gründe sind für die paulianische Anfechtungsklage gegen den Bund nicht ersichtlich, ebenso wenig für andere inzidente Klagen des SchKG. Der Hinweis auf
Art. 41 OG
bzw.
Art. 120 BGG
und insbesondere das Prinzip der
double instance
legen nahe, die paulianische Anfechtungsklage gegen den Bund nicht als "Klage gegen den Bund" im Sinne von
Art. 5 Abs. 1 lit. f ZPO
zu verstehen.
8.
Nach dem Dargelegten ist für die vorliegende Klage - wie die Beschwerdeführerin zu Recht rügt - das Obergericht als Einzelinstanz nicht zuständig. Eine Zustimmung der Beschwerdeführerin als Beklagte für eine Direktklage gemäss
Art. 8 ZPO
wird von der Beschwerdegegnerin nicht behauptet. Eine konkludente Zustimmung kann, wenn (wie hier) die Zuständigkeit der Zivilgerichte (im kantonalen Verfahren) bestritten worden ist, nicht angenommen werden. Damit erweist sich die Beschwerde als begründet und der Zwischenentscheid, mit welchem das Obergericht seine Zuständigkeit bejaht hat, ist aufzuheben; auf die Klage ist nicht einzutreten. Die Möglichkeit der Beschwerdegegnerin zum Vorgehen nach
Art. 63 ZPO
ist nicht mehr Gegenstand des vorliegenden Verfahrens und daher nicht zu erörtern. (...) | de |
262a8fb6-21a5-4963-a68c-e880e152e64f | Sachverhalt
ab Seite 227
BGE 112 II 226 S. 227
A.-
Am 14. Mai 1980 wurde der 1952 geborene J. X. in Basel von einem Lastwagen überfahren. Der Unfall hatte unter anderem die Impotenz von X. zur Folge. Am 4. November 1980 verurteilte der Strafgerichtspräsident Basel-Stadt den Lastwagenlenker wegen fahrlässiger schwerer Körperverletzung zu einer Busse von Fr. 500.--.
B.-
Am 21. April 1983 klagte die im Zeitpunkt des Unfalls knapp 19 Jahre alte Ehefrau von X., R. X., beim Zivilgericht des Kantons Basel-Stadt gegen die Haftpflichtversicherungs-Gesellschaft des Lastwagenhalters, die Y. Versicherungs-Gesellschaft, auf Zahlung einer Genugtuung von Fr. 30'000.-- nebst Zins. Die Klägerin begründete ihren auf
Art. 49 OR
abgestützten Anspruch damit, dass sie wegen der Verletzung ihres Ehemannes keine weitern Kinder haben könne. Nach Einreichung der Klage fand die Beklagte den Ehemann mit einer Genugtuung von Fr. 60'000.-- ab. Das Zivilgericht des Kantons Basel-Stadt beschränkte den Prozess auf die Frage, ob auch Angehörigen eines Verletzten ein Genugtuungsanspruch gemäss
Art. 49 OR
zustehe, verneinte dies und wies die Klage ab. Das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt bestätigte das erstinstanzliche Urteil. Das Bundesgericht heisst die Berufung gut, hebt das Urteil des Appellationsgerichts auf und weist die Sache zur Neubeurteilung im Sinn der Erwägungen an die Vorinstanz zurück.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Weil die Anspruchsberechtigung der Klägerin dem Grundsatz nach zu bejahen ist, sind die weiteren Voraussetzungen von
Art. 49 OR
zu prüfen. Der Einwand der Beklagten, es fehle selbst bei Vorliegen der Aktivlegitimation an der nötigen Intensität der Verletzung, übersieht, dass sowohl das Zivilgericht als auch das Appellationsgericht den Prozess auf die Frage der Anspruchsberechtigung beschränkt haben, weshalb die übrigen Bedingungen von
Art. 49 OR
offengeblieben sind. So erschöpfen sich die Ausführungen über die Schwere der Verletzung in Andeutungen. Die Vorinstanz wird darüber umfassende Feststellungen zu treffen haben.
a) Beim Entscheid, ob die Impotenz des Ehemannes die Klägerin in ihren Persönlichkeitsrechten besonders schwer verletzt hat, wird auch der vom Ministerkomitee mit Resolution 75-7 vom 19. März 1975 empfohlene Grundsatz Nr. 13 zu beachten sein (vgl.
BGE 112 II 226 S. 228
dazu J.-F. EGLI in Mélanges André Grisel, S. 325 und 338). Im französischen Originaltext verlangt er die "présence de souffrances d'un caractère exceptionnel". Massgebend sind dabei alle Umstände wie das Alter der Ehegatten, die Bedeutung des Geschlechtslebens in der vorliegenden Ehe, die Art der Impotenz, das heisst, ob und inwieweit zur impotentia generandi noch die impotentia coeundi hinzukommt, sowie die Ausgeprägtheit des Wunsches nach weiteren Kindern.
b) Im Gegensatz zu
Art. 49 OR
in der bis zum 30. Juni 1985 geltenden Fassung setzt
Art. 47 OR
kein besonders schweres Verschulden voraus. Die Tötung eines Menschen unter gravierenden Umständen auch objektiver Natur kann den Angehörigen derart treffen, dass sich eine Genugtuung ungeachtet des Verschuldens des Schädigers aufdrängt.
Dieser Grundgedanke ist auch bei der Auslegung von
Art. 49 OR
heranzuziehen, obwohl der Fall altem Recht untersteht (Botschaft des Bundesrates über die Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches vom 5. Mai 1982, BBl 1982 II S. 683; BROGGINI, Schweizerisches Privatrecht, Bd. I, S. 460). Es wäre eine ungerechtfertigte Privilegierung von Angehörigen eines Getöteten gegenüber den Angehörigen eines Verletzten, die gleich oder schwerer betroffen sein können, wenn diesen die Genugtuung einzig deshalb versagt bliebe, weil es am besonders schweren Verschulden des Schädigers fehlt. Die Vorinstanz wird demnach entscheidend auf die Schwere der Persönlichkeitsverletzung bei der Klägerin abzustellen haben. | de |
423f7dbf-ff9e-4bf4-bd06-fd2df922492d | 641.311 1 Verordnung über die Tabakbesteuerung (Tabaksteuerverordnung, TStV) vom 14. Oktober 2009 (Stand am 1. Januar 2022) Der Schweizerische Bundesrat, gestützt auf das Tabaksteuergesetz vom 21. März 19691 (TStG), verordnet: 1. Abschnitt: Begriffe Art. 1 Rohmaterial (Art. 13 Abs. 5 TStG) Als Rohmaterial gelten: a. nicht entrippter Rohtabak; b. teilweise oder ganz entrippter, geschnittener oder anderswie bearbeiteter Rohtabak, der zur Weiterverarbeitung bestimmt ist; c. Abfälle von Rohtabak oder aus der Tabakfabrikation, namentlich Rippen, Kleinbruch oder Tabakstaub; d. homogenisierter Tabak. Art. 2 Tabakfabrikate (Art. 1 Abs. 2 TStG) 1 Als Tabakfabrikate gelten die Erzeugnisse, die unter den Zolltarifnummern2 2402.1000/9000, 2403.1100/1900, 2403.9910, 2403.9990 und 2404.1100 aufgeführt sind.3 2 Als Zigarren gelten namentlich Kopfzigarren, Stumpen, Zigarillos, Kiele, Toscani und Virginia, die ganz oder teilweise aus Tabakeinlage bestehen, mit oder ohne Umblatt, und die mit einem Deckblatt aus natürlichen Tabakblättern oder homoge- nisiertem Tabak versehen sind, sofern solche Erzeugnisse nicht nach Absatz 3 als Zigaretten gelten. AS 2009 5577 1 SR 641.31 2 SR 632.10 Anhang. Der Generaltarif und seine Änderungen werden nach Art. 5 Abs. 1 des Publikationsgesetzes vom 18. Juni 2004 (SR 170.512) in der AS nicht veröffentlicht. Der Text kann im Internet unter www.ezv.admin.ch eingesehen werden. Die Änderungen werden ebenfalls in den Zolltarif übernommen, der im Internet unter www.tares.ch kon- sultiert werden kann. 3 Fassung gemäss Anhang 3 Ziff. 12 der V vom 30. Juni 2021 über die Änderung des Zoll- tarifs, in Kraft seit 1. Jan. 2022 (AS 2021 445). 641.311 Steuern 2 641.311 3 Als Zigaretten gelten: a. Zigaretten im handelsüblichen Sinne, die ganz oder teilweise aus Tabakein- lage bestehen und mit einer Hülle versehen sind, welche nicht aus natürli- chen Tabakblättern hergestellt ist; b. zigarettenähnliche Erzeugnisse, die: 1. in der Längsrichtung geradlinig zusammengefügt sind und ganz oder teilweise aus Tabakeinlage bestehen; sie weisen eine einfache oder doppelte Hülle auf, wobei die Aussenhülle nicht aus natürlichen Tabak- blättern hergestellt ist, oder 2. aus Tabaksträngen oder ähnlich vorgeformten Produkten bestehen und durch einen einfachen nicht industriellen Vorgang in eine Zigaretten- hülse geschoben oder mit einem Zigarettenblättchen umhüllt werden. 4 Als Rauchtabak gelten: a. geschnittener oder anders zerkleinerter, gesponnener oder in Platten gepress- ter Tabak, der sich ohne weitere industrielle Bearbeitung zum Rauchen eig- net; b. Zigarrenabschnitte sowie zum Einzelverkauf aufgemachte und zum Rauchen geeignete Tabakabfälle, die nicht unter Absatz 2 oder 3 fallen. 5 Als Feinschnitttabak gilt Rauchtabak, wenn bei diesem: a. mehr als 25 Gewichtsprozent der Tabakteile eine Schnittbreite von weniger als 1,2 mm aufweisen; oder b. höchstens 25 Gewichtsprozent der Tabakteile eine Schnittbreite von weniger als 1,2 mm aufweisen und er als Tabak für selbstgedrehte Zigaretten ver- kauft wird oder für diesen Zweck bestimmt ist. 6 Als Feinschnitttabak gilt auch Wasserpfeifentabak der Zolltarifnummer 2403.1100.4 Art. 3 Ersatzprodukte (Art. 1 Abs. 2 TStG) 1 Als Ersatzprodukte gelten Erzeugnisse, die nicht oder nur teilweise aus Tabak bestehen, die aber wie Tabak oder Tabakfabrikate verwendet werden, auch wenn sie für den Verbrauch nicht angezündet werden müssen. 2 Nicht als Ersatzprodukte gelten: a. elektronische Zigaretten, die nach dem Verdampfer- oder Zerstäuberprinzip funktionieren, sowie deren Bestandteile; b. bei der Swissmedic registrierte Produkte zur Rauchentwöhnung.5 4 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 29. April 2015, in Kraft seit 1. Mai 2015 (AS 2015 1249). 5 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 21. März 2012, in Kraft seit 1. April 2012 (AS 2012 1477). Tabaksteuerverordnung 3 641.311 Art. 4 Sortiments- und Spezialpackungen (Art. 10 Abs. 2 TStG) 1 Als Sortimentspackungen gelten Packungen, die Tabakfabrikate verschiedener Art oder verschiedener Preislagen oder Handelsmarken enthalten. 2 Als Spezialpackungen gelten Packungen, die bezüglich der Aufmachung oder Ausstattung von den im Handel gebräuchlichen Packungen abweichen. 2. Abschnitt: Steuererhebung Art. 5 Anmeldung von Tabakfabrikaten (Art. 17 TStG) 1 Personen, die Tabakfabrikate herstellen (Hersteller), müssen der Oberzolldirektion die Kleinhandelspreise aller Erzeugnisse anmelden. 2 Sie melden für die Kontrolle des Materialverbrauchs bei Zigaretten und Zigarren die Durchschnittsgewichte je 1000 Stück in lagertrockenem Zustand an. 3 Das Durchschnittsgewicht: a. je 1000 Zigaretten umfasst das Gewicht des Tabakstrangs und der Hülle auf der Länge des Tabakstrangs; b. je 1000 Zigarren berechnet sich ohne Mundstück und Filter. 4 Ändert der Kleinhandelspreis oder das Durchschnittsgewicht eines bereits ange- meldeten Produkts, so muss der Hersteller vor Entstehung der Steuerschuld eine neue Anmeldung einreichen. 5 Bei Tabakfabrikaten, die ausschliesslich im Ausland abgesetzt werden, kann die Oberzolldirektion die Hersteller von der Pflicht zur Anmeldung der Kleinhandels- preise befreien. Art. 6 Steuerfestsetzung (Art. 17 TStG) 1 Lassen sich aus Zigaretten oder Zigarren für den Verbrauch mehrere Einheiten gewinnen, so gilt für die Steuerberechnung jede solche Einheit als Stück. 2 Sind für die gleiche Marke und Aufmachung eines Tabakfabrikats unterschiedliche Kleinhandelspreise vorgesehen, so setzt die Oberzolldirektion die Steuer nach dem höchsten Preis fest. 3 Sie kann die Vorlage von Typmustern verlangen. 4 Sie teilt den Steuerpflichtigen den Produktecode, die Laufnummer und den fest- gesetzten Steuersatz schriftlich mit. Steuern 4 641.311 Art. 7 Deklarationspflicht (Art. 18 Abs. 1 und 2 TStG) 1 Die Hersteller von Tabakfabrikaten und die Betreiber zugelassener Steuerlager (Betreiber) müssen der Oberzolldirektion bis zum 8. Tag des Monats die Tabak- fabrikate deklarieren, die im Vormonat:6 a. verbrauchsfertig hergerichtet wurden; b.7 aus einem zugelassenen Steuerlager in den steuerrechtlich freien Verkehr übergeführt wurden; oder c. in einem zugelassenen Steuerlager verwendet wurden. 2 Stimmt die Steuerdeklaration nicht mit den Belegen überein, ist sie nicht vor- schriftsgemäss abgefasst oder enthält sie ungenügende oder zweideutige Angaben, so weist die Oberzolldirektion sie an die ausstellende Person zur Ergänzung zurück. Art. 8 Anmelde- oder Deklarationsform (Art. 17 Abs. 1 und. 18 Abs. 1 TStG) 1 Die Oberzolldirektion schreibt die Anmelde- oder Deklarationsform vor. 2 Sie kann namentlich den Einsatz der elektronischen Datenverarbeitung (EDV) anordnen und diesen von einer Prüfung des EDV-Systems abhängig machen. Art. 9 Einfuhrveranlagung (Art. 18 Abs. 3 TStG) Die Einfuhrzollanmeldung muss folgende Angaben enthalten: a. die Sorte, die Verwendung und die Beschaffenheit des Rohtabaks; b. die Art, die Marke, das Eigengewicht und den Kleinhandelspreis der Tabak- fabrikate; c. die Stückzahl der Zigaretten und Zigarren. Art. 10 Ausfuhrveranlagung (Art. 24 Abs. 2 TStG) Die Ausfuhrzollanmeldung für Tabakfabrikate, für welche die Rückerstattung der Steuer beantragt wird, muss die Angabe der Marke und der von der Oberzolldirek- tion zugeteilten Laufnummer enthalten. 6 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 20. Aug. 2014, in Kraft seit 1. Jan. 2015 (AS 2014 2779). 7 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 21. März 2012, in Kraft seit 1. April 2012 (AS 2012 1477). Tabaksteuerverordnung 5 641.311 3. Abschnitt: Steuerrückerstattung und Steuererlass Art. 11 Rückerstattungsgesuch (Art. 24 Abs. 2 TStG) 1 Die steuerpflichtige Person muss Gesuche um Rückerstattung der Steuer nach Artikel 24 Absatz 1 TStG auf amtlichem Formular innerhalb folgender Fristen bei der Oberzolldirektion einreichen: a.8 für Tabakfabrikate, die unter Zollüberwachung über die von dem Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit (BAZG)9 bestimmten Zollstellen ins Zollaus- land ausgeführt oder in einen inländischen Zollfreiladen nach Artikel 17 Ab- satz 1bis des Zollgesetzes vom 18. März 200510 verbracht werden, innerhalb eines Jahres nach der Ausfuhrveranlagung; b. für Tabakfabrikate, die sich noch beim Hersteller oder Importeur befinden oder die der Hersteller, der Importeur oder der Betreiber vom Tabakwaren- handel zurücknimmt, innerhalb von zwei Jahren nach der Entrichtung der Steuer; c. für Tabakfabrikate, die nachweislich im Betrieb des Herstellers oder des Im- porteurs durch höhere Gewalt oder durch Zufall vernichtet worden oder un- brauchbar geworden sind, innerhalb von 30 Tagen ab der Feststellung des Schadens. 2 Die Oberzolldirektion kann die Rückerstattung ausnahmsweise auch Zwischen- händlern gewähren. 3 Die gesuchstellende Person muss das Datum und den Betrag der Steuerentrichtung belegen. Dem Gesuch sind die von der Oberzolldirektion bezeichneten Unterlagen beizulegen. In Fällen nach Absatz 1 Buchstabe a ist zudem der Nachweis der Aus- fuhrveranlagung zu erbringen. 4 Die Oberzolldirektion kann von der gesuchstellenden Person die Bescheinigung einer ausländischen Zollbehörde über die Ein- oder Durchfuhrveranlagung ver- langen. Art. 12 Erlassgesuch (Art. 25 Abs. 2 TStG) 1 Gesuche um Erlass der Steuer sind schriftlich bei der Oberzolldirektion einzu- reichen. 2 Das Erlassgesuch muss die Begehren, die Begründung, die Angabe der Beweis- mittel und die Unterschrift der steuerpflichtigen Person enthalten. Die Beweismittel sind beizulegen. 8 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 20. April 2011, in Kraft seit 1. Juni 2011 (AS 2011 1751). 9 Die Bezeichnung der Verwaltungseinheit wurde in Anwendung von Art. 20 Abs. 2 der Publikationsverordnung vom 7. Okt. 2015 (AS 2015 3989) auf den 1. Jan. 2022 ange- passt. Diese Änd. ist im ganzen Erlass berücksichtigt. 10 SR 631.0 Steuern 6 641.311 3 In Fällen nach Artikel 25 Absatz 1 Buchstabe a TStG ist das Erlassgesuch inner- halb von 30 Tagen ab der Feststellung des Schadens einzureichen. 4 In Fällen nach Artikel 25 Absatz 1 Buchstabe b TStG ist das Erlassgesuch inner- halb eines Jahres nach der Ausstellung der Veranlagungsverfügung einzureichen. Bei Veranlagungen mit bedingter Zahlungspflicht beträgt die Frist ein Jahr vom Abschluss des gewählten Zollverfahrens an. Art. 13 Rückerstattung, Verrechnung und Erlass (Art. 24 Abs. 2 und 25 Abs. 2 TStG) 1 Gibt die Oberzolldirektion einem Rückerstattungsgesuch statt, so erstattet sie die zu viel bezahlte Steuer zurück oder verrechnet sie mit offenen Forderungen. 2 In Fällen nach Artikel 24 Absatz 1 Buchstabe c TStG oder nach Artikel 25 Ab- satz 1 TStG wird die Rückerstattung oder der Erlass nur gewährt, wenn für die Steuer kein anderweitiger Vergütungsanspruch besteht. 4. Abschnitt: Zugelassene Steuerlager Art. 14 Herstellungsbetriebe (Art. 26a Abs. 1 Bst. a und 2 TStG) 1 Herstellungsbetriebe sind Betriebe, in denen Tabakfabrikate unter Steuerausset- zung hergestellt, bearbeitet und bewirtschaftet werden. 2 Zu einem Herstellungsbetrieb gehören insbesondere die Anlagen zur Herstellung, Bearbeitung und Bewirtschaftung von Tabakfabrikaten sowie die Lagerplätze für Vor- und Fertigprodukte. 3 Der Betrieb muss so eingerichtet sein, dass der Eingang der Rohmaterialien, der Vorprodukte, die Herstellung, Bearbeitung, Bewirtschaftung sowie der Ausgang der Tabakfabrikate nachverfolgt werden können. 4 Die Oberzolldirektion legt im Einzelfall die Betriebsgrösse und die Anforderungen fest, die für die Gewährleistung der Steuersicherheit nötig sind. Art. 15 Steuerfreilager (Art. 26a Abs. 1 Bst. b und 2 TStG) 1 Steuerfreilager sind Liegenschaften oder Teile davon, in denen im Handel tätige Personen Tabakfabrikate unter Steueraussetzung bewirtschaften. 2 Der Betrieb muss so eingerichtet sein, dass der Eingang, die Bewirtschaftung und der Ausgang der Tabakfabrikate nachverfolgt werden können. 3 Die Oberzolldirektion legt im Einzelfall die Betriebsgrösse und die Anforderungen fest, die für die Gewährleistung der Steuersicherheit nötig sind. Tabaksteuerverordnung 7 641.311 Art. 16 Bewilligungsgesuch (Art. 26a Abs. 2 TStG) 1 Die steuerpflichtige Person muss das Gesuch um Bewilligung eines zugelassenen Steuerlagers bei der Oberzolldirektion einreichen. 2 Dem Gesuch sind die für die Beurteilung wesentlichen Unterlagen beizulegen: a. für Herstellungsbetriebe insbesondere: 1. ein Handelsregisterauszug, 2. die Beschreibung des Betriebs mit Gesamtplan und schematischer Dar- stellung der Anlagen, 3. die Beschreibung der Herstellungs- oder Bearbeitungsverfahren, 4. die Bezeichnung der Rohstoffe und der herzustellenden oder zu bear- beitenden Erzeugnisse, 5. die Bezeichnung der Nebenerzeugnisse und Abfälle; b. für Steuerfreilager insbesondere: 1. ein Handelsregisterauszug, 2. die Beschreibung des Lagers mit Gesamtplan, 3. die Beschreibung der Geschäftstätigkeit. Art. 17 Bewilligung (Art. 26a Abs. 2 TStG) 1 Die Oberzolldirektion bewilligt ein zugelassenes Steuerlager, wenn: a. die Anforderungen nach Artikel 14 oder 15 erfüllt sind; b. die Steuersicherheit gewährleistet ist; und c. für die Steuer und die anderen Abgaben eine angemessene Sicherheit geleis- tet worden ist. 2 Sie entscheidet über das Gesuch mit Verfügung. 3 Die Bewilligung ist nicht übertragbar. Art. 18 Meldung von Änderungen (Art. 26a Abs. 2 TStG) 1 Der Betreiber muss der Oberzolldirektion geplante Änderungen in der Geschäfts- tätigkeit oder an den Bauten und Anlagen melden. 2 Falls die Steuersicherheit gefährdet ist, kann die Oberzolldirektion Projektände- rungen verlangen. Art. 19 Verzicht auf die Bewilligung (Art. 26a Abs. 2 TStG) 1 Will der Betreiber auf die Bewilligung verzichten, so muss er dies der Oberzoll- direktion drei Monate im Voraus schriftlich mitteilen. 2 Der Verzicht auf die Bewilligung wird auf ein Monatsende wirksam. Steuern 8 641.311 Art. 20 Entzug und Erlöschen der Bewilligung (Art. 26a Abs. 3 TStG) 1 Der Entzug der Bewilligung nach Artikel 26a Absatz 3 TStG erfolgt durch Verfü- gung der Oberzolldirektion. 2 Die Bewilligung für ein zugelassenes Steuerlager erlischt: a. durch Übertragung des zugelassenen Steuerlagers auf Dritte; b. durch Auflösung der juristischen Person oder durch Tod des Betreibers; c. durch Eröffnung des Konkurses über den Betreiber. 3 Die Steuerschuld entsteht im Zeitpunkt des Entzugs oder des Erlöschens der Be- willigung. Art. 21 Pflichten des Betreibers (Art. 26a Abs. 2 TStG) Der Betreiber muss dem BAZG kostenlos zur Verfügung stellen: a. die für die Aufsicht benötigten Räumlichkeiten und Anlagen mit den erfor- derlichen Einrichtungen (Heizung, Beleuchtung und Wasseranschlüsse); b. das zur Unterstützung des BAZG erforderliche geeignete Personal. Art. 22 Begleitschein (Art. 26e TStG) 1 Die Betreiber und die Importeure müssen für die Beförderung unversteuerter Tabakfabrikate einen Begleitschein ausstellen. 2 Als Begleitschein ist das amtliche Formular der Oberzolldirektion zu verwenden. Darin sind folgende Angaben zu machen: a. versendende Person, Adressatin oder Adressat, Bestimmungslager oder -zollstelle, Versanddatum, fortlaufende Nummer; b. Transportmittel, Warenart, Warenbezeichnung, Laufnummer, Menge (Stück- zahl oder Kilogramm für Waren mit massebezogener Bemessungsgrund- lage); c. Ort, Datum und Unterschrift; 3 Die Oberzolldirektion kann anstelle des Begleitscheins Handelsdokumente zulas- sen, sofern diese die notwendigen Angaben enthalten. 4 Sie kann bestimmte Zolldokumente oder ein bestimmtes Zollverfahren vorschrei- ben. 5 Der versendende Betreiber oder der Importeur muss die Tabakfabrikate innerhalb der Frist nach Artikel 24 unverändert dem auf dem Begleitschein angegebenen Ort (zugelassenes Steuerlager oder Zollstelle) zuführen. Tabaksteuerverordnung 9 641.311 Art. 23 Verfahren (Art. 26e TStG) 1 Das Verfahren für die Beförderung unversteuerter Tabakfabrikate beginnt: a. für eingeführte Tabakfabrikate im Zeitpunkt, in dem die Zollstelle den Be- gleitschein oder die Handelsdokumente annimmt; b. für die übrigen Tabakfabrikate im Zeitpunkt, in dem sie das zugelassene Steuerlager verlassen und der Begleitschein oder die Handelsdokumente vollständig ausgefüllt und unterzeichnet sind. 2 Das Verfahren endet: a. für ausgeführte Tabakfabrikate im Zeitpunkt, in dem die Zollstelle die Aus- fuhr auf dem Begleitschein oder den Handelsdokumenten bestätigt; b. für die übrigen Tabakfabrikate im Zeitpunkt, in dem sie im zugelassenen Steuerlager eingetroffen, ihr Eingang auf dem Begleitschein oder auf den Handelsdokumenten bestätigt und sie in der Warenbuchhaltung ordnungs- gemäss verbucht worden sind. Art. 24 Fristen (Art. 26e TStG) 1 Das Verfahren muss spätestens nach zehn Tagen abgeschlossen sein. 2 Die Oberzolldirektion kann in besonderen Fällen abweichende Fristen festlegen. Art. 25 Unregelmässigkeiten (Art. 26e TStG) 1 Der Betreiber muss jede Unregelmässigkeit im Zusammenhang mit der Beförde- rung unversteuerter Tabakfabrikate unverzüglich der Oberzolldirektion melden. 2 Stellt er beim Eingang unversteuerter Tabakfabrikate Fehlmengen fest, so muss er dies auf dem Begleitschein festhalten und in der Warenbuchhaltung die tatsächlich eingelagerte Menge verbuchen. 3 Für die Fehlmenge setzt die Oberzolldirektion den Steuerbetrag mit Verfügung an den Importeur oder den versendenden Betreiber fest. 5. Abschnitt: Handelsvorschriften Art. 26 Aufsicht über Gross- und Kleinhandel (Art. 16 Abs. 4 TStG) 1 Die Oberzolldirektion beaufsichtigt den Gross- und Kleinhandel mit Tabakfabri- katen, soweit dies zur Sicherung und Überwachung des Zoll- und Steuerbezugs erforderlich ist. 2 Die Gross- und Kleinhändler von Tabakfabrikaten müssen der Oberzolldirektion alle verlangten Auskünfte erteilen und die verlangten Geschäftspapiere vorlegen. Steuern 10 641.311 3 Die Oberzolldirektion ist befugt, jederzeit und ohne Voranmeldung Warenlager und andere Geschäftsräumlichkeiten zu kontrollieren. Art. 27 Versandhandel (Art. 16 Abs. 4 TStG) 1 Der an Private gerichtete Versandhandel mit unversteuerten Tabakfabrikaten ist im Zollgebiet nicht gestattet. 2 Die Oberzolldirektion kann für andere Tabakfabrikate als Zigaretten und Fein- schnitttabak auf Gesuch hin Ausnahmen bewilligen. Sie legt die Bedingungen und Auflagen fest. Art. 28 Zollfreilager (Art. 16 Abs. 4 TStG) 1 Wer Tabakfabrikate in einem Zollfreilager einlagern will, muss dies der Oberzoll- direktion vorgängig schriftlich melden. 2 Die Oberzolldirektion kann die Meldepflicht zusätzlich der Lagerhalterin oder dem Lagerhalter auferlegen. Art. 2911 Offene Zolllager (Art. 16 Abs. 4 TStG) 1 Wer Tabakfabrikate in einem offenen Zolllager bearbeiten und bewirtschaften will, muss dies der Oberzolldirektion vorgängig schriftlich melden. 2 Die Lagerhalterin oder der Lagerhalter oder die Einlagererin oder der Einlagerer muss für Tabakfabrikate in einem offenen Zolllager Bestandesaufzeichnungen führen. Diese richten sich nach Artikel 184 der Zollverordnung vom 1. November 200612. Das BAZG kann im Einzelfall die Aufzeichnung weiterer Angaben verlan- gen, soweit dies für die Kontrolle der eingelagerten Waren erforderlich ist. Art. 30 Unzulässige Behandlungen von Tabakfabrikaten (Art. 16 Abs. 4 TStG) 1 Die Behandlung von Tabakfabrikaten ist unzulässig, wenn sie: a. eine Täuschungsgefahr schafft; oder b. zur Schmälerung von Abgaben oder zur Umgehung der nichtzollrechtlichen Erlasse des Bundes führen kann. 2 Die Oberzolldirektion kann die Behandlung von Tabakfabrikaten verbieten, wenn sie die ordnungsgemässe Veranlagung im In- und Ausland gefährden kann. 11 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 20. Aug. 2014, in Kraft seit 1. Jan. 2015 (AS 2014 2779). 12 SR 631.01 Tabaksteuerverordnung 11 641.311 Art. 31 Preisangabe auf Kleinhandelspackungen (Art. 16 Abs. 4 TStG) Die nach Artikel 16 Absatz 1 TStG erforderlichen Angaben müssen direkt auf den Kleinhandelspackungen in leicht lesbarer und unverwischbarer Schrift angebracht werden. Art. 32 Vorschriftswidrige Tabakfabrikate (Art. 16 Abs. 4 TStG) Tabakfabrikate, die den Vorschriften des TStG und dieser Verordnung nicht ent- sprechen, dürfen weder eingeführt noch in den Handel gebracht werden. 6. Abschnitt: Inlandtabak Art. 33 Taxierung durch regionale Kommissionen (Art. 28 Abs. 1 TStG) 1 Die regionalen Kommissionen taxieren den angebotenen verarbeitungsfähigen Tabak (Tabakpartie) aufgrund der Produzentenpreise und der Qualität. 2 Sie werden vom Verband der schweizerischen Tabakpflanzervereinigungen (Swis- sTabac) und von der Einkaufsgenossenschaft für Inlandtabak (SOTA) im Einver- nehmen mit der Oberzolldirektion eingesetzt. 3 Sie bestehen aus je zwei Personen als Vertretung der SwissTabac und der SOTA. 4 Die SwissTabac und die SOTA bestimmen aus diesen Personen abwechslungs- weise eine Vorsitzende oder einen Vorsitzenden. 5 Können sich die Mitglieder der Kommissionen über die Taxierung nicht einigen, so entscheidet die oder der Vorsitzende endgültig. Art. 34 Übernahmebulletins (Art. 28 Abs. 1 TStG) 1 Die Kommissionen erstellen für jede taxierte Tabakpartie ein Übernahmebulletin. 2 Das Bulletin enthält den Namen der Pflanzerin oder des Pflanzers, die Sorte, den Preis und das Nettogewicht des Tabaks. 3 Es wird von der oder dem Vorsitzenden unterzeichnet und der Oberzolldirektion auf Verlangen ausgehändigt. 4 Die Oberzolldirektion kann den zuständigen Kantonen eine Zusammenstellung der Angaben zur Prüfung einreichen. Art. 35 Kontrollmassnahmen (Art. 28 Abs. 1 TStG) 1 Nach Abschluss des Erntejahrs muss die SOTA der Oberzolldirektion einen Jah- resbericht über den Finanzierungsfonds zustellen. Der Jahresbericht hat insbeson- dere folgende Angaben zu enthalten: Steuern 12 641.311 a. die den Pflanzerinnen und Pflanzern bezahlten Preise; b. die weiteren Kosten für die Übernahme und die Fermentation des Tabaks; c. das Fermentationsergebnis und die Zuteilung des fermentierten Tabaks an die Hersteller; d. die Erfolgsrechnung und die Bilanz des Finanzierungsfonds. 2 Die Organisationen der Tabakpflanzerinnen und -pflanzer sowie der Hersteller von Tabakfabrikaten mit Inlandtabak und die Fermentationsbetriebe müssen der Ober- zolldirektion jederzeit die Geschäftsbücher, die Belege und die übrigen Unterlagen offenlegen, vollständige Auskunft erteilen und den Zutritt zu allen Geschäftsräum- lichkeiten gestatten, in denen Tabak übernommen, gelagert oder fermentiert wird. Art. 36 Finanzierung (Art. 28 Abs. 2 Bst. b TStG) 1 Die Hersteller und die Importeure von Zigaretten und Feinschnitttabak für den Inlandmarkt leisten eine Abgabe von 0,13 Rappen je Zigarette oder Fr. 1.73 je Kilogramm Feinschnitttabak in den Finanzierungsfonds der SOTA. 2 Die Abgabe wird aufgrund der in der Steuerdeklaration oder Einfuhrzollanmeldung ausgewiesenen Mengen berechnet und ist nach den gleichen Bestimmungen wie die Tabaksteuer zu entrichten. 3 Bei der Festsetzung der Fabrikantenpreise kann auf die mittleren Einfuhrpreise mehrerer Jahre für Rohtabake, die zur Herstellung von Zigaretten bestimmt sind, abgestellt werden. Art. 37 Beizug von Organisationen (Art. 29 TStG) 1 Die zur Mitwirkung beigezogenen Organisationen unterstehen hinsichtlich der ihnen übertragenen Aufgaben der Aufsicht der Oberzolldirektion. 2 Die Statuten und Geschäftsreglemente der Organisationen bedürfen der Genehmi- gung durch die Oberzolldirektion und das Bundesamt für Landwirtschaft. 7. Abschnitt: Tabakpräventionsfonds Art. 38 (Art. 28 Abs. 2 Bst. c TStG) 1 Die Hersteller und die Importeure von Zigaretten und Feinschnitttabak für den Inlandmarkt leisten eine Abgabe von 0,13 Rappen je Zigarette oder Fr. 1.73 je Kilogramm Feinschnitttabak in den Tabakpräventionsfonds. 2 Die Abgabe wird aufgrund der in der Steuerdeklaration oder Einfuhrzollanmeldung ausgewiesenen Mengen berechnet und ist nach den gleichen Bestimmungen wie die Tabaksteuer zu entrichten. Tabaksteuerverordnung 13 641.311 8. Abschnitt: Statistiken, Gebühren und Verzugszins Art. 39 Statistiken 1 Das BAZG kann die Angaben über die versteuerten Tabakfabrikate zu statistischen Zwecken verwenden. Sie beachtet dabei die Anforderungen des Datenschutzes. 2 Sie kann die Statistiken veröffentlichen. Art. 40 Gebühren Die Gebührenerhebung richtet sich nach der Verordnung vom 4. April 200713 über die Gebühren des BAZG. Art. 41 Ausnahmen von der Verzugszinspflicht (Art. 20 Abs. 3 TStG) 1 Das Eidgenössische Finanzdepartement regelt, bis zu welchem Betrag kein Ver- zugszins erhoben wird. 2 Das BAZG kann auf Gesuch hin auf die Erhebung des Verzugszinses verzichten, wenn die Zahlung für den Hersteller unzumutbar ist. 9. Abschnitt: Bezugsprovision Art. 42 (Art. 48 TStG) Das BAZG wird für ihren Aufwand mit 2,5 Prozent der Gesamteinnahmen (Brutto- ertrag) entschädigt. 10. Abschnitt: Schlussbestimmungen Art. 43 Aufhebung bisherigen Rechts Die Tabaksteuerverordnung vom 15. Dezember 196914 wird aufgehoben. Art. 44 Änderung bisherigen Rechts Die nachstehenden Verordnungen werden wie folgt geändert: ...15 13 SR 631.035 14 [AS 1969 1274; 1974 1021 Art. 4 Abs. 1, 1987 2474; 1993 331 Ziff. I 5; 1996 590; 1997 376; 2003 2465; 2007 1469 Anhang 4 Ziff. 25; 2008 3159 Ziff. II] 15 Die Änderungen können unter AS 2009 5577 konsultiert werden. Steuern 14 641.311 Art. 45 Übergangsbestimmungen (Art. 11 Abs. 3 TStG) 1 Tabakfabrikate, die bis zum 31. Dezember 2009 hergestellt und eingeführt werden und deren Kleinhandelspreis aufgrund der Änderung vom 19. Dezember 2008 des TStG angepasst wurde, werden nach dem neuen Steuertarif besteuert. 2 Hersteller und Importeure dürfen nach bisherigem Recht versteuerten Feinschnitt- tabak bis zum 31. März 2010 an den Handel abgeben. Art. 46 Inkrafttreten Diese Verordnung tritt am 1. Januar 2010 in Kraft. 1. Abschnitt: Begriffe Art. 1 Rohmaterial Art. 2 Tabakfabrikate Art. 3 Ersatzprodukte Art. 4 Sortiments- und Spezialpackungen 2. Abschnitt: Steuererhebung Art. 5 Anmeldung von Tabakfabrikaten Art. 6 Steuerfestsetzung Art. 7 Deklarationspflicht Art. 8 Anmelde- oder Deklarationsform Art. 9 Einfuhrveranlagung Art. 10 Ausfuhrveranlagung 3. Abschnitt: Steuerrückerstattung und Steuererlass Art. 11 Rückerstattungsgesuch Art. 12 Erlassgesuch Art. 13 Rückerstattung, Verrechnung und Erlass 4. Abschnitt: Zugelassene Steuerlager Art. 14 Herstellungsbetriebe Art. 15 Steuerfreilager Art. 16 Bewilligungsgesuch Art. 17 Bewilligung Art. 18 Meldung von Änderungen Art. 19 Verzicht auf die Bewilligung Art. 20 Entzug und Erlöschen der Bewilligung Art. 21 Pflichten des Betreibers Art. 22 Begleitschein Art. 23 Verfahren Art. 24 Fristen Art. 25 Unregelmässigkeiten 5. Abschnitt: Handelsvorschriften Art. 26 Aufsicht über Gross- und Kleinhandel Art. 27 Versandhandel Art. 28 Zollfreilager Art. 29 Offene Zolllager Art. 30 Unzulässige Behandlungen von Tabakfabrikaten Art. 31 Preisangabe auf Kleinhandelspackungen Art. 32 Vorschriftswidrige Tabakfabrikate 6. Abschnitt: Inlandtabak Art. 33 Taxierung durch regionale Kommissionen Art. 34 Übernahmebulletins Art. 35 Kontrollmassnahmen Art. 36 Finanzierung Art. 37 Beizug von Organisationen 7. Abschnitt: Tabakpräventionsfonds Art. 38 8. Abschnitt: Statistiken, Gebühren und Verzugszins Art. 39 Statistiken Art. 40 Gebühren Art. 41 Ausnahmen von der Verzugszinspflicht 9. Abschnitt: Bezugsprovision Art. 42 10. Abschnitt: Schlussbestimmungen Art. 43 Aufhebung bisherigen Rechts Art. 44 Änderung bisherigen Rechts Art. 45 Übergangsbestimmungen Art. 46 Inkrafttreten | de |
9370fd47-a527-411a-8bf2-6d418eaf5e1b | 641.31 1 Bundesgesetz über die Tabakbesteuerung (Tabaksteuergesetz, TStG)1 vom 21. März 1969 (Stand am 1. Januar 2022) Die Bundesversammlung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, gestützt auf die Artikel 103 und 131 Absatz 1 Buchstabe a der Bundesverfassung2,3 nach Einsicht in eine Botschaft des Bundesrates vom 28. August 19684, beschliesst: 1. Abschnitt: Allgemeine Bestimmungen5 Art. 16 1 Der Bund erhebt eine Steuer auf Tabakfabrikaten ...7 sowie auf Erzeugnissen, die wie Tabak verwendet werden (Ersatzprodukte). 2 Die in diesem Gesetz verwendeten Begriffe Tabakfabrikate und Ersatzprodukte werden in der Tabaksteuerverordnung vom 15. Dezem- ber 19698 näher festgelegt. Art. 29 Das Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit (BAZG) erlässt hinsicht- lich der Abgaben auf Tabakfabrikaten (Tabaksteuer, Zoll, Mehrwert- steuer) alle Weisungen, Verfügungen und Entscheide, die nicht aus- drücklich einer anderen Behörde vorbehalten sind. Es ist ermächtigt, den im Register der Hersteller, Importeure und Rohmaterialhändler AS 1969 645 1 Eingefügt durch Anhang Ziff. 8 des Zollgesetzes vom 18. März 2005, in Kraft seit 1. Mai 2007 (AS 2007 1411; BBl 2004 567). 2 SR 101 3 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 17. März 2017, in Kraft seit 1. Sept. 2017 (AS 2017 4041; BBl 2016 5153). 4 BBl 1968 II 345 5 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). 6 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 24. März 1995, in Kraft seit 1. März 1996 (AS 1996 585; BBl 1995 I 89). 7 Ausdruck gestrichen durch Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, mit Wirkung seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). Die Anpassung wurde im ganzen Erlass berücksichtigt. 8 [AS 1969 1274; 1974 1021 Art. 4 Abs. 1; 1987 2474; 1993 331 Ziff. I 5; 1996 590; 1997 376; 2003 2465; 2007 1469 Anhang 4 Ziff. 25; 2008 3159 Ziff. II. AS 2009 5577 Art. 43]. Siehe heute: die Tabaksteuerverordnung vom 14. Okt. 2009 (SR 641.311). 9 Fassung gemäss Ziff. I 19 der V vom 12. Juni 2020 über die Anpassung von Gesetzen infolge der Änderung der Bezeichnung der Eidgenössischen Zollverwaltung im Rahmen von deren Weiterentwicklung, in Kraft seit 1. Jan. 2022 (AS 2020 2743). 641.31 I. Fiskalische Belastung des Tabaks II. Behörden Steuern 2 641.31 eingetragenen Firmen Weisungen über die für die Abgabenerhebung und -rückerstattung sowie zu Kontrollzwecken erforderlichen Anga- ben, Nachweise und Vorkehren zu erteilen. Art. 3 Soweit dieses Gesetz und die gestützt darauf erlassenen Verordnungen nicht eigene Bestimmungen enthalten, finden auf die Tabaksteuer die für die Zölle geltenden Vorschriften entsprechend Anwendung, ein- schliesslich jener über den Bezug besonderer Gebühren bei der Hand- habung der Zollgesetzgebung. 2. Abschnitt: Gegenstand der Steuer und Steuerpflicht10 Art. 4 1 Der Steuer unterliegen: a. die im Inland gewerbsmässig hergestellten, verbrauchsfertigen Tabakfabrikate sowie die eingeführten Tabakfabrikate; b. ...11 c.12 Ersatzprodukte. 2 ...13 3 Als verbrauchsfertig gelten Tabakfabrikate, die bis zum Verbrauch keinem weiteren gewerbsmässigen Produktionsvorgang unterliegen. 4 Als Inland gilt das Zollgebiet nach Artikel 3 Absatz 1 des Zollgesetzes vom 18. März 200514 (ZG).15 Art. 5 Von der Steuer sind befreit: a.16 zollfreie Waren nach Artikel 8 ZG17; 10 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). 11 Aufgehoben durch Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, mit Wirkung seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). 12 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 24. März 1995, in Kraft seit 1. März 1996 (AS 1996 585; BBl 1995 I 89). 13 Aufgehoben durch Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, mit Wirkung seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). 14 SR 631.0 15 Fassung gemäss Anhang Ziff. 8 des Zollgesetzes vom 18. März 2005, in Kraft seit 1. Mai 2007 (AS 2007 1411; BBl 2004 567). 16 Fassung gemäss Anhang Ziff. 8 des Zollgesetzes vom 18. März 2005, in Kraft seit 1. Mai 2007 (AS 2007 1411; BBl 2004 567). 17 SR 631.0 III. Anwend- bares Recht I. Gegenstand der Steuer II. Steuer- befreiung Tabaksteuergesetz 3 641.31 b. ...18 c. Tabakfabrikate, die nicht für den Verbrauch bestimmt sind; d.19 Tabakfabrikate zur Linderung von Asthmabeschwerden, wenn sie als Heilmittel registriert sind. Art. 6 Steuerpflichtig sind: a. für die im Inland hergestellten Tabakfabrikate die Hersteller des verbrauchsfertigen Produkts; b.20 für die eingeführten Tabakfabrikate die Zollschuldnerin oder der Zollschuldner. Art. 7 1 Der Steuernachfolger tritt in die sich aus diesem Gesetz ergebenden steuerlichen Pflichten und Rechte eines andern ein. 2 Steuernachfolger sind: a. die Erben beim Tode eines Steuerpflichtigen oder eines Steuer- nachfolgers. Der Erbe wird von der Zahlungspflicht soweit be- freit, als er nachweist, dass die zu entrichtende Steuer seinen Anteil am Nachlass mit Einschluss seiner Vorempfänge über- steigt; b. die unbeschränkt haftenden Teilhaber oder deren Erben nach Auflösung einer Handelsgesellschaft ohne juristische Persön- lichkeit; c. die juristische Person, die von einer andern juristischen Person das Vermögen oder ein Geschäft mit Aktiven und Passiven übernimmt. 3 Kommen mehrere Steuernachfolger in Betracht, so hat jeder für sich die sich aus diesem Gesetz ergebenden Pflichten selbständig zu erfül- len und kann die sich aus diesem Gesetz ergebenden Rechte selbstän- dig ausüben. Jeder Steuernachfolger befreit die andern nach Massgabe seiner Zahlung; seine Rückgriffsrechte richten sich nach dem unter den Steuernachfolgern bestehenden Rechtsverhältnis. 18 Aufgehoben durch Anhang Ziff. 8 des Zollgesetzes vom 18. März 2005, mit Wirkung seit 1. Mai 2007 (AS 2007 1411; BBl 2004 567). 19 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 24. März 1995, in Kraft seit 1. März 1996 (AS 1996 585; BBl 1995 I 89). 20 Fassung gemäss Anhang Ziff. 8 des Zollgesetzes vom 18. März 2005, in Kraft seit 1. Mai 2007 (AS 2007 1411; BBl 2004 567). III. Steuer- pflichtige IV. Steuer- nachfolge Steuern 4 641.31 Art. 8 1 Mit dem Steuerpflichtigen oder Steuernachfolger haften solidarisch: a. für die Steuer einer aufgelösten juristischen Person oder Han- delsgesellschaft ohne juristische Persönlichkeit: die mit der Li- quidation betrauten Personen, auch im Konkurs oder Nach- lassverfahren, bis zum Betrage des Liquidationsergebnisses; b. für die Steuer einer juristischen Person, die ihren Sitz ohne Li- quidation ins Ausland verlegt: die Organe bis zum Betrag des reinen Vermögens der juristischen Person. 2 Die Haftung der in Absatz 1 bezeichneten Personen entfällt, soweit sie nachweisen, dass sie alles ihnen Zumutbare zur Feststellung und Erfüllung der Steuerforderung getan haben. 3. Abschnitt: Entstehung und Berechnung der Steuer21 Art. 9 1 Die Steuerschuld entsteht: a. für die im Inland hergestellten Tabakfabrikate, sobald sie für die Abgabe an den Verbraucher fertig verpackt sind; b.22 für die eingeführten Tabakfabrikate nach den Vorschriften, die für die Entstehung der Zollschuld gelten. c.23 für die Tabakfabrikate in zugelassenen Steuerlagern im Zeit- punkt, in dem sie das Lager verlassen oder im Lager verwendet werden. 2 Werden im Inland hergestellte Tabakfabrikate, die nicht für die Abgabe an den Verbraucher fertig verpackt sind, an nicht im Register gemäss Artikel 13 eingetragene Personen oder Firmen abgegeben oder sonst wie aus dem Herstellerbetrieb entfernt, so bewirkt dies die Ent- stehung der Steuerschuld des Herstellers, sobald die Ware den Betrieb verlässt, und zwar nach Massgabe des Ansatzes für das höchstbelastete verbrauchsfertige Fabrikat. 21 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). 22 Fassung gemäss Anhang Ziff. 8 des Zollgesetzes vom 18. März 2005, in Kraft seit 1. Mai 2007 (AS 2007 1411; BBl 2004 567). 23 Eingefügt durch Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). V. Mithaftung für die Steuer I. Entstehung der Steuerschuld Tabaksteuergesetz 5 641.31 Art. 10 1 Die Steuer wird bemessen: a. für Zigaretten, Zigarren und Zigarillos je Stück und in Prozen- ten des Kleinhandelspreises; b.24 für Feinschnitttabak und Wasserpfeifentabak je Kilogramm und in Prozenten des Kleinhandelspreises; c. für anderen Rauchtabak als Feinschnitttabak und übrige Ta- bakfabrikate sowie für Kau- und Schnupftabak in Prozenten des Kleinhandelspreises.25 2 Wo der Kleinhandelspreis für den Steuersatz mitbestimmend ist, richtet sich dieser für Sortiments- und Spezialpackungen nach dem Preis der üblichsten Kleinhandelspackung. Die Begriffe Sortiments- und Spezialpackungen werden durch die Tabaksteuerverordnung vom 15. Dezember 196926 näher festgelegt. 3 Der vom Hersteller oder Importeur auf den Kleinhandelspackungen aufgedruckte Preis darf beim Verkauf nicht überschritten werden.27 Art. 11 1 Die Steuer auf Tabakfabrikaten wird nach den Tarifen in den Anhän- gen I–IV berechnet.28 2 Der Bundesrat kann zur Mitfinanzierung der Beiträge des Bundes an die Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung sowie an die Ergänzungsleistungen und zur Angleichung an die in der Europäischen Gemeinschaft geltenden Steuersätze: a. die beim Inkrafttreten der Änderung vom 21. März 200329 die- ses Gesetzes geltenden Steuersätze für Zigaretten um höchs- tens 80 Prozent erhöhen; b. die beim Inkrafttreten der Änderung vom 19. Dezember 2008 dieses Gesetzes geltenden Steuersätze für Zigarren und Zigaril- los um höchstens 300 Prozent erhöhen; c. die beim Inkrafttreten der Änderung vom 19. Dezember 2008 dieses Gesetzes geltenden Steuersätze für Feinschnitttabak um höchstens 80 Prozent erhöhen; 24 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 17. März 2017, in Kraft seit 1. Sept. 2017 (AS 2017 4041; BBl 2016 5153). 25 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). 26 Siehe heute: die Tabaksteuerverordnung vom 14. Okt. 2009 (SR 641.311). 27 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 24. März 1995, in Kraft seit 1. März 1996 (AS 1996 585; BBl 1995 I 89). 28 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). 29 AS 2003 2460 II. Bemessungs- grundlage III. Berechnung der Steuer (Steuertarife) Steuern 6 641.31 d. die beim Inkrafttreten der Änderung vom 19. Dezember 2008 dieses Gesetzes geltenden Steuersätze für anderen Rauchtabak als Feinschnitttabak und übrige Tabakfabrikate sowie für Kau- und Schnupftabak um höchstens 100 Prozent erhöhen.30 3 Bei Steuererhöhungen kann der Bundesrat Massnahmen treffen, um zu verhindern, dass die Wirksamkeit der beschlossenen Mehrbelastung hinausgeschoben wird. Er kann insbesondere bis zum Inkrafttreten der Mehrbelastung die Hersteller und Importeure verpflichten, die Pro- duktion und die Einfuhr auf die Verkäufe einer vergleichbaren Periode des Vorjahres unter Berücksichtigung der Nachfrageentwicklung zu beschränken.31 Art. 1232 4. Abschnitt: Steuererhebung und Steuerrückerstattung33 Art. 13 1 Die Oberzolldirektion führt ein Register a. der Hersteller von Tabakfabrikaten; b. der Importeure von Tabakfabrikaten zum Weiterverkauf; c. der Importeure und der Händler mit inländischem oder einge- führtem Rohmaterial. 2 Wer im Inland gewerbsmässig Tabakfabrikate herstellt oder zum Weiterverkauf einführt, wer Rohmaterial einführt oder im Inland gewerbsmässig Handel mit inländischem oder eingeführtem Rohmate- rial betreibt, hat sich zur Eintragung in das entsprechende Register bei der Oberzolldirektion anzumelden. 3 Die Eintragung setzt voraus: a. für die Hersteller und Importeure von Tabakfabrikaten den Wohnsitz im Inland oder eine im Inland eingetragene Haupt- niederlassung, die Hinterlegung eines Reverses gemäss Arti- kel 14 und die Leistung einer Sicherheit gemäss Artikel 21; 30 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). 31 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 24. März 1995, in Kraft seit 1. März 1996 (AS 1996 585; BBl 1995 I 89). 32 Aufgehoben durch Ziff. I des BG vom 24. März 1995, mit Wirkung seit 1. März 1996 (AS 1996 585; BBl 1995 I 89). 33 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). I. Grundlagen 1. Register der Hersteller, Importeure und Roh- materialhändler Tabaksteuergesetz 7 641.31 b. für Importeure und Händler von Rohmaterial den Wohnsitz im Inland oder eine im Inland eingetragene Hauptniederlassung und die Hinterlegung eines Reverses gemäss Artikel 14. 4 Jede Änderung der Firma, des Wohnsitzes, der Geschäftsniederlas- sung oder der geschäftlichen Betätigung ist der Oberzolldirektion zu melden. Firmen, die ihre Geschäftstätigkeit, ihren Wohnsitz oder die Geschäftsniederlassung im Inland aufgeben, werden im Register gelöscht. 5 Der Begriff Rohmaterial wird durch die Tabaksteuerverordnung vom 15. Dezember 196934 näher festgelegt. Art. 14 1 Durch einen bei der Oberzolldirektion zu hinterlegenden Revers haben sich zu verpflichten: a. der Hersteller von Tabakfabrikaten: das von ihm eingeführte oder im Inland erworbene Rohmate- rial sowie die von ihm hergestellten oder aus der inländischen Produktion erworbenen, nicht verbrauchsfertigen Tabakfabri- kate im eigenen Betrieb weiterzuverarbeiten oder nur an im Register eingetragene Firmen abzugeben; b. der Importeur und Händler von Rohmaterial zur gewerbsmäs- sigen Herstellung von Tabakfabrikaten ...35 : das Rohmaterial nur an im Register eingetragene Firmen abzu- geben; c. der Hersteller von Tabakfabrikaten, der Importeur von Tabak- fabrikaten zum Weiterverkauf sowie der Importeur und Händ- ler von Rohmaterial: die durch dieses Gesetz und die Tabaksteuerverordnung vom 15. Dezember 196936 aufgestellten Handelsvorschriften zu be- folgen. 2 Den durch Revers Verpflichteten werden Kontrollnummern zugeteilt. Art. 15 1 Die Hersteller von Tabakfabrikaten, die Betreiber von zugelassenen Steuerlagern sowie die Importeure und Händler von Rohmaterial haben eine umfassende, auch Lagerbestände und -bewegungen ver- zeichnende Kontrolle zu führen, deren Bestandteile und Einrichtungen 34 Siehe heute: die Tabaksteuerverordnung vom 14. Okt. 2009 (SR 641.311). 35 Ausdruck gestrichen durch Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, mit Wirkung seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). 36 Siehe heute: die Tabaksteuerverordnung vom 14. Okt. 2009 (SR 641.311). 2. Revers für Hersteller, Importeure und Roh- materialhändler 3. Kontroll- massnahmen Steuern 8 641.31 durch das BAZG37 bestimmt werden.38 Sie haben diese Kontrolle sowie die Geschäftsbücher mit den Belegen während zehn Jahren aufzubewahren, sie dem BAZG auf Verlangen vorzulegen oder einzu- reichen und dem BAZG über alle Tatsachen, die für den Vollzug dieses Gesetzes von Bedeutung sein können, Auskunft zu erteilen. Das BAZG ist zudem befugt, Fabrikationsanlagen, Warenlager und andere Geschäftsräumlichkeiten durch seine Organe jederzeit ohne Voran- meldung zu kontrollieren. 2 Rohmaterial darf nur mit Bewilligung des BAZG zu anderen Zwe- cken als zur Herstellung von Tabakfabrikaten abgegeben oder verwen- det werden. Für zollfrei eingeführtes Rohmaterial ist zudem das Zoll- betreffnis nachzuentrichten. 3 Rohmaterial und noch nicht versteuerte Tabakfabrikate dürfen nur mit Bewilligung des BAZG vernichtet werden. Art. 16 1 Im Inland hergestellte verbrauchsfertige Tabakfabrikate dürfen nur in Kleinhandelspackungen die Herstellerbetriebe verlassen. Die Einfuhr von Tabakfabrikaten ist nur in Kleinhandelspackungen statthaft. Die Kleinhandelspackungen haben folgende Angaben zu tragen: a. den Kleinhandelspreis in Schweizerwährung; b. die Reversnummer oder Firmenbezeichnung des inländischen Herstellers oder des Importeurs; c. bei Schnitt-, Rollen-, Kau- und Schnupftabak sowie bei Zigar- renabschnitten zudem das Gewicht des Inhalts.39 1bis Auf den Kleinhandelspackungen von Tabakfabrikaten, die unter Zollüberwachung ausgeführt oder in ein zugelassenes Steuerlager verbracht werden, sind die Angaben nach Absatz 1 Buchstaben a und b nicht erforderlich.40 2 Für die hiernach genannten verbrauchsfertigen Tabakfabrikate sind nur folgende Kleinhandelspackungen zulässig: a. Zigarren und Zigaretten: höchstens 100 Stück, ausgenommen Sortimentspackungen; 37 Ausdruck gemäss Ziff. I 19 der V vom 12. Juni 2020 über die Anpassung von Gesetzen infolge der Änderung der Bezeichnung der Eidgenössischen Zollverwaltung im Rahmen von deren Weiterentwicklung, in Kraft seit 1. Jan. 2022 (AS 2020 2743). Diese Änd. wurde im ganzen Erlass berücksichtigt. 38 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). 39 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). 40 Eingefügt durch Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). 4. Handels- vorschriften Tabaksteuergesetz 9 641.31 b. Feinschnitt-Tabak: höchstens 250 g Inhalt; c. anderer Schnitttabak als Feinschnitt: höchstens 1000 g Inhalt. 3 ...41 4 Um die Durchführung dieses Gesetzes zu sichern, können in der Tabaksteuerverordnung vom 15. Dezember 196942 den Herstellern und Wiederverkäufern von Tabakfabrikaten weitere Verhaltenspflichten auferlegt werden. Art. 17 1 Für die im Inland hergestellten Zigarren- und Zigarettensorten setzt das BAZG den anwendbaren Steuersatz gestützt auf Anmeldungen, die vom Hersteller gemäss den Bestimmungen der Tabaksteuerverordnung vom 15. Dezember 196944 einzureichen sind, zum voraus fest. 2 Für Zigarren- und Zigarettensorten, die von einem Importeur regel- mässig eingeführt werden, wird der Steuersatz auf Antrag ebenfalls gemäss Absatz 1 festgesetzt. Art. 18 1 Die Steuer auf den im Inland hergestellten oder aus einem zugelasse- nen Steuerlager in den steuerrechtlich freien Verkehr übergeführten Tabakfabrikaten wird aufgrund der Steuerdeklaration festgesetzt, die vom Hersteller oder vom Betreiber des zugelassenen Steuerlagers dem BAZG monatlich einzureichen ist.46 2 Die Steuerdeklaration ist für den Aussteller verbindlich und bildet, vorbehältlich des Ergebnisses der amtlichen Prüfung, die Grundlage für die Festsetzung des Betrages der Steuer im Einzelfalle. 2bis Wird die Steuerdeklaration nicht fristgerecht eingereicht, so schätzt das BAZG den Steuerbetrag nach pflichtgemässem Ermessen.47 41 Aufgehoben durch Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, mit Wirkung seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). 42 Siehe heute: die Tabaksteuerverordnung vom 14. Okt. 2009 (SR 641.311). 43 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). 44 Siehe heute: die Tabaksteuerverordnung vom 14. Okt. 2009 (SR 641.311). 45 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). 46 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). 47 Eingefügt durch Ziff. I 5 des BG vom 19. März 2021 über administrative Erleichterungen und eine Entlastung des Bundeshaushalts, in Kraft seit 1. Jan. 2022 (AS 2021 654; BBl 2020 6985). II. Veranlagung und Entrichtung der Steuer 1. Steuersatz für Zigarren und Zigaretten43 2. Steuerbetrag45 Steuern 10 641.31 3 Die Steuer auf den eingeführten Tabakfabrikaten wird von den Zoll- stellen auf Grund der ihnen einzureichenden Zollanmeldungen festge- setzt. Die Form der Zollanmeldung richtet sich nach Artikel 28 ZG48.49 Art. 19 1 Die Steuer wird mit der Entstehung der Steuerschuld fällig. Für Steuerpflichtige, die eine Sicherheit nach Artikel 21 Absatz 1 oder 26c geleistet haben, läuft die Zahlungsfrist bis zum letzten Tag des zweiten Monats, der auf den Fälligkeitstag folgt. Das BAZG kann ausnahms- weise weitere Zahlungsfristen vorsehen.51 2 Für die Einfuhren im Post- und Reiseverkehr ohne schriftliche Zoll- anmeldung des Importeurs (Art. 18 Abs. 3) sowie in Fällen, in denen eine Sicherheit nach Artikel 21 nicht besteht, ist die Steuer nach den für die Zollabgaben geltenden Vorschriften zu entrichten.52 Art. 2053 1 Bei verspäteter Zahlung der Steuer ist ab ihrer Fälligkeit ein Ver- zugszins geschuldet. 2 Ab dem Zeitpunkt, in dem das BAZG einen Betrag zu Unrecht erhoben oder nicht zurückerstattet hat, schuldet es einen Vergütungs- zins. 3 Der Bundesrat kann für die Erhebung des Verzugszinses Ausnahmen vorsehen. 4 Das Eidgenössische Finanzdepartement legt die Zinssätze fest. Art. 21 1 Die im Register nach Artikel 13 eingetragenen Hersteller und Im- porteure von Tabakfabrikaten haben eine Sicherheit in den nach Arti- kel 76 ZG54 vorgesehenen Formen zu leisten. Die Sicherheit haftet für alle sich aus der Tabaksteuer-, Zoll- und Mehrwertsteuerpflicht des Herstellers und des Importeurs ergebenden und damit im Zusammen- 48 SR 631.0 49 Fassung gemäss Anhang Ziff. 8 des Zollgesetzes vom 18. März 2005, in Kraft seit 1. Mai 2007 (AS 2007 1411; BBl 2004 567). 50 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). 51 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). 52 Fassung gemäss Anhang Ziff. 8 des Zollgesetzes vom 18. März 2005, in Kraft seit 1. Mai 2007 (AS 2007 1411; BBl 2004 567). 53 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). 54 SR 631.0 3. Fälligkeit50 IIbis. Zinsen III. Sicherheits- leistung und Steuerpfandrecht Tabaksteuergesetz 11 641.31 hang stehenden Forderungen des BAZG.55 Sie darf erst freigegeben werden, wenn sämtliche Verpflichtungen erfüllt sind. Die Höhe der Sicherheit wird durch die Oberzolldirektion bestimmt. 2 An Tabakfabrikaten, für die die Abgabenschuld entstanden ist, be- steht ein gesetzliches Pfandrecht des Bundes (Tabaksteuerpfand- recht). Die für das Zollpfandrecht geltenden Vorschriften finden entsprechend Anwendung. Art. 22 1 Ist infolge Irrtums des BAZG eine geschuldete Steuer gar nicht oder zu niedrig oder ein rückvergüteter Steuerbetrag zu hoch festgesetzt worden, so wird der entgangene Betrag nachgefordert, solange nicht die Verjährung gemäss Artikel 23 eingetreten ist. 2 Wird bei der amtlichen Nachprüfung der Steuerveranlagung oder bei Betriebskontrollen festgestellt, dass eine Steuer zu Unrecht erhoben worden ist, so wird der zu viel bezahlte Betrag von Amts wegen zu- rückerstattet. Art. 23 1 Die Steuerforderung verjährt fünf Jahre nach Ablauf des Kalender- jahres, in dem sie entstanden ist.56 2 Die Verjährung beginnt nicht und steht still, falls sie begonnen hat, während der Dauer eines Einsprache-, Beschwerde- oder Revisions- verfahrens über die Steuerpflicht oder die Steuerforderung. 3 Die Verjährung wird unterbrochen durch jede Anerkennung der Steuerforderung von Seiten eines Zahlungspflichtigen sowie durch jede auf Geltendmachung des Steueranspruches gerichtete Amtshand- lung, die einem Zahlungspflichtigen zur Kenntnis gebracht wird. Mit der Unterbrechung beginnt die Verjährung von neuem. 4 Stillstand und Unterbrechung wirken gegenüber allen Zahlungs- pflichtigen. 5 Die Steuerforderung verjährt in jedem Fall 15 Jahre nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem sie entstanden ist.57 55 Fassung des ersten und zweiten Satzes gemäss Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). 56 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). 57 Eingefügt durch Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). IV. Nach- forderung; Rück- erstattung von Amts wegen V. Verjährung Steuern 12 641.31 Art. 24 1 Die Steuer auf im Inland hergestellten und auf eingeführten Tabak- fabrikaten wird dem Steuerpflichtigen zurückerstattet: a.59 für Tabakfabrikate, die unter Zollüberwachung über die vom BAZG bestimmten Zollstellen ins Zollausland ausgeführt oder in einen inländischen Zollfreiladen nach Artikel 17 Absatz 1bis ZG60 verbracht werden; b. für Tabakfabrikate, die sich noch beim Hersteller oder Impor- teur befinden oder die der Hersteller, der Importeur oder der Betreiber eines zugelassenen Steuerlagers vom Tabakwaren- handel zurücknimmt, sofern sie innert zwei Jahren nach der Entrichtung der Steuer dem BAZG in unveränderter Klein- handelspackung vorgewiesen und unter deren Kontrolle un- brauchbar gemacht oder für die Wiederverwendung in der Fab- rikation hergerichtet werden; c. für Tabakfabrikate, die nachweislich im Betrieb des Herstellers oder des Importeurs durch höhere Gewalt oder durch Zufall vernichtet worden oder unbrauchbar geworden sind.61 2 Die Frist für die Einreichung von Rückerstattungsgesuchen und das Verfahren werden durch die Tabaksteuerverordnung vom 15. Dezem- ber 196962 bestimmt. 3 Bei Wiedereinfuhr ausgeführter Tabakfabrikate ist die zurück- erstattete Steuer wieder zu entrichten. Art. 2563 1 Die Steuer auf im Inland hergestellten und auf eingeführten Tabak- fabrikaten wird dem Steuerpflichtigen erlassen: a. für Tabakfabrikate, die nachweislich in einem zugelassenen Steuerlager durch höhere Gewalt oder durch Zufall vernichtet worden oder unbrauchbar geworden sind; 58 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). 59 Fassung gemäss Ziff. I 3 des BG vom 17. Dez. 2010 über den Einkauf von Waren in Zollfreiläden auf Flughäfen, in Kraft seit 1. Juni 2011 (AS 2011 1743; BBl 2010 2169). 60 SR 631.0 61 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). 62 Siehe heute: die Tabaksteuerverordnung vom 14. Okt. 2009 (SR 641.311). 63 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). VI. Rück- erstattung und Erlass 1. Rück- erstattung58 2. Erlass Tabaksteuergesetz 13 641.31 b. für Tabakfabrikate, für die nach Artikel 86 Absatz 1 Buch- stabe a ZG64 Anspruch auf Erlass der Zollabgaben besteht. 2 Der Bundesrat regelt das Verfahren. 5. Abschnitt: Zugelassene Steuerlager65 Art. 2666 1 Die Hersteller und Importeure von Tabakfabrikaten, welche die erforderlichen Sicherheiten bieten, dürfen Tabakfabrikate unter Steu- eraussetzung in einem zugelassenen Steuerlager herstellen, bearbeiten und bewirtschaften. 2 Als Bewirtschaften gelten namentlich das Lagern, das Entgegenneh- men und das Bereitstellen zum Versand. Art. 26a67 1 Als zugelassene Steuerlager können bewilligt werden: a. Herstellungsbetriebe; b. Steuerfreilager. 2 Der Bundesrat legt die Voraussetzungen für die Einrichtung und den Betrieb von zugelassenen Steuerlagern fest; das BAZG erteilt die Be- willigung. 3 Die Bewilligung wird entzogen, wenn: a. die Voraussetzungen für die Bewilligungserteilung nicht mehr gegeben sind; oder b. der Betreiber des zugelassenen Steuerlagers seinen Verpflich- tungen nach diesem Gesetz nicht nachkommt. Art. 26b68 Die zugelassenen Steuerlager unterstehen der Aufsicht durch des BAZG. 64 SR 631.0 65 Eingefügt durch Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). 66 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). 67 Eingefügt durch Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). 68 Eingefügt durch Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). I. Herstellung, Bearbeitung, Bewirtschaftung II. Bewilligung III. Aufsicht Steuern 14 641.31 Art. 26c69 Die Betreiber von zugelassenen Steuerlagern müssen für die Steuer und die anderen Abgaben eine Sicherheit nach Artikel 21 Absatz 1 leisten. Art. 26d70 Die Betreiber von zugelassenen Steuerlagern unterliegen den Kon- trollmassnahmen nach Artikel 15. Art. 26e71 1 Werden eingeführte, unversteuerte Tabakfabrikate von der Grenze in ein zugelassenes Steuerlager befördert, so müssen die Importeure die sich aus diesem Gesetz ergebenden Pflichten erfüllen; sie leisten für die Steuer und die anderen Abgaben Sicherheit. 2 Werden unversteuerte Tabakfabrikate zwischen zugelassenen Steuer- lagern oder, bei auszuführenden Tabakfabrikaten, von einem zugelas- senen Steuerlager zur Grenze befördert, so müssen die versendenden Betreiber von zugelassenen Steuerlagern die sich aus diesem Gesetz ergebenden Pflichten erfüllen; sie leisten für die Steuer und die ande- ren Abgaben Sicherheit. 3 Die Sicherheitsleistung endet, wenn: a. die Tabakfabrikate im zugelassenen Steuerlager eingetroffen sind und deren Eingang ordnungsgemäss verbucht worden ist; oder b. die Ausfuhr der Tabakfabrikate zollamtlich bestätigt worden ist. 4 Der Betreiber des zugelassenen Steuerlagers muss dem BAZG jeden Versand von unversteuerten Tabakfabrikaten melden. 69 Eingefügt durch Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). 70 Eingefügt durch Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). 71 Eingefügt durch Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). IV. Sicherheits- leistung V. Kontrollen VI. Beförderung Tabaksteuergesetz 15 641.31 6. Abschnitt: Inlandtabak72 Art. 2773 Der Bundesrat setzt nach Anhören der beteiligten Kreise die Produ- zentenpreise nach Sorten und Qualitäten sowie die Zuschläge für die Übernahme- und Fermentationskosten fest. Art. 28 1 Die Tabaksteuerverordnung vom 15. Dezember 196975 regelt die Vermittlung des Inlandtabaks an die Hersteller von Tabakfabrikaten. 2 Der Bundesrat kann: a. die Hersteller von Tabakfabrikaten zur Übernahme von Inland- tabak in einem zumutbaren Verhältnis zu dem von ihnen ver- arbeiteten Importtabak verpflichten. Die Übernahmepflicht ist jedoch auf den Ernteertrag einer gesamten Anbaufläche von 1000 ha beschränkt; b.76 die Hersteller und Importeure von Zigaretten und Feinschnitt- tabak verpflichten, eine Abgabe von höchstens 0,13 Rappen je Zigarette oder Fr. 1,73 je Kilogramm Feinschnitttabak in den für die Mitfinanzierung des Inlandtabaks geschaffenen Finan- zierungsfonds zu entrichten; c.77 die Hersteller und Importeure von Zigaretten und Feinschnitt- tabak verpflichten, eine Abgabe in derselben Höhe in einen Tabakpräventionsfonds zu entrichten.78 3 Der Finanzierungsfonds nach Absatz 2 Buchstabe b wird von der Einkaufsgenossenschaft verwaltet und steht unter der Aufsicht der Oberzolldirektion.79 72 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). 73 Fassung gemäss Ziff. I 31 des BG vom 9. Okt. 1992 über den Abbau von Finanzhilfen und Abgeltungen, in Kraft seit 1. Jan. 1993 (AS 1993 325). 74 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). 75 Siehe heute: die Tabaksteuerverordnung vom 14. Okt. 2009 (SR 641.311). 76 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). 77 Eingefügt durch Ziff. I des BG vom 21. März 2003 (AS 2003 2460; BBl 2002 2723). Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). 78 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 24. März 1995, in Kraft seit 1. März 1996 (AS 1996 585; BBl 1995 I 89). 79 Eingefügt durch Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). I. Festlegung der Produzenten- preise II. Übernahme durch die Hersteller von Tabakfabrikaten; Finanzierungs- fonds Inland- tabak und Tabak- präventions- fonds74 Steuern 16 641.31 4 Der Tabakpräventionsfonds nach Absatz 2 Buchstabe c wird von einer Präventionsorganisation verwaltet und steht unter der Aufsicht des Bundesamtes für Gesundheit in Zusammenarbeit mit dem Bundes- amt für Sport.80 Art. 29 Für die Durchführung der in diesem Abschnitt vorgesehenen Mass- nahmen kann der Bundesrat die Kantone und Organisationen der Wirt- schaft zur Mitwirkung heranziehen. Die zur Mitwirkung herangezoge- nen Stellen und Personen unterstehen in Bezug auf ihre Schweige- pflicht den für die Bundesbeamten geltenden Vorschriften. 7. Abschnitt: Nachforderung von zu Unrecht zurückerstatteten oder erlassenen Beträgen81 Art. 3082 1 Ist die Steuer zu Unrecht zurückerstattet oder erlassen worden, so fordert sie das BAZG nach. 2 Der Nachforderungsanspruch verjährt fünf Jahre nach dem Zeit- punkt, in dem das BAZG Kenntnis vom Anspruch erhielt, spätestens jedoch zehn Jahre nach dem Zeitpunkt, in dem der Anspruch entstan- den ist. 3 Die Verjährung wird durch jede Amtshandlung unterbrochen, mit der die Nachforderung geltend gemacht wird; sie steht still, solange der Steuerpflichtige in der Schweiz nicht betrieben werden kann. 8. Abschnitt: Rechtsmittel83 Art. 31 1 Verfügungen der Oberzolldirektion können innert 30 Tagen nach der Eröffnung mit Einsprache angefochten werden. 2 Die Einsprache ist schriftlich bei der Oberzolldirektion einzureichen; sie hat einen bestimmten Antrag zu enthalten und die zu seiner Be- 80 Eingefügt durch Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). 81 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). 82 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). 83 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). III. Heran- ziehung der Kantone und von Organisationen I. Einsprache Tabaksteuergesetz 17 641.31 gründung dienenden Tatsachen anzugeben. Die Beweismittel sollen in der Einsprache bezeichnet und ihr, soweit möglich, beigelegt werden. 3 Ist gültige Einsprache erhoben worden, so hat die Oberzolldirektion ihre Verfügung ohne Bindung an die gestellten Anträge zu überprüfen. 4 Das Einspracheverfahren ist trotz Rückzug der Einsprache weiterzu- führen, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die angefochtene Verfügung oder der angefochtene Entscheid dem Gesetz nicht ent- spricht. 5 Der Einspracheentscheid ist zu begründen und hat eine Rechtsmittel- belehrung zu enthalten. Art. 3284 1 Bei Verfügungen der Zollstellen im Rahmen des Zollveranlagungs- verfahrens richtet sich der Rechtsweg nach dem ZG85. 2 Gegen andere Verfügungen der Zollstellen, die gestützt auf dieses Gesetz erlassen werden, kann innerhalb von 30 Tagen bei der Ober- zolldirektion Beschwerde erhoben werden. 3 Gegen erstinstanzliche Verfügungen der Zollkreisdirektionen, die ge- stützt auf dieses Gesetz erlassen werden, kann innerhalb von 30 Tagen bei der Oberzolldirektion Beschwerde erhoben werden. Art. 3386 9. Abschnitt: Strafbestimmungen87 Art. 3488 84 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 17. März 2017, in Kraft seit 1. Sept. 2017 (AS 2017 4041; BBl 2016 5153). 85 SR 631.0 86 Aufgehoben durch Anhang Ziff. 53 des Verwaltungsgerichtsgesetzes vom 17. Juni 2005, mit Wirkung seit 1. Jan. 2007 (AS 2006 2197 1069; BBl 2001 4202). 87 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). 88 Aufgehoben durch Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, mit Wirkung seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). II. Beschwerde I. Wider- handlungen 1. ... Steuern 18 641.31 Art. 3589 Mit Busse bis zu 30 000 Franken oder, sofern dies einen höheren Betrag ergibt, bis zum Fünffachen der hinterzogenen Steuer oder des unrechtmässigen Vorteils wird bestraft, wer vorsätzlich oder fahrläs- sig, zum eigenen oder zum Vorteil eines andern: a. dem Bund Steuern auf Tabakfabrikaten vorenthält; b. im Inland hergestellte Tabakfabrikate, die nicht für die Abgabe an den Verbraucher fertig verpackt sind, an nicht im Register eingetragene Personen oder Firmen abgibt oder sonstwie aus dem Herstellerbetrieb entfernt; c. eine ungerechtfertigte Rückerstattung oder einen ungerechtfer- tigten Erlass von Steuern oder einen andern unrechtmässigen Steuervorteil erwirkt. 2 Artikel 14 des Bundesgesetzes vom 22. März 197490 über das Ver- waltungsstrafrecht (VStrR) bleibt vorbehalten. 3 Bei erschwerenden Umständen wird das Höchstmass der angedroh- ten Busse um die Hälfte erhöht. Zugleich kann auf Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr erkannt werden. Art. 3691 1 Mit Busse bis zu 20 000 Franken wird bestraft, wer die gesetzmäs- sige Durchführung der Steuer auf Tabakfabrikaten gefährdet, indem er vorsätzlich oder fahrlässig: a. der Pflicht zur Anmeldung als Hersteller, Importeur, Betreiber eines zugelassenen Steuerlagers oder Händler, zur Einreichung einer Steuerdeklaration oder einer Zollanmeldung, zu Meldun- gen, zur Erteilung von Auskünften und zur Vorlage der Kon- trollen, Geschäftsbücher und Belege nicht nachkommt; b. in einer Anmeldung, einer Steuerdeklaration oder einer Zoll- anmeldung, in einer Meldung oder in einem Antrag auf Rück- erstattung oder Erlass von Steuern unwahre Angaben macht oder erhebliche Tatsachen verschweigt oder dabei unwahre Belege über erhebliche Tatsachen vorlegt; c. als Steuerpflichtiger oder als auskunftspflichtiger Dritter un- richtige Auskünfte erteilt; 89 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). 90 SR 313.0 91 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). 2. Hinterziehung 3. Steuer- gefährdung Tabaksteuergesetz 19 641.31 d. der Pflicht zur ordnungsgemässen Führung und Aufbewahrung von Geschäftsbüchern, Kontrollen und Belegen zuwider- handelt; e. die ordnungsgemässe Durchführung einer Buchprüfung, einer amtlichen Kontrolle oder eines Augenscheins erschwert, be- hindert oder verunmöglicht; f. Rohmaterial zur gewerbsmässigen Herstellung von Tabak- fabrikaten an nicht im Register eingetragene Personen oder Firmen abgibt; g. Rohmaterial zu anderen Zwecken als zur Herstellung von Ta- bakfabrikaten ohne Bewilligung des BAZG abgibt oder ver- wendet; h. Tabakfabrikate über dem auf der Kleinhandelspackung ange- gebenen Preis verkauft. 2 Die Artikel 14–16 VStrR92 bleiben vorbehalten. 3 Bei erschwerenden Umständen wird das Höchstmass der angedroh- ten Busse um die Hälfte erhöht. Zugleich kann auf Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr erkannt werden. 3bis Kann der Steuerbetrag, dessen Zahlung gefährdet ist, nicht genau ermittelt werden, so wird er vom BAZG nach pflichtgemässen Ermes- sen geschätzt.93 4 Bei einer Widerhandlung im Sinne von Absatz 1 Buchstabe e bleibt die Strafverfolgung nach Artikel 285 des Strafgesetzbuches94 vorbe- halten. Art. 3795 Wer Tabakfabrikate, von denen er weiss oder annehmen muss, dass die auf ihnen geschuldete Steuer hinterzogen worden ist, erwirbt, sich schenken lässt, zu Pfand oder sonst wie in Gewahrsam nimmt, ver- heimlicht, absetzen hilft oder in Verkehr bringt, wird nach der Strafan- drohung, die auf den Täter Anwendung findet, bestraft. 92 SR 313.0 93 Eingefügt durch Ziff. I 5 des BG vom 19. März 2021 über administrative Erleichterungen und eine Entlastung des Bundeshaushalts, in Kraft seit 1. Jan. 2022 (AS 2021 654; BBl 2020 6985). 94 SR 311.0 95 Fassung gemäss Ziff. 9 des Anhangs zum VStrR, in Kraft seit 1. Jan. 1975 (AS 1974 1857; BBl 1971 I 993). 4. Steuerhehlerei Steuern 20 641.31 Art. 3896 Der Versuch einer Steuerwiderhandlung ist strafbar. Art. 38a97 Als erschwerende Umstände gelten: a. das Anwerben einer oder mehrerer Personen für eine Steuer- widerhandlung; b. das gewerbs- oder gewohnheitsmässige Verüben von Steuer- widerhandlungen. Art. 39 1 Wer den Handelsvorschriften zuwiderhandelt, wer als registrierter Hersteller, Importeur oder Rohmaterialhändler die Änderung der Firma, des Wohnsitzes, der Geschäftsniederlassung oder geschäftlichen Betätigung zu melden unterlässt, wer sonst einer Vorschrift dieses Gesetzes über die Steuer auf Tabak- fabrikaten, einer Ausführungsverordnung, einer auf Grund solcher Vorschriften erlassenen allgemeinen Weisung oder einer unter Hin- weis auf die Strafdrohung dieses Artikels an ihn gerichteten Einzelver- fügung zuwiderhandelt, wird mit Busse bis zu 5000 Franken bestraft. 2 Strafbar ist auch die fahrlässige Begehung. Art. 4098 Fällt eine Busse von höchstens 100 000 Franken in Betracht und würde die Ermittlung der nach Artikel 6 VStrR99 strafbaren Personen Untersuchungsmassnahmen bedingen, die im Hinblick auf die ver- wirkte Strafe unverhältnismässig wären, so kann die Behörde von einer Verfolgung dieser Personen absehen und an ihrer Stelle den Geschäftsbetrieb (Art. 7 VStrR) zur Bezahlung der Busse verurteilen. 96 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). 97 Eingefügt durch Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). 98 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). 99 SR 313.0 5. Versuch 5bis. Erschwe- rende Umstände 6. Ordnungs- widrigkeiten 6bis. Wider- handlungen in Geschäfts- betrieben Tabaksteuergesetz 21 641.31 Art. 41100 Art. 42101 Erfüllt eine Handlung gleichzeitig den Tatbestand einer Hinterzie- hung oder Gefährdung der Steuer oder eines Steuerbetrugs und einer Zollwiderhandlung, so wird die für die schwerere Widerhandlung verwirkte Strafe verhängt; diese kann angemessen erhöht werden. Art. 43102 1 Widerhandlungen werden nach diesem Gesetz und nach dem VStrR103 verfolgt und beurteilt. 2 Verfolgende und urteilende Behörde ist das BAZG. Art. 43a104 Die Verfolgungsverjährung nach Artikel 11 Absatz 2 VStrR105 gilt für alle Steuerwiderhandlungen. Art. 44 1 In schweren Fällen von Hinterziehung oder Gefährdung der Steuer oder eines Steuerbetruges kann die Oberzolldirektion den Geschäfts- betrieb, in dem die Widerhandlung begangen worden ist, bis zu fünf Jahren im Register der Hersteller, Importeure oder Rohmaterialhändler streichen oder von der Aufnahme in dieses Register ausschliessen. 2 In schweren Fällen der unrechtmässigen Erlangung eines Beitrages oder einer Vereitelung der Rückforderung kann die Oberzolldirektion den Täter und den von ihm vertretenen Geschäftsbetrieb auf die Dauer von höchstens fünf Jahren vom Bezug von Beiträgen ausschliessen. Art. 44bis 106 Der Bussenertrag fällt in die Bundeskasse. 100 Aufgehoben durch Ziff. 9 des Anhangs zum VStrR, mit Wirkung seit 1. Jan. 1975 (AS 1974 1857; BBl 1971 I 993). 101 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). 102 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). 103 SR 313.0 104 Eingefügt durch Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). 105 SR 313.0 106 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 24. März 1995, in Kraft seit 1. März 1996 (AS 1996 585; BBl 1995 I 89). 7. Zusammen- treffen mehrerer strafbarer Handlungen II. Anwendbares Recht IIbis. Verfol- gungsverjährung III. Massnahmen IV. Bussenertrag Steuern 22 641.31 10. Abschnitt: Schlussbestimmungen107 Art. 45108 Der Tarif der Tabakzölle ist in Kapitel 24 des Generaltarifs im Anhang des Zolltarifgesetzes vom 9. Oktober 1986109 enthalten. Art. 46 Mit dem Inkrafttreten dieses Gesetzes sind aufgehoben: a. der vierte Abschnitt des zweiten Teils und der Anhang «Tarif der Tabakzölle» des Bundesgesetzes über die Alters- und Hin- terlassenenversicherung vom 20. Dezember 1946110; b. Ziffer IV Buchstabe b des Bundesgesetzes vom 19. Dezember 1963111 betreffend Änderung des Bundesgesetzes über die Al- ters- und Hinterlassenenversicherung. Art. 47112 Art. 48 Der Bundesrat bestimmt den Zeitpunkt des Inkrafttretens. Er erlässt die erforderlichen Ausführungsbestimmungen. Datum des Inkrafttretens: 1. Januar 1970113 107 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). 108 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 19. Dez. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). 109 SR 632.10; der Generaltarif und seine Änd. werden nach Art. 5 Abs. 1 des Publikationsge- setzes vom 18. Juni 2004 (SR 170.512) in der Amtlichen Sammlung nicht veröffentlicht. Der Text kann bei der Oberzolldirektion, 3003 Bern, eingesehen werden. Ausserdem wer-den diese Änd. in den Generaltarif aufgenommen, der im Internet unter ww.ezv.admin.ch publiziert wird. 110 SR 831.10 111 AS 1964 285 112 Aufgehoben durch Anhang Ziff. 8 des Zollgesetzes vom 18. März 2005, mit Wirkung seit 1. Mai 2007 (AS 2007 1411; BBl 2004 567). 113 BRB vom 7. Aug. 1969 I. Tarif der Tabakzölle II. Aufhebung bisherigen Rechts III. ... IV. Inkrafttreten und Vollzug Tabaksteuergesetz 23 641.31 Übergangsbestimmungen zur Änderung vom 14. November 2012114 1 Zigaretten und Feinschnitttabake, die vom 1. Dezember 2012 bis zum 31. März 2013 für das Inland versteuert werden, werden wie folgt besteuert: a. für Mengen, die die Verkäufe im Inland und die Einfuhren der Vergleichsperiode 2011/12, reduziert um 5 Prozent, nicht übersteigen: nach dem bis zum 31. März 2013 geltenden Steu- ertarif; b. für Mehrmengen: nach dem neuen Steuertarif. 2 Tabakfabrikate, die ab dem 1. Dezember 2012 hergestellt und einge- führt werden und deren Kleinhandelspreis aufgrund der Steuertarifer- höhung vom 1. April 2013 angepasst wurde, werden nach dem neuen Steuertarif besteuert. 114 AS 2012 6085 Steuern 24 641.31 Anhang I115 (Art. 11 Abs. 1) Steuertarif für Zigaretten Die Steuer beträgt 11,832 Rappen je Stück und 25 Prozent des Kleinhandelspreises, mindestens 21,210 Rappen je Stück. Anmerkungen 1. Die dem Bundesrat nach Artikel 11 Absatz 2 Buchstabe a zustehende Be- fugnis, die Steuersätze um 80 Prozent zu erhöhen, bezieht sich auf die nach der Stückzahl bemessene Steuer sowie auf die Mindeststeuer je Stück, nicht aber auf den nach dem Kleinhandelspreis bemessenen Steueranteil. 2. Der Gesamtsteuersatz je 1000 Stück, der sich aus dem nach der Stückzahl und dem nach dem Kleinhandelspreis bemessenen Steueranteil ergibt, ist auf die nächsten 5 Rappen aufzurunden. Bruchteile von Rappen zählen nicht. 115 Fassung gemäss Ziff. II Abs. 1 des BG vom 19. Dez. 2008 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). Bereinigt gemäss Ziff. I der V vom 14. Nov. 2012 (Steuertarife für Tabakfabrikate und Ersatzprodukte), in Kraft seit 1. Dez. 2012 (AS 2012 6085). Siehe auch die UeB dieser Änd. hiervor. Die alten Steuertarife sind in AS 2010 4279 auffindbar. Tabaksteuer. BG 25 641.31 Anhang II116 (Art. 11 Abs. 1) Steuertarif für Zigarren und Zigarillos Die Steuer beträgt 0,56 Rappen je Stück und 1 Prozent des Kleinhandelspreises. Anmerkungen 1. Die dem Bundesrat nach Artikel 11 Absatz 2 Buchstabe b zustehende Be- fugnis, die Steuersätze um 300 Prozent zu erhöhen, bezieht sich auf die nach der Stückzahl bemessene Steuer, nicht aber auf den nach dem Kleinhandels- preis bemessenen Steueranteil. 2. Der Gesamtsteuersatz je 1000 Stück, der sich aus dem nach der Stückzahl und dem nach dem Kleinhandelspreis bemessenen Steueranteil ergibt, ist auf die nächsten 5 Rappen aufzurunden. Bruchteile von Rappen zählen nicht. 116 Fassung gemäss Ziff. II Abs. 1 des BG vom 19. Dez. 2008 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). Bereinigt gemäss Ziff. I der V vom 14. Nov. 2012 (Steuertarife für Tabakfabrikate und Ersatzprodukte), in Kraft seit 1. Dez. 2012 (AS 2012 6085). Siehe auch die UeB dieser Änd. hiervor. Die alten Steuertarife sind in AS 2009 5561 auffindbar. Steuern 26 641.31 Anhang III117 (Art. 11 Abs. 1) Steuertarif für Feinschnitttabak und Wasserpfeifentabak Die Steuer beträgt Fr. 38.00 je kg und 25 Prozent des Kleinhandelspreises, mindes- tens Fr. 80.00 je kg. Anmerkungen 1. Die dem Bundesrat nach Artikel 11 Absatz 2 Buchstabe c zustehende Be- fugnis, die Steuersätze um 80 Prozent zu erhöhen, bezieht sich auf die nach Kilogramm bemessene Steuer sowie auf die Mindeststeuer je Kilogramm, nicht aber auf den nach dem Kleinhandelspreis bemessenen Steueranteil. 2. Der Gesamtsteuersatz je Kilogramm, der sich aus dem nach Kilogramm und dem nach dem Kleinhandelspreis bemessenen Steueranteil ergibt, ist auf die nächsten 5 Rappen aufzurunden. Bruchteile von Rappen zählen nicht. 117 Fassung gemäss Ziff. II Abs. 1 des BG vom 19. Dez. 2008 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). Bereinigt gemäss Ziff. I der V vom 14. Nov. 2012 (Steuertarife für Tabakfabrikate und Ersatzprodukte) (AS 2012 6085) und Ziff. II des BG vom 17. März 2017, in Kraft seit 1. Sept. 2017 (AS 2017 4041; BBl 2016 5153). Siehe auch die UeB Änd. 14.11.2012 hiervor. Die alten Steuertarife sind in AS 2009 5561 auffindbar. Tabaksteuer. BG 27 641.31 Anhang IV118 (Art. 11 Abs. 1) Steuertarif für anderen Rauchtabak als Feinschnitttabak und übrige Tabakfabrikate (Rollentabak, Zigarrenabschnitte und andere) sowie für Kau- und Schnupftabak Die Steuer beträgt: a. für anderen Rauchtabak als Feinschnitttabak und übrige Tabakfabrikate (Rollentabak, Zigarrenabschnitte und andere): 12 Prozent des Kleinhandelspreises; b. für Kau- und Schnupftabak: 6 Prozent des Kleinhandelspreises. 118 Bereinigt gemäss Ziff. I der V vom 14. Nov. 2012 (Steuertarife für Tabakfabrikate und Ersatzprodukte), in Kraft seit 1. Dez. 2012 (AS 2012 6085). Siehe auch die UeB dieser Änd. hiervor. Die alten Steuertarife sind in AS 2009 5561 auffindbar. Steuern 28 641.31 Anhang V119 119 Aufgehoben durch Ziff. II Abs. 2 des BG vom 19. Dez. 2008, mit Wirkung seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 5561; BBl 2008 533). 1. Abschnitt: Allgemeine Bestimmungen Art. 1 I. Fiskalische Belastung des Tabaks Art. 2 II. Behörden Art. 3 III. Anwendbares Recht 2. Abschnitt: Gegenstand der Steuer und Steuerpflicht Art. 4 I. Gegenstand der Steuer Art. 5 II. Steuerbefreiung Art. 6 III. Steuerpflichtige Art. 7 IV. Steuernachfolge Art. 8 V. Mithaftung für die Steuer 3. Abschnitt: Entstehung und Berechnung der Steuer Art. 9 I. Entstehung der Steuerschuld Art. 10 II. Bemessungsgrundlage Art. 11 III. Berechnung der Steuer (Steuertarife) Art. 12 4. Abschnitt: Steuererhebung und Steuerrückerstattung Art. 13 I. Grundlagen 1. Register der Hersteller, Importeure und Rohmaterialhändler Art. 14 2. Revers für Hersteller, Importeure und Rohmaterialhändler Art. 15 3. Kontrollmassnahmen Art. 16 4. Handelsvorschriften Art. 17 II. Veranlagung und Entrichtung der Steuer 1. Steuersatz für Zigarren und Zigaretten Art. 18 2. Steuerbetrag Art. 19 3. Fälligkeit Art. 20 IIbis. Zinsen Art. 21 III. Sicherheitsleistung und Steuerpfandrecht Art. 22 IV. Nachforderung; Rückerstattung von Amts wegen Art. 23 V. Verjährung Art. 24 VI. Rück- erstattung und Erlass 1. Rückerstattung Art. 25 2. Erlass 5. Abschnitt: Zugelassene Steuerlager Art. 26 I. Herstellung, Bearbeitung, Bewirtschaftung Art. 26a II. Bewilligung Art. 26b III. Aufsicht Art. 26c IV. Sicherheitsleistung Art. 26d V. Kontrollen Art. 26e VI. Beförderung 6. Abschnitt: Inlandtabak Art. 27 I. Festlegung der Produzentenpreise Art. 28 II. Übernahme durch die Hersteller von Tabakfabrikaten; Finanzierungsfonds Inlandtabak und Tabakpräventions-fonds Art. 29 III. Heranziehung der Kantone und von Organisationen 7. Abschnitt: Nachforderung von zu Unrecht zurückerstatteten oder erlassenen Beträgen Art. 30 8. Abschnitt: Rechtsmittel Art. 31 I. Einsprache Art. 32 II. Beschwerde Art. 33 9. Abschnitt: Strafbestimmungen Art. 34 I. Widerhandlungen 1. ... Art. 35 2. Hinterziehung Art. 36 3. Steuergefährdung Art. 37 4. Steuerhehlerei Art. 38 5. Versuch Art. 38a 5bis. Erschwerende Umstände Art. 39 6. Ordnungswidrigkeiten Art. 40 6bis. Widerhandlungen in Geschäfts- betrieben Art. 41 Art. 42 7. Zusammentreffen mehrerer strafbarer Handlungen Art. 43 II. Anwendbares Recht Art. 43a IIbis. Verfolgungsverjährung Art. 44 III. Massnahmen Art. 44bis IV. Bussenertrag 10. Abschnitt: Schlussbestimmungen Art. 45 I. Tarif der Tabakzölle Art. 46 II. Aufhebung bisherigen Rechts Art. 47 III. ... Art. 48 IV. Inkrafttreten und Vollzug Übergangsbestimmungen zur Änderung vom 14. November 2012 Anhang I Steuertarif für Zigaretten Anhang II Steuertarif für Zigarren und Zigarillos Anhang III Steuertarif für Feinschnitttabak und Wasserpfeifentabak Anhang IV Steuertarif für anderen Rauchtabak als Feinschnitttabak und übrige Tabakfabrikate (Rollentabak, Zigarrenabschnitte und andere) sowie für Kau- und Schnupftabak Anhang V | de |
b7e9c9bb-ae41-479f-8165-f03246c5e157 | Sachverhalt
ab Seite 167
BGE 132 V 166 S. 167
A.
Am 21. November 1996 schlossen der Verein Pro Life (im Folgenden: Pro Life oder der Verein) und die damalige Personalkrankenkasse Zürich (PKK; heute: Panorama) einen Zusammenarbeitsvertrag, laut welchem Pro Life seine Mitglieder an die PKK vermitteln sollte. In einem gemeinsamen Rundschreiben vom April 2003 an die betroffenen Mitglieder von Pro Life orientierten die Panorama und Pro Life über eine bevorstehende Anpassung der Prämien der obligatorischen Krankenpflegeversicherung per 1. Juli 2003 und das sich hieraus ergebende Kündigungsrecht. Mit Schreiben vom 22. Mai 2003 kündigte Pro Life den Zusammenarbeitsvertrag mit der Panorama mit sofortiger Wirkung. In einem weiteren Schreiben
BGE 132 V 166 S. 168
vom gleichen Tag teilte der Verein der Panorama mit, dass er gestützt auf die von seinen Mitgliedern ausgestellte Vollmacht alle obligatorischen Krankenpflegeversicherungen nach KVG und alle sonstigen Versicherungen nach KVG (Taggeldversicherungen usw.) wegen Prämienankündigung/-erhöhung per 30. Juni 2003 kündige. Ausserdem kündige er alle Zusatzversicherungen nach VVG auf den 31. Dezember 2003. Beigelegt war eine Liste der Vereinsmitglieder, welche Pro Life mit der Kündigung bevollmächtigt hatten. Pro Life informierte seine Mitglieder mit Brief vom 23. Mai 2003 über diesen Schritt, wobei der Verein festhielt, die "sansan Versicherungen AG" (nachfolgend: sansan) sei der neue Partner von Pro Life, der alle bei Panorama versicherten Mitglieder per 1. Juli 2003 übernehmen werde. Gestützt auf eine Stellungnahme des Bundesamtes für Sozialversicherung (BSV) teilte die Panorama den betroffenen Versicherten Mitte Juni 2003 mit, eine Pauschalkündigung der Krankenpflegeversicherung sei generell nicht rechtsgültig; nach geltendem Recht seien nur persönliche Kündigungen der Versicherten möglich. Es könnten aber nur jene Austritte per 30. Juni 2003 berücksichtigt werden, die bis 31. Mai 2003 bei ihr eingetroffen seien. Ansonsten bleibe der Versicherungsschutz bei der Panorama bestehen. In einem Schreiben an seine Mitglieder vom 11. Juni 2003 reagierte Pro Life auf das Rundschreiben der Panorama und hielt an der Gültigkeit der Kündigungen fest. Zusätzlich forderte er seine Mitglieder auf, die Kündigung mittels Versandes eines vorgedruckten Formulars an die Panorama persönlich zu bestätigen. Mit Schreiben vom 18. Juni 2003 teilte die sansan der Panorama mit, dass die auf der beigefügten, 376 Seiten umfassenden Liste aufgeführten Personen ab 1. Juli 2003 für die Krankenpflege nach KVG bei ihr versichert seien.
B.
Am 19. Juni 2003 liess die Panorama beim Verwaltungsgericht des Kantons Zug gegen die sansan Klage einreichen mit den Anträgen, es sei festzustellen, dass die kollektive Kündigung vom 22. Mai 2003 für 29'000 Versicherte durch den Verein Pro Life nichtig ist; ferner sei festzustellen, dass die Mitglieder des Vereins Pro Life, die zugleich Versicherte der Panorama sind, weiterhin bei dieser versichert bleiben und von sansan nicht per 1. Juli 2003 in deren obligatorische Krankenpflegeversicherung aufgenommen werden dürften, mit Ausnahme derjenigen, die individuell und fristgerecht von ihrem Kündigungsrecht Gebrauch gemacht haben.
BGE 132 V 166 S. 169
Des Weiteren ersuchte die Panorama um den Erlass vorsorglicher Massnahmen, welche der Vorsitzende der Sozialversicherungsrechtlichen Kammer des Verwaltungsgerichts des Kantons Zug am 20. Juni 2003 zunächst anordnete, mit Verfügung vom 4. Juli 2003 indessen wieder aufhob und nunmehr der Panorama vorläufig und vorsorglich untersagte, während Hängigkeit des Verfahrens den Mitgliedern des Vereins Pro Life, welche über Pro Life die Versicherung per 1. Juli 2003 gekündigt und nicht ausdrücklich von der Panorama die Wiederaufnahme in die obligatorische Krankenpflegeversicherung verlangt hätten, Mahnungen, neue Rechnungen oder neue Policen zu verschicken bzw. Inkassomassnahmen gegen sie einzuleiten; überdies wurde die Panorama verpflichtet, die im Anschluss an die erfolgte Kündigung eingeleiteten Inkassomassnahmen rückgängig zu machen. Das Verwaltungsgericht bezog den Verein Pro Life als Mitbeteiligten in das Verfahren ein. In der Duplik beantragte die sansan widerklageweise, die Panorama sei anzuweisen, die Überführung der Pro Life-Mitglieder in die obligatorische Krankenversicherung der sansan unter Berücksichtigung der gesamten damit verbundenen Modalitäten, namentlich der individuellen Prämienverbilligungen und der irrtümlich bezahlten Prämien, rückwirkend sicherzustellen. Mit Entscheid vom 31. März 2004 hiess das Verwaltungsgericht die Klage, soweit es darauf eintrat, insofern teilweise gut, als es feststellte,
dass vom Verein Pro Life vertretene Versicherte mit Wohnsitz in den Kantonen Aargau, Bern, Basel-Landschaft, Basel-Stadt, Graubünden, Luzern, St. Gallen, Solothurn, Schwyz oder Thurgau ab dem 1. Juli 2003 nicht mehr bei der Panorama, sondern bei der sansan versichert seien;
von Pro Life vertretene Versicherte mit Wohnsitz in anderen Kantonen erst ab dem 1. Januar 2004 nicht mehr bei der Panorama, sondern bei sansan obligatorisch krankenversichert seien;
die Kündigung der freiwilligen Taggeldversicherung nach KVG bei der Panorama für alle jene von Pro Life vertretenen Versicherten, die bis zum 30. Juni 2003 der Panorama Prämien für ein Jahr entrichtet hatten, per 30. Juni 2003 gültig ausgesprochen worden sei;
die Kündigung der freiwilligen Taggeldversicherung nach KVG bei der Panorama für alle diejenigen von Pro Life vertretenen Versicherten, die nicht bis zum 30. Juni 2003 der Panorama
BGE 132 V 166 S. 170
Prämien für ein Jahr entrichtet hatten, auf Ende jenes Monats Gültigkeit erlangt, in dem sie der Panorama Prämien für ein Jahr entrichtet haben.
Die Widerklage der sansan wies es ab, soweit darauf einzutreten sei, während es die Gerichtskosten den beiden Parteien je zur Hälfte auferlegte und die Parteikosten wettschlug.
C.
Gegen diesen Entscheid führen Pro Life, Panorama, sansan und das Bundesamt für Gesundheit (BAG) Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
C.a
Pro Life beantragt, in teilweiser Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei festzustellen, dass sämtliche vom Verein vertretenen Versicherten mit Wohnsitz in der Schweiz ab dem 1. Juli 2003 nicht mehr bei der Panorama, sondern bei der sansan versichert sind; ferner sei die Panorama zu verpflichten, die erstinstanzlichen Parteikosten von Pro Life zu übernehmen.
C.b
Die Panorama lässt die Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheides verlangen mit der Feststellung, dass die bei ihr versicherten Mitglieder von Pro Life auch über den 1. Juli 2003 hinaus bei ihr versichert und die kollektive Kündigung vom 22. Mai 2003 durch Pro Life sowie die kollektive Mitteilung der Aufnahmebestätigungen durch die sansan als neuer Versicherer vom 18. Juni 2003 ungültig seien. In formell-rechtlicher Hinsicht beantragt die Panorama die Sistierung des Verfahrens bis nach Abschluss der Vergleichsverhandlungen der Parteien; für den Fall, dass keine Einigung zustande komme, sei ihr eine angemessene Frist zu eingehender Begründung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde anzusetzen.
C.c
Die sansan lässt beantragen, der vorinstanzliche Entscheid sei insoweit aufzuheben, als festzustellen sei, dass alle von Pro Life vertretenen Versicherten mit Wohnsitz in der Schweiz ab 1. Juli 2003 nicht mehr bei der Panorama obligatorisch krankenversichert sind und die Kündigung der freiwilligen Taggeldversicherung nach KVG bei der Panorama für alle von Pro Life vertretenen Versicherten mit Wohnsitz in der Schweiz gültig per 30. Juni 2003 erfolgte. Ferner seien die Kosten- und Entschädigungsfolgen für das kantonale Verfahren neu zu regeln.
C.d
Das BAG schliesslich stellt das Rechtsbegehren, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben und es sei eine neue
BGE 132 V 166 S. 171
materielle Beurteilung im Sinne seiner Ausführungen vorzunehmen. Es legt verschiedene Unterlagen ins Recht.
Mit Eingabe vom 22. November 2004 beantragt die sansan, die Beilagen des BAG zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde seien teilweise aus den Prozessakten zu entfernen; eventuell sei die Akteneinsicht in die im Einzelnen aufgeführten Beschwerdebeilagen sämtlichen Verfahrensbeteiligten zu verweigern.
C.e Auf die Wiedergabe der Anträge der jeweiligen Gegenparteien und der als Mitinteressierte Beigeladenen kann verzichtet werden, da sich die Standpunkte aller am Verfahren beteiligten Parteien aus den in den Verwaltungsgerichtsbeschwerden gestellten Anträgen ergeben. Soweit die Stellungnahmen hievon abweichen, wird in den Erwägungen darauf Bezug genommen.
Erwägungen
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
(Verfahrensvereinigung; vgl.
BGE 128 V 126
Erw. 1 mit Hinweisen; vgl. auch
BGE 128 V 194
Erw. 1).
2.
2.1
Die strittige Verfügung hat nicht die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen zum Gegenstand. Das Eidgenössische Versicherungsgericht prüft daher nur, ob das vorinstanzliche Gericht Bundesrecht verletzte, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt wurde (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie
Art. 105 Abs. 2 OG
).
Im Rahmen von
Art. 105 Abs. 2 OG
ist die Möglichkeit, im Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht neue tatsächliche Behauptungen aufzustellen oder neue Beweismittel geltend zu machen, weitgehend eingeschränkt. Nach der Rechtsprechung sind nur jene neuen Beweismittel zulässig, welche die Vorinstanz von Amtes wegen hätte erheben müssen und deren Nichterheben eine Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften darstellt (
BGE 121 II 99
Erw. 1c,
BGE 120 V 485
Erw. 1b, je mit Hinweisen).
2.2
Das BAG hat mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde verschiedene Aktenstücke eingereicht, welche zu einem grossen Teil die geschäftlichen Beziehungen zwischen Pro Life und der sansan betreffen. Die neu aufgelegten Urkunden sind für die Beurteilung
BGE 132 V 166 S. 172
der hier streitigen Rechtsfragen unerheblich, weshalb die Vorinstanz nicht gehalten war, diese in Nachachtung des Untersuchungsgrundsatzes von Amtes wegen beizuziehen. Die Beilagen des BAG sind daher ausser Acht zu lassen, soweit sie die Zusammenarbeit und die geschäftlichen Beziehungen zwischen Pro Life und sansan sowie Helsana betreffen und nicht bereits im vorinstanzlichen Klageverfahren ins Recht gelegt wurden.
3.
Gemäss
Art. 103 lit. a OG
ist zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde berechtigt, wer durch die angefochtene Verfügung berührt ist und ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung oder Änderung hat.
Pro Life wurde mit Verfügung des Vorsitzenden der Sozialversicherungsrechtlichen Kammer des kantonalen Verwaltungsgerichts vom 20. Juni 2003 ersucht, zum Erlass vorsorglicher Massnahmen bis 30. Juni 2003 Stellung zu nehmen und bis 10. Juli 2003 eine Klageantwort einzureichen. In der Folge nahm der Verein am kantonalen Prozess teil. Für den Einbezug von Pro Life ins Verfahren bestanden zwingende sachliche Gründe, löste doch der Verein mit der Kündigung der Krankenversicherung seiner Mitglieder den Rechtsstreit aus und ist es unabdingbar, dass sich die Rechtskraft des Urteils auch auf Pro Life bezieht, was mit dem Institut der Beiladung erreicht wird (
BGE 130 V 502
Erw. 1.2 mit Hinweisen). Wer am vorinstanzlichen Verfahren teilgenommen hat und mit seinen Anträgen ganz oder teilweise unterlegen ist, ist im Sinne von
Art. 103 lit. a OG
berührt und legitimiert, Verwaltungsgerichtsbeschwerde zu erheben (
BGE 127 V 109
Erw. 2a). Pro Life ist als Beigeladener im kantonalen Verfahren somit beschwerdelegitimiert.
4.
Bei Streitigkeiten der Versicherer unter sich ist nach
Art. 87 KVG
das Versicherungsgericht desjenigen Kantons zuständig, in dem der beklagte Versicherer seinen Sitz hat. Da den Krankenversicherern keine Befugnis zum Erlass von Verfügungen gegenüber einem anderen Krankenversicherer zusteht, haben sie sich bei Streitigkeiten untereinander direkt an das nach
Art. 87 KVG
örtlich zuständige kantonale Versicherungsgericht zu wenden (
BGE 130 V 222
Erw. 5.3). Dabei ist zu beachten, dass gemäss
Art. 1 Abs. 2 KVG
Streitigkeiten der Versicherer unter sich vom Anwendungsbereich des ATSG ausgenommen sind. Die Vorinstanz als örtlich zuständiges Versicherungsgericht hat demnach zu Recht das Klageverfahren nach
Art. 87 KVG
für anwendbar erklärt.
BGE 132 V 166 S. 173
5.
In verfahrensrechtlicher Hinsicht liess die Panorama beantragen, das verwaltungsgerichtliche Beschwerdeverfahren sei bis nach Abschluss der Vergleichsverhandlungen der Parteien zu sistieren. Falls keine Einigung zustande komme, sei ihr eine angemessene Frist zur eingehenden Begründung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde anzusetzen.
5.1
Da das BAG, das als Prozesspartei in einen aussergerichtlichen Vergleich einbezogen werden müsste, eigenen Angaben zufolge eine gütliche Einigung ablehnt, und keine anderen Gründe für eine Sistierung des Verfahrens vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht namhaft gemacht werden, ist diesem Verfahrensantrag nicht stattzugeben.
5.2
Laut
Art. 108 Abs. 3 OG
ist dem Beschwerdeführer eine kurze Nachfrist zur Behebung des Mangels anzusetzen, wenn die Beilagen fehlen oder die Begehren des Beschwerdeführers oder die Begründung der Beschwerde die nötige Klarheit vermissen lassen und sich die Beschwerde nicht als offensichtlich unzulässig herausstellt.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde der Panorama enthält klare Anträge und ist zwar bloss summarisch, aber doch hinreichend begründet. Es fehlt somit an einer tatbeständlichen Unklarheit im Sinne des
Art. 108 Abs. 3 OG
(in SVR 2004 IV Nr. 25 S. 76 veröffentlichte Erw. 3.2 des in
BGE 130 V 61
auszugsweise publizierten Urteils M. vom 27. Oktober 2003, I 138/02). Die Ansetzung einer Nachfrist zur Verbesserung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde fällt damit ausser Betracht, weshalb der entsprechende Antrag abzuweisen ist.
6.
Streitig und zu prüfen ist in materieller Hinsicht die Rechtsgültigkeit der Kündigung der Krankenversicherungsverhältnisse (obligatorische Krankenpflege und Taggeld), die Pro Life in Vertretung seiner Vereinsmitglieder mit Schreiben vom 22. Mai 2003 an die Panorama per 30. Juni 2003 vorgenommen hat. Nicht Gegenstand des verwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahrens bildet demgegenüber das Verhältnis zwischen Pro Life und der sansan; namentlich sind die Geschäftsbeziehungen zwischen dem Verein und der sansan (z.B. allfällige Provisionszahlungen durch sansan an Pro Life) nicht im vorliegenden Verfahren, sondern allenfalls vom BAG als Aufsichtsbehörde zu prüfen. Gleiches gilt für den insbesondere vom Bundesamt erhobenen Einwand der unzulässigen
BGE 132 V 166 S. 174
Doppelvertretung durch Pro Life. Denn alle diese Punkte stehen in keinem direkten Zusammenhang mit der Anfechtungs- und Streitgegenstand bildenden Kündigung der Krankenversicherungsverhältnisse. Ebenso verhält es sich schliesslich in Bezug auf die von der Panorama in Frage gestellte Gültigkeit der kollektiven Aufnahmebestätigung durch die sansan vom 18. Juni 2003. Der Panorama fehlt ein schutzwürdiges Interesse (
Art. 103 lit. a OG
;
BGE 130 V 563
Erw. 3.3) an einer derartigen Feststellung, welche unmittelbar einzig die sansan und die neu bei ihr versicherten Mitglieder des Vereins Pro Life betrifft, wogegen die Panorama einzig von den von ihr als ungültig erachteten Kündigungen direkt betroffen ist.
7.
Nach der sinngemäss anwendbaren Rechtsprechung zu
Art. 5 Abs. 1 lit. b und 25 VwVG
ist der Erlass einer Feststellungsverfügung zulässig, wenn ein schutzwürdiges, mithin rechtliches oder tatsächliches und aktuelles Interesse an der sofortigen Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses nachgewiesen ist, dem keine erheblichen öffentlichen oder privaten Interessen entgegenstehen, und wenn dieses schutzwürdige Interesse nicht durch eine rechtsgestaltende Verfügung gewahrt werden kann (
BGE 128 V 48
Erw. 3a,
BGE 125 V 24
Erw. 1b; RKUV 2005 Nr. KV 312 S. 5 Erw. 5, Urteil vom 17. August 2004, K 66/02).
Im vorliegenden Fall ist das schutzwürdige Interesse der Panorama an der gerichtlichen Feststellung, dass die rund 29'000 Versicherten, welche Mitglieder des Vereins Pro Life sind, weiterhin bei ihr für Krankenpflege (und Taggeld) versichert sind, entgegen der Auffassung des BAG ohne weiteres zu bejahen, zumal mittels rechtsgestaltender Verfügungen das gleiche Ziel nicht hätte erreicht werden können: Die Panorama war nicht befugt, gegenüber der sansan eine Verfügung zu erlassen (Erw. 4 hievor), und der Erlass von über 29'000 an die Versicherten gerichteten Verwaltungsakten müsste unter verwaltungs- und prozessökonomischen Gesichtspunkten als unzumutbar bezeichnet werden.
8.
Zu prüfen ist nachfolgend die von Pro Life mit Schreiben vom 22. Mai 2003 im Namen seiner Mitglieder ausgesprochene Kündigung der obligatorischen Krankenpflegeversicherungen nach KVG bei der Panorama.
8.1
Gemäss
Art. 7 KVG
kann die versicherte Person unter Einhaltung einer dreimonatigen Kündigungsfrist den Versicherer auf das Ende eines Kalendersemesters wechseln (Abs. 1). Bei der
BGE 132 V 166 S. 175
Mitteilung der neuen Prämie kann die versicherte Person den Versicherer unter Einhaltung einer einmonatigen Kündigungsfrist auf das Ende des Monats wechseln, welcher der Gültigkeit der neuen Prämie vorangeht. Der Versicherer muss die neuen, vom BAG genehmigten Prämien jeder versicherten Person mindestens zwei Monate im Voraus mitteilen und dabei auf das Recht, den Versicherer zu wechseln, hinweisen (Abs. 2). Das Versicherungsverhältnis endet beim bisherigen Versicherer erst, wenn ihm der neue Versicherer mitgeteilt hat, dass die betreffende Person bei ihm ohne Unterbrechung des Versicherungsschutzes versichert ist (Abs. 5 Satz 1).
8.2
Die Panorama teilte den betroffenen Versicherten Mitte April 2003 mit, dass sie die Prämien für die obligatorische Krankenpflegeversicherung auf den 1. Juli 2003 erhöhen werde. Es betraf dies die Versicherten in den Kantonen Aargau, Bern, Basel-Landschaft, Basel-Stadt, Graubünden, Luzern, St. Gallen, Solothurn, Schwyz und Thurgau. In der Folge kündigte Pro Life mit Schreiben vom 22. Mai 2003 die Versicherungen nach KVG seiner Mitglieder und berief sich auf entsprechende Vollmachten, welche Teil der Beitrittserklärungen zum Verein bilden, die von den Neumitgliedern unterzeichnet einzureichen sind. Die Vollmachten lauten wie folgt: "Ich bevollmächtige hiermit die Pro Life [andere Version: den Zentralvorstand Pro Life], mich/uns gegenüber den jeweiligen Risikoträgern (Versicherungspartnern) in den verschiedenen Gremien zu vertreten. Gleichzeitig ermächtige ich die Pro Life [andere Version: den Zentralvorstand], den Krankenversicherungsvertrag in meinem/unserem Namen zu kündigen und einen neuen, zu nicht schlechteren Bedingungen, mit anderen Risikoträgern abzuschliessen. Auf ausdrücklichen Wunsch hin kann ich aber - gemäss den statutarischen Vorschriften - beim bestehenden Risikoträger verbleiben, wobei dies als Austrittserklärung gegenüber Pro Life gilt."
8.3
Das kantonale Gericht bejahte die Gültigkeit der Kündigung, indem es die Stellvertretung durch Pro Life als zulässig erachtete und die Ansicht der Panorama, bei der Wahl des Krankenversicherers handle es sich um ein höchstpersönliches, vertretungsfeindliches Recht, ebenso verwarf wie den Einwand, die in der Beitrittserklärung zum Verein enthaltenen Vollmachten würden gegen das Verbot der übermässigen Bindung nach
Art. 27 ZGB
verstossen.
BGE 132 V 166 S. 176
8.4
Das BAG wendet im Wesentlichen ein, in Bezug auf den hier in Frage stehenden Wechsel des Krankenversicherers könne keine Vollmacht an eine Drittperson erteilt werden. Das versicherte Risiko Krankheit betreffe die körperliche und geistige Gesundheit und damit einen besonders schützenswerten und höchstpersönlichen Bereich, in welchem eine Vertretung ausgeschlossen sei. Eine Vertretung sei auch unter Berücksichtigung der engen vertraglichen Bindungen zwischen Pro Life und der sansan ausgeschlossen, die sich auch in finanzieller Hinsicht konkretisiert hätten. Der Verein trete als Agent der Panorama bzw. der sansan auf, indem er Versicherungen vermittle, mit Provisionen entschädigt werde und Aufgaben der Versicherung übernehmen könne. Er trete als Agent der Versicherungen und als Vertreter der Versicherten auf und nehme eine rechtswidrige Doppelfunktion ein. Schliesslich reiche die dem Verein erteilte Vollmacht nicht aus, um einen Wechsel des Versicherers vorzunehmen.
Mit ähnlicher Begründung hält auch die Panorama die Kündigung der Krankenversicherungen durch Pro Life für ungültig. Sie macht u.a. geltend, die Kündigung der Krankenversicherung von 29'000 Versicherten mit einem einzigen Schreiben sei rechtsmissbräuchlich. Die Pro Life ausgestellten Vollmachten seien persönlichkeitswidrig, weil auf unbestimmte Zeit erteilt.
8.5
8.5.1
Wie die Vorinstanz zutreffend festgehalten hat, ist das Stellvertretungsrecht gemäss
Art. 32 ff. OR
im Verwaltungsrecht und namentlich auch im Verwaltungsverfahren ergänzend und analog anwendbar. Vertretung ist zulässig, soweit sie nicht durch das Gesetz oder die Natur der Sache ausgeschlossen ist (ROGER ZÄCH, Kommentar zum Schweizerischen Privatrecht [BERNER KOMMENTAR], Bd. VI/1, Obligationenrecht, Allgemeine Bestimmungen, Stellvertretung, Kommentar zu
Art. 32-40 OR
, Bern 1990, Vorbemerkungen zu
Art. 32-40 OR
, N 95). In
Art. 7 Abs. 2 KVG
wird die Stellvertretung nicht ausgeschlossen, und es ist nicht ersichtlich, weshalb es sich beim Kündigungsrecht nach der Natur der Sache um ein Recht handeln sollte, das nur durch den Versicherten selbst ausgeübt werden kann. Entgegen der Auffassung von BAG und Panorama ist die Kündigung der Krankenversicherung, verbunden mit der Wahl eines anderen Versicherers, kein vertretungsfeindliches, höchstpersönliches Recht. Solche Rechte, die dem Schutz der Persönlichkeit oder zur Geltendmachung von Rechten ideeller Natur
BGE 132 V 166 S. 177
dienen, sind unverzichtbar, unveräusserlich, unvererbbar und unpfändbar. Um diese Rechte zu schützen, sind gewisse Geschäfte von der (Stell-)Vertretung ausgeschlossen, weil sie z.B. einen Einfluss auf den persönlichen Status haben oder die Gefahr von Interessenkollision mit sich bringen (BERNER KOMMENTAR, a.a.O., Vorbemerkungen zu
Art. 32-40 OR
, N 76). Die Zulässigkeit der Stellvertretung ist vor allem im Familien- und Erbrecht eingeschränkt (BERNER KOMMENTAR, a.a.O., Vorbemerkungen zu
Art. 32-40 OR
, N 80).
Zwar ist hier von der Kündigung eine Versicherung betroffen, welche die Risiken Krankheit (und Unfall) abdeckt; dieser Umstand macht die Kündigung der Krankenversicherung indessen nicht zu einem höchstpersönlichen Recht, das keiner Vertretung zugänglich wäre. So hat der Versicherte mit der Auflösung der bisherigen und dem Abschluss einer neuen obligatorischen Krankenpflegeversicherung dem neuen Krankenversicherer keine Daten höchstpersönlicher Natur bekannt zu geben, und es findet bei der Aufnahme in die neue Versicherung insbesondere keine Gesundheitsprüfung statt, welche gegebenenfalls eine Offenlegung heikler persönlichkeitsrelevanter Daten mit sich bringen würde. Was sodann die grosse Zahl von über 29'000 Versicherten betrifft, die sich beim Kassenwechsel von Pro Life haben vertreten lassen, ist mit der Vorinstanz festzustellen, dass sich dadurch an der Rechtsgültigkeit der in Frage stehenden Kündigungen nichts ändert. Denn bei der Stellvertretung können auf beiden Seiten mehrere Personen beteiligt sein. Der Vollmachtgeber kann aus einer Mehrheit von Personen zusammengesetzt sein (BERNER KOMMENTAR, a.a.O., N 61 zu
Art. 33 OR
). Ist aber die Vertretung mehrerer Personen möglich, ist in der Tat nicht einzusehen, weshalb die Vertretung mehrerer tausend Versicherter ausgeschlossen sein sollte.
8.5.2
Die Vorbringen des BAG zur angeblich nicht gesetzeskonformen Geschäftstätigkeit des Vereins Pro Life (im Wesentlichen Verstoss gegen das Verbot der Doppelvertretung, Provisionszahlungen von sansan an Pro Life im Zusammenhang mit dem Wechsel der Vereinsmitglieder von Panorama zu sansan, Übernahme von Aufgaben durch den Verein, die von Gesetzes wegen dem Krankenversicherer vorbehalten sind, Verletzung des Verbots von Kollektivversicherungen sowie Nichtgewährung der gesetzlichen Leistungen bei Schwangerschaftsabbruch an Mitglieder von Pro Life) beruhen - wie bereits festgehalten (Erw. 2.2 hievor) - auf neuen
BGE 132 V 166 S. 178
Beweismitteln, die im vorliegenden verwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren unerheblich sind. Die vom BAG behaupteten Praktiken von Pro Life werfen zwar Fragen zu deren Gesetzeskonformität im Rahmen des KVG-Systems auf; diese sind jedoch nur aufsichtsrechtlich relevant, stehen in keinem Zusammenhang mit dem Streitgegenstand und sind daher hier nicht zu beantworten.
Nicht gefolgt werden kann schliesslich der Behauptung des BAG, die von den Mitgliedern von Pro Life unterzeichnete Vollmacht beziehe sich nicht auf die obligatorische Krankenpflegeversicherung, sondern lediglich auf Zusatzversicherungen. Diese Interpretation findet im Wortlaut der Vollmacht keine Stütze. Dass darin - in untechnischem Sinn - von Krankenversicherungsvertrag die Rede ist, obwohl der Beitritt zu einem Krankenversicherer nicht mittels eines Vertrages, sondern durch Verwaltungsakt erfolgt, mit welchem der Versicherer auf Anmeldung hin die Aufnahme vollzieht (GEBHARD EUGSTER, Krankenversicherungsrecht, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Rz 8), ist nicht entscheidend. Wenn die Vollmachtgeber Pro Life für befugt erklären, einen neuen "Krankenversicherungsvertrag", zu nicht schlechteren Bedingungen, mit anderen Risikoträgern abzuschliessen, kann dies nur so verstanden werden, dass die Prämien der neuen Versicherung nicht höher sein sollen als bisher, nachdem die Leistungen in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung für alle Versicherten gleich sind.
9.
Steht die Gültigkeit der Kündigungen dem Grundsatz nach fest, ist als Nächstes zu prüfen, ob die Vorinstanz zu Recht festgestellt hat, dass nur die von Pro Life vertretenen Versicherten mit Wohnsitz in den Kantonen Aargau, Bern, Basel-Landschaft, Basel-Stadt, Graubünden, Luzern, St. Gallen, Solothurn, Schwyz und Thurgau ab 1. Juli 2003 nicht mehr bei der Panorama, sondern bei der sansan versichert sind, der Wechsel aller anderen Versicherten hingegen erst auf den 1. Januar 2004 erfolgt ist.
9.1
Während die Vorinstanz gestützt auf
Art. 7 Abs. 2 KVG
davon ausgegangen ist, dass nur Versicherte mit Wohnsitz in den erwähnten Kantonen, die tatsächlich von einer Prämienerhöhung betroffen waren, auf den 1. Juli 2003 den Versicherer hätten wechseln können, macht die sansan geltend, alle von Pro Life vertretenen Mitglieder seien ab 1. Juli 2003 nicht mehr bei der Panorama versichert, welche Auffassung auch vom BAG unterstützt wird.
BGE 132 V 166 S. 179
9.2
Art. 7 Abs. 2 KVG
bestimmt, dass bei Mitteilung einer neuen Prämie die versicherte Person den Versicherer unter Einhaltung einer einmonatigen Kündigungsfrist auf das Ende des Monats wechseln kann, welcher der Gültigkeit der neuen Prämie vorangeht. Wie der Botschaft des Bundesrates vom 21. September 1998 betreffend den Bundesbeschluss über die Bundesbeiträge in der Krankenversicherung und die Teilrevision des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung zu entnehmen ist, sah der Wortlaut von
Art. 7 Abs. 2 KVG
in der ursprünglichen Fassung vor, dass der Versicherte bei einer Prämienerhöhung den Versicherer unter Einhaltung einer Kündigungsfrist von einem Monat wechseln konnte. Da diese Bestimmung bei der Durchführung Schwierigkeiten bereitete, schlug der Bundesrat eine Änderung vor: Um den Wechsel des Versicherers zu vereinfachen wurde die Anwendung von
Art. 7 Abs. 2 KVG
auf alle Fälle ab der Mitteilung der neuen Prämie ausgedehnt, gleichgültig ob diese niedriger, gleich hoch oder höher als die vorherige Prämie ist (BBl 1999 820 f.). Dementsprechend ist in der seit 1. Oktober 2000 gültigen Fassung des
Art. 7 Abs. 2 KVG
nur noch von der Mitteilung der neuen Prämie die Rede.
Im Einklang mit dem für die Auslegung in erster Linie massgebenden Wortlaut der Bestimmung (
BGE 130 II 71
Erw. 4.2,
BGE 130 V 232
Erw. 2.2,
BGE 130 V 295
Erw. 5.3.1, 428 Erw. 3.2, 475 Erw. 6.5.1, 484 Erw. 5.2) ergibt sich somit auch aus den Materialien, dass ein Versicherungswechsel unter Einhaltung einer einmonatigen Frist im Falle der Mitteilung einer neuen Prämie erfolgen kann; dabei spielt es keine Rolle, ob die neue Prämie höher, tiefer oder gleich hoch wie die bisherige ist.
9.3
Panorama/Pro Life teilten den Vereinsmitgliedern im April 2003 unter Beilage der neuen Krankenversicherungspolicen mit, dass die Prämien auf den 1. Juli 2003 angepasst würden, das BSV diese Anpassung genehmigt habe und die Versicherten das Recht hätten, die Versicherung unter Einhaltung einer einmonatigen Frist auf den 30. Juni 2003 zu kündigen. Damit waren die Voraussetzungen für einen Wechsel des Krankenversicherers für alle Mitglieder von Pro Life, welche bei der Panorama für die obligatorische Krankenpflege versichert waren, erfüllt. Die Beschränkung gemäss vorinstanzlichem Entscheid auf Pro Life-Mitglieder mit Wohnsitz in Kantonen, in welchen Panorama die Prämien erhöht hatte, erweist sich damit als bundesrechtswidrig. Ob im Umstand, dass das Verwaltungsgericht zur Beschränkung der Gültigkeit der Kündigung auf Ende Juni 2003 Stellung bezogen hat, ohne die Parteien hiezu vorgängig anzuhören, eine Verletzung des
BGE 132 V 166 S. 180
rechtlichen Gehörs zu erblicken ist, wie die sansan geltend macht, kann angesichts der materiellen Begründetheit des von dieser vertretenen Standpunkts offen bleiben.
10.
10.1
Mit Bezug auf die freiwillige Taggeldversicherung hat das kantonale Gericht die Regelungen des OR und des VVG sinngemäss herangezogen mit der Begründung, das Reglement der Panorama enthalte keine Bestimmung zur Kündigung der Taggeldversicherung. Gestützt auf
Art. 89 VVG
hat die Vorinstanz festgestellt, dass die Kündigung der Taggeldversicherungen auf den 30. Juni 2003 rechtzeitig erfolgt sei, soweit die Versicherten schon während mindestens eines Jahres die Prämien entrichtet hätten. Für die übrigen von Pro Life vertretenen Versicherten erlange die Kündigung auf Ende jenes Monats Gültigkeit, in dem diese Bedingung erfüllt sei.
10.2
Mangels gesetzlicher Regelung der Kündigung der Taggeldversicherung im KVG ist diesbezüglich das Reglement der Panorama über die freiwillige Taggeldversicherung nach KVG (Ausgabe 1998) massgebend. Dieses regelt zwar die Kündigung nicht ausdrücklich; Art. 19 hält jedoch fest, dass für alle in diesem Reglement nicht besonders geregelten Fragen sinngemäss die bundesgesetzlichen Bestimmungen sowie das Reglement der Panorama zur Krankenpflegeversicherung nach KVG gelten. Daraus folgt, dass die bei der Panorama abgeschlossenen freiwilligen Taggeldversicherungen nach den gleichen Regeln gekündigt werden können wie die obligatorischen Krankenpflegeversicherungen nach KVG. Nachdem feststeht, dass Pro Life berechtigt war, als bevollmächtigter Vertreter die Krankenpflegeversicherungen für seine bei Panorama versicherten Mitglieder zu kündigen, steht ausser Frage, dass die vom Verein gestützt auf die nämlichen Vollmachten vorgenommene Auflösung der freiwilligen Taggeldversicherungen auf Ende Juni 2003 ebenfalls rechtsgültig erfolgt ist. Für eine analoge Anwendung des VVG bleibt angesichts der reglementarischen Ordnung der Panorama kein Raum, ohne dass geprüft werden müsste, ob ein Rückgriff auf zivilrechtliche Normen im Zusammenhang mit der Kündigung einer freiwilligen Taggeldversicherung nach KVG sachgerecht wäre.
11.
(Kosten und Parteientschädigung) | de |
e0f02a53-d9d3-4d2b-8321-628c7d2cd936 | Sachverhalt
ab Seite 240
BGE 136 V 239 S. 240
A.
Die 1967 geborene A. arbeitete von Januar 1995 bis Ende Dezember 2007 bei der Firma P. GmbH, wobei sie vom 1. August 2006 bis 31. Dezember 2007 unbezahlten Urlaub bezogen hatte. Sie ist Mutter dreier Kinder. Nach der Geburt des dritten Kindes am 14. Januar 2008 meldete sie sich am 23. Januar 2008 für eine Mutterschaftsentschädigung an. Gestützt auf eine Auskunft des Staatssekretariates für Wirtschaft (SECO) vom 21. April 2008 lehnte die Ausgleichskasse des Kantons Zürich den Anspruch auf Mutterschaftsentschädigung mit Verfügung vom 5. Mai 2008 mangels ausreichender Beitragsdauer für den Bezug von Taggeldern der Arbeitslosenversicherung ab, woran sie auf Einsprache von A. hin gestützt auf neuerliche Abklärungen beim SECO mit Entscheid vom 25. August 2008 festhielt.
B.
Die von A. hiegegen eingereichte Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 17. Dezember 2009 ab.
C.
A. führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei ihr Anspruch auf Mutterschaftsentschädigung anzuerkennen. Ferner ersucht sie um die Bewilligung der unentgeltlichen Prozessführung.
Während die Ausgleichskasse auf eine Vernehmlassung verzichtet, schliesst das Bundesamt für Sozialversicherungen auf Abweisung der Beschwerde.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Das EOG (SR 834.1) regelt unter Ziff. IIIa., eingefügt durch Ziff. I des Bundesgesetzes vom 3. Oktober 2003 (AS 2005 1429, 1432), in Kraft seit 1. Juli 2005, die Mutterschaftsentschädigung. Anspruchsberechtigt ist nach
Art. 16b Abs. 1 EOG
eine Frau, die:
a) während der neun Monate unmittelbar vor der Niederkunft im Sinne des AHVG obligatorisch versichert war;
b) in dieser Zeit mindestens fünf Monate lang eine Erwerbstätigkeit ausgeübt hat; und
c) im Zeitpunkt der Niederkunft:
1. Arbeitnehmerin im Sinne von
Art. 10 ATSG
ist;
2. Selbstständigerwerbende im Sinne von
Art. 12 ATSG
ist; oder
3. im Betrieb des Ehemannes mitarbeitet und einen Barlohn bezieht.
BGE 136 V 239 S. 241
Nach Abs. 3 regelt der Bundesrat:
(...) die Anspruchsvoraussetzungen für Frauen, die wegen Arbeitsunfähigkeit oder Arbeitslosigkeit:
a) die Voraussetzungen von Absatz 1 Buchstabe a nicht erfüllen;
b) im Zeitpunkt der Niederkunft nicht Arbeitnehmerinnen oder Selbstständigerwerbende sind.
2.
Die in
Art. 16b Abs. 1 lit. a-c EOG
genannten Voraussetzungen müssen kumulativ erfüllt sein. Die Mutterschaftsentschädigung ist grundsätzlich auf Frauen beschränkt, die im Zeitpunkt der Niederkunft erwerbstätig waren, d.h. die bei der Niederkunft noch in einem gültigen privat- oder öffentlich-rechtlichen Arbeitsverhältnis oder Lehrverhältnis stehen oder als Selbstständigerwerbende im Zeitpunkt der Niederkunft von der AHV als solche anerkannt sind (
Art. 16b Abs. 1 lit. c EOG
; BBl 2002 7543 f.;
BGE 133 V 73
E. 4.1 S. 77 f.; Urteil 9C_171/2008 vom 28. Mai 2008 E. 4.2). Ausnahmen sollen nur dann gemacht werden, wenn eine Frau wegen Arbeitslosigkeit oder Arbeitsunfähigkeit im Zeitpunkt der Niederkunft nicht als erwerbstätig gilt (
Art. 16b Abs. 3 EOG
; BBl 2002 7544). Nach
Art. 29 EOV
(SR 834.11) hat eine Mutter, die im Zeitpunkt der Geburt arbeitslos ist oder infolge Arbeitslosigkeit die erforderliche Mindesterwerbsdauer nach
Art. 16b Abs.1 lit. b EOG
nicht erfüllt, Anspruch auf Entschädigung, wenn sie bis zur Geburt ein Taggeld der Arbeitslosenversicherung bezog (lit. a) oder am Tag der Geburt die für den Bezug eines Taggeldes nach dem AVIG erforderliche Beitragsdauer erfüllt (lit. b).
2.1
Gemäss Ingress von
Art. 16b Abs. 3 EOG
und
Art. 29 EOV
ist Voraussetzung für den ausnahmsweisen Leistungsanspruch trotz Fehlens einer Erwebstätigkeit, dass die Mutter im Zeitpunkt der Geburt arbeitslos ist. Nach
Art. 10 Abs. 1 und 2 AVIG
(SR 837.0) gilt als ganz bzw. teilweise arbeitslos, wer in keinem oder nur einem teilzeitlichen Arbeitsverhältnis steht und eine Vollzeit- bzw. eine weitere Teilzeitbeschäftigung sucht. Gemäss
Art. 10 Abs. 3 AVIG
gilt der Arbeitsuchende erst dann als arbeitslos, wenn er sich beim Arbeitsamt zur Arbeitsvermittlung gemeldet hat. Die Vorinstanz hat gestützt auf diese Bestimmung erwogen, die Beschwerdeführerin sei gar nicht arbeitslos, weil sie, was unbestritten ist, im Zeitpunkt der Geburt ihres Kindes nicht beim Arbeitsamt zur Arbeitsvermittlung gemeldet gewesen sei. Nach der Entstehungsgeschichte von
Art. 16b Abs. 3 EOG
soll allerdings nicht verlangt werden, dass eine Frau
BGE 136 V 239 S. 242
im Zeitpunkt der Niederkunft auch tatsächlich Arbeitslosenentschädigung bezieht. Ein Anspruch soll auch dann bestehen, wenn ohne Bezug von Arbeitslosenentschädigung im Zeitpunkt der Geburt eine Rahmenfrist für den Leistungsbezug eröffnet ist, unabhängig davon, ob unmittelbar vor der Niederkunft Arbeitslosenentschädigung bezogen wird, oder wenn unmittelbar vor oder unmittelbar nach der Niederkunft eine nach dem AVIG genügende Beitragszeit nachgewiesen ist oder ein Grund für die Befreiung von der Erfüllung der Beitragszeit vorliegt. Im Sinne einer konsequenten Leistungsabgrenzung und Koordination zwischen AVIG und EOG soll damit vermieden werden, dass sich Versicherte zur Wahrung ihrer Ansprüche auf Mutterschaftsentschädigung zum Bezug von Arbeitslosenentschädigung anmelden müssen. Eine solche Anmeldung könnte angesichts des starren Rahmenfristensystems in der Arbeitslosenversicherung zu einer massiven Beeinträchtigung ihrer Ansprüche im Falle einer späteren Arbeitslosigkeit führen. Zudem verlangt das Gebot der Gleichbehandlung eine solche Regelung, weil ansonsten die Kategorie der beitragsfrei versicherten Personen ungleich behandelt würde, je nachdem, ob im Zeitpunkt der Niederkunft ein Antrag auf Arbeitslosenentschädigung gestellt worden ist oder nicht (BBl 2003 1121 f.; vgl. auch AB 2003 S 541). Nach diesen Ausführungen ist also der Begriff "arbeitslos" gemäss
Art. 16b Abs. 3 EOG
und
Art. 29 EOV
nicht im Sinne von
Art. 10 Abs. 3 AVIG
zu verstehen. Eine Abweichung ist jedoch nur vom formellen Erfordernis der Anmeldung beim Arbeitsamt zulässig. Materiell muss Arbeitslosigkeit vorliegen.
2.2
Vorausgesetzt ist des Weiteren für die Mutter, die nicht bis zur Geburt ein Taggeld der Arbeitslosenversicherung bezogen hat (
Art. 29 lit. a EOV
), dass sie am Tag der Geburt die für den Bezug eines Taggeldes nach dem AVIG erforderliche Beitragsdauer erfüllt (
Art. 29 lit. b EOV
). Umstritten ist, ob dieses Erfordernis im Falle der Beschwerdeführerin erfüllt ist. Fest steht, dass sie innerhalb der ordentlichen Rahmenfrist für die Beitragszeit von zwei Jahren vor der Geburt (
Art. 9 Abs. 3 AVIG
) nicht während mindestens 12 Monaten eine beitragspflichtige Tätigkeit ausgeübt hat (
Art. 13 Abs. 1 AVIG
), da sie ab August 2006 keinen Lohn mehr bezog. Anrechnungen nach
Art. 13 Abs. 2 lit. d AVIG
werden nicht geltend gemacht. Es stellt sich jedoch die Frage, ob die massgebliche Rahmenfrist nach
Art. 9b Abs. 2 AVIG
verlängert werden kann. Dieser Bestimmung zufolge beträgt die Rahmenfrist für die Beitragszeit von Versicherten, die sich der Erziehung ihrer Kinder gewidmet haben, vier Jahre,
BGE 136 V 239 S. 243
sofern zu Beginn der einem Kind unter zehn Jahren gewidmeten Erziehung keine Rahmenfrist für den Leistungsbezug lief.
2.3
Nach dem Wortlaut von
Art. 29 lit. b EOV
ist nicht ohne weiteres klar, worauf sich die Beitragsdauer bezieht, d.h. in welchem Zeitraum sie erfüllt worden sein muss. Indessen ist die Verordnung gesetzeskonform auszulegen, mit Blick auf die in den neuen Bestimmungen des EOG zum Ausdruck kommende Grundsatzentscheidung des Gesetzgebers, wonach nur erwerbstätige Frauen Anspruch auf Mutterschaftsentschädigung haben sollen. Diesen gleichgestellt sind Frauen, die
wegen
Arbeitslosigkeit (oder Arbeitsunfähigkeit) im Zeitpunkt der Niederkunft nicht erwerbstätig waren. Nur für diese Fälle ermächtigt
Art. 16b Abs. 3 EOG
den Bundesrat, von den in Abs. 1 genannten Voraussetzungen abzuweichen. Würde der Bundesrat die Anspruchsberechtigung auf weitere Fälle nicht erwerbstätiger Frauen ausdehnen, wäre die Verordnung gesetzwidrig (vgl. auch BBl 2003 1121).
2.4
Wer wie die Beschwerdeführerin seit längerer Zeit keine bezahlte Erwerbstätigkeit mehr ausübt, ohne sich bei der Arbeitslosenversicherung anzumelden, ist nicht
wegen
Arbeitslosigkeit nicht erwerbstätig, sondern aus anderen, beispielsweise familiären Gründen. Eine gesetzeskonforme Auslegung der Verordnung führt daher dazu, dass unter Beitragsdauer im Sinne von
Art. 29 lit. b EOV
nur diejenige, die in der ordentlichen zweijährigen Rahmenfrist zurückgelegt wurde, verstanden werden kann.
3.
In sachverhaltlicher Hinsicht kritisiert die Beschwerdeführerin, die Annahme der Vorinstanz, sie sei im Zeitpunkt der Niederkunft nicht auf Stellensuche gewesen, sei willkürlich. Bei der dargelegten rechtlichen Ausgangslage ist diese Rüge irrelevant. | de |
4435de1f-751d-48d2-a860-d97c962b184c | Sachverhalt
ab Seite 406
BGE 101 Ia 405 S. 406
Der britische Staatsangehörige Francis Frank Mifsud wurde am 2. Juli 1974 auf Ersuchen der Interpol London in Olten verhaftet. Gestützt auf Art. II Ziff. 1 und 16 des Auslieferungsvertrages zwischen der Schweiz und Grossbritannien stellte die britische Botschaft am 30. Juli 1974 das Gesuch um Auslieferung Mifsuds wegen Mordes und Anstiftung zu Meineid. Im einzelnen wird Mifsud folgendes vorgeworfen:
a) Mifsud soll zusammen mit Phillip Ellul, Victor Spampinato und Bernard Silver Thomas Smithson ermordet haben. Nach Zeugenaussagen hat Mifsud im Sommer 1956 in einem Café des Londoner Stadtteils Soho Phillip Ellul und Victor Spampinato einen Revolver und Munition übergeben und die beiden beauftragt, den Anführer einer rivalisierenden Verbrecherbande umzubringen; es handelte sich dabei um den Croupier Thomas Smithson. Vier oder fünf Tage später, am 25. Juni 1956, wurde Smithson von Ellul und Spampinato in seiner Wohnung erschossen.
Ellul wurde wegen dieser Tat zum Tode verurteilt, die Strafe jedoch nicht vollzogen, sondern in eine Freiheitsstrafe umgewandelt. Spampinato wurde freigesprochen.
b) Zwischen dem 1. Januar und dem 6. November 1967 soll Mifsud Harold Dennison Stocker zu Meineid im Strafprozess gegen Anthony Cauci und Tony Galea angestiftet haben, indem er Stocker veranlasste, eine Galea belastende wahrheitswidrige Aussage zu machen.
Francis Frank Mifsud hat gegen seine Auslieferung Einsprache erhoben, wobei er sowohl formell- wie auch materiellrechtliche Mängel des Auslieferungsbegehrens geltend machte. Zu den formellen Rügen hat die Eidgenössische Polizeiabteilung am 29. November 1974 in abweisendem Sinne Stellung genommen und die Akten zum Entscheid über die Einsprache dem Bundesgericht überwiesen. Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
a) Die Einwendungen Mifsuds gegen seine Auslieferung sind, da Grossbritannien dem europäischen Auslieferungsabkommen vom 13.12.1957 noch nicht beigetreten ist, anhand des am 26. November 1880 zwischen der Schweiz und
BGE 101 Ia 405 S. 407
Grossbritannien abgeschlossenen Auslieferungsvertrages zu überprüfen. Die Vorschriften des Bundesgesetzes betreffend die Auslieferung gegenüber dem Ausland vom 22. Januar 1892 (AuslG) finden nur dort Anwendung, wo der Staatsvertrag die Bedingungen der Auslieferung nicht abschliessend regelt und soweit sie den Vertragsbestimmungen nicht zuwiderlaufen (
BGE 97 I 375
; SCHULTZ, Das schweizerische Auslieferungsrecht, S. 135).
b) Stützt sich eine Einsprache auf das Auslieferungsgesetz, einen Staatsvertrag oder auf eine Gegenrechtserklärung, und Werden demzufolge die Akten nach
Art. 23 AuslG
dem Bundesgericht überwiesen, so kann dieses nach neuester Rechtsprechung nicht nur die Rügen materiellrechtlicher Natur, sondern auch die ausdrücklich gerügten formellen Mängel überprüfen (
BGE 101 Ia 62
, E. 1a, mit Hinweisen auf weitere Urteile; vgl. SCHULTZ, a.a.O. S. 192 f., 227). Es besteht kein Grund, die Kognitionsbefugnis des Bundesgerichtes anders zu bestimmen, wenn ihm der Entscheid über die Auslieferung in Anwendung von Art. V Abs. 7 des britisch-schweizerischen Auslieferungsvertrages übertragen wird, nämlich im Falle, dass "gegen die Anwendbarkeit dieses Vertrages eine Einsprache vorliegt". Eine Beschränkung der Überprüfungsbefugnis des Bundesgerichtes scheint im vorliegenden Fall schon deshalb nicht angebracht, weil der Vertrag mit Grossbritannien - als Einzelfall (vgl. SCHULTZ, a.a.O. S. 140) - selbst eingehende Vorschriften über das Verfahren in der Schweiz enthält; soweit sich der Verfolgte auf diese Verfahrensvorschriften beruft, kann das Bundesgericht seine Einwendungen nicht unberücksichtigt lassen.
2.
Frank Mifsud ruft zunächst Art. V Abs. 1 und Art. VII Abs. 1 des Staatsvertrages an und macht geltend, dass das Auslieferungsbegehren nicht, wie erforderlich, durch die Unterschrift eines britischen Staatsministers, sondern nur durch diejenige eines Assistant Under Secretary beglaubigt sei.
Nach Art. VII des Vertrages haben die Behörden des ersuchten Staates den ihnen zugestellten Unterlagen "volle Beweiskraft beizulegen, vorausgesetzt, ... dass sie durch Beidrückung des Amtssiegels eines britischen Staatsministers oder des schweizerischen Bundeskanzlers beglaubigt sind". Dem Wortlaut dieser Bestimmung gemäss genügt zur Beglaubigung der Auslieferungsurkunde die Beidrückung des Siegels eines
BGE 101 Ia 405 S. 408
Staatsministers ohne jede Unterschrift. Wie die Eidgenössische Polizeiabteilung in ihrem Sachbericht vom 29. November 1974 dazu bemerkt, ist es allerdings üblich, dass neben dem Amtssiegel die zu dessen Anbringung bevollmächtigte Person unterzeichnet. Diese Kompetenz werde jedoch regelmässig delegiert, weshalb die Unterschrift eines Assistant Under Secretary auf einem britischen Auslieferungsbegehren den formellen Anforderungen durchaus genüge. Auch die schweizerischen Ersuchen würden im übrigen nicht durch den Bundeskanzler persönlich, sondern durch einen Vertreter beglaubigt. Dem Begehren Mifsuds um Rückweisung des Auslieferungsgesuchs wegen mangelhafter Beglaubigung kann deshalb weder auf Grund des Wortlautes des Vertrages noch auf Grund der geübten Praxis stattgegeben werden.
3.
Ein weiterer Einwand Mifsuds gegen seine Auslieferung bezieht sich darauf, dass keine hinreichenden Verdachtsgründe für seine Täterschaft vorlägen. Mifsud anerkennt zwar, dass es die zuständigen schweizerischen Behörden stets abgelehnt haben, zu beurteilen, ob der Verfolgte hinreichend verdächtig sei, die ihm vorgeworfenen strafbaren Handlungen begangen zu haben. Diese Praxis bedürfe jedoch in bezug auf die von Grossbritannien gestellten Auslieferungsbegehren einer Überprüfung, da der britische Auslieferungsrichter auf schweizerische Auslieferungsgesuche hin die Frage des Schuldverdachtes vorfrageweise abkläre; aus Gründen des Gegenrechts sei die gleiche Vorprüfung auch schweizerischerseits vorzunehmen.
Auf die Frage, ob ein hinreichender Verdacht für die Täterschaft des Verfolgten spreche, hat das Bundesgericht jedoch nicht einzutreten. Das in der Schweiz bzw. in Grossbritannien auf ein Auslieferungsgesuch hin einzuschlagende Verfahren wird in Art. V und VI des britisch-schweizerischen Auslieferungsvertrages eingehend umschrieben. Im Gegensatz zum englischen Richter, der, dem angelsächsischen Rechtssystem entsprechend, zu überprüfen hat, ob die ihm vorgelegten Beweismittel dazu ausreichen würden, den Verfolgten nach englischem Recht anzuklagen (Art. VI lit. A, Abs. 3), haben die schweizerischen Behörden, ohne sich mit der Frage des Tatverdachtes zu befassen, auf den Sachverhalt abzustellen, der im Auslieferungsbegehren und den dazugehörenden Unterlagen geschildert wird (Art. V). Diese unterschiedlichen Verfahrensnormen
BGE 101 Ia 405 S. 409
wurden geschaffen, um der "gegenwärtigen Gesetzgebung und der innern Organisation" der beiden Staaten gerecht zu werden (vgl. Botschaft vom 26. November 1880, BBl 1880 IV 510; SCHULTZ, a.a.O., S. 154, 171), Von gleichlautenden Verfahrensvorschriften für die Vertragsstaaten im Sinne des Prinzips der Gegenseitigkeit wurde somit im Hinblick auf die verschiedenen Rechtssysteme bei der Vertragssetzung bewusst abgesehen. Eine Überprüfung der britischen Auslieferungsbegehren daraufhin, ob gegenüber dem Verfolgten ein hinreichender Tatverdacht bestehe, verstiesse deshalb gegen den klaren Wortlaut des britisch-schweizerischen Auslieferungsvertrages.
Es darf hier im übrigen erwähnt werden, dass auch Grossbritannien auf die Einhaltung des Grundsatzes der Gegenseitigkeit verzichtet hat, indem es in Art. I Abs. 1 des Staatsvertrages die Auslieferung aller Personen, auch seiner eigenen Staatsangehörigen gewährt, während die Schweiz eine Auslieferung ihrer Staatsbürger ausschliesst (vgl. BBl 1880 IV 512).
4.
Art. V Abs. 1 des britisch-schweizerischen Auslieferungsvertrages schreibt vor, dass im Falle eines Auslieferungsbegehrens gegen eine angeklagte Person den schweizerischen Behörden ein Verhaftsbefehl vorgelegt werden muss, der das Verbrechen oder Vergehen, dessen sie angeklagt ist, "klar bezeichnet". Frank Mifsud wird im Verhaftsbefehl vorgeworfen, zusammen mit Phillip Ellul, Victor Spampinato und Bernard Silver Thomas Smithson ermordet (murdered) zu haben. Dagegen wendet Mifsud ein, dass er auf Grund der dem Haftbefehl beigelegten Zeugenaussagen nicht als Täter, sondern lediglich als Gehilfe zur Verantwortung gezogen werden könne. Der eingereichte Verhaftsbefehl genüge daher dem Erfordernis der "klaren Bezeichnung" nicht, weshalb auf den ersten Anklagepunkt nicht einzutreten sei.
Mit diesem Vorwurf des formellen Ungenügens des Verhaftsbefehls wird die materielle Frage der Qualifizierung der verfolgten Tat angeschnitten. Der britisch-schweizerische Auslieferungsvertrag verlangt, wie erwähnt, lediglich die "klare Bezeichnung" des verfolgten Verbrechens oder Vergehens, während sämtliche übrigen von der Schweiz abgeschlossenen Auslieferungsverträge fordern, dass die auf die verfolgte Tat anwendbare Gesetzesstelle im Wortlaut wiedergegeben wird (Zusammenstellung bei SCHULTZ, a.a.O. S. 167 N. 37). Selbst
BGE 101 Ia 405 S. 410
bei der Anwendung dieser Verträge, welche die Subsumption der verfolgten Handlung unter die Strafbestimmungen des ersuchenden Staates ausdrücklich voraussetzen, wird jedoch der Prüfung der rechtlichen Qualifikation des Tatbestandes wenig Bedeutung zugemessen, sofern der ersuchte Staat zur Ansicht gelangt, die verfolgte Tat sei nach dem Recht des ersuchenden Staates überhaupt als Auslieferungsdelikt strafbar (SCHULTZ, a.a.O. S. 166 f., 358). Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass die Auslieferungspflicht für eine bestimmte Tat als Lebensgeschehnis besteht, deren strafrechtliche Qualifikation möglicherweise in dem Zeitpunkt des Untersuchungsverfahrens, in welchem das Auslieferungsbegehren gestellt wird, noch nicht eindeutig vorgenommen werden kann (vgl.
BGE 101 Ia 63
f.,
BGE 57 I 294
). Auch der Grundsatz der Spezialität der Auslieferung schliesst nicht aus, dass der ersuchende Staat nach erfolgter Auslieferung den dem Auslieferungsbegehren zugrundegelegten Tatbestand rechtlich anders würdigt, vorausgesetzt, dass die verfolgte Tat immer noch als Auslieferungsdelikt bestraft wird und dass die Auslieferung für die anders qualifizierte Tat nicht ausgeschlossen gewesen wäre (SCHULTZ, a.a.O. S. 358; HESS, Der Grundsatz der Spezialität im Auslieferungsrecht, seine Ausgestaltung im Auslieferungsgesetz und in den Auslieferungsverträgen der Schweiz insbesondere, Diss. Zürich 1944, S. 50 ff.; PFENNINGER, Eine Frage des Auslieferungsrechtes, SJZ 10/1913, 14 S. 64).
Das Bundesgericht hat sich in seiner Eigenschaft als schweizerischer Auslieferungsrichter mit der Qualifikation der verfolgten Tat nach dem Recht des ersuchenden Staates stets nur im Zusammenhang mit der Frage befasst, ob es sich bei der im Auslieferungsbegehren umschriebenen Handlung um ein Auslieferungsdelikt handle und ob die Voraussetzung der beidseitigen Strafbarkeit erfüllt sei (
BGE 101 Ia 63
f.,
BGE 92 I 115
ff., E. 2, 387 ff., E. 2,
BGE 88 I 41
, 95 E. 1,
BGE 87 I 200
f.,
BGE 77 I 55
E. 3). Die richtige Qualifikation an sich stellt kein formelles Gültigkeitserfordernis dar und ist daher auch nicht zu überprüfen, wenn feststeht, dass der in den Auslieferungsurkunden umschriebene Sachverhalt den Tatbestand eines Auslieferungsdeliktes erfüllt. Ein solches formelles Gültigkeitserfordernis wird denn auch keineswegs, wie der Beschwerdeführer behauptet, durch die Vorschrift von Art. V Abs. 1 des britisch-schweizerischen Auslieferungsvertrages aufgestellt.
BGE 101 Ia 405 S. 411
Die Bestimmung, wonach das verfolgte Verbrechen oder Vergehen klar zu bezeichnen ist, verpflichtet den ersuchenden Staat lediglich, den Behörden des ersuchten Staates den fraglichen Tatbestand so genau zu bezeichnen, dass diese in der Lage sind abzuklären, ob die dem Angeschuldigten zur Last gelegte Tat ein Auslieferungsdelikt darstelle. Diesen Anforderungen wird im vorliegenden Fall durch die britischen Auslieferungsurkunden Genüge getan. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Frank Mifsud vorgeworfene Tötung Smithsons den Tatbestand eines Auslieferungsdeliktes erfüllt. Selbst wenn nämlich Mifsud nicht dem Haftbefehl entsprechend als Mittäter, sondern - wie er es behauptet - nur als Gehilfe zur Verantwortung gezogen werden könnte, stünde der Auslieferung nichts entgegen. Nach Art. II Abs. 2 des Staatsvertrages findet die Auslieferung auch statt wegen Teilnahme an einem Auslieferungsdelikt, vorausgesetzt, dass diese Teilnahme nach der Gesetzgebung beider Kontrahenten strafbar ist. Die Bedingung der beidseitigen Strafbarkeit ist hier erfüllt, da sowohl nach Art. 24 ff. des Schweizerischen Strafgesetzbuches wie auch nach englischem Recht die Teilnahme bestraft wird, und zwar sieht Art. 1 des Accessories and Abettors Act von 1861 vor, dass für die vor der Tat begangene Beihilfe der Gehilfe oder Anstifter "in jeder Hinsicht eingeklagt, verfolgt, verurteilt und bestraft werden kann, als ob er ein Haupttäter wäre".
Der Einwand der unklaren Bezeichnung der verfolgten Tat im Haftbefehl ist daher unbegründet.
5.
Mifsud bestreitet an sich nicht, dass die ihm vorgeworfene Anstiftung zu Meineid gemäss Art. II Ziff. 16 des Staatsvertrages ein Auslieferungsdelikt darstelle. Er wendet jedoch ein, Art. 13 Perjury Act von 1911 bestimme, dass niemand für Meineid oder Anstiftung zu Meineid zur Verantwortung gezogen werden könne, solange die entsprechende Anklage nur auf die Aussage eines einzelnen Zeugen gestützt werden könne. Damit werde eine zusätzliche Strafbarkeitsbedingung für Meineid-Vergehen umschrieben, deren Vorliegen vom Auslieferungsrichter zu überprüfen sei. Da sich das Begehren um Auslieferung Mifsuds wegen Meineides nur auf die Zeugenaussage Stockers stützen lasse, fehle es an der genannten Strafbarkeitsvoraussetzung. - Überdies sei eine weitere Strafbarkeitsbedingung nicht erfüllt: Nach englischem Recht könne
BGE 101 Ia 405 S. 412
nur jener Zeuge einen Meineid begehen, der eine für das fragliche Verfahren wesentliche Aussage mache. Die Aussage Stockers sei jedoch im Verfahren gegen Galea nicht massgeblich gewesen, da Galea ein Geständnis abgelegt habe. Die Auslieferung Mifsuds wegen Anstiftung zu Meineid sei daher mangels Strafbarkeit der Tat nach englischem Recht nicht zu bewilligen.
a) Entgegen der Behauptung Mifsuds stellt die Bestimmung, ein des Meineids oder der Anstiftung zu Meineid Verdächtigter könne nicht nur auf Grund einer einzigen Zeugenaussage zur Verantwortung gezogen werden, keine Strafbarkeitsbedingung im Sinne des schweizerischen Strafrechts dar. Sie gehört vielmehr zu den Regeln über die Beweiswürdigung, die dem englischen Strafprozessrecht eigen sind. Die durch Art. 13 Perjury Act vorgeschriebene Notwendigkeit der Bestätigung einer Zeugenaussage durch einen weiteren Beweis (corroboration) bildet denn auch keine Voraussetzung zur Einleitung des Prozessverfahrens. Die Frage, ob sich die Anklage tatsächlich nur auf eine einzige Zeugenaussage stützen könne, wird erst im Verlaufe des Verfahrens geklärt; gegebenfalls muss der Sachrichter den Angeklagten mangels bestätigenden Beweises freisprechen (K. M. NEWMANN, Das englisch-amerikanische Beweisrecht, Heidelberg 1950, S. 83 ff.; CLAUDE ALLEN, Grundsätze und Methoden der Beweiserhebung im englischen Strafprozess, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft Bd. 72/1960 S. 171 f.). Der Auslieferungsrichter hat sich jedenfalls hiezu nicht zu äussern.
b) Ebenfalls keine Strafbarkeitsbedingung stellt die Vorschrift dar, dass ein falsch aussagender Zeuge nur dann wegen Meineids verfolgt werden könne, wenn seine Aussage für das Verfahren wesentlich war. Die Wesentlichkeit der Zeugenaussage für den Prozessverlauf ist Tatbestandsmerkmal des Meineid-Delikts, über dessen Vorliegen der englische Strafrichter zu entscheiden hat.
6.
Dem Ersuchen der britischen Behörden wird schliesslich entgegengehalten, dass eine Auslieferung Mifsuds schon deshalb ausgeschlossen sei, weil beide ihm vorgeworfenen strafbaren Handlungen nach schweizerischem Recht verjährt seien.
Nach Art. XII des Vertrages mit Grossbritannien soll die Auslieferung nicht stattfinden, wenn seit der begangenen strafbaren Handlung oder der Einleitung der strafgerichtlichen
BGE 101 Ia 405 S. 413
Verfolgung nach den Gesetzen des ersuchten Staates Befreiung von der strafgerichtlichen Verfolgung eingetreten ist. Da das englische Recht keine allgemeine Verfolgungsverjährung kennt, braucht hier der Grundsatz der beidseitigen Strafbarkeit nicht berücksichtigt zu werden, und ist die Möglichkeit der Verjährung der in Frage stehenden Delikte nur nach dem schweizerischen Recht zu überprüfen (SCHULTZ, a.a.O. S. 322 mit Literaturhinweisen).
a) In bezug auf die Anstiftung zu Meineid wird geltend gemacht, sie würde nach schweizerischem Recht unter den privilegierten Tatbestand von
Art. 307 Abs. 3 StGB
fallen, da sich die falsche Aussage auf Tatsachen bezogen habe, die für die richterliche Entscheidung unerheblich gewesen seien. Da für diesen Tatbestand nur Gefängnisstrafe angedroht werde, sei die nach
Art. 70 StGB
geltende fünfjährige Verjährungsfrist bereits abgelaufen.
Auf eine unerhebliche Tatsache im Sinne von
Art. 307 Abs. 3 StGB
bezieht sich eine Zeugenaussage nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung nur dann, wenn sie von vornherein, ihrem Gegenstande nach, nicht geeignet ist, den Ausgang des Prozesses irgendwie zu beeinflussen, wenn sie also weder für eine rechtliche Schlussfolgerung noch für eine sich auf rechtlich erhebliche Tatsachen beziehende tatsächliche Schlussfolgerung in Frage kommt (
BGE 93 IV 26
, 75 IV 68). Derartige, für das Prozessverfahren unwesentliche falsche Zeugenaussagen werden aber vom Perjury Act gerade nicht erfasst (vgl. E. 5b), sondern bleiben nach englischem Recht straffrei. Der Vorwurf des Meineides nach englischem Strafrecht kann daher nie die Tatbestandsmerkmale von
Art. 307 Abs. 3 StGB
, sondern nur diejenigen von
Art. 307 Abs. 1 und 2 StGB
erfüllen. Die Verjährungsfrist beträgt deshalb in jedem Falle zehn Jahre (
Art. 70 StGB
) und ist für das Frank Mifsud vorgeworfene Meineids-Delikt nicht abgelaufen.
b) Das Tötungs-Delikt wird Mifsud im Verhaftsbefehl als "murder" vorgeworfen, doch umfasst dieses Auslieferungsdelikt nach englischem Recht nicht nur den Tatbestand des Mordes, wie er im Schweizerischen Strafgesetzbuch umschrieben ist, sondern weitere vorsätzliche Tötungshandlungen (vgl. SCHULTZ, a.a.O. S. 329; HONIG, Zur neueren Judikatur des englischen Straf- und Strafprozessrechts, ZStR 66/1951 S. 430). Das schweizerische Strafrecht setzt für vorsätzliche
BGE 101 Ia 405 S. 414
Tötungshandlungen unterschiedliche Verjährungsfristen fest; liegt der einfache Tatbestand der vorsätzlichen Tötung (
Art. 111 StGB
) vor, tritt die Verjährung nach zehn Jahren ein, liegt der qualifizierte Tatbestand des Mordes (
Art. 112 StGB
) vor, verjährt die Tat nach zwanzig Jahren (
Art. 70 StGB
). Die Frage, ob die Mifsud als "murder" vorgeworfene Tat bereits verjährt sei, kann daher nur geklärt werden, wenn festgestellt wird, welche der im Schweizerischen Strafgesetzbuch vorgesehenen Tatbestandsmerkmale sie erfüllt.
Da sich bei den Auslieferungsurkunden keine Darstellung des Sachverhaltes befand, die eine eindeutige Qualifizierung des Deliktes gestattet hätte, beschloss das Bundesgericht in seiner Sitzung vom 19. Februar 1975, die britischen Behörden in Anwendung von Art. V Abs. 6 des Staatsvertrages um entsprechende Ergänzung der Akten zu ersuchen. Das Begehren wurde der britischen Botschaft von der Eidgenössischen Polizeiabteilung am 20. Februar zunächst mündlich und mit einer vom 20. Februar datierten Note am 24. Februar 1975 schriftlich übermittelt. Die britischen Behörden reichten am 11. März 1975, d.h. innerhalb der ihnen von der Eidgenössischen Polizeiabteilung angesetzten Frist den verlangten Tatsachenbericht ein.
In seiner Stellungnahme zur nachträglich beigebrachten Auslieferungsurkunde machte Mifsud geltend, die Ergänzung der Akten sei nicht innert der in Art. V Abs. 6 des Staatsvertrages vorgeschriebenen Frist von 15 Tagen erfolgt. Da es sich hiebei um eine peremptorische und absolute, nicht nach schweizerischem Recht zu bestimmende Frist handle, sei Mifsud den Vertragsbestimmungen entsprechend sofort auf freien Fuss zu setzen.
aa) Die Folge der Nichteinhaltung der Frist zur Ergänzung des Auslieferungsbegehrens ist im Auslieferungsvertrag selbst geregelt: Können die erforderlichen Aktenstücke nicht vor Ablauf von 15 Tagen beigebracht werden, so wird der Verhaftete in Freiheit gesetzt (Art. V Abs. 6). Damit wird jedoch die Auslieferung des Verfolgten wegen der gleichen Tat auf erneutes Ersuchen hin nicht ausgeschlossen. Insofern kann, entgegen der Ansicht Mifsuds, diese Frist nicht als Verwirkungsfrist betrachtet werden.
bb) Es ist im weiteren nicht einzusehen, weshalb für die Berechnung der Frist nicht schweizerisches Recht anwendbar
BGE 101 Ia 405 S. 415
sein sollte. Da der Vertrag selbst keine Bestimmungen über den Fristenlauf enthält, hat der ersuchte Staat nach eigenem Recht zu entscheiden, ob die vertraglich festgelegte Frist eingehalten worden sei oder nicht. Die Eidgenössische Polizeiabteilung hat sich daher bei der Fristansetzung zu Recht an die Bestimmungen von
Art. 32 OG
und des Bundesgesetzes vom 21. Juni 1963 über den Fristenlauf an Samstagen gehalten.
Die Frage, ob die fünfzehntägige Frist bereits mit der mündlichen Mitteilung des Ergänzungsbegehrens oder erst mit dessen schriftlicher Eröffnung zu laufen begonnen hat, kann offen bleiben. Selbst wenn nämlich die den britischen Behörden angesetzte und von ihnen eingehaltene Frist von der Eidgenössischen Polizeiabteilung falsch berechnet worden wäre, müsste die Ergänzung als rechtzeitig erfolgt betrachtet werden, da ein gegenteiliger Entscheid gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstossen würde, der von den schweizerischen Behörden auch im zwischenstaatlichen Verkehr zu beachten ist. Aus dem Umstand, dass der ergänzende Tatsachenbericht erst, wie verlangt, am 11. März 1975 eingereicht wurde, darf daher nichts zu Ungunsten der britischen Behörden abgeleitet werden.
cc) Der zusätzliche Einwand Mifsuds, der nachträglich eingereichte Tatsachenbericht könnte von einem englischen Gericht nicht als beglaubigte Zusammenfassung des Sachverhaltes anerkannt werden und sei deshalb in dieser Form nicht zu berücksichtigen, ist unbehelflich. Der schweizerische Richter hat die Auslieferungsakten nicht in bezug auf ihre Vereinbarkeit mit dem englischen Recht zu überprüfen, sondern nur abzuklären, ob sie den Vorschriften des Auslieferungsvertrages genügen. Dass die ergänzende Sachverhaltsdarstellung in irgendeiner Weise gegen die Vertragsbestimmungen verstossen würde, wird mit Recht nicht behauptet.
c) Aus der Darstellung des Sachverhaltes und den dem Verhaftsbefehl beigelegten Zeugenaussagen ergibt sich, dass Thomas Smithson einer Auseinandersetzung zwischen rivalisierenden Verbrechergruppen zum Opfer fiel. Smithson soll offenbar bei Malteser Vereinigungen und Londoner Kaffeehausbesitzern Schmiergelder eingezogen haben. Dabei geriet er in den Tätigkeitsbereich von Mifsud, der zusammen mit Bernard Silver versuchte, eine Kontrollorganisation über Spielkasinos und Bordelle aufzubauen. Um den Rivalen aus
BGE 101 Ia 405 S. 416
aus dem Weg zu schaffen und zugleich die eigene Macht zu demonstrieren, liess Mifsud, wie aus den Auslieferungsakten hervorgeht, Smithson von Spampinato und Ellul erschiessen. Mifsud selbst soll den beiden eine Schusswaffe und Munition übergeben haben, mit der die Tat ausgeführt wurde.
Die Qualifikation des Mordes (
Art. 112 StGB
) gegenüber dem einfachen Tatbestand der vorsätzlichen Tötung (
Art. 111 StGB
) liegt in der besonders verwerflichen Gesinnung oder der besonderen Gefährlichkeit des Täters. Das Mifsud zur Last gelegte Verhalten offenbart eine besonders verwerfliche Gesinnung. Sein kaltblütiger Entschluss, einen Rivalen um den Machtanspruch über Londoner Vergnügungsetablissements aus dem Wege räumen zu lassen, und die Absicht, mit dieser Tat gleichzeitig seine Stellung innerhalb der Verbrechergruppen zu stärken, zeugen von einem besonders hohen Grad an Skrupellosigkeit und ungehemmter Machtgier. Die Tat ist daher als Mord zu qualifizieren, welcher, entsprechend der dafür angedrohten lebenslänglichen Zuchthausstrafe, erst nach Ablauf von 20 Jahren verjährt (
Art. 70 StGB
).
Francis Frank Mifsud ist deshalb sowohl wegen Anstiftung zu Meineid wie auch wegen Mordes an Grossbritannien auszuliefern. | de |
e8695cb3-a5ee-4953-b044-c98ae03d4012 | Sachverhalt
ab Seite 5
BGE 115 Ia 5 S. 5
Die Baugesellschaft P. erhielt vom Gemeinderat Paspels die Baubewilligung für zwei Einfamilienhäuser in der Wohnzone der Gemeinde Paspels. Als die beiden Gebäude schon im Rohbau
BGE 115 Ia 5 S. 6
fertiggestellt waren, reichte die Baugesellschaft P. das Gesuch für den zusätzlichen Einbau je einer Einzimmerwohnung ein. Der Gemeinderat von Paspels verweigerte die Bewilligung mit Entscheid vom 25. März 1987. Er führte unter anderem dazu aus, nach Art. 45 Abs. 2 des Baugesetzes der Gemeinde Paspels vom 4. Juli 1975 (BauG) dürften Wohnräume nur in freistehenden Untergeschossen erstellt werden; die beiden Einzimmerwohnungen seien jedoch unter dem gewachsenen Boden in einem Erdeinschnitt vorgesehen, weshalb sie nicht bewilligt werden könnten. Ein von der Baugesellschaft P. erhobener Rekurs wies das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden am 31. August 1988 ab. Die Baugesellschaft P. führt staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von
Art. 4 BV
. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut Erwägungen
aus folgenden Erwägungen:
2.
a) Die Beschwerdeführer rügen in erster Linie, das Verwaltungsgericht habe in willkürlicher Weise eine Beschränkung seiner Überprüfungsbefugnis vorgenommen und die Anwendung und Auslegung von Art. 45 Abs. 2 BauG lediglich unter Willkürgesichtspunkten bzw. unter dem Blickwinkel der Ermessensüberschreitung und des Ermessensmissbrauchs geprüft. Es liege somit eine formelle Rechtsverweigerung vor.
b) Eine Behörde begeht eine formelle Rechtsverweigerung, wenn sie sich mit einer blossen Willkürprüfung begnügt, obwohl ihr eine umfassende Kognition zukommt. Indessen ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass die Rechtsmittelbehörde, die nach der gesetzlichen Ordnung mit freier Prüfung zu entscheiden hat, ihre Kognition ohne Verletzung von
Art. 4 BV
einschränken kann, soweit die Natur der Streitsache einer unbeschränkten Nachprüfung der angefochtenen Verfügung entgegensteht (
BGE 106 Ia 2
und 71;
BGE 101 Ia 57
; vgl. auch
BGE 107 Ib 121
).
Im Zusammenhang mit der Auslegung von Art. 45 Abs. 2 BauG hält das Verwaltungsgericht zur Kognition fest, auf dem Gebiet des öffentlichen Baurechts stehe den bündnerischen Gemeinden ein weiter Spielraum freier Gestaltung und damit eine relativ erhebliche Entscheidungsfreiheit zu. Dies gelte auch für die Frage, ob sich Wohnraum im Erdeinschnitt befinde oder ob von einem freistehenden Untergeschoss gesprochen werden könne. Entsprechend dürfe es einen kommunalen Entscheid nur dann aufheben, wenn die Gemeindebehörde einen Missbrauch oder eine
BGE 115 Ia 5 S. 7
Überschreitung ihres Ermessensspielraumes begangen habe. In der Folge prüfte es die von der Gemeinde vorgenommene Anwendung des Art. 45 Abs. 2 BauG, insbesondere die Auslegung des Begriffes Erdeinschnitt, lediglich auf Willkür hin.
c) Die Beschwerdeführer machen geltend, eine solche Beschränkung der Überprüfungsbefugnis widerspreche Art. 33 des Bundesgesetzes über die Raumplanung vom 22. Juni 1979 (RPG). Nach dieser Bestimmung hat das kantonale Recht wenigstens ein Rechtsmittel gegen Verfügungen (und auch Nutzungspläne) vorzusehen, die sich auf das RPG und seine kantonalen und eidgenössischen Ausführungsbestimmungen stützen. Das kantonale Recht hat dabei sowohl die Legitimation mindestens im gleichen Umfang wie für die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ans Bundesgericht (Art. 33 Abs. 3 lit. a) als auch die volle Überprüfung durch wenigstens eine Beschwerdebehörde (Art. 33 Abs. 3 lit. b) zu gewährleisten. Das Bundesgericht hat im Zusammenhang mit der Legitimation eines Nachbarn, der eine baupolizeiliche Bewilligung anfechten wollte, die Anwendung von
Art. 33 Abs. 3 RPG
verneint. Es kam zum Schluss, kantonale Ausführungsbestimmungen im Sinne von
Art. 33 RPG
seien nur solche, die zur Hauptsache raumplanerische Züge tragen, indem sie der zweckmässigen Nutzung des Bodens und der geordneten Besiedlung des Landes dienten. Dies sei für kommunale und kantonale Bauvorschriften in der Regel nicht der Fall. Gehe es weder um die Baubewilligungspflicht gemäss
Art. 22 Abs. 1 RPG
noch um die Mindestvoraussetzungen für die Baubewilligung gemäss
Art. 22 Abs. 2 RPG
, seien kommunale und kantonale Bauvorschriften nicht Ausführungsrecht zur Grundsatzgesetzgebung des Bundes. In diesen Fällen habe das kantonale Recht nicht bereits von Bundesrechts wegen die Legitimation im gleichen Umfang wie für die Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht zu gewährleisten, d.h.
Art. 33 Abs. 3 lit. a RPG
sei in diesen Fällen nicht anwendbar (
BGE 112 Ia 121
E. 3). Da
Art. 33 RPG
Legitimation und Kognition gleich behandelt, ist die dargelegte Praxis des Bundesgerichtes zur Legitimation zwingend auch auf die Frage der Kognition anwendbar.
Bei Art. 45 Abs. 2 BauG geht es ausschliesslich um die Zulässigkeit von Wohn- und Arbeitsräumen im Erdeinschnitt bzw. in freistehenden Untergeschossen. Es steht weder die Baubewilligungspflicht als solche noch das Problem der Mindestvoraussetzungen für die Bewilligung in Frage. Demnach handelt es sich um kommunales Baurecht, das nicht zu den Ausführungsbestimmungen
BGE 115 Ia 5 S. 8
im Sinne von
Art. 33 RPG
gehört. Diese Bestimmung findet daher auf den vorliegenden Fall keine Anwendung.
d) Zu prüfen ist indessen, ob das Verwaltungsgericht die im kantonalen Recht vorgesehene Überprüfungsbefugnis beachtet hat. Gemäss Art. 53 lit. a des Gesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit im Kanton Graubünden (VGG) kann mit dem Rekurs jede Rechtsverletzung einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens gerügt werden. Hinsichtlich der Rechtskontrolle steht dem Gericht demnach freie Kognition zu. Wie oben dargelegt, hat das Verwaltungsgericht die Auslegung von Art. 45 Abs. 2 BauG jedoch nur unter dem Gesichtswinkel der Willkür geprüft. Darin liegt eine unzulässige Beschränkung der gemäss
Art. 53 lit. a VGG
vorgesehenen Kognition bei Rechtsfragen im Rekursverfahren. Zwar ist dem Verwaltungsgericht insofern zuzustimmen, als bei der Auslegung unbestimmter Gesetzesbegriffe, insbesondere wenn es sich - wie hier - um kommunales Recht handelt, unter Umständen eine zurückhaltende Überprüfung geboten sein kann, sofern der unteren Instanz ein gewisser Beurteilungsspielraum zusteht (vgl. dazu
BGE 108 Ib 203
E. 3b;
BGE 107 Ib 121
;
104 Ib 112
). Ob vorliegend ein solcher Beurteilungsspielraum gegeben ist, kann offengelassen werden. Selbst wenn das zutreffen sollte, hiesse dies nicht, dass das Verwaltungsgericht seine Kognition im dargelegten Sinne beschränken darf. Die von der Rechtsprechung anerkannte Zurückhaltung bedeutet nicht, dass nur noch unter dem beschränkten Gesichtswinkel der Willkür geprüft werden darf; selbst in einem solchen Fall bleibt grundsätzlich die Pflicht zur freien Überprüfung bestehen, wenn auch in einem etwas zurückhaltenderen Rahmen. Die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Kognitionsbeschränkung stellt daher eine formelle Rechtsverweigerung dar. | de |
5a38c335-1b7f-4848-84f1-1a39151617e6 | de |
|
eaa410bf-c8b7-4381-b06b-7241804a0b1d | Erwägungen
ab Seite 139
BGE 118 V 139 S. 139
Aus den Erwägungen:
1.
In
Art. 85 Abs. 2 AHVG
wird die Regelung des Rekursverfahrens im AHV-Bereich grundsätzlich - unter Vorbehalt gewisser vereinheitlichender Richtlinien - den Kantonen anheimgestellt (vgl. bundesrätliche Botschaft vom 24. Oktober 1958 zum Entwurf eines Bundesgesetzes betreffend die Änderung des AHVG, BBl 1958 II 1285). Lit. f der zitierten Bestimmung enthält die Vorschrift, dass der obsiegende Beschwerdeführer "Anspruch auf Ersatz der Kosten der Prozessführung und Vertretung nach gerichtlicher Festsetzung" hat.
2.
a) In der Praxis zu
Art. 85 Abs. 2 lit. f AHVG
ist dem obsiegenden Beschwerdeführer für das kantonale Verfahren in der Regel eine Parteientschädigung von Amtes wegen, d.h. ohne entsprechendes Begehren der obsiegenden Partei, zuzugestehen, wenn eine anwaltsmässige oder allenfalls eine andere, für das in Frage stehende Rechtsgebiet besonders qualifizierte Vertretung vorliegt
BGE 118 V 139 S. 140
und wenn nicht anzunehmen ist, dass sie kostenlos erfolgt (
BGE 108 V 271
Erw. 2; ZAK 1991 S. 420 Erw. 3). Das Eidg. Versicherungsgericht hat auch entschieden, dass ein Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung für den Fall des Unterliegens das Begehren um Übernahme der Vertretungskosten durch den Staat beinhaltet, für den Fall des Obsiegens aber zugleich - ohne dass es eines besonderen Antrages bedarf - den Antrag auf Ausrichtung einer Parteientschädigung zu Lasten der Gegenpartei (ZAK 1990 S. 139).
b) Nach der Praxis der zürcherischen AHV-Rekurskommission wird die Frage der Ausrichtung einer Parteientschädigung nur geprüft, wenn eine solche vom Beschwerdeführer verlangt wird (MEYER HEINZ, Verfahrensfragen bei AHV- und IV-Beschwerden, SZS 1981 S. 205). Das Eidg. Versicherungsgericht hat diese kantonale Praxis bisher als bundesrechtskonform erachtet mit der Begründung,
Art. 85 Abs. 2 lit. f AHVG
enthalte den Grundsatz des Entschädigungsanspruches als solchen. Die nähere Regelung, ob und unter welchen Voraussetzungen der Anspruch geltend gemacht werden müsse, sei den Kantonen überlassen (
BGE 110 V 137
Erw. 1 und 2).
In der Lehre ist diese Rechtsprechung auf Kritik gestossen. Bernet legt dar, ein kantonales Antragserfordernis beeinträchtige die Wirksamkeit des bundesrechtlichen Anspruchs auf Parteientschädigung (BERNET MARTIN, Die Parteientschädigung in der schweizerischen Verwaltungsrechtspflege, Diss. Zürich 1986, S. 166, N. 4).
3.
Im Verwaltungsgerichtsverfahren setzt das Bundesgericht die Parteientschädigung gemäss
Art. 159 OG
von Amtes wegen fest. Das Gericht führt aus, diese Regel entspreche einem allgemeinen Rechtsgrundsatz.
Art. 159 OG
verlange als Voraussetzung für die Zusprechung einer Parteientschädigung keinen besonderen Antrag durch die obsiegende Partei. Der Wortlaut weise eher darauf hin, dass der Anspruch auf Parteientschädigung die gesetzliche Folge des Obsiegens sei. Das Bundesgericht spricht daher eine Parteientschädigung zu, ohne dass eine Partei sie formell verlangt (
BGE 111 Ia 156
Erw. 4).
Wie
Art. 159 OG
räumt auch
Art. 85 Abs. 2 lit. f AHVG
der obsiegenden Partei einen bundesrechtlichen Entschädigungsanspruch ein, ohne dass es eines besonderen Antrages bedarf. Es rechtfertigt sich nicht, im Rahmen von
Art. 85 Abs. 2 lit. f AHVG
für das kantonale Beschwerdeverfahren von den vom Bundesgericht in Auslegung von
BGE 118 V 139 S. 141
Art. 159 OG
entwickelten Grundsätzen abzuweichen. An der bisherigen Rechtsprechung kann somit nicht mehr festgehalten werden. Eine kantonale Regelung, die bei Fehlen eines entsprechenden Antrages eine Parteientschädigung verweigert, stellt eine Bundesrechtsverletzung dar. | de |
925cae8f-38ae-4a1f-a24d-cd48193a607e | Sachverhalt
ab Seite 464
BGE 94 I 464 S. 464
A.-
X. führt in A. eine Werkstätte für Präzisionsmechanik und Maschinenbau, die er seit anfangs 1962 in einem ihm gehörenden Neubau untergebracht hat. Am 5. April 1960 kaufte X. in der Gemeinde B. drei Parzellen Land von zusammen 16'875 m2 zum Preise von Fr. 180'000.--. Dazu erwarb er am 1. Juni 1962 eine weitere angrenzende Parzelle von 3'203 m2 für Fr. 145'000.--. Bereits am 17. Juli 1962 verkaufte X. die vier Parzellen Land der Gemeinde B. für den Betrag von Fr. 1'124,368.--, wobei die Grundstückgewinn- und die Handänderungssteuer von der Käuferin übernommen wurden.
BGE 94 I 464 S. 465
B.-
Die Wehrsteuerverwaltung des Kantons Zürich betrachtete den Gewinn von Fr. 1'166,377.-- (inkl. die Steuerbeträge), den X. durch den Landverkauf an die Gemeinde B. erzielt hatte, als Kapitalgewinn im Sinne von Art. 21 Abs. 1 lit. d WStB und erfasste ihn bei der Wehrsteuerveranlagung 12. Periode (Berechnungsjahre 1961/62) als steuerpflichtiges Einkommen. Unter Berücksichtigung der übrigen Einkünfte und der zugelassenen Abzüge gelangte sie zu einem durchschnittlichen steuerbaren Einkommen von Fr. 818'300.--.
Die von X. gegen die Besteuerung des Kapitalgewinnes erhobene Einsprache wurde von der kantonalen Wehrsteuerverwaltung abgewiesen. Daraufhin reichte er bei der Wehrsteuer-Rekurskommission des Kantons Zürich eine Beschwerde ein und beantragte, das wehrsteuerpflichtige Einkommen sei auf Fr. 240'782.-- festzusetzen, weil die verkauften Grundstücke in B. nicht zu seinem Geschäfts-, sondern zu seinem Privatvermögen gehört hätten.
Die kantonale Wehrsteuer-Rekurskommission wies die Beschwerde mit Entscheid vom 13. September 1967 ebenfalls ab. Sie war zum Schluss gekommen, dass die Grundstücke, die X. in B. besessen hatte, Geschäftsvermögen gebildet hätten. Darauf deute schon die Tatsache hin, dass die Liegenschaften in die Geschäftsbuchhaltung aufgenommen worden seien, wodurch die Kreditwürdigkeit des Unternehmens erheblich gestiegen sei; denn durch die Aufnahme in die Bilanz sei der Grundbesitz der buchmässigen Kontrolle durch die kreditgewährenden Banken zugänglich gemacht worden. Der Vergleich der Bankkonten des Beschwerdeführers Ende 1960 und Ende 1962 ergebe überdies, dass während der Bauzeit der neuen Fabrik in A. eine beachtenswerte Erweiterung der Kreditbasis des Betriebes eingetreten sei, die ohne Zweifel durch den Landkauf in B. mitbedingt sei. Ferner sei der Kauf der Liegenschaften unbestrittenermassen aus Mitteln der Unternehmung und mit Bankgeldern finanziert worden.
C.-
X. führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der Entscheid der kantonalen Wehrsteuer-Rekurskommission sei aufzuheben und der Wehrsteuereinschätzung 12. Periode sei ein Einkommen von Fr. 235'100.-- zugrunde zu legen. Dieser Betrag ergebe sich, wenn der in B. erzielte Grundstückgewinn von Fr. 700'566.-- ohne die von der Käuferin
BGE 94 I 464 S. 466
übernommenen Steuerbeträge aus dem wehrsteuerpflichtigen Einkommen ausgeschieden werde.
D.-
Die Wehrsteuer-Rekurskommission und die Wehrsteuerverwaltung des Kantons Zürich, die sich auf eine Vernehmlassung der Einschätzungsabteilung 5 des kantonalen Steueramtes stützt, sowie die Eidg. Steuerverwaltung beantragen Abweisung der Beschwerde. Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Gemäss Art. 21 Abs. 1 lit. d WStB gehören zum wehrsteuerpflichtigen Einkommen Kapitalgewinne, die im Betrieb eines zur Führung kaufmännischer Bücher verpflichteten Unternehmens bei der Veräusserung oder Verwertung von Vermögensstücken erzielt werden. Ein Kapitalgewinn ist dem Betrieb zuzurechnen, wenn er in dessen Geschäftsvermögen entstanden ist. Die veräusserten oder verwerteten Gegenstände müssen zu diesem Vermögen gehört haben. Waren sie Privatvermögen, so ist der bei ihrer Veräusserung oder Verwertung erzielte Gewinn der Wehrsteuer für Einkommen nicht unterworfen (
BGE 93 I 364
Erw. 1).
Bereitet die Zuteilung eines Vermögensgegenstandes zum Geschäfts- oder Privatvermögen Schwierigkeiten, ist darüber nach der Gesamtheit der tatsächlichen Verhältnisse zu entscheiden (
BGE 93 I 358
Erw. 3 und 364 Erw. 1 mit Verweisungen). Das Bundesgericht hat in
BGE 70 I 261
erkannt, die Zuweisung eines Aktivums zum Geschäftsvermögen rechtfertige sich regelmässig dann, wenn es aus Mitteln des Geschäfts oder für geschäftliche Zwecke erworben worden ist, weiter auch dann, wenn es dem Geschäftsbetrieb tatsächlich dient, sei es unmittelbar durch seine Beschaffenheit oder als Pfand für Geschäftsschulden, sei es mittelbar durch seinen Wert, als notwendiges Betriebskapital oder als Reserve, sofern und soweit eine solche nach Art und Umfang des Geschäfts erforderlich oder doch üblich ist.
Diese Umschreibung ist insofern zu präzisieren, als das entscheidende Kriterium für die Zuteilung eines Vermögenswertes zum Geschäftsvermögen darin erblickt werden muss, dass dieser für Geschäftszwecke erworben worden ist und dem Geschäfte tatsächlich dient. Ist der Wert dem Betrieb nur mittelbar dienstbar, so ist bei der Unterscheidung zwischen Geschäfts- und Privatvermögen jedoch Vorsicht am Platz. Z.B.
BGE 94 I 464 S. 467
bedingt der Umstand, dass ein Aktivum eine Reserve für den Betrieb darstellt, noch nicht seine Überführung ins Geschäftsvermögen; denn das gesamte Privatvermögen eines Einzelkaufmanns bildet stets eine Reserve für das Geschäft und erhöht den Kredit des Betriebsinhabers. Ebensowenig wird ein Vermögensgegenstand zu Geschäftsvermögen, wenn der Erlös aus seinem Verkauf dem Betrieb zur Verfügung gestellt wird. Dies bedeutet lediglich eine Privateinlage, wobei bisheriges Privatvermögen in das Geschäft eingebracht wird, das aber dadurch nicht rückwirkend zu Geschäftsvermögen wird, sofern nicht die Mittel zum Ankauf bereits aus dem Geschäft stammten.
In dem Urteil vom 12. September 1967 i.S. Hug erklärte das Bundesgericht, dem Kriterium der Herkunft der Mittel sei eher subsidiäre Bedeutung beizulegen. Dieses Kriterium wurde auch in der Praxis kantonaler Instanzen zurückgestellt und im Schrifttum vereinzelt als untauglich bezeichnet (vgl. THALMANN, Die Abgrenzung von Privat- und Geschäftsvermögen in der neueren schweizerischen Rechtsprechung, ASA Bd. 33 S. 81 ff., namentlich 84/85). Tatsächlich lässt der Umstand, dass ein Vermögenswert mit Mitteln aus dem Geschäftsbetrieb erworben wurde, für sich allein genommen das betr. Aktivum nicht zum Bestandteil des Geschäftsvermögens werden. Bei einer Privatentnahme beispielsweise stammen die Mittel ebenfalls aus dem Geschäftsbetrieb, und trotzdem entsteht dabei Privatvermögen, sofern das betr. Aktivum dauernd aus dem Geschäft ausscheidet.
2.
Im vorliegenden Fall ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer ein buchführungspflichtiges Unternehmen besitzt und bei der Veräusserung der Grundstücke in B. einen Kapitalgewinn von Fr. 1'166,377.-- erzielt hat. Streitig ist hingegen, ob die mit Gewinn verkauften Liegenschaften zu seinem Geschäftsvermögen gehört haben.
Die Zuteilung des unbebauten Landes in B. zum Geschäfts- oder zum Privatvermögen ergibt sich nicht ohne weiteres schon aus dessen äusserer Beschaffenheit. Der Beschwerdeführer hat zwar die Liegenschaften unmittelbar nach dem Kauf in die Geschäftsbuchhaltung aufgenommen. Das Bundesgericht hat schon verschiedentlich festgehalten, dass der Wille des Steuerpflichtigen, wie er namentlich in der buchmässigen Behandlung, in der Aufnahme eines Gegenstandes in die Geschäftsbücher
BGE 94 I 464 S. 468
und in der Ausscheidung aus diesen zum Ausdruck kommt, in der Regel ein gewichtiges Indiz für die steuerliche Zuteilung sein werde (
BGE 70 I 261
; ASA Bd. 28 S. 450 und 454, Bd. 29 S. 239, Bd. 30 S. 133 und Bd. 31 S. 137). Dies gilt jedoch nur unter der Voraussetzung, dass die Buchhaltung nicht das gesamte Vermögen des Steuerpflichtigen, sondern nur sein Geschäftsvermögen umfasst. Im vorliegenden Fall steht fest, dass der Beschwerdeführer sowohl sein Geschäfts- wie auch sein Privatvermögen in die Geschäftsbuchhaltung aufgenommen hat. So erscheint beispielsweise auch das Ferienhaus im Tessin, das zweifellos zum Privatvermögen gehört, in der Buchhaltung. Die buchmässige Behandlung der umstrittenen Liegenschaften kann daher hier nicht als Indiz für ihre Zugehörigkeit zum Geschäftsvermögen betrachtet werden.
Die Eidg. Steuerverwaltung weist in ihrer Vernehmlassung zur Beschwerde darauf hin, dass der Beschwerdeführer den aus dem Landverkauf in B. erzielten Gewinn verbucht habe, indem er sein Geschäftskapital entsprechend vergrössert habe. Die dadurch bewirkte erhebliche Erhöhung des Kapitalkontos habe zweifellos eine Steigerung der Kreditwürdigkeit des Unternehmens zur Folge gehabt. Auch aus diesem Umstand zieht die Steuerverwaltung den Schluss, dass der Gewinn als wehrsteuerpflichtig zu erklären sei. Hier steht jedoch die Zugehörigkeit der noch unverkauften Liegenschaften zum Geschäftsvermögen und nicht des aus ihnen erzielten Erlöses zur Diskussion. Es ist daher unerheblich, dass durch den Verkauf der Kredit der Unternehmung vergrössert worden ist.
Der Beschwerdeführer hält der Argumentation der Steuerverwaltung überdies entgegen, er habe sich der Zürcher Kantonalbank gegenüber weder bei der Eröffnung des Baukredites noch bei dessen Umwandlung in Hypotheken auf seinem Fabrikneubau über seine finanzielle Lage ausweisen müssen. Die Bank habe vom Kauf und Verkauf des Landes in B. überhaupt nie Kenntnis gehabt. Den Baukredit habe sie allein gestützt auf die Sicherheit, die das zu überbauende Land geboten habe, gewährt. Um seine Darstellung zu beweisen, beruft sich der Beschwerdeführer auf ein Schreiben der Zürcher Kantonalbank vom 11. Juli 1960. Darin erklärt die Bank, dass sie nach Prüfung der ihr zur Verfügung gestellten Unterlagen dem Begehren um einen Baukredit von Fr. 2'800,000.-- entsprechen werde. Sie erwähnt die von ihr geprüften Unterlagen
BGE 94 I 464 S. 469
nicht im einzelnen. Die Eidg. Steuerverwaltung bemerkt hiezu in ihrer Vernehmlassung, dass eine Bank einen Kredit in dieser Höhe kaum gewähren würde, ohne vorher die Bilanzen des Gesuchstellers zu begutachten. Selbstverständlich wird eine Bank bei jeder Kreditgewährung an einen Einzelkaufmann dessen Gesamtvermögen mit in Betracht ziehen. Doch kann dieser Umstand allein noch nicht genügen, um das Privat- in Geschäftsvermögen umzuwandeln, sonst würde derjenige Kaufmann, der mit Bankkrediten arbeitet, gegenüber seinen andern Berufsgenossen benachteiligt, weil er auch den Gewinn aus veräusserten Privatliegenschaften versteuern müsste.
Wesentlich ist in diesem Zusammenhang vor allem, dass die Liegenschaften in B. nicht zur Erhältlichmachung des Baukredites verpfändet wurden. Für einen Kredit von Fr. 2'800,000.-- bildeten die drei Landparzellen, die der Beschwerdeführer erst kurz vorher zum Preise von Fr. 180'000.-- gekauft hatte, keine wirklich ins Gewicht fallende zusätzliche Sicherheit; wäre dies der Fall gewesen, so wäre ihre Verpfändung verlangt worden. Es ist vielmehr mit dem Beschwerdeführer anzunehmen, dass die Zürcher Kantonalbank im wesentlichen auf die Sicherheit abstellte, die ihr die Unternehmung in A. nach durchgeführter Überbauung bot.
Freilich hat das Bundesgericht die erhöhte Kreditfähigkeit des Steuerpflichtigen schon als einen Umstand gewertet, der die Zuteilung gewisser Liegenschaften, die ohnehin dem Geschäfte dienten, zum Geschäftsvermögen zusätzlich rechtfertigte (ASA Bd. 28 S. 457 und Bd. 30 S. 136). Dies gilt aber hauptsächlich dann, wenn die Liegenschaften für Geschäftszwecke verpfändet werden. Die erhöhte Kreditfähigkeit dank des zusätzlichen nichtverpfändeten Vermögens ist für die Abgrenzung von Geschäfts- und Privatvermögen nur von Bedeutung, wenn konkrete Umstände darauf hindeuten, dass ohne diese Werte der Geschäftskredit nicht gewährt worden wäre. Im vorliegenden Fall sind keine solchen Anzeichen vorhanden. Es ist daher anzunehmen, dass der Liegenschaftenbesitz des Beschwerdeführers in B. für die Zusprechung des Baukredites von Fr. 2'800,000.-- durch die Zürcher Kantonalbank nicht entscheidend war und auch im übrigen die Kreditwürdigkeit des Unternehmens nicht wesentlich beeinflusst hat.
Der Umstand, dass der Beschwerdeführer kurze Zeit nach dem Erwerb der drei Landparzellen in B. um einen grossen
BGE 94 I 464 S. 470
Baukredit nachgesucht hat, spricht auch gegen die Annahme eines betrieblichen Gelegenheitsgeschäftes, bei welchem Mittel des Geschäfts kurzfristig zur Erzielung eines Gewinnes eingesetzt werden. Die Mittel werden dabei aus dem Betrieb herausgenommen, um nach kurzer Zeit wieder dahin zurückzufliessen. Der Ankauf der Liegenschaften in B. wird kaum der Geschäftspolitik der Firma entsprochen haben, sondern dürfte völlig losgelöst von den übrigen geschäftlichen Überlegungen erfolgt sein.
Der Beschwerdeführer macht denn auch geltend, die fraglichen Grundstücke seien Bestandteile seines Privatvermögens, weil er sie mit privaten Mitteln erworben habe. Er habe nämlich Wertschriften, die zu seinem Privatvermögen gehört hätten, verkauft und den Erlös von Fr. 300'000.-- für den Landkauf in B. verwendet. Hiezu bemerkt die Einschätzungsabteilung 5 des kantonalen Steueramtes in ihrer Vernehmlassung zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde allerdings, der Beschwerdeführer habe am 5. April 1960, als er die drei ersten Landparzellen in B. erwarb, an den Kaufpreis von Fr. 180'000.-- bereits den Betrag von Fr. 116'000.-- geleistet. An den Rest des Kaufpreises von Fr. 64'000.-- habe er bis zum 30. November 1960 kleine Raten von insgesamt Fr. 10'500.-- bezahlt, während er für den Betrag von Fr. 53'500.-- ein Darlehen aufgenommen habe. Da er die erwähnten Wertschriften, Obligationen der Zürcher Kantonalbank, erst am 30. April 1960 veräussert habe, könne er den Landkauf in B. am 5. April 1960 nicht aus ihrem Erlös bestritten haben. Aus den Bankauszügen gehe vielmehr hervor, dass der Beschwerdeführer den Kauf aller Grundstücke in B. über sein Geschäftskonto bei der Schweizerischen Kreditanstalt finanziert habe.
Wie sich die Entrichtung des Kaufpreises für die umstrittenen Liegenschaften banktechnisch abwickelte, ist jedoch nicht von Bedeutung. Der Umstand, dass die fraglichen Obligationen erst ca. drei Wochen nach dem Erwerb der Landparzellen verkauft wurden, schliesst nicht aus, dass der Erlös für diesen Zweck verwendet wurde und die Mittel aus dem Geschäftskontokorrent lediglich vorübergehend zur Erlegung des Kaufpreises gedient haben. Vom kantonalen Steueramt wird zwar behauptet, die erwähnten Obligationen der Zürcher Kantonalbank hätten zum Geschäftsvermögen des Beschwerdeführers gehört; doch ist nicht dargetan, dass sie vor dem Jahre 1959 tatsächlich dem
BGE 94 I 464 S. 471
Geschäftsbetrieb gedient hätten. Es ist somit nicht nachgewiesen, dass der Landkauf in B. am 5. April 1960 mit Mitteln, die aus dem Geschäfte stammen, getätigt worden ist. Überdies kommt dem Kriterium der Herkunft der Mittel - wie oben bereits dargelegt - nur untergeordnete Bedeutung zu. Es fällt daher auch nicht ins Gewicht, dass der zweite Landkauf in B. am 1. Juni 1962 über das Geschäftskonto des Beschwerdeführers bei der Schweizerischen Kreditanstalt finanziert wurde.
Die Vorinstanz hat auch die Beteiligung von zwei Angestellten des Beschwerdeführers am Liegenschaftenkauf und am Verkaufsgewinn als Indiz für die Zugehörigkeit der Grundstücke zum Geschäftsvermögen gewertet. Sie hält es für unwahrscheinlich, dass der Beschwerdeführer Dritte an einer privaten Kapitalanlage mit dauerndem Charakter hätte teilnehmen lassen Daraus schliesst sie, dass es sich beim Landkauf in B. am eine Transaktion handle, die mit kurzfristigen Realisierungsabsichten verbunden gewesen sei und die nicht als eine rein zufällige Disposition im Rahmen einer privaten Vermögensverwaltung gelten könne. Diese Argumentation überzeugt jedoch nicht. Es ist nicht einzusehen, weshalb zwei Angestellte des Beschwerdeführers sich nicht an einer privaten Kapitalanlage ihres Arbeitgebers beteiligen könnten. Dieser Umstand allein spricht jedenfalls nicht für die Zugehörigkeit der Liegenschaften zum Geschäftsvermögen.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Liegenschaften des Beschwerdeführers in B. weder für Geschäftszwecke erworben worden sind, noch dem Geschäfte tatsächlich gedient haben. Auch sind zum mindesten die am 5. April 1960 gekauften drei Landparzellen nicht aus Mitteln der Unternehmung angeschafft worden. Ebensowenig liegt gewerbsmässiger Liegenschaftenhandel im Sinne von Art. 21 Abs. 1 lit. a WStB vor. Die Gewerbsmässigkeit kann sich einerseits aus der nahen Beziehung des Liegenschaftenhandels zum Betrieb des Steuerpflichtigen und anderseits aus der Häufung von Käufen und Verkäufen von Grundstücken ergeben (vgl. ASA Bd. 33 S. 42 und Urteil des Bundesgerichtes vom 31. Mai 1968 i.S. Eidg. Steuerverwaltung c. Müller und kantonale Steuerrekurskommission Luzern). Der Beschwerdeführer übt weder einen Beruf aus, der den Liegenschaftenhandel mit sich bringt, noch hat er in den letzten Jahren mehrere Käufe und Verkäufe getätigt, so dass dabei von Gewerbsmässigkeit die Rede sein könnte.
BGE 94 I 464 S. 472
Die Tatsache allein, dass der Erlös aus den Grundstücken in B. wieder in einer Liegenschaft in C. angelegt wurde, erfüllt den Tatbestand des gewerbsmässigen Liegenschaftenhandels nicht. Die Auffassung der Steuerbehörde, jede Ausnützung einer erwarteten, nicht bloss zufälligen Gelegenheit zur Gewinnerzielung sei planmässiger und damit gewerbsmässiger Liegenschaftenhandel, geht auf jeden Fall zu weit.
Da die Liegenschaften des Beschwerdeführers in B. nach dem Ausgeführten zu seinem Privatvermögen gehört haben, ist der bei ihrem Verkauf realisierte Gewinn nicht zum wehrsteuerpflichtigen Einkommen im Sinne von Art. 21 Abs. 1 lit. d WStB zu rechnen. Der angefochtene Entscheid ist daher aufzuheben und das wehrsteuerpflichtige Einkommen des Beschwerdeführers für die 12. Wehrsteuerperiode entsprechend seinem Antrag auf Fr. 235'100.-- jährlich festzusetzen. | de |
05c34b27-1078-4bb0-9f69-47b418ccd3ca | Sachverhalt
ab Seite 322
BGE 106 IV 321 S. 322
A.-
Walter Stürm verbüsst zur Zeit in der kantonalen Strafanstalt Regensdorf eine vom Obergericht des Kantons Zürich am 27. Januar 1972 wegen bandenmässigen Raubs und weiterer Delikte ausgesprochene Zuchthausstrafe von achteinhalb Jahren, abzüglich 542 Tage Untersuchungshaft. Von dieser Strafe sind heute erst ungefähr drei Jahre verbüsst, weil Stürm dreimal aus der Strafanstalt ausgebrochen war und jeweils nur nach längerer Zeit wieder hatte verhaftet werden können. Wegen einer Vielzahl auf der zweiten und dritten Flucht begangener Delikte steht Stürm im Kanton Aargau in Strafuntersuchung. Stürm hatte bereits bei den 1972 abgeurteilten Delikten Waffen eingesetzt und auch im Strafvollzug versucht, in den Besitz von Waffen zu gelangen. Bei seiner letzten Verhaftung im November 1979 war er mit einer geladenen Pistole betroffen worden.
B.-
Gestützt auf einen Bericht des nebenamtlichen Anstaltspsychiaters Dr. H. Reller vom 7. Juli 1980 über den Gesundheitszustand Stürms, demzufolge bei Stürm damals Symptome einer schweren Depression bestanden, ersuchte dieser am 10. Juli 1980 die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich um einen Strafunterbruch gemäss
Art. 40 StGB
.
Das Gesuch wurde am 8. September 1980 aufgrund eines von Dr. Max Keller am 29. August 1980 erstatteten psychiatrischen Gutachtens, das eine zumindest teilweise Straferstehungsfähigkeit Stürms bejahte, abgewiesen und ebenso ein gegen diesen Entscheid bei der Direktion der Justiz des Kantons Zürich von Stürm eingereichter Rekurs.
C.-
Stürm ficht diesen Entscheid in zwei Eingaben mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde an. Er beantragt, den Vollzug der Freiheitsstrafe unverzüglich zu unterbrechen und ihn aus der Haft zu entlassen. Er rügt eine unrichtige Feststellung des Sachverhalts, eine Verletzung von
Art. 40 StGB
, von
Art. 3 EMRK
und des verfassungsmässigen Rechts auf persönliche Freiheit.
Gleichzeitig ersucht Stürm, es sei ihm die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren und Rechtsanwalt Rambert als amtlicher Verteidiger zu ernennen.
Die Direktion der Justiz des Kantons Zürich beantragt Abweisung der Beschwerde, soweit auf diese überhaupt einzutreten sei. Das EJPD trägt ebenfalls auf Abweisung der Beschwerde an.
BGE 106 IV 321 S. 323
Von der Justizdirektion auf Ersuchen des Instruktionsrichters nachgereichte Akten wurden dem Anwalt Stürms zur Vernehmlassung zugestellt. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
7.
Der Beschwerdeführer rügt schliesslich eine Verletzung von
Art. 40 StGB
, von
Art. 3 EMRK
und einen Verstoss gegen die Garantie der persönlichen Freiheit. Der in der erstgenannten Bestimmung enthaltene Begriff der wichtigen Gründe sei ein unbestimmter Rechtsbegriff, dessen Inhalt unter Berücksichtigung der erwähnten Freiheitsrechte auszulegen sei. Im vorliegenden Fall sei dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Gesundheit des Beschwerdeführers so angeschlagen sei, dass nicht nur die Gefahr nicht wiedergutzumachender Schäden bestehe, sondern auch eine Gefahr für das Leben des Beschwerdeführers, indem dieser infolge der psychischen Schädigung die Kontrolle über sich verlieren und Selbstmord begehen könnte. Die Weiterführung des Strafvollzugs bedeute eine Bestätigung dieser Schädigung und verhindere die Heilung. Dann aber sei der Strafvollzug mit der Garantie der persönlichen Freiheit und
Art. 3 EMRK
unvereinbar, und es müsse die Strafe gemäss
Art. 40 StGB
unterbrochen werden; darin liege nämlich ein wichtiger Grund im Sinne dieser Bestimmung. Eine andere Möglichkeit gebe es nicht, so dass auch das Prinzip der Verhältnismässigkeit einen Strafunterbruch verlange. Die von der Vorinstanz angeführte Interessenabwägung mit dem Interesse des Staates nach öffentlicher Sicherheit könne nicht dazu führen, dass ein Sträfling gesundheitlich "kaputtgeht oder gar stirbt". Im übrigen sei der Hinweis auf die öffentliche Sicherheit absurd, wenn man bedenke, dass der Beschwerdeführer wegen seiner angeschlagenen Gesundheit gar nicht mehr die Kraft habe, die öffentliche Sicherheit zu gefährden.
a)
Art. 40 StGB
bestimmt in Absatz 1, der Vollzug einer Freiheitsstrafe dürfe nur aus wichtigen Gründen unterbrochen werden, und in Absatz 2, der Aufenthalt in einer Heil- oder Pflegeanstalt, in welche der Verurteilte während des Vollzuges verbracht werden müsse, sei grundsätzlich auf die Strafe anzurechnen.
Den genannten Bestimmungen ist kein Grundsatz zu entnehmen, demzufolge eine vorhandene Hafterstehungsunfähigkeit
BGE 106 IV 321 S. 324
zwingend zur Unterbrechung des Strafvollzugs führen müsste. Es ergibt sich aus ihnen vielmehr, dass eine Freiheitsstrafe grundsätzlich ohne Unterbruch zu vollstrecken ist. Der wegen einer während des Strafvollzuges aufgetretenen Erkrankung in eine Heil- oder Pflegeanstalt verbrachte Strafgefangene wird für die Dauer seines dortigen Aufenthaltes regelmässig nicht hafterstehungsfähig, d.h. fähig sein, die Strafe in der bisherigen Weise an sich vollziehen zu lassen. Die Anrechnung eines solchen Aufenthaltes auf die Strafe macht somit deutlich, dass Pflege und Heilung eines kranken Strafgefangenen grundsätzlich im Rahmen eines gegebenenfalls modifizierten Strafvollzuges durchzuführen sind. Diese gesetzgeberische Tendenz findet folgerichtig ihren Niederschlag darin, dass der Bundesrat gemäss
Art. 397bis Abs. 1 lit. g StGB
zum Erlass ergänzender Bestimmungen über den Vollzug von Strafen und Massnahmen an kranken, gebrechlichen oder betagten Personen befugt ist und diese Kompetenz nunmehr auch den Kantonen zusteht (
Art. 6 Abs. 1 VStGB 1
). Es widerspricht deshalb
Art. 40 StGB
nicht, wenn die zuständige Behörde ohne Unterbrechung des Strafvollzugs anderweitig für die Gesundheit eines kranken Strafgefangenen sorgt, z.B. durch Einweisung in eine Heil- oder Pflegeanstalt. Eine Ausnahme von der Regel ist nur dort geboten, wo die Erkrankung derart ist, dass eine vollständige Straferstehungsunfähigkeit von unabsehbarer oder mindestens langer Dauer vorliegt und die Freilassung sich derart aufdrängt, dass der Gesichtspunkt des Strafvollzugs gänzlich der Notwendigkeit von Pflege und Heilung weichen muss. Wo jedoch neben einer zweckentsprechenden therapeutischen Behandlung auch die Möglichkeit und Gewähr für eine den Umständen angemessene Weiterführung der Strafe besteht, hat eine Unterbrechung ihres Vollzugs zu unterbleiben (
BGE 103 Ib 186
und nicht veröffentlichte Erwägungen; s. auch VEB 26 Nr. 70 und dortige Verweisungen; BBl 1949 I S. 1275). Diese Voraussetzung hat das Bundesgericht selbst im Falle einer Strafgefangenen, die an einer lebensgefährdenden Krebserkrankung litt, bejaht. Dabei darf auch den für den Betroffenen mit der Fortsetzung des Strafvollzuges verbundenen Risiken das Interesse der Öffentlichkeit an der Aufrechterhaltung der Haft gegenübergestellt werden. Schwere Delinquenz ruft einem erhöhten Schutzbedürfnis der Gemeinschaft und verlangt deshalb besondere Zurückhaltung in der Anwendung von
Art. 40 StGB
.
BGE 106 IV 321 S. 325
Wo die zuständige Behörde nach diesen Grundsätzen verfährt, kann deshalb von einer Verletzung der Garantie der persönlichen Freiheit, des Prinzips der Verhältnismässigkeit und des
Art. 3 EMRK
, dessen Gewährleistung übrigens über den Schutz der Garantien der BV nicht hinausgeht (
BGE 102 Ia 283
), keine Rede sein.
b) Im vorliegenden Fall ist die Justizdirektion von diesen Grundsätzen ausgegangen und hat sie auch zutreffend angewendet. Gutachter und behandelnde Ärzte sind (auch nach dem letzten Stand der Dinge) der Meinung, dass die Krankheitserscheinungen beim Beschwerdeführer nicht ein solches Ausmass erreichen, dass der Strafvollzug unterbrochen werden müsste. Nach den bereits erwähnten vom Bundesgericht erhobenen ergänzenden Akten schlugen nach Fällung des angefochtenen Entscheides der Anstaltsarzt Dr. Pestalozzi und der Anstaltspsychiater Dr. Reller zwar Verbesserungen im Haftregime vor, hielten aber eine völlige Freilassung des Beschwerdeführers nicht für geboten. Haftverbesserungen sind von der zuständigen Behörde bereits angeordnet worden, auch wenn diese nicht in einer von den Ärzten zunächst angeregten Verlegung des Beschwerdeführers in den Verwahrungsbau der Anstalt bestehen. Indem die Behörde versucht, die Haftbedingungen Stürms so zu gestalten, dass nicht nur dem Heilungs- sondern auch dem Sicherungsbedürfnis Rechnung getragen wird, handelt sie sachgemäss und in Übereinstimmung mit dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit. Was in der Beschwerde dagegen vorgebracht wird, kommt gegenüber dem Befund der Ärzte, der eine Weiterführung des Strafvollzugs in einer den gesundheitlichen Gegebenheiten des Beschwerdeführers und dem öffentlichen Sicherheitsinteresse angemessenen Form zulässt, nicht auf. | de |
dc96e6b8-69cc-4f33-be0a-11113efc3565 | Sachverhalt
ab Seite 400
BGE 134 III 399 S. 400
A.
A. (Beschwerdegegner) betreibt ein Akkordunternehmen im Bereich des Bauhauptgewerbes. Die Paritätische Berufskommission Bauhauptgewerbe des Kantons Schwyz (Beschwerdeführerin) hatte für die Zeit vom 1. Januar 2000 bis zum 31. März 2002 und vom 1. Dezember 2002 bis zum 31. März 2003 eine Lohnbuchkontrolle beim Beschwerdegegner durchgeführt. Diese Kontrollen hatten nach ihrer Auffassung ergeben, dass der Beschwerdegegner verschiedene vom Bundesrat allgemeinverbindlich erklärte Bestimmungen des Landesmantelvertrages für das Schweizerische Bauhauptgewerbe (LMV) verletzt und dadurch seinen Mitarbeitern geldwerte Leistungen von über Fr. 909'567.15 vorenthalten habe. Die Beschwerdeführerin verhängte dafür eine Konventionalstrafe von Fr. 300'000.- gegen den Beschwerdegegner und forderte von ihm die Untersuchungskosten im Betrag von Fr. 8'915.- sowie Neben- und Verfahrenskosten von Fr. 1'985.- ein.
B.
Nachdem der Beschwerdegegner nicht bereit war, diese Beträge zu bezahlen, klagte die Beschwerdeführerin mit Eingabe vom 15. Oktober 2004 beim Bezirksgericht Höfe auf Bezahlung von Fr. 310'900.- zuzüglich Zins und Kosten. Mit Urteil vom 13. Februar 2006 hiess das Bezirksgericht Höfe die Klage teilweise gut und verurteilte den Beschwerdegegner zur Bezahlung von Fr. 100'900.- (entsprechend Fr. 90'000.- Konventionalstrafe sowie Fr. 10'900.- Untersuchungs- und Verfahrenskosten der Beschwerdeführerin) nebst Gerichtskosten.
Auf Berufung des Beschwerdegegners hin, reduzierte das Kantonsgericht Schwyz mit Urteil vom 15. Mai 2007 die
BGE 134 III 399 S. 401
Konventional strafe von Fr. 90'000.- auf Fr. 24'000.- und verurteilte ihn folglich zur Bezahlung von Fr. 34'900.- zuzüglich eines Teils der Gerichtskosten.
C.
Die Beschwerdeführerin gelangt mit Beschwerde in Zivilsachen gegen diesen Entscheid des Kantonsgerichts Schwyz an das Bundesgericht und beantragt, die Konventionalstrafe auf Fr. 90'000.- festzusetzen.
Der Beschwerdegegner beantragt die Abweisung des Rechtsmittels. Auch die Vorinstanz beantragt Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
3.2.
(...)
3.2.4
Es bleibt zu prüfen, ob der vom Beschwerdegegner bezahlte übertarifliche Lohn die Differenz zwischen der vom Beschwerdegegner berechneten und der im Landesmantelvertrag vorgesehenen Ferienentschädigung ausgleichen konnte.
3.2.4.1
Mit der Vorinstanz ist der Ansicht des Beschwerdegegners zu folgen, wonach sich der vom Arbeitgeber einem Arbeitnehmer für ein volles Arbeitsjahr zu bezahlende Lohn aus dem laufenden Lohn einerseits und dem Ferienlohn andererseits zusammensetzt. Es liegt auch auf der Hand, dass für den Arbeitgeber wirtschaftlich nur der Gesamtbetrag von Bedeutung ist. Das gilt weitgehend - aber nicht vollständig - auch für den Arbeitnehmer. Für diesen hat meist auch der Zeitpunkt der Fälligkeit eine wesentliche Bedeutung. In der Regel ist der Lohn für den Arbeitnehmer das einzige wesentliche Einkommen und er ist für sein tägliches Leben darauf angewiesen. Deshalb enthält das Gesetz eine Vielzahl von Bestimmungen, welche die Ausrichtung des Lohnes innert bestimmten Fristen und zu bestimmten Zeiten regeln. Dazu gehört auch
Art. 329d OR
, der sicherstellen will, dass der Arbeitnehmer im Zeitpunkt, in dem er die Ferien tatsächlich bezieht, auch über das notwendige Geld verfügt, um diese sorgenfrei verbringen zu können. Das Gesetz will, dass der Arbeitnehmer im richtigen Zeitpunkt weiss, welches Geld für diesen Zeitabschnitt gespart ist (vgl. AUBERT, Commentaire romand, N. 5 zu
Art. 329d OR
). Aus diesem Grund ist es - wie aufgezeigt - nach der
BGE 134 III 399 S. 402
bundesgerichtlichen Rechtsprechung auch notwendig, dass der auf die Ferien entfallende Teil der Zahlungen genau ausgewiesen wird.
3.2.4.2
Soweit es um den gesetzlichen Anspruch nach
Art. 329d Abs. 1 OR
geht, steht auf Grund dieser Überlegungen ausser Zweifel, dass als Ferienlohn nur gelten kann, was zusätzlich zum vereinbarten Lohn bezahlt wird. Andernfalls wäre die Bestimmung ohne jede Bedeutung. Das Gesetz kennt keine Mindestlöhne. Damit könnte bei jedem noch so geringen Lohn geltend gemacht werden, darin sei auch der Lohn für die Ferien enthalten. Mangels Mindestlohn besteht gar keine Grösse, mit der ein Gruppenvergleich angestellt werden könnte. Die Parteien hätten es immer in der Hand gehabt, einen niedrigeren Lohn zu vereinbaren, so dass der Arbeitgeber jeweils geltend machen könnte, er hätte einen niedrigeren Lohn vereinbart, wenn er gewusst hätte, dass er noch zusätzlich etwas für die Ferien bezahlen müsse. Insofern ist für die Frage, ob die Mindestvorschrift von
Art. 329d Abs. 1 OR
eingehalten worden ist, nur massgebend, ob der Arbeitnehmer für die Zeit seiner Ferien gleich viel bezahlt bekommen hat, wie er erhalten hätte, wenn er in dieser Zeit gearbeitet hätte.
3.2.4.3
Vorliegend geht es aber in erster Linie nicht um die Einhaltung des Gesetzes, sondern der Bestimmungen des Gesamtarbeitsvertrags (GAV). Die Vorinstanz erblickte zu Recht in Art. 34 des LMV, der den Ferienanspruch regelt, eine normative Bestimmung, die einen Mindestanspruch festsetzt. Dass der LMV auf das vorliegende Arbeitsverhältnis anwendbar ist, wird zu Recht nicht mehr bestritten.
Gemäss
Art. 357 Abs. 2 OR
sind Abreden in einem Einzelarbeitsvertrag nichtig, wenn sie gegen die unabdingbaren Bestimmungen eines GAV verstossen, und werden durch dessen Bestimmungen ersetzt. Jedoch können abweichende Vereinbarungen zu Gunsten des Arbeitnehmers getroffen werden. Haben die Parteien eine vom GAV abweichende Regelung getroffen, ist somit ein so genannter Günstigkeitsvergleich vorzunehmen. Es muss bezogen auf das einzelne Arbeitsverhältnis geprüft werden, ob die einzelarbeitsvertragliche Vereinbarung für den Arbeitnehmer günstiger ist als die Regelung im GAV oder nicht (JEAN-FRITZ STÖCKLI, Berner Kommentar, N. 37 zu
Art. 357 OR
). Dabei kommt es nicht darauf an, welche Regelung dem konkreten Arbeitnehmer lieber ist. Vielmehr muss von einem objektiven Massstab ausgegangen werden (
BGE 116 II 153
E. 2a/aa).
BGE 134 III 399 S. 403
Es ist darauf abzustellen, wie ein vernünftiger Arbeitnehmer unter Berücksichtigung des Berufsstandes und der Verkehrsanschauung die Bewertung treffen würde (VISCHER, Zürcher Kommentar, N. 23 zu
Art. 357 OR
; STÖCKLI, a.a.O., N. 38 zu
Art. 357 OR
). Die Objektivierung des Massstabs hat auch zur Folge, dass man nicht die einzelnen Bestimmungen isoliert miteinander vergleichen kann. Andererseits ist es aber auch nicht zulässig, in einem so genannten Gesamtvergleich den Einzelarbeitsvertrag insgesamt mit dem GAV zu vergleichen. Vielmehr ist ein so genannter Gruppenvergleich vorzunehmen (
BGE 116 II 153
E. 2a/bb S. 156; VISCHER, a.a.O., N. 23 f. zu
Art. 357 OR
; STÖCKLI, a.a.O., N. 39 zu
Art. 357 OR
). Mit dem Gruppenvergleich werden eng zusammenhängende Bestimmungen des GAV mit den entsprechenden Regelungen im Einzelarbeitsvertrag verglichen (VISCHER, a.a.O., N. 24 zu
Art. 357 OR
). Daraus ergibt sich, dass beispielsweise verschiedene Lohnsysteme als Ganzes einander gegenübergestellt werden können.
Der Vergleich kann aber nur innerhalb eines zusammenhängenden Regelwerkes erfolgen. Das Erfordernis des inneren Zusammenhangs ist dabei eng zu verstehen (VISCHER, a.a.O., N. 24 zu
Art. 357 OR
). Selbst bei einem Vergleich der Lohnsysteme kann deshalb nicht in jedem Fall das gesamte mutmassliche Jahreseinkommen mit der Regelung des GAV verglichen werden. Vielmehr ist - wie das Bundesgericht ausdrücklich festgehalten hat (
BGE 116 II 153
E. 2a/bb S. 156) - die Gegenüberstellung des Gesamtlohnes gemäss GAV sowie gemäss Einzelarbeitsvertrag auf einen bestimmten Zeitraum zu begrenzen. Dabei ist der Schutzgedanke der entsprechenden GAV-Norm von zentraler Bedeutung. Im damals zu entscheidenden Fall gelangte das Bundesgericht zum Schluss, dass der entsprechende GAV dem Arbeitnehmer während einer kurz bemessenen Zeitspanne den Mindestlohn gewährleisten wollte und es deshalb unbillig gewesen wäre, den Vergleich aufgrund des Jahresgesamtlohns vorzunehmen. Vielmehr erschien es dem Bundesgericht angemessen, den Vergleich auf die Zeitspanne eines Monats zu begrenzen (
BGE 116 II 153
E. 2a/bb S. 156 f.).
Die Vorinstanz hat nun in den Gruppenvergleich nicht nur die Berechnung der Ferienentschädigung einbezogen, sondern den gesamten Lohn. Sie hat geklärt, welcher Anspruch sich auf Grund des einzelarbeitsvertraglich vereinbarten Lohnes zusammen mit der im Einzelarbeitsvertrag vorgesehenen Ferienentschädigung (7,7 %) in Franken ergibt und ob dieser Betrag mindestens gleich hoch ist wie der
BGE 134 III 399 S. 404
Betrag, der sich aus dem im GAV festgesetzten Mindestlohn und der im GAV vorgesehenen Ferienlohnberechnung (10,6 bzw. 13 %) in Franken errechnet.
Damit hat die Vorinstanz den Rahmen eines Gruppenvergleichs gesprengt. Wohl geht es - wie aufgezeigt - beim Ferienanspruch auch um Entgelt für die geleistete Arbeit. Es können aber nicht einfach alle Teile des Entgelts miteinander verglichen werden. Zweck der Ferienregelung ist es, dass der Arbeitnehmer einerseits während der vorgesehenen fünf bzw. sechs Wochen im Jahr tatsächlich in die Ferien gehen kann und andererseits in dieser Zeit tatsächlich das entsprechende Geld zur Verfügung hat. "Entsprechend" ist in diesem Zusammenhang jener Betrag, den er gemäss Lohnabrechnung für diese Periode erhalten würde, wenn er arbeiten würde. Nach der vorliegenden einzelarbeitsvertraglichen Vereinbarung erhält er in dieser Zeit aber weniger ausbezahlt, als er (abzüglich des für die Ferien bestimmten Teils des Lohnes) erhalten würde, wenn er nicht in den Ferien wäre. Ob er dafür vorher mehr als den laufenden Lohn ausbezahlt erhalten hat, ist dabei ohne Bedeutung. Die Ferienregelung sowohl des Gesamtarbeitsvertrages wie auch des Gesetzes will sicherstellen, dass derjenige Arbeitnehmer, der seinen Lohn unter dem Jahr ausgibt, während der Ferien den gleichen Betrag ausgeben kann. Das ist aber bei der im vorliegenden Fall einzelarbeitsvertraglich getroffenen Lösung nicht gewährleistet. Die Berechnung der Vorinstanz widerspricht auch dem vom Bundesgericht für den Vergleich von Lohnsystemen aufgestellten zeitlichen Rahmen von einem Monat (
BGE 116 II 153
E. 2a/bb S. 156 f.).
Zu beachten ist auch, dass der Festsetzung der Löhne einerseits und der Ferienregelung andererseits eine für das Wirtschaftsleben wichtige Transparenzfunktion zukommt. Die Bezahlung übertariflicher Löhne ist auf einem hoch kompetitiven Arbeitsmarkt, wie er im Baugewerbe namentlich bei Akkordunternehmen besteht, ein wesentliches Element, um gute Arbeitskräfte zu finden. Dabei wird regelmässig der Stunden-, Monats- oder Akkordlohnansatz angegeben.
Die Arbeitnehmer können diese dann mit den Angeboten anderer Unternehmen vergleichen. Wird dann aber in Tat und Wahrheit gar nicht dieser Ansatz, sondern ein tieferer bezahlt, weil entgegen den entsprechenden Angaben im Vertrag darin auch ein Teil der Ferienentschädigung enthalten ist, fehlt es an der Vergleichbarkeit. Die klare Trennung zwischen dem Lohn für die Zeit, in der der Arbeitnehmer
BGE 134 III 399 S. 405
tatsächlich arbeitet, und dem Ferienlohn bezweckt auch, diese Transparenz zu schützen.
Dass eine Rechnung, wie sie die Vorinstanz angestellt hat, mit den Regeln von
Art. 357 OR
nicht vereinbar ist, zeigt auch eine weitere Überlegung. Wären die Ferienregelung und das Lohnsystem im Sinne einer einheitlichen Normgruppe miteinander zu vergleichen, müsste umgekehrt auch mit einer Erhöhung des Ferienanspruchs ein untertariflicher Lohn ausgeglichen werden können. Davon geht aber wohl auch die Vorinstanz nicht aus.
3.2.4.4
Auch wenn bezüglich der Regelung des GAV anders zu entscheiden wäre, könnte die Berechnung der Vorinstanz keinen Bestand haben. Das Günstigkeitsprinzip gilt auch im Verhältnis zwischen dem GAV und dem Gesetz. Der GAV ist nur insoweit verbindlich, wie er nicht gegen zwingende Bestimmungen des Gesetzes verstösst. Die in
Art. 329d Abs. 1 OR
aufgestellte Regel ist aber einseitig zwingend. Ein GAV kann somit nicht eine für den Arbeitnehmer ungünstigere Regelung vorsehen. Für den Vergleich des Gesamtarbeitsvertrages mit dem Gesetz hinsichtlich der Gleichwertigkeit der Ferienentschädigung kann aber der Lohn nicht mit einbezogen werden. Wie aufgezeigt (siehe vorn E. 3.2.4.2) kennt das Gesetz gar keine Mindestlöhne, die einen solchen Vergleich zulassen würden. Die Regelung der Ferienentschädigung im GAV kann damit immer nur mit der entsprechenden Ferienregelung im Gesetz verglichen werden, ohne dass das Lohnsystem zusätzlich einzubeziehen wäre. Daher steht ausser Zweifel, dass die einzelarbeitsvertragliche Vereinbarung jedenfalls die Vorgaben des
Art. 329d OR
einhalten muss.
Diesen Voraussetzungen genügen aber die streitigen Einzelarbeitsverträge nicht. Bei einem Anspruch von fünf Wochen Ferien beträgt der entsprechende Ansatz für den Ferienlohn bei einem Bezug während der Anstellung bereits 9,62 % und nach dem Ende der Anstellung 10,64 % (STREIFF/VON KAENEL, Arbeitsvertrag, 6. Aufl., Zürich 2006, N. 10 zu
Art. 329d OR
). Die fraglichen Arbeitsverträge rechnen aber nur mit 7,7 %. | de |
b1005e10-1efd-4e84-9818-dfea3d742256 | Sachverhalt
ab Seite 277
BGE 124 III 277 S. 277
A.-
Die amerikanische Gesellschaft Nike International Ltd. stellt Sportartikel her, die sie unter dem Zeichen "NIKE" vertreibt. Sie liess ihre Marke "NIKE" in der Schweiz am 12. November 1982 für die Warenklassen 18, 25 und 28 eintragen. Weitere Eintragungen folgten in den Jahren 1986, 1988 und 1992 für die Warenklassen 16 und 25.
Die spanische Gesellschaft Campomar S.L. ist Inhaberin der Marken "NIKE" und "VIGOROSO DONCEL NIKE, Perfumes" für Parfümerieartikel. Sie lässt die von ihr vertriebenen Parfümerieartikel
BGE 124 III 277 S. 278
durch die Nike Sport Cosmetic S.A. herstellen, die ihren Sitz ebenfalls in Spanien hat. In der Schweiz befasst sich die Quarz AG mit dem Vertrieb der Parfümerieartikel. Die Campomar S.L. liess die - in Spanien erstmals im Jahre 1940 hinterlegte - Marke "NIKE" für Parfümerieartikel in der Klasse 3 am 10. August 1984 mit Geltung auch für die Schweiz eintragen. Am 10. Mai 1991 wurde für die gleiche Warenkategorie zusätzlich die Marke "VIGOROSO DONCEL NIKE" eingetragen.
Im Spätherbst 1993 begann die Quarz AG mit der Lancierung der Kosmetiklinie "NIKE SPORT FRAGRANCE" in der Schweiz. Nachdem sich die Quarz AG mit dem Vorschlag näherer Kontakte zur "Wahrnehmung gewisser Synergien" an die schweizerische Tochtergesellschaft der Nike International Ltd. gewendet hatte, teilte der von dieser beigezogene Rechtsanwalt mit Schreiben vom 30. Juni 1994 mit, dass die Nike International Ltd. eine Zusammenarbeit entschieden ablehne und einen Gebrauch der Marke "NIKE" nicht dulden werde. Die beigelegte Unterlassungserklärung wurde indessen weder von der Quarz AG, noch von der Campomar S.L. oder der Nike Sport Cosmetic S.A. unterzeichnet.
B.-
Am 7. April 1995 reichte die Nike International Ltd. beim Handelsgericht des Kantons Zürich Klage gegen die Quarz AG (Beklagte 1), die Campomar S.L. (Beklagte 2) und die Nike Sport Cosmetic S.A. (Beklagte 3) ein. Sie verlangte einerseits ein an die Beklagten gerichtetes Verbot des Gebrauchs des Zeichens "NIKE" im Geschäftsverkehr, anderseits die Ungültigerklärung des schweizerischen Teils der von der Beklagten 2 für Waren der Klasse 3 hinterlegten internationalen Marken 485 964 "NIKE" und 547 207 "VIGOROSO DONCEL NIKE, Perfumes".
Mit Urteil vom 20. Mai 1997 hiess das Handelsgericht die Klage insoweit gut, als es den Beklagten unter Androhung der Verzeigung ihrer Organe an den Strafrichter wegen Zuwiderhandlung gegen
Art. 292 StGB
verbot, unter der Bezeichnung "NIKE" Parfümerieartikel jeglicher Art in die Schweiz einzuführen, hier anzubieten, in den Verkehr zu bringen, oder zu diesem Zwecke zu lagern und das Zeichen "NIKE" im geschäftlichen Verkehr, insbesondere auf Geschäftspapieren und in der Werbung, zur Kennzeichnung von Parfümerieartikeln zu gebrauchen. Im weiteren erklärte es den schweizerischen Teil der internationalen Marke 485 964 "NIKE" für nichtig. In bezug auf die anbegehrte Ungültigerklärung auch der Marke "VIGOROSO DONCEL NIKE, Perfumes" wies es die Klage hingegen ab.
BGE 124 III 277 S. 279
C.-
Das Bundesgericht weist die Berufung der Beklagten ab und bestätigt das Urteil des Handelsgerichts. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Der klägerische Unterlassungsanspruch stützt sich auf Art. 15 des Bundesgesetzes über den Schutz von Marken und Herkunftsangaben (MSchG; SR 232.11). Nach dieser im Rahmen der Markenrechtsrevision von 1992 eingeführten Vorschrift gilt für berühmte Marken ein erweiterter Schutzbereich: Der Inhaber einer berühmten Marke kann anderen deren Gebrauch nicht nur für bestimmte Warenkategorien (vgl.
Art. 13 Abs. 1 MSchG
), sondern für jede Art von Waren oder Dienstleistungen verbieten, wenn ein solcher Gebrauch die Unterscheidungskraft der Marke gefährdet oder deren Ruf ausnützt oder beeinträchtigt (
Art. 15 Abs. 1 MSchG
). Vorbehalten bleiben allerdings Rechte Dritter, die erworben wurden, bevor die Marke Berühmtheit erlangt hat (
Art. 15 Abs. 2 MSchG
).
a) Das Gesetz sagt nicht, wann eine Marke als berühmt zu gelten hat; der Gesetzgeber hat bewusst auf eine Legaldefinition verzichtet (vgl. BBl 1991 I, S. 27). Anhaltspunkte ergeben sich immerhin daraus, dass
Art. 15 MSchG
berühmte Marken vor Rufausnutzung oder -beeinträchtigung sowie vor Beeinträchtigungen ihrer Unterscheidungskraft schützen will. Von diesem Normzweck ist bei der Auslegung des Begriffs der berühmten Marke auszugehen. Berühmtheit einer Marke ist dort anzunehmen, wo sich der in
Art. 15 MSchG
umschriebene erweiterte Schutz sachlich rechtfertigt. Das ist dann der Fall, wenn es dem Inhaber gelungen ist, seiner Marke eine derart überragende Verkehrsgeltung zu verschaffen, dass ihre durchschlagende Werbekraft sich nicht nur im angestammten Waren- oder Dienstleistungsbereich nutzen lässt, sondern darüber hinaus geeignet ist, auch den Absatz anderer Waren oder Dienstleistungen erheblich zu erleichtern. Die berühmte Marke zeichnet sich dadurch aus, dass ihre Werbekraft einen in den verschiedensten Bereichen nutzbaren erheblichen wirtschaftlichen Wert darstellt (vgl. WILFRIED HEINZELMANN, Der Schutz der berühmten Marke, Diss. Zürich 1993, S. 126) und deshalb auch dazu einlädt, von anderen ausgebeutet zu werden (DAVID, in: Kommentar zum Schweizerischen Privatrecht, Basel, N. 3 zu
Art. 15 MSchG
). Berühmtheit setzt voraus, dass die Marke sich bei einem breiten Publikum allgemeiner Wertschätzung erfreut; denn solange nur eng begrenzte produktespezifische Abnehmerkreise
BGE 124 III 277 S. 280
die Marke kennen und schätzen, besteht kein legitimes Bedürfnis nach einem erweiterten Schutz (MARBACH, Markenrecht, in: Schweizerisches Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht, Basel, Bd. III, S. 215). Nicht erforderlich ist hingegen, dass die Marke absolut einmalig ist; eine "relative Alleinstellung" genügt (MARTIN SCHNEIDER, Schutzumfang der Marke: Zum Einfluss von Kennzeichnungskraft und Bekanntheitsgrad auf berühmte, bekannte, starke und schwache Marken, SMI 1996, S. 416; vgl. auch CHRISTIAN ENGLERT, Bekannte Marken sind nicht ganz so bekannt wie berühmte, in: Binsenwahrheiten des Immaterialgüterrechts, FS Lucas David 1996, S. 86 f.). Vereinzelte - auch ältere - Drittmarken vermögen der Verkehrsgeltung einer berühmten Marke keinen Abbruch zu tun. Allerdings darf es sich nicht um eine Dutzendmarke handeln, die immer und immer wieder anzutreffen ist; für solche Marken rechtfertigt sich ein erweiterter Schutz von Ruf und Unterscheidungskraft nicht, da ihnen ausserhalb des angestammten Warenbereichs sowohl die nötige Unterscheidungskraft als auch ein besonderer Ruf fehlt, den ein erheblicher Teil der Markenadressaten unwillkürlich einem bestimmten Markeninhaber zuordnen würde (vgl. MARBACH, a.a.O.; DAVID, a.a.O.).
b) Das Handelsgericht stellt in tatsächlicher Hinsicht fest, dass ein Grossteil der Sporttreibenden die Marke der Klägerin kennen dürfte. Denn der aktive Sportler (und längst nicht mehr nur der Jogger) sehe sich bei der Auswahl von Trainingsschuhen und Sportbekleidung fast zwangsläufig mit Waren konfrontiert, welche die klägerische Marke tragen. Die Werbung der Klägerin tauche im Zusammenhang mit "Running", "Jogging" oder auch Tennis usw. immer wieder auf. Es gebe wenige Wettkämpfe der Spitzenklasse, bei denen nicht auf der Bandenwerbung oder auf Startnummern und Bekleidung der Athleten die klägerische Marke zu sehen sei. Internationale Fernsehübertragungen von Marathonwettkämpfen, Triathlons oder Basketballturnieren sowie schweizerische Veranstaltungen von Wettkämpfen mit internationaler Bedeutung und Beachtung, wie z.B. das Zürcher Leichtathletikmeeting, hätten die klägerische Marke seit etwa Mitte der achtziger Jahre auch dem Passivsportler in der Schweiz vertraut gemacht. Zu berücksichtigen sei ebenfalls das seit den neunziger Jahren wachsende Markenbewusstsein der breiten Bevölkerungsschichten; insbesondere bei Jugendlichen habe sich ein regelrechter Markenkult gebildet, was auch den - zahlenden - Eltern nicht entgehen könne. Zu den begehrten Marken gehöre ebenfalls diejenige der Klägerin. "NIKE"
BGE 124 III 277 S. 281
zähle zumindest in der Schweiz zu den zwei, drei bekanntesten Sportartikelmarken.
c) Wenn das Handelsgericht aus diesen Feststellungen schliesst, dass die klägerische Marke spätestens seit Beginn der neunziger Jahre Berühmtheit erlangt hat, so ist dieser Schluss bundesrechtlich nicht zu beanstanden. Aufgrund der im angefochtenen Urteil festgestellten Tatsachen ist ohne weiteres davon auszugehen, dass sich die klägerische Marke sowohl bei Aktiv- als auch bei Passivsportlern und damit in breiten Bevölkerungskreisen einer allgemeinen Wertschätzung erfreut, und dass sie deshalb eine überragende Verkehrsgeltung geniesst, die es erlaubt, die Werbekraft des Zeichens nicht nur für die Vermarktung von Sportartikeln zu nutzen, sondern auch für die Vermarktung von anderen Waren, insbesondere von Produkten, die in der Werbung in eine gedankliche Verbindung zum Sport gebracht werden. Die Beklagten verfügen zwar im Ausland, namentlich in Spanien, ebenfalls über seit Jahrzehnten bestehende Markenrechte am Zeichen "NIKE". Dies dürfte dem schweizerischen Publikum aber kaum bekannt sein. Es handelt sich offensichtlich um vereinzelte Drittrechte, die der Berühmtheit der klägerischen Marke zum vornherein nicht entgegenstehen.
d) In ihrer Berufung scheinen denn die Beklagten die Berühmtheit der klägerischen Marke auch gar nicht mehr in Abrede zu stellen. Ihrer Ansicht nach ist ein Unterlassungsanspruch der Klägerin jedoch aus den folgenden drei Gründen zu verneinen: erstens wegen entgegenstehender wohlerworbener Rechte der Beklagten im Sinne von
Art. 15 Abs. 2 MSchG
(E. 2 hienach), zweitens wegen Fehlens einer Rufausbeutung durch die Beklagten (E. 3 hienach) und drittens wegen widersprüchlichen und damit rechtsmissbräuchlichen Verhaltens der Klägerin.
2.
Das neue Markenschutzgesetz ist am 1. April 1993 in Kraft getreten. Nach Ansicht der Beklagten kann sich die Klägerin erst ab diesem Zeitpunkt auf die Berühmtheit ihrer Marke berufen. Davon geht auch das Handelsgericht aus. Die Beklagten machen geltend, sie hätten bereits vor dem 1. April 1993 Rechte am Zeichen "NIKE" erworben, die sie der Klägerin gestützt auf
Art. 15 Abs. 2 MSchG
entgegenhalten könnten. Dabei stellen sie zwar nicht in Abrede, dass ihre 1984 eingetragene Marke "NIKE" infolge Nichtgebrauchs zu einer "Registerleiche" geworden war. Sie behaupten jedoch, ihr Markenrecht sei 1992 wieder aufgelebt, weil die Beklagte 2 in diesem Jahr eine Kundin in Deutschland beliefert habe, was gemäss Art. 5 des Übereinkommens vom 13. April 1892 zwischen der
BGE 124 III 277 S. 282
Schweiz und Deutschland betreffend den gegenseitigen Patent-, Muster- und Markenschutz (SR 0.232.149.136) einem Markengebrauch in der Schweiz gleichzustellen sei. Auf diese Argumentation ist zurückzukommen (E. c hienach).
Vorweg ist indessen der Einwand der Klägerin zu prüfen, die Denkweise der Beklagten sei "schon im Ansatz falsch". Nach Auffassung der Klägerin ist die Berühmtheit ihrer Marke bei der Anwendung von
Art. 15 Abs. 2 MSchG
nämlich nicht erst ab dem 1. April 1993, sondern bereits seit Beginn der neunziger Jahre zu beachten, mit der Folge, dass sich die Beklagten selbst bei einer Aufnahme des Gebrauchs ihrer Marke im Jahre 1992 nicht auf wohlerworbene Rechte berufen könnten. Damit wendet sich die Klägerin zugleich gegen die - insoweit mit dem Standpunkt der Beklagten übereinstimmenden - Erwägungen der Vorinstanz. Zu einer solchen Kritik an einzelnen Punkten der vorinstanzlichen Urteilsbegründung ist sie im Rahmen der Berufungsantwort befugt (
BGE 118 II 36
E. 3 S. 37, mit Hinweis).
a) Mit ihrem Einwand wirft die Klägerin die Frage auf, wie berühmte Marken und ihnen entgegengehaltene Drittrechte übergangsrechtlich zu handhaben sind. Grundlage des schweizerischen intertemporalen Privatrechts bilden die allgemeinen Vorschriften des Schlusstitels des ZGB. Dessen Art. 1 hält den Grundsatz der Nichtrückwirkung fest.
Art. 3 SchlT ZGB
konkretisiert diesen Grundsatz in bezug auf Dauerrechtsverhältnisse, deren Inhalt unabhängig vom Willen der Parteien durch das Gesetz umschrieben wird: Auf solche Rechtsverhältnisse ist bis zum Inkrafttreten der Rechtsänderung das alte und ab diesem Zeitpunkt das neue Recht anwendbar. In Übereinstimmung mit dieser Vorschrift bestimmt
Art. 76 Abs. 1 MSchG
, dass die beim Inkrafttreten des neuen Gesetzes eingetragenen Marken von diesem Zeitpunkt an dem neuen Recht unterstehen. Gemäss
Art. 76 Abs. 2 lit. a MSchG
richtet sich jedoch die Priorität für solche Marken weiterhin nach altem Recht (vgl. MARBACH, Das neue Markenschutzgesetz: Die Übergangsbestimmungen, AJP 1993, S. 549 f.).
In analoger Anwendung von
Art. 76 Abs. 2 lit. a MSchG
ist davon auszugehen, dass die Frage, ob der berühmten Marke oder den geltend gemachten Drittrechten der Vorrang zukommt, auf der Grundlage des alten Rechts zu beurteilen ist, soweit sich die massgebenden Sachverhalte vor dem Inkrafttreten des neuen Markenschutzgesetzes verwirklicht haben. Das bedeutet einerseits, dass in bezug auf die Drittrechte die Prioritätsregeln des alten Markenschutzgesetzes
BGE 124 III 277 S. 283
zu beachten sind. Anderseits ist aber auch in bezug auf die Abwehrrechte des Inhabers der berühmten Marke das alte Recht massgebend. Die zeitlich früher erlangte Berühmtheit einer Marke kann daher Dritten, die sich auf vor dem Inkrafttreten des neuen Markenschutzgesetzes erworbene Rechte berufen, nur - aber immerhin - insoweit entgegengehalten werden, als sie den Markeninhaber im Zeitpunkt der Begründung der Drittrechte berechtigt hätte, den Dritten den Gebrauch ihrer Zeichen verbieten zu lassen. Als wohlerworben können Drittrechte nur gelten, wenn sie erworben worden sind, bevor die Berühmtheit einer gleichen oder ähnlichen Marke deren Inhaber einen Verbotsanspruch verliehen hat. Ein solcher Verbotsanspruch ergab sich nach altem Recht zwar nicht aus dem Markenschutzgesetz, wohl aber aus den Vorschriften über den Persönlichkeitsschutz und über den unlauteren Wettbewerb, sofern die entsprechenden Voraussetzungen gegeben waren (vgl.
BGE 116 II 463
ff. sowie 614 ff., je mit Hinweisen).
b) Die Beklagten behaupten, dass ihre Rechte am Zeichen "NIKE" durch den im Jahre 1992 aufgenommenen Markengebrauch prioritätsbegründend wieder aufgelebt seien. Zu diesem Zeitpunkt hatte jedoch die klägerische Marke bereits Berühmtheit erlangt, ergibt sich doch aus den Feststellungen im angefochtenen Urteil, dass spätestens seit Beginn der neunziger Jahre von der Berühmtheit der klägerischen Marke auszugehen ist (E. 1 hievor). Ein Gebrauch des Zeichens "NIKE" durch die Beklagten im Jahre 1992 hätte aber einerseits das Namensrecht der Klägerin verletzt und wäre anderseits als schmarotzerisch und damit unlauter zu qualifizieren gewesen (vgl. E. 3 hienach). Die Klägerin hätte somit den Beklagten den Gebrauch des Zeichens verbieten lassen können, weshalb die von ihnen geltend gemachten Rechte nicht als wohlerworben gelten können.
Art. 15 Abs. 2 MSchG
vermag den Beklagten schon aus diesem Grund nicht zu helfen.
c) Im übrigen irren die Beklagten, wenn sie annehmen, die im Jahre 1992 erfolgten Lieferungen an eine deutsche Kundin seien einem Markengebrauch in der Schweiz gleichzustellen. Wie die Klägerin zutreffend darlegt, berufen sich die Beklagten zu Unrecht auf den schweizerisch-deutschen Staatsvertrag vom 13. April 1892 betreffend den gegenseitigen Patent-, Muster- und Markenschutz. Denn die Rechte aus diesem Staatsvertrag können zum vornherein nur deutsche und schweizerische Staatsangehörige sowie Angehörige dritter Staaten mit Wohnsitz oder Niederlassung in Deutschland oder in der Schweiz beanspruchen, wobei es für juristische Personen
BGE 124 III 277 S. 284
allerdings genügt, wenn sie eine tatsächliche und nicht nur zum Schein bestehende gewerbliche oder Handelsniederlassung in einem der Vertragsstaaten haben (HEINRICH DAVID, Der schweizerisch-deutsche Staatsvertrag vom 13. April 1892 betreffend den gegenseitigen Patent-, Muster- und Markenschutz, GRUR Int. 1972, S. 269; HELMUT DROSTE, Unbenutzte Zeichen und Art. 5 des deutsch-schweizerischen Übereinkommens von 1892, GRUR 1974, S. 523). Daran ändert nichts, dass Art. 2 der Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums vom 20. März 1883 (PVUe Stockholm; SR 0.232.04) allen Verbandsländern die Inländergleichbehandlung vorschreibt. Denn diese Vorschrift bezieht sich nur auf die Vorteile, die den Inländern durch innerstaatliche Gesetze gewährt werden, nicht jedoch auf Rechte, die in internationalen Abkommen verankert sind (BODENHAUSEN, Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums, Köln/ Berlin/Bonn/München 1971, S. 22). Da die Beklagte 2, die 1992 eine Kundin in Deutschland beliefert haben will, in Spanien ansässig ist und weder in der Schweiz noch in Deutschland eine Niederlassung besitzt, kann sie aus dem schweizerisch-deutschen Staatsvertrag von 1892 keine Rechte für sich herleiten. Unbehelflich ist auch der Standpunkt, wonach der Meistbegünstigungsgrundsatz gemäss Art. 4 des Abkommens über handelsbezogene Aspekte der Rechte an geistigem Eigentum (TRIPS-Abkommen; SR 0.632.20, S. 342 ff., Anhang 1.C zum WTO-Abkommen) der Beklagten 2 die Berufung auf den Staatsvertrag erlauben soll. Mit dieser Argumentation übersehen die Beklagten, dass Art. 4 des TRIPS-Abkommens nur auf neue Staatsverträge vorbehaltlos Anwendung findet, während Staatsverträge, die vor dem Inkrafttreten des WTO-Abkommens, mithin vor dem 1. Juni 1995 in Kraft getreten sind, von der Meistbegünstigungswirkung grundsätzlich ausgenommen bleiben (Art. 4 lit. d des TRIPS-Abkommens).
3.
Das Handelsgericht hält den Beklagten vor, mit der Lancierung einer an den sportlichen Mann gerichteten Kosmetiklinie unter dem Zeichen "NIKE" den Ruf der Klägerin auszunützen. Die Beklagten beanstanden dies als "pauschale Annahme" und bezeichnen die Schlussfolgerung der Vorinstanz als unhaltbar.
a) Die berühmte Marke zeichnet sich dadurch aus, dass sich ihre grosse Werbekraft nicht nur zur Vermarktung der Waren oder Dienstleistungen, für die sie eingetragen ist, sondern auch in anderen Bereichen wirtschaftlich nutzen lässt (E. 1a hievor). Eine solche Nutzung soll dem Inhaber der berühmten Marke, der deren Ruf
BGE 124 III 277 S. 285
aufgebaut hat, vorbehalten bleiben (WILFRIED HEINZELMANN, a.a.O., .S. 126 f.). Eine Marke wird nicht von selbst berühmt. Sie zu Berühmtheit zu bringen, kostet Anstrengung. Die Früchte dieser Anstrengung soll der Markeninhaber selbst geniessen können; sie sollen nicht Dritten zufallen. Deswegen verleiht
Art. 15 Abs. 1 MSchG
dem Markeninhaber einen Abwehranspruch gegen Versuche Dritter, ihre eigenen Zeichen im Windschatten seiner berühmten Marke zu positionieren (MARBACH, Markenrecht, a.a.O., S. 216). Dabei setzt das Gesetz keine Absicht der Rufausnützung voraus. Der fremde Markengebrauch muss nicht absichtlich darauf ausgelegt sein, den Ruf der berühmten Marke auszunützen. Es genügt vielmehr, wenn er objektiv zu schmarotzerischer Rufausnützung führt, indem Dritte gewissermassen als Trittbrettfahrer vom Ruf profitieren können, den der Markeninhaber für sein berühmtes Zeichen errungen hat (vgl. WILFRIED HEINZELMANN, a.a.O., S. 136).
Ob eine Rufausnützung im umschriebenen Sinne gegeben ist, hängt entscheidend davon ab, ob sich die mit der berühmten Marke verbundenen Gütevorstellungen und Werbebotschaften auf die unter dem gleichen Zeichen angebotenen Waren Dritter übertragen lassen (vgl. MARTIN SCHNEIDER, a.a.O., S. 424). Ist zu erwarten, dass die massgebenden Verkehrskreise eine derartige Übertragung vornehmen, kommt der Ruf der berühmten Marke dem Drittangebot zugute. Der Inhaber der berühmten Marke muss es sich aber nicht gefallen lassen, dass sein Werbeerfolg von Dritten als Vorspann für die eigenen Produkte verwendet wird (MARBACH, Markenrecht, a.a.O.).
b) Angesichts der überragenden Verkehrsgeltung, zu der die Klägerin nach den Feststellungen der Vorinstanz ihrer Sportartikel-Marke verholfen hat (E. 1b und c hievor), liegt auf der Hand, dass die Beklagten beim Absatz ihrer an den sportlichen Mann gerichteten Kosmetik-Produkte objektiv vom Ruf des klägerischen Zeichens profitieren würden. Die Vorstellungen sportlicher Dynamik, die das Publikum mit der klägerischen Marke verbindet, sind ohne weiteres auf eine Kosmetiklinie übertragbar, bei deren Vermarktung ebenfalls der Charakter der Sportlichkeit herausgestrichen wird. Die Beklagten könnten daher, würde ihnen der Gebrauch des Zeichens "NIKE" erlaubt, den klägerischen Werbeerfolg auf die eigenen Mühlen lenken. Genau dies will jedoch
Art. 15 MSchG
verhindern. Ob, wie das Handelsgericht gestützt auf eine Reihe von Indizien annimmt, die Beklagten darüber hinaus bewusst versuchen, sich an den klägerischen Ruf anzulehnen, spielt nach dem Gesagten keine Rolle.
BGE 124 III 277 S. 286
c) Abwegig ist im übrigen der von den Beklagten beiläufig erhobene Einwand, die klägerische Marke sei gar nicht schutzfähig, weil "NIKE" eine Sachbezeichnung sei, für die ein Freihaltebedürfnis bestehe. Es trifft zwar zu, dass "N-ikh" der Name der Siegesgöttin der alten Griechen ist und das Wort auch im Neugriechischen die Bedeutung "Sieg" hat. Die Klägerin macht jedoch zu Recht geltend, dass siegreich nicht Waren oder Dienstleistungen sind, sondern höchstens die Menschen, die sich ihrer bedienen. Das Wort "NIKE" ist schon aus diesem Grund nicht als blosse Sachbezeichnung anzusehen, ohne dass näher abgeklärt zu werden braucht, wieweit seine Bedeutung den schweizerischen Markenadressaten überhaupt bekannt ist. Abgesehen davon ergibt sich die Schutzfähigkeit der berühmten klägerischen Marke auch bereits aus ihrer unbestreitbaren Verkehrsdurchsetzung. | de |
5923e49f-5863-4cf8-93dd-d75bd64047ff | Sachverhalt
ab Seite 230
BGE 100 II 230 S. 230
A.-
Die Robugen GmbH in Esslingen (BRD) liess am 26. Oktober 1953 das Warenzeichen MIROCOR für Medikamente unter Nr. 172 339 in das vom Internationalen Büro zum Schutze des gewerblichen Eigentums geführte Markenregister eintragen. Sie gebrauchte es bis Ende 1960 in Deutschland; dann benutzte sie das Zeichen nur noch auf Medikamenten, die sie in einige Länder ausführte; die Schweiz gehörte zunächst nicht dazu. Am 28. August 1967 meldete sie ein unter der Marke MIROCOR vertriebenes Herzstärkungsmittel bei der Interkantonalen Kontrollstelle für Heilmittel (IKS) in Bern an, die das Mittel jedoch erst am 10. Januar 1972 als bewilligungspflichtig registrierte. Die Robugen GmbH will es
BGE 100 II 230 S. 231
bereits seit Dezember 1971 in der Schweiz auf den Markt gebracht haben.
Die belgische Firma Janssen Pharmaceutica ist Inhaberin der am 21. Januar 1970 international registrierten Marke MICRONOR, die insbesondere für pharmazeutische Produkte bestimmt ist und seit Ende August 1971 in der Schweiz gebraucht wird.
B.-
Im Juni 1972 klagte die Firma Janssen gegen die Robugen GmbH mit den Begehren, die Marke Nr. 172 339 MIROCOR für das Gebiet der Schweiz nichtig zu erklären und der Beklagten deren weitere Verwendung in der Schweiz unter Strafe zu verbieten. Sie machte geltend, die Marken MIROCOR und MICRONOR seien für gleichartige Waren bestimmt und verwechselbar; für das Gebiet der Schweiz komme aber der Klägerin die Priorität zu, weshalb die Marke der Beklagten zu weichen habe.
Das Handelsgericht des Kantons Bern hiess die Klage am 21. Februar 1973 gut.
C.-
Die Beklagte hat gegen dieses Urteil die Berufung erklärt. Sie beantragt, es aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Berufung abzuweisen und das angefochtene Urteil zu bestätigen. Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Die Beklagte anerkennt, dass die Marken MICRO-NOR und MIROCOR für gleichartige Waren gebraucht werden, wegen ihrer Ähnlichkeit in Klang und Schriftbild aber miteinander verwechselbar sind.
Sie bestreitet bloss, dass die Klägerin ihr im Gebrauch der Marke in der Schweiz zuvorgekommen sei; sie könne sich nämlich für die Zeit von 1960 bis 1971 auf den Gebrauch ihrer Marke in Deutschland berufen und sich denselben nach Art. 5 des deutsch-schweizerischen Übereinkommens von 1892 für das Gebiet der Schweiz als rechtserhaltend anrechnen lassen, verfüge folglich hier über bessere Rechte als die Klägerin.
a) Nach Art. 5 Abs. 1 des Übereinkommens zwischen der Schweiz und Deutschland betreffend den gegenseitigen Patent-, Muster- und Markenschutz von 13. April 1892 (BS 11 S. 1057; vgl. BBl 1950 III 468) sollen Rechtsnachteile, die nach den Gesetzen der Vertragsstaaten eintreten, wenn insbesondere
BGE 100 II 230 S. 232
eine Handels- oder Fabrikmarke nicht innerhalb einer bestimmten Frist verwendet wird, auch dadurch ausgeschlossen werden, dass die Marke im Gebiet des anderen Staates gebraucht wird. Der Gebrauch der Marke im einen Staate gilt somit auch als Gebrauch im anderen (
BGE 96 II 254
f. Erw. 5). Dem Wortlaut des Staatsvertrages ist nicht zu entnehmen, was dabei als Gebrauch anzusehen und welches Recht anzuwenden ist, wenn die Auffassungen über diesen Begriff sich in den beiden Staaten nicht decken. Dies veranlasste die Beklagte offenbar, sich auf die Entstehungsgeschichte des Vertrages zu berufen.
Die Vorarbeiten zum Abkommen wären für dessen Auslegung jedoch nur von Bedeutung, wenn sie auf die streitigen Fragen eine klare Antwort gäben (vgl.
BGE 82 II 485
,
BGE 86 IV 94
,
BGE 97 I 823
/4,
BGE 98 Ia 184
,
BGE 98 Ib 380
). Das lässt sich nicht sagen; die Entstehungsgeschichte spricht eher gegen als für die Auffassung der Beklagten. Das Abkommen erwies sich u.a. als notwendig, weil Deutschland wegen seiner Patentgesetzgebung der Internationalen Konvention zum Schutz des gewerblichen Eigentums vom 20. März 1883 (BS 11 S. 965) nicht beitreten wollte. Es regelt vor allem Fragen aus dem Patentrecht, wozu in der Botschaft des Bundesrates freilich ausgeführt wurde, für die Ausnützung von Erfindungen solle die Gesetzgebung des Fabrikationslandes massgebend sein (BBl 1892 III 252). Daraus darf indes entgegen DAVID (Der schweizerisch-deutsche Staatsvertrag vom 13. April 1892, in Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht [GRUR] 1972 Ausl. S. 272) nicht gefolgert werden, der gleiche Grundsatz gelte auch für Marken. Das geht umsoweniger an, als die Deutschen beharrlich daran festhielten, dass im Streitfall der (deutsche) Richter darüber zu befinden habe, ob eine Ausnützung "in einem angemessenen Umfang" gemäss deutschem Patentrecht vorliege (vgl. Verhandlungsprotokoll S. 14, Schreiben des schweiz. Delegierten vom 10. März und dessen Telegramme vom 11. und 12. März 1892).
Die Beklagte hält denn auch für völlig klar, dass die deutsche Seite sich vorbehielt, den angemessenen Umfang einer Patentverwertung nötigenfalls durch ein deutsches Gericht überprüfen zu lassen. Auf das Markenrecht übertragen heisst das jedoch nicht, dass sich der Gebrauch einer Marke in Deutschland ausschliesslich nach deutschem Recht beurteile.
BGE 100 II 230 S. 233
Ein allfälliger Vorbehalt, die Benutzung einer Marke im Streitfalle nach eigenem Recht zu beurteilen, müsste vielmehr für beide Staaten gelten.
b) Nach dem Zweck, den man mit dem Abkommen auf dem Gebiete des Markenrechtes insbesondere verfolgte, verhält es sich übrigens nicht anders. Deutschland ging es dabei vor allem darum, seine Angehörigen vom Gebrauchszwang, den es erst seit 1973 kennt, in der Schweiz zu befreien; deutsche Staatsangehörige und ihnen gleichzustellende Personen konnten den Rechtsnachteilen dieses Zwanges dadurch entgehen, dass sie die Marke in Deutschland benutzten. Dagegen konnte es nicht die Absicht der Vertragsschliessenden sein, dass ein Staat Angehörige des andern auf seinem Gebiet besser behandle als seine eigenen. Nach Art. 1 des Abkommens, der 1902 durch den inhaltlich gleichen Art. 2 der Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutze des gewerblichen Eigentums (PVUe) abgelöst worden ist (vgl. BS 11 S. 1057), sollen die Angehörigen des einen Staates auf dem Gebiete des andern vielmehr wie die Inländer behandelt werden. Nicht auf eine solche Gleichbehandlung, sondern auf eine Besserstellung liefe aber die Anwendung des Abkommens hinaus, wenn ein deutscher Staatsangehöriger als Inhaber einer in Deutschland geschützten Marke sich in der Schweiz gegenüber einem Inhaber, der seine Marke hier benützt, auf einen nach schweizerischem Recht nicht anerkannten Gebrauch berufen könnte.
Nach deutscher Auffassung gilt die Verwendung von Marken auf Waren, die nicht im Inland abgesetzt, sondern ausschliesslich ins Ausland verkauft werden, ebenfalls als Gebrauch im Sinne des Warenzeichenrechts; es genügt, dass der Inhaber die Exportgüter im Inland mit der Marke versieht (BAUMBACH/HEFERMEHL, Wettbewerbs- und Warenzeichenrecht, 10. Aufl. Bd. II S. 197 N. 21; REIMER, Wettbewerbs- und Warenzeichenrecht, 4. Aufl. Bd. I S. 506 N.11). Nach schweizerischer Anschauung dagegen kommt als markenmässiger Gebrauch nur die Verwendung der Marke auf der Ware selbst oder deren Verpackung in Frage; die blosse reklamemässige Benutzung auf Prospekten und in Inseraten kann nach Wettbewerbsrecht von Bedeutung sein, genügt nach Markenrecht jedoch nicht (
BGE 50 II 200
,
BGE 60 II 163
). Der prioritätsbegründende Gebrauch beginnt zudem nicht schon mit dem Anbringen der Marke auf der Ware, sondern erst mit
BGE 100 II 230 S. 234
deren Erscheinen auf dem schweizerischen Markt (TROLLER, Immaterialgüterrecht, 2. Aufl. Bd. I S. 338; DAVID, Kommentar zum MSchG, 2. Aufl. N. 22 zu Art. 1). Mit der Marke versehene, aber ausschliesslich für den Export bestimmte Waren erfüllen dieses Erfordernis nicht, mag die Marke auch in der Schweiz angebracht werden (vgl.
BGE 89 II 100
mit Zitaten; ferner nicht veröffentlichtes Urteil der I. Zivilabteilung vom 23. Januar 1973 i.S. Simonian gegen Serexa Watch SA).
Ungleiche Behandlungen im Inland wären bei diesen unterschiedlichen Rechtsanschauungen über den markenmässigen Gebrauch unvermeidlich, wenn es in Fällen wie dem vorliegenden auf das deutsche Recht ankäme. Ungleichheiten ergäben sich übrigens nicht bloss bei Exportgütern, sondern auch daraus, dass nach deutscher Auffassung schon das Anbringen der Marke auf Ankündigungen, Preislisten, Geschäftsbriefen, Empfehlungen und Rechnungen, ja sogar an der Ladentüre als markenmässiger Gebrauch angesehen wird (BAUMBACH/HEFERMEHL, a.a.O. S. 364 f. N. 10 und 13 zu
§ 15 WZG
), während ein Markeninhaber nach schweizerischem Recht mit solchen Tatsachen noch keine Priorität zu begründen vermag. Die Anwendung deutschen Rechts hätte diesfalls zur Folge, dass ein in Deutschland handelnder Markeninhaber in der Schweiz von einem Nachteil befreit würde, dem die Angehörigen dieses Landes selber unterliegen. Solche Ungleichheiten lassen sich bei einem Nichtgebrauch der Marke in der Schweiz nur vermeiden, wenn die Anforderungen, die an deren Gebrauch in Deutschland zu stellen sind, nach schweizerischem Recht beurteilt werden.
c) Diese Auffassung wird auch in der Lehre vertreten. Nach TROLLER (Immaterialgüterrecht, a.a.O. S. 336) bestimmt das schweizerische Recht, ob die Verwendung der Marke in Deutschland den Vorschriften des
Art. 9 MSchG
in der Schweiz genüge. Art. 5 des Abkommens ändere daran nichts; er gestatte bloss, dass die in
Art. 9 MSchG
vorgeschriebene Verwendung auch in Deutschland erfolgen könne, weshalb sie nur zu beachten sei, wenn sie nach schweizerischem Recht als markenmässiger Gebrauch gelte. BREITENMOSER (Die Benutzung der Marke nach schweizerischem Recht, in GRUR 1965 Ausl. S. 597) ist ebenfalls der Meinung, dass die Marke in Deutschland im Sinne des schweizerischen Rechts benutzt,
BGE 100 II 230 S. 235
d.h. auf der Ware oder deren Verpackung angebracht werden müsse. Die davon abweichende Ansicht DAVIDs zum Staatsvertrag (GRUR 1972 Ausl. S. 272) vermag dagegen nicht zu überzeugen, zumal sich nicht sagen lässt, Art. 5 des Abkommens verweise auf die Verhältnisse im andern Land. MATTER sodann äussert sich an der von der Beklagten angerufenen Stelle (Kommentar zum MSchG S. 227/8) bloss zu den Straftatbeständen. Er verweist zudem auf Rechtsprechung, von der das Bundesgericht inzwischen, namentlich im Entscheid 78 II 171, deutlich abgerückt ist.
Zu einer anderen Auslegung von Art. 5 Abs. 1 des Abkommens besteht umsoweniger Anlass, als die Bestimmung auch nach der deutschen Rechtsprechung nicht dahin verstanden werden kann, die Benutzung eines Zeichens im einen Staat sei einer Benutzung im anderen rechtlich in jeder Hinsicht gleichzustellen; nach seinem Wortlaut beziehe das Abkommen sich vielmehr bloss auf den Fall des Rechtsnachteils wegen Nichtbenutzung innerhalb einer bestimmten Frist (Urteil des Bundesgerichtshofes vom 26. Juni 1968, veröffentlicht in GRUR 1969 S. 48 ff. mit Anm. von Bussmann). Unter Hinweis auf diese Rechtsprechung wird im deutschen Schrifttum seit Einführung des Gebrauchszwanges ebenfalls die Auffassung vertreten, dass bei Nichtbenutzung eines Zeichens in der Bundesrepublik die an einen ausreichenden Gebrauch in der Schweiz zu stellenden Anforderungen nach deutschem Recht zu beurteilen sind (KARL-HEINZ FEZER, Der Benutzungszwang im Markenrecht, S. 148).
d) Nach dem angefochtenen Urteil hat die Beklagte die Marke MIROCOR von 1960 bis Ende 1971 in der Schweiz überhaupt nicht und in Deutschland nur auf Waren verwendet, die sie in einige andere Länder ausführte. Bei dieser Sachlage kann sie sich aus den hiervor angeführten Gründen gegenüber der Klägerin, die ihre Marke MICRONOR seit Ende August 1971 in der Schweiz gebraucht, hier weder auf einen prioritätsbegründenden noch auf einen rechtserhaltenden Gebrauch berufen.
Wie es sich damit nach
Art. 6 ff. PVUe
verhielte, kann offen bleiben, da Art. 5 des Abkommens diesen Bestimmungen vorgeht (vgl. immerhin
BGE 99 Ib 25
ff. Erw. 4).
2.
Die Beklagte wirft dem Handelsgericht vor,
Art. 1 und 9 MSchG
dadurch verletzt zu haben, dass es den Gebrauchswillen,
BGE 100 II 230 S. 236
den sie mit dem 1967 bei der IKS eingereichten Gesuch bekundete, ausser acht gelassen habe. Die IKS habe die Behandlung des Gesuches um Zulassung des Herzstärkungsmittels "MIROCOR" verzögert, weshalb sie das Mittel erst Ende 1971 in der Schweiz habe auf den Markt bringen können. Es sei unbillig, ihr diesen Nachteil anzulasten, statt auf den schon mit dem Gesuch zum Ausdruck gebrachten Gebrauchswillen abzustellen.
Der Vorwurf ist unbegründet. Die Beklagte hat ihr Zeichen MIROCOR zwar bereits im Herbst 1953 international registrieren lassen, es aber während vielen Jahren in der Schweiz nicht gebraucht und für die Zeit von 1960 bis Ende 1971 auch keinen nach schweizerischem Recht hinreichenden Gebrauch in Deutschland nachzuweisen vermocht. Ihr Markenrecht für das Gebiet der Schweiz ist daher wegen Nichtgebrauches, den die Beklagte übrigens nicht im Sinne von
Art. 9 Abs. 1 MSchG
zu rechtfertigen versucht, untergegangen (vgl.
BGE 93 II 50
). Im Jahre 1971 aber ist die Klägerin ihr im Gebrauch der Marke MICRONOR in der Schweiz um einige Monate zuvorgekommen. Die Beklagte hätte dem insbesondere dadurch vorbeugen können, dass sie sich bereits innert der Karenzfrist, die Ende 1963 ablief, an die IKS wandte oder dass sie die Marke MIROCOR 1967, als sie die IKS um Zulassung des unter diesem Zeichen vertriebenen Heilmittels in der Schweiz ersuchte, im schweizerischen Markenregister eintragen liess. Diesfalls hätte sie die Vermutung des ersten Hinterlegers für sich gehabt und nach Ablauf der Frist von drei Jahren den Nichtgebrauch allenfalls rechtfertigen können.
Aus
BGE 98 Ib 185
Erw. 3 kann die Beklagte nichts zu ihren Gunsten ableiten. Dort versuchte eine Firma in der Schweiz den Schutz von zwei international registrierten Zeichen zu erwirken, obwohl Zweifel an ihrer Absicht bestanden, dass sie den Gebrauch der Marken noch innert der Karenzfrist aufnehmen werde. Wenn die Registerbehörde in jenem Falle auf dem Nachweis einer ernsthaften Gebrauchsabsicht beharrt hat, heisst -das nicht, eine solche Absicht vermöge selbst dann, wenn sie ausserhalb der Karenzfrist des
Art. 9 MSchG
bekundet wird, den markenmässigen Gebrauch eines Zeichens zu ersetzen und gegenüber einer andern Marke ein Vorrecht zu begründen.
Bei diesem Ergebnis kann dahingestellt bleiben, ob der Umstand,
BGE 100 II 230 S. 237
dass die Behandlung des Gesuches durch die IKS wegen Begutachtung des Heilmittels sich über mehrere Jahre erstreckte, als Rechtfertigungsgrund im Sinne von
Art. 9 MSchG
angerufen werden könnte (vgl. KARL-HEINZ FEZER, a.a.O. S. 111). | de |
a5ab86a4-ccc9-41e7-9d90-6cf744465f96 | Sachverhalt
ab Seite 614
BGE 116 II 614 S. 614
A.-
Die Guccio Gucci S.p.A. (Klägerin) ist eine Aktiengesellschaft mit Sitz in Florenz. Sie ist 1982 aus der Guccio Gucci S.r.l. hervorgegangen, die 1939 von Guccio Gucci gegründet und mit der Zeit zu einem Grossunternehmen der Modebranche mit verschiedenen, teils rechtlich selbständigen Gucci-Firmen entwickelt worden war. Zu ihren Aktivitäten gehören die Produktion und der Vertrieb von Luxusartikeln, namentlich im Bereich von Lederwaren und Modeaccessoires. Sie ist Inhaberin der am 30. März 1977 und 16. Dezember 1980 hinterlegten IR-Marken 429 833 und 457 952 GUCCI, welche auch in der Schweiz geschützt sind. Hier werden ihre Produkte durch Franchisenehmer vertrieben.
Paolo Gucci (Beklagter) ist ein Enkel des Firmengründers Guccio Gucci. Er war jahrelang in verschiedenen Funktionen für die Guccio Gucci S.r.l. tätig, vornehmlich in der Designabteilung. 1978 schied er aufgrund von familieninternen Zwistigkeiten aus dem Unternehmen aus. Heute betätigt er sich als selbständiger Designer, nach eigenen Angaben vor allem im Bereich von Mode,
BGE 116 II 614 S. 615
Modeaccessoires, Möbeln und Lampen. Er ist Inhaber der am 18. September 1982 hinterlegten, in der Schweiz seit 1984 ebenfalls geschützten IR-Marke 474 260 PAOLO GUCCI mit dem Signet "PG im Kreis". In der Schweiz hat er bisher weder die Marke benutzt noch irgendeine andere geschäftliche Aktivität entwickelt.
B.-
Am 25. Juni 1987 klagte die Guccio Gucci S.p.A. beim Handelsgericht des Kantons Bern auf Nichtigerklärung der IR-Marke 474 260 PAOLO GUCCI sowie auf Unterlassung der Verwendung der Bezeichnung GUCCI oder PAOLO GUCCI durch den Beklagten.
Mit Urteil vom 8. November 1989 erklärte das Handelsgericht den schweizerischen Anteil der IR-Marke 474 260 PAOLO GUCCI nichtig und verbot dem Beklagten unter Strafandrohung, die Bezeichnung GUCCI/PAOLO GUCCI im Geschäftsverkehr im Zusammenhang mit Erzeugnissen zu verwenden, für welche die Klägerin durch die IR-Marken 429 833 und 457 952 Schutz beanspruchen kann.
Das Bundesgericht weist die Berufung des Beklagten und die Anschlussberufung der Klägerin ab, soweit es darauf eintritt. Erwägungen
Erwägungen:
5.
Der Beklagte macht geltend, die Nichtigerklärung seiner Marke und das gegen ihn ausgesprochene Benutzungsverbot verletzten seine Namens- und Urheberrechte. | de |
8f8c4303-42ee-496c-8ac6-dd349efe587f | Sachverhalt
ab Seite 56
BGE 112 V 55 S. 56
A.-
Roman Scheu war Verwaltungsratspräsident der Z. AG, über die am 12. Juli 1983 der Konkurs eröffnet wurde. Am 19. August 1983 reichte er der öffentlichen Arbeitslosenkasse des Kantons Zürich einen Antrag auf Insolvenzentschädigung im Sinne von
Art. 51 AVIG
ein; er gab an, in der konkursiten Firma als Verkäufer tätig gewesen zu sein, und bezifferte seinen Monatslohn auf Fr. ... Mit Schreiben vom 26. August 1983 meldete er die bei der Arbeitslosenkasse geltend gemachte Lohnforderung auch beim Konkursamt Zürich-Altstetten an.
Am 22. September 1983 verneinte die Arbeitslosenkasse verfügungsweise den Anspruch des Roman Scheu auf Insolvenzentschädigung mit der Begründung, gemäss Art. 3 Verordnung über die Insolvenzentschädigung vom 6. Dezember 1982 (VOI, A5 1982 2225) dürften Insolvenzentschädigungen nur für betreibungsrechtlich privilegierte Forderungen ausgerichtet werden. Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung seien Forderungen von Verwaltungsratspräsidenten
BGE 112 V 55 S. 57
nicht privilegiert und würden deshalb in der 5. Klasse kolloziert.
Das Konkursamt seinerseits teilte Roman Scheu mit Verfügung vom 3. November 1983 mit, dass lediglich die vom Arbeitgeber abhängigen und damit in einer sozial schwachen Stellung befindlichen Arbeitnehmer das Lohnprivileg der 1. Klasse beanspruchen könnten. Einem Angestellten, der einen bestimmenden Einfluss auf den Geschäftsgang des konkursiten Unternehmens habe ausüben können, wie z.B. ein Verwaltungsratsmitglied, stehe dieses Privileg nicht zu. Deshalb sei die Forderung in der Höhe von Fr. ... in der 5. Klasse kolloziert worden. Diese konkursamtliche Verfügung wurde unangefochten rechtskräftig.
B.-
Gegen die Verfügung der Arbeitslosenkasse beschwerte sich Roman Scheu bei der Rekurskommission für die Arbeitslosenversicherung des Kantons Zürich. Diese wies die Beschwerde aus den gleichen Überlegungen, von denen sich schon die Arbeitslosenkasse hatte leiten lassen, am 6. Januar 1984 ab.
C.- Roman Scheu führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag auf Gewährung der verlangten Insolvenzentschädigung. Die Arbeitslosenkasse und das Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit (BIGA) verzichten mit Schreiben vom 1. März bzw. 22. März 1984 auf eine Vernehmlassung zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Am 20. September 1984 hat das BIGA zu verschiedenen ihm vom Eidg. Versicherungsgericht unterbreiteten Fragen Stellung genommen. Darauf wird in den rechtlichen Erwägungen zurückzukommen sein.
Erwägungen
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Nach
Art. 51 AVIG
haben beitragspflichtige Arbeitnehmer von Arbeitgebern, die in der Schweiz der Zwangsvollstreckung unterliegen oder in der Schweiz Arbeitnehmer beschäftigen, Anspruch auf Insolvenzentschädigung,
a) wenn gegen ihren Arbeitgeber der Konkurs eröffnet wird und ihnen
in diesem Zeitpunkt Lohnforderungen zustehen oder
b) wenn sie gegen ihren Arbeitgeber für Lohnforderungen das Pfändungsbegehren gestellt haben.
Gemäss
Art. 52 Abs. 1 AVIG
deckt die Insolvenzentschädigung Lohnforderungen für die letzten drei Monate vor der Konkurseröffnung oder vor dem Pfändungsbegehren, für jeden Monat jedoch nur bis zum Höchstbetrag für die Beitragsbemessung. Als
BGE 112 V 55 S. 58
Lohn gelten auch die geschuldeten Zulagen. Der Arbeitnehmer ist verpflichtet, im Konkurs- und Pfändungsverfahren alles zu unternehmen, um seine Ansprüche gegenüber dem Arbeitgeber zu wahren, bis die Kasse ihm mitteilt, dass sie an seiner Stelle in das Verfahren eingetreten ist. Danach muss er die Kasse bei der Verfolgung ihres Anspruches in jeder zweckdienlichen Weise unterstützen (
Art. 55 Abs. 1 AVIG
).
Unter dem Randtitel "Ausführungsbestimmungen" hat der Gesetzgeber in
Art. 109 AVIG
angeordnet, dass der Bundesrat die Ausführungsbestimmungen zu erlassen hat. In diesem Sinne hat der Bundesrat - in Ausführung von
Art. 51 AVIG
- in Art. 3 VOI, die vom 1. Januar bis 31. Dezember 1983 in Kraft stand, vorgeschrieben:
"Die Kasse darf eine Insolvenzentschädigung nur ausrichten, wenn der Arbeitnehmer seine Lohnforderung glaubhaft macht. Es muss sich dabei um eine betreibungsrechtlich privilegierte Forderung handeln."
Diese Bestimmung wurde auf den 1. Januar 1984 durch den inhaltlich gleichlautenden
Art. 74 AVIV
ersetzt.
2.
Verwaltung und Vorinstanz begründen ihren auf Art. 3 VOI sich stützenden anspruchsverneinenden Entscheid im wesentlichen damit, dass die vom Beschwerdeführer im Konkurs der Z. AG geltend gemachte Forderung wegen seiner Stellung als Verwaltungsratspräsident der konkursiten Firma betreibungsrechtlich nicht privilegiert gewesen sei. In diesem Zusammenhang stellt sich vorerst die Frage, ob Art. 3 VOI überhaupt gesetzeskonform war. Zwar führt die Vorinstanz im angefochtenen Entscheid aus: "Der Wortlaut von Art. 3 VOI ist klar und eindeutig. Eine Prüfung dieser Verordnungsbestimmung auf ihre Gesetzmässigkeit hin - wie der Rekurrent sinngemäss geltend macht - drängt sich nicht auf."
Es liegt auf der Hand, dass die Eindeutigkeit einer Verordnungsbestimmung nicht ausschliesst, dass sie gesetzwidrig sein könnte. Denn allenfalls ist auch eine Vorschrift eindeutig, die ohne jeden Zweifel das Gegenteil dessen anordnet, was eine andere Bestimmung beinhaltet. Die Gesetzmässigkeit der oben zitierten Verordnungsbestimmung ist daher zu überprüfen.
a) Art. 3 VOI stellt - wie gesagt - im Sinne von
Art. 109 AVIG
eine Ausführungsbestimmung zu
Art. 51 AVIG
dar. Solche Ausführungsbestimmungen dürfen nicht über den Rahmen des Gesetzes hinausgehen. Sie haben keine andere Funktion, als gewisse
BGE 112 V 55 S. 59
Gesetzesbestimmungen zu präzisieren, gegebenenfalls echte Gesetzeslücken zu schliessen und, soweit nötig, das anwendbare Verfahren festzulegen. Wenn keine ausdrückliche Ermächtigung dazu vorliegt, dürfen sie keine neuen Regeln enthalten, welche die Rechte des Bürgers einschränken oder ihm neue Pflichten auferlegen, und zwar selbst dann nicht, wenn diese Regeln mit dem Zweck des Gesetzes im Einklang ständen (
BGE 108 V 116
und
BGE 103 IV 194
).
Nach
Art. 51 AVIG
besteht ein Anspruch auf Insolvenzentschädigung unter den in dieser Bestimmung näher umschriebenen Voraussetzungen für "Lohnforderungen". Auch in
Art. 52 Abs. 1 AVIG
betreffend den Umfang der Insolvenzentschädigung und in
Art. 55 Abs. 2 AVIG
über die Pflichten des Versicherten wird der gleiche Ausdruck verwendet, während in
Art. 54 Abs. 1 AVIG
, der den Übergang der Forderung an die Kasse regelt, von "Lohnansprüchen" die Rede ist. Indessen sind beide Ausdrücke ihrem Inhalt nach offensichtlich identisch.
Eine nähere Umschreibung der Ausdrücke Lohnforderungen bzw. Lohnansprüche enthält das AVIG im Zusammenhang mit den Regeln über die Insolvenzentschädigung nicht. Nach seinem Art. 1 Abs. 1 will das AVIG jedoch den Versicherten einen "angemessenen Ersatz garantieren für Erwerbsausfälle" wegen Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit, schlechten Wetters und Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers. Gemäss
Art. 3 Abs. 1 AVIG
sind die Beiträge an die Versicherung "vom massgebenden Lohn im Sinne der AHV-Gesetzgebung zu entrichten". Das Taggeld beträgt bei Arbeitslosigkeit einen Prozentsatz des "versicherten Verdienstes" (
Art. 22 Abs. 1 AVIG
), worunter "der für die Beitragsbemessung massgebende Lohn (Art. 3)" zu verstehen ist, allerdings unter Vorbehalt gewisser namentlich aufgeführter Ausnahmen, wie beispielsweise Entschädigungen für arbeitsbedingte Inkonvenienzen, Verdienste, die eine Mindestgrenze nicht erreichen (
Art. 23 Abs. 1 AVIG
), und Nebenverdienste (
Art. 23 Abs. 3 AVIG
).
Art. 34 AVIG
bemisst die Kurzarbeitsentschädigung in Prozenten "des anrechenbaren Verdienstausfalls" (Abs. 1), wobei "massgebend ist, bis zum Höchstbetrag für die Beitragsbemessung (Art. 3), der vertraglich vereinbarte Lohn in der letzten Zahltagsperiode vor Beginn der Kurzarbeit". Auch sind hier wieder einzelne Ausnahmen vorgesehen (Abs. 2). Für die Bemessung der Schlechtwetterentschädigung wird auf die bei der Kurzarbeit geltende Regelung verwiesen (
Art. 44 Abs. 1 AVIG
).
BGE 112 V 55 S. 60
Grundlage für die Bemessung der Leistungen bei Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit oder schlechtem Wetter ist also der für die Beitragsbemessung massgebende Lohn im Sinne der AHV-Gesetzgebung, wenn auch mit gewissen, einzeln geregelten Ausnahmen. Es stellt sich die Frage, ob hinreichende Anhaltspunkte dafür bestehen, dass bei der Insolvenzentschädigung nicht vom AHV-rechtlichen Begriff des massgebenden Lohnes auszugehen wäre, sondern von demjenigen der "betreibungsrechtlich privilegierten Forderung", wie das BIGA in seinem Schreiben an das Eidg. Versicherungsgericht vom 20. September 1984 meint. Dieser Begriff ist nicht nur enger als der AHV-rechtliche Begriff des massgebenden Lohnes; vielmehr wird damit eine zusätzliche Anspruchsvoraussetzung aufgestellt, welche die Anspruchsberechtigung des Versicherten einschränkt.
b) Das BIGA begründet seine Auffassung, dass diese Einschränkung beabsichtigt war, anhand der Gesetzesmaterialien, der Gesetzessystematik und des Zwecks der Insolvenzentschädigung. Der Hinweis insbesondere auf die Gesetzesmaterialien ist indessen nicht stichhaltig:
aa) In der Expertenkommission für eine Neukonzeption der Arbeitslosenversicherung wurde im Zusammenhang mit einem Antrag Schweingruber darüber diskutiert, ob die durch die Insolvenzentschädigung abzudeckenden Lohnforderungen denjenigen entsprechen sollten, die gemäss
Art. 219 SchKG
privilegiert sind (Protokoll Nr. 13 der Expertenkommission S. 22 ff.). Der betreffende Antrag Schweingruber wurde jedoch abgelehnt. Im Anschluss daran wurde die Frage aufgeworfen, "ob der Bundesrat - nachdem die Kongruenz mit dem SchKG fehlt" - nicht ermächtigt werden sollte, die massgebenden Nebenbezüge näher zu bezeichnen. Dabei wurde "die Angleichung des Begriffes Nebenbezüge an die bei der Kurzarbeit getroffene Regelung" angeregt, die Notwendigkeit einer ausdrücklichen Verordnungskompetenz dafür jedoch verneint (Protokoll S. 24 f.). Daraus lässt sich nichts herauslesen, was die Auffassung des BIGA bestätigen würde, man sei schon in der Expertenkommission allgemein davon ausgegangen, dass die Insolvenzentschädigung lediglich die konkursrechtlich privilegierten Arbeitnehmerforderungen abdecken solle. Wenn über die konkursrechtlich nicht privilegierten Forderungen in der Expertenkommission nicht gesprochen wurde, dann wohl deswegen, weil man sich über allfällige Unterschiede zwischen dem Begriff des massgebenden Lohnes gemäss AHV-Gesetzgebung und
BGE 112 V 55 S. 61
den privilegierten Lohnforderungen gemäss
Art. 219 SchKG
keine Rechenschaft gab oder aber weil es als sinnlos erschienen wäre, für die Insolvenzentschädigung von einem andern Lohnbegriff auszugehen als bei der Arbeitslosen-, Kurzarbeits- oder Schlechtwetterentschädigung.
bb) Die Botschaft des Bundesrates vom 2. Juli 1980 zu einem neuen Bundesgesetz über die obligatorische Arbeitslosenversicherung und die Insolvenzentschädigung spricht von den Lohnforderungen der 5. Klasse nicht ausdrücklich, wohl aber von den privilegierten Lohnforderungen im Konkurs, indem ausgeführt wird (BBl 1980 III 534):
"Die Insolvenzentschädigung stellt eine Neuerung in der Arbeitslosenversicherung dar. Schon seit Jahren wurden Begehren gestellt, angesichts der wirtschaftlichen Entwicklung im Rahmen der Sozialversicherung eine Regelung zum Schutze der Lohnguthaben der Arbeitnehmer zu treffen. ... Tatsächlich schützt auch die Privilegierung von Lohnforderungen im Konkurs (Einteilung in die erste Gläubigerklasse) nicht immer vor einem partiellen oder gar totalen Verlust dieser Forderungen. Der Verlust der Lohnforderung kann den einzelnen betroffenen Arbeitnehmer in seiner Existenz bedrohen, auch wenn es gesamthaft meist nicht um einen übermässig hohen Betrag geht. Um diese Lücke im sozialen Schutz zu schliessen, ... wurde nach einer Lösung im Rahmen des öffentlichen Arbeitnehmerschutzes gesucht..."
Diesen Ausführungen kann bloss die Feststellung entnommen werden, dass die Einreihung in die erste Gläubigerklasse nicht vor Verlust schützt und der Verlust von Lohnforderungen eine Lücke im sozialen Schutz darstellt, die geschlossen werden muss. Nicht ausdrücklich erwähnt wurde in diesem Zusammenhang die Möglichkeit von Verlusten an Lohnforderungen gegenüber dem nicht der Konkursbetreibung unterliegenden Arbeitgeber, obwohl auch hier eine Lücke bestand, die durch das AVIG ebenfalls geschlossen wurde. Wenn aber ein derart wichtiger Punkt im zitierten Botschaftstext nicht erwähnt wurde, dann kann aus der Nichterwähnung der "Lohnforderungen 5. Klasse" nichts zu Gunsten der These des BIGA abgeleitet werden.
Zu Art. 51 des Gesetzesentwurfes betreffend Umfang der Insolvenzentschädigung hält die Botschaft ferner fest (BBl 1980 III 606):
"Die Insolvenzentschädigung deckt Lohnansprüche, die sich auf die letzten drei Monate vor der Konkurseröffnung oder vor dem Pfändungsbegehren beziehen. Die Lohnansprüche, die sich immer auf geleistete Arbeit beziehen, werden voll gedeckt. Ein Gleichziehen mit dem Konkursprivileg, welches unter anderem die Lohnforderungen für sechs
BGE 112 V 55 S. 62
Monate und auch Entschädigungen für vorzeitige Auflösung des Arbeitsverhältnisses umfasst, ist hier nicht angezeigt, da die Insolvenzentschädigung eigentlich dem System der Arbeitslosenversicherung fremd ist. Sie soll sich darauf beschränken, im Konkursfall des Arbeitgebers dem Arbeitnehmer den Lebensunterhalt zu garantieren."
Auch diese Ausführungen ergeben nichts zu Gunsten der Auffassung des BIGA. Insbesondere kann aus dem Umstand, dass mit Bezug auf bestimmte Punkte (zeitliche Dauer der durch die Insolvenzentschädigung gedeckten Lohnforderungen, Ausschluss der Deckung für Ansprüche wegen vorzeitiger Auflösung des Arbeitsverhältnisses) ein "Gleichziehen mit dem Konkursprivileg" abgelehnt wurde, nicht der Umkehrschluss gezogen werden, in den übrigen Punkten sei ein Gleichziehen beabsichtigt gewesen. Dieser Gedanke hätte vielmehr klar zum Ausdruck gebracht werden müssen, was wohl auch geschehen wäre, wenn eine solche Auffassung bestanden hätte. Es wäre unverständlich, wenn in einer bundesrätlichen Botschaft ein begrifflicher Unterschied zwischen dem Lohn als Bemessungsgrundlage für die Arbeitslosen-, Kurzarbeits- sowie Schlechtwetterentschädigung einerseits und den durch die Insolvenzentschädigung gedeckten Lohnforderungen anderseits als offenbar selbstverständlich stillschweigend vorausgesetzt würde, wie das BIGA sinngemäss geltend macht.
Schliesslich ist festzuhalten, dass der Botschaft zu den übrigen Artikeln des Gesetzesentwurfes betreffend die Insolvenzentschädigung auch nicht andeutungsweise etwas zu Gunsten der vom BIGA vertretenen Auffassung zu entnehmen ist.
cc) Nach der Meinung des BIGA ist man bei den Beratungen im Parlament "wiederum" und "ausschliesslich" von den privilegierten Forderungen ausgegangen. Dem Protokoll der ständerätlichen Kommission vom 11./12. November 1981 (S. 23 f.) lässt sich indessen bloss entnehmen, dass - wie in der Expertenkommission und in der Botschaft - über eine allfällige Verlängerung der Zeitspanne, für welche Lohnforderungen durch die Insolvenzentschädigung zu decken sind, diskutiert worden ist, wobei man zur Ablehnung einer Verlängerung auf sechs Monate gelangte.
Richtig ist zwar, dass im Ständerat ein Vorschlag diskutiert wurde, Arbeitnehmer vom Anspruch auf Insolvenzentschädigung auszuschliessen, wenn sie die Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers absichtlich oder grobfahrlässig verursacht hätten, und dass dieser Vorschlag im Differenzbereinigungsverfahren fallengelassen wurde mit dem Hinweis darauf, es beständen genügend andere rechtliche Mittel
BGE 112 V 55 S. 63
und Sanktionen zur Erreichung dieses Zieles. Die Diskussion belegt indessen nicht, dass die Meinung bestanden hätte, die Insolvenzentschädigung solle lediglich konkursrechtlich privilegierte Forderungen decken. Es ist auch nicht einzusehen, inwiefern aus einem Verzicht auf eine spezielle Sanktion für zumindest grobfahrlässige Schadenzufügung der Wille abgeleitet werden könnte, dass auch diejenigen, die sich nichts zuschulden kommen liessen, vom Leistungsbezug ausgeschlossen werden sollten. Zudem trifft es nicht zu, dass lediglich leitende Arbeitnehmer (z.B. Geschäftsführer) die Zahlungsunfähigkeit einer Firma schuldhaft verursachen könnten, wie das BIGA anzunehmen scheint. Das gleiche Ergebnis kann auch durch ein fehlbares Verhalten eines untergeordneten Arbeitnehmers herbeigeführt werden (z.B. Unterschlagung durch einen Buchhalter, Brandstiftung durch einen Nachtwächter usw.), deren Lohnforderungen wohl auch nach der Meinung des BIGA gestützt auf
Art. 219 SchKG
grundsätzlich privilegiert sind.
Zusammenfassend ergibt sich, dass die Gesetzesmaterialien, auf welche sich das BIGA beruft, keinen Rückschluss auf eine gesetzgeberische Absicht zulassen, wonach lediglich privilegierte Lohnforderungen durch die Insolvenzentschädigung gedeckt sein sollen.
c) Nach der Meinung des BIGA soll auch die Gesetzessystematik gegen die Ausrichtung von Insolvenzentschädigungen bei nicht privilegierten Forderungen sprechen, weil nach
Art. 54 AVIG
mit der Ausrichtung der Entschädigung die Lohnansprüche des Versicherten im Ausmass der bezahlten Entschädigung und der von der Kasse entrichteten Sozialversicherungsbeiträge samt dem gesetzlichen Konkursprivileg auf die Kasse übergehen.
Art. 54 AVIG
bedeutet indessen lediglich, dass die Arbeitslosenkasse im Umfang der von ihr ausgerichteten Insolvenzentschädigung voll in die Rechtsstellung des Arbeitnehmers gegenüber dem Arbeitgeber eintritt. Es wäre nicht einzusehen, weshalb die Rechtsstellung der Arbeitslosenkasse schlechter sein sollte als diejenige des Arbeitnehmers, dessen Lohnforderungen sie anstelle des Arbeitgebers mit gesetzlichem Rückgriffsrecht auf den letzteren bzw. auf die Konkursmasse befriedigt.
d) Schliesslich meint das BIGA, die Beschränkung der Insolvenzentschädigung auf betreibungsrechtlich privilegierte Lohnforderungen ergebe sich auch aus dem Zweck der Insolvenzentschädigung.
aa) Namentlich vertritt das BIGA die Meinung, der Schutz des Arbeitnehmers für ausstehende Lohnforderungen bei Zahlungsunfähigkeit
BGE 112 V 55 S. 64
des Arbeitgebers solle nur "typischen" Arbeitnehmern zustehen; dazu gehörten Versicherte mit Arbeitgeberfunktionen (z.B. leitende Angestellte, Direktoren usw.) nicht. Dass leitende Angestellte allenfalls aufgrund ihrer früheren Stellung nicht gewillt wären, ihre Lohnforderungen "gegenüber den Forderungen der übrigen Gläubiger in eine privilegierte Klasse zu kollozieren", ist kaum zutreffend. Aber selbst wenn in Einzelfällen die Behauptung des BIGA zuträfe, dann spräche dies nicht für den unterschiedslosen Ausschluss einer ganzen Kategorie von Arbeitnehmern vom sozialen Schutz durch die Insolvenzentschädigung. Vielmehr wäre das daraus entstehende Problem wie bei allen andern Arbeitnehmern im Rahmen von
Art. 55 Abs. 2 AVIG
zu lösen, wonach der Arbeitnehmer die Insolvenzentschädigung zurückerstatten muss, "soweit die Lohnforderung im Konkurs oder in der Pfändung abgewiesen oder aus Gründen nicht gedeckt wird, die der Arbeitnehmer absichtlich oder grobfahrlässig herbeigeführt hat, ebenso soweit sie vom Arbeitgeber nachträglich erfüllt wird".
bb) Das BIGA sieht sodann den "ausschliesslichen" Schutz der privilegierten Lohnforderungen auch durch die betreibungsrechtliche Praxis ergänzt, welche "das Konkursprivileg für die höchsten Angestellten eines Betriebes, insbesondere die Direktoren oder Verwaltungsräte von Aktiengesellschaften" ablehne. Diese Praxis belegt das BIGA mit einem Urteil des Bezirksgerichts Laufenburg vom 23. Juni 1983 in Sachen Konkursmasse Firma H. AG, das seinerseits auf einige wenige ältere Gerichtsentscheide und auf Literatur verweist, die nicht den gegenwärtigen Stand der Doktrin wiedergibt. Demgegenüber ist auf BRUNI, Die Stellung des Arbeitnehmers im Konkurs des Arbeitgebers (in: Basler juristische Mitteilungen 1982, S. 281 ff.) zu verweisen, der die Schwierigkeiten erwähnt, die sich dann ergeben, wenn geltend gemachte Lohnansprüche von Verwaltungsräten und von Angestellten zu kollozieren sind, denen Organqualität zukommt. BRUNI gelangt zum Schluss, in der Regel sei nicht nur Prokuristen und Handlungsbevollmächtigten, sondern selbst Direktoren von fallierten Gesellschaften ein Konkursprivileg 1. Klasse zuzugestehen, da diese zumeist dem Weisungsrecht des Verwaltungsrates unterstehen. Eine zurückhaltende Beurteilung dränge sich bei Direktoren auf, die gleichzeitig dem Verwaltungsrat angehören, oder bei Verwaltungsräten selbst. Indessen sei "im Einzelfall die konkrete wirtschaftliche Stellung der betroffenen Person im Gesamtgefüge der
BGE 112 V 55 S. 65
Gesellschaft zu überprüfen. Eindeutig kein Privileg kann ein Verwaltungsrat beanspruchen, der zugleich Mehrheitsaktionär der Gesellschaft ist, da hier kein Unterordnungsverhältnis vorliegt" (S. 296).
Zu einem im wesentlichen gleichen Schluss gelangt auch BRÖNNIMANN, Der Arbeitgeber im Konkurs (Diss. Basel 1982, S. 79 ff.; vgl. auch das in dieser Diss. zitierte Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich vom 13. Dezember 1977, in: Blätter für Zürcherische Rechtsprechung 77/1978, Nr. 25, S. 52), der ausführt: "Erledigt das Verwaltungsratsmitglied neben den eigentlichen statutarischen und gesetzlichen Aufgaben (
Art. 721 ff. OR
) untergeordnete Arbeiten, kann der Gegenwert für diese Tätigkeit, weil als Gegenleistung weisungsgebundener Arbeit geschuldet, privilegiert sein" (S. 82).
Die vom BIGA bestrittene Schutzbedürftigkeit leitender Angestellter beruht nach GROB-ANDERMACHER, Die Rechtslage des Arbeitnehmers bei Zahlungsunfähigkeit und Konkurs des Arbeitgebers (Diss. Zürich 1982), auf der Überlegung, dass der leitende Angestellte in gewissen Situationen sogar schutzbedürftiger sei als ein untergeordneter Arbeitnehmer. Bei einer Fusionierung, Rationalisierung oder einem Managementwechsel könne es nämlich gelegentlich vorkommen, dass nur die Kaderstellen neu besetzt oder wegrationalisiert werden, während untergeordnete Arbeitsplätze davon unberührt bleiben. Bei Auflösung des Arbeitsverhältnisses hätten leitende Angestellte Mühe, innert der Kündigungsfrist eine gleichwertige Arbeit zu finden. Die Chancen würden mit steigendem Lebensalter geringer, vor allem je gehobener die Position gewesen sei, die sie innegehabt haben. Leitende Angestellte, die bei einer sich abzeichnenden Krise die entsprechenden Massnahmen wie Kündigung, Stellensuche und Sicherstellung der Lohnforderung vorzeitig treffen könnten, seien nicht selten stärker an das Unternehmen gebunden als die übrigen Arbeitnehmer. In der Praxis werde oft gerade mit leitenden Angestellten ein längerfristiger Arbeitsvertrag abgeschlossen, der nur mit Ablauf der Vertragszeit aufgelöst werden könne und nicht durch Kündigung. Selbst im Falle eines kündbaren Vertrages würden bei Verneinung eines sozialen Schutzes gerade jene benachteiligt, die sich bis zuletzt trotz Kündigungsmöglichkeit für das Unternehmen eingesetzt und sich bemüht haben, einen Konkurs noch abzuwenden, was im Interesse nicht nur des Arbeitgebers, sondern auch der übrigen Arbeitnehmer liege (S. 57 f.).
BGE 112 V 55 S. 66
Diese Ausführungen, denen beizupflichten ist, sprechen deutlich gegen die Auffassung des BIGA, wonach "höchste Angestellte" - anscheinend wegen offensichtlichen Fehlens eines sozialen Schutzbedürfnisses - durch den Gesetzgeber vom Anspruch auf Insolvenzentschädigung ausgeschlossen worden wären.
cc) Ferner glaubt das BIGA,
Art. 31 Abs. 3 lit. c AVIG
betreffend die Kurzarbeitsentschädigung unterstreiche, "dass der Gesetzgeber den Versicherungsschutz nur jenen Versicherten gewähren wollte, die in einem echten Arbeitsverhältnis stehen und Lohneinbussen erleiden müssen". Nach der zitierten Bestimmung haben keinen Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung Personen, die in ihrer Eigenschaft als Gesellschafter, als finanziell am Betrieb Beteiligte oder als Mitglieder eines obersten betrieblichen Entscheidungsgremiums die Entscheidungen des Arbeitgebers bestimmen oder massgeblich beeinflussen können.
In der bundesrätlichen Botschaft wird zu Art. 30 des Entwurfes ausgeführt (BBl 1980 III 591 f.):
"In diesem Zusammenhang sei nochmals ausdrücklich betont, dass der Ausschluss vom Bezug sich nur auf Kurzarbeit bezieht und dass somit die betreffenden Arbeitnehmer bei Ganzarbeitslosigkeit aufgrund ihrer vorgängigen Leistungen gegebenenfalls anspruchsberechtigt sein können."
Dementsprechend besteht bezüglich der Arbeitslosenentschädigung keine Ausschlussklausel, die
Art. 31 Abs. 3 lit. c AVIG
entspräche (vgl.
Art. 8 AVIG
). Das neue Recht knüpft im wesentlichen an die Regelung an, die unter der Übergangsordnung gegolten hat. Gemäss Übergangsordnung stand den betreffenden Versicherten so lange kein Taggeldanspruch gegenüber der Arbeitslosenversicherung zu, als sie den Eintritt des Versicherungsfalles selbst massgebend beeinflussen konnten, was zwar bei Kurzarbeit leicht, bei Ganzarbeitslosigkeit aber nicht ohne weiteres möglich ist (vgl.
BGE 105 V 101
). Sie hat aber die unter dem alten Recht bestandene Möglichkeit, die fraglichen Personengruppen auch bei Ganzarbeitslosigkeit von der Anspruchsberechtigung auszuschliessen, anscheinend aufgegeben.
Die Situation eines leitenden Arbeitnehmers im Konkurs eines Arbeitgebers entspricht mit Bezug auf seine Stellung bezüglich einer Auslösung des Insolvenzrisikos grundsätzlich eher derjenigen des Ganzarbeitslosen als derjenigen des Kurzarbeiters. Jedenfalls spricht der Umstand, dass laut Botschaft die in
Art. 31 Abs. 3 lit. c AVIG
erwähnten Personen ausdrücklich nur vom Bezug von
BGE 112 V 55 S. 67
Kurzarbeitsentschädigung ausgeschlossen werden, gegen die bundesamtliche Auffassung.
dd) Schliesslich soll sich die "Sonderstellung der Insolvenzentschädigung" laut bundesamtlicher Stellungnahme auch daraus ergeben, dass ihre verfassungsmässige Grundlage nicht - wie für die Arbeitslosenversicherung -
Art. 34novies BV
sei, sondern "auch Art. 34ter Absatz 1 Buchstaben a und e der Bundesverfassung".
Zum vornherein nicht stichhaltig ist der Hinweis auf lit. e von
Art. 34ter Abs. 1 BV
, weil lit. e die Gesetzgebungsbefugnis des Bundes betreffend die Arbeitsvermittlung beinhaltet. Damit hat die Frage der Insolvenzentschädigung nichts zu tun. Die lit. e ist insbesondere die verfassungsmässige Grundlage für die in
Art. 74 AVIG
vorgesehenen Beiträge an besondere Massnahmen auf dem Gebiete der Arbeitsvermittlung (vgl. BBl 1980 III 644).
Inwiefern lit. a von
Art. 34ter Abs. 1 BV
, die den Bund als zum Erlass von Vorschriften über den Schutz der Arbeitnehmer zuständig erklärt, die Auffassung des BIGA zu untermauern vermag, wird von diesem nicht näher ausgeführt. Dass leitende Angestellte grundsätzlich nicht unter den Begriff Arbeitnehmer im Sinne von
Art. 34ter Abs. 1 lit. a BV
fallen würden, ist zu verneinen (vgl. HUG, Kommentar zum Arbeitsgesetz, N. 17 f. zu Art. 1 N. 1 und 12 zu Art. 3).
e) Zusammenfassend ist festzustellen, dass der Auffassung des BIGA, aus den Gesetzesmaterialien, der Gesetzessystematik und der Zweckbestimmung der Insolvenzentschädigung ergebe sich, dass die leitenden Angestellten vom Anspruch auf Insolvenzentschädigung grundsätzlich ausgeschlossen seien, nicht gefolgt werden kann. Vielmehr ergibt sich, dass Art. 3 VOI, der die Insolvenzentschädigung auf betreibungsrechtlich privilegierte Forderungen beschränkt, nicht gesetzeskonform ist.
Dass der Gesetzgeber im Zusammenhang mit der Insolvenzentschädigung den im AVIG sonst grundsätzlich geltenden AHV-rechtlichen Lohnbegriff durch denjenigen des privilegierten Lohnes nach
Art. 219 SchKG
ersetzen wollte, ist nicht nur nicht belegt, sondern völlig unwahrscheinlich. Das geht schon aus dem Umstand hervor, dass nach der Meinung des BIGA die leitenden bzw. höchsten Angestellten eines Betriebes vom Privileg des
Art. 219 SchKG
ausgeschlossen sein sollen, was jedoch - wie bereits dargetan - weder dem Stand der Lehre noch der Rechtsprechung entspricht. Das Nebeneinander unterschiedlicher Lohnbegriffe im
BGE 112 V 55 S. 68
gleichen Gesetz würde sodann zu einer Rechtszersplitterung führen, die erfahrungsgemäss der Rechtssicherheit abträglich wäre. Ausschlaggebend ist jedoch nicht allein, dass Art. 3 VOI nicht nur eine andere, engere Grundlage für die Bemessung der Insolvenzentschädigung stipuliert, sondern dass das Erfordernis der betreibungsrechtlich privilegierten Lohnforderung eine neue Anspruchsvoraussetzung aufstellt, für welche das Gesetz weder ausdrücklich noch sinngemäss eine Grundlage enthält, und dass sich auch keine entsprechende gesetzgeberische Absicht ermitteln lässt.
Art. 3 VOI und somit auch der inhaltlich gleichlautende
Art. 74 AVIV
sind daher gesetzwidrig. Ist Art. 3 VOI aber nicht gesetzeskonform, so hätte der Anspruch des Beschwerdeführers auf Insolvenzentschädigung nicht aufgrund dieser Verordnungsbestimmung verneint werden dürfen.
3.
Nach
Art. 3 Abs. 1 AVIG
sind die Beiträge an die Arbeitslosenversicherung "vom massgebenden Lohn im Sinne der AHV-Gesetzgebung" zu entrichten. Dazu gehören u.a. auch Tantièmen, feste Entschädigungen und Sitzungsgelder von Mitgliedern von Verwaltungsräten juristischer Personen (
Art. 7 lit. h AHVV
). Man kann sich fragen, ob ein Verwaltungsratsmitglied jedenfalls bezüglich der diesen Entschädigungen zugrundeliegenden Tätigkeiten den Schutz des AVIG geniesst. Indessen kann dies für heute offen bleiben, wie sich aus den folgenden Darlegungen ergibt.
Der Beschwerdeführer war Verwaltungsratspräsident der konkursiten Firma, von der er eine einzige Aktie besass, während die übrigen 299 Aktien mit einem Nennwert von Fr. 1'000.-- sich im Besitze des Verwaltungsrates X befanden. Zu seiner Stellung im konkursiten Betrieb hat der Beschwerdeführer gegenüber der Rekurskommission ausgeführt: Er sei nur deshalb im Verwaltungsrat gewesen, weil es an entsprechenden Personen gemangelt habe und er mit dem Geschäftsführer befreundet gewesen sei. In erster Linie sei er aber Angestellter der Firma gewesen und habe in den vergangenen zwei Jahren kein anderes Einkommen als monatlich Fr. ... bezogen. Für den Verwaltungsratstitel habe er nie einen Franken erhalten. Er fühle sich daher auch nicht anders gestellt als jeder andere Mitarbeiter. Im Gegenteil: um die Kosten tief zu halten, seien möglichst viele Mitarbeiter entlassen worden, und er selbst habe deren Arbeit übernommen. In den letzten sechs Monaten habe er den Verkauf in Zürich allein besorgt, während X den Laden in Schaffhausen betreut habe. Er, der Beschwerdeführer, habe sechs Tage pro Woche allein - ohne Aushilfe - im Laden
BGE 112 V 55 S. 69
gestanden. Dazu bemerkte die Vorinstanz: Weil "sich Roman Scheu weitaus mehr als ein gewöhnlicher Angestellter im Interesse der Firma einsetzte ("in den letzten sechs Monaten allein, ohne Aushilfe, sechs Tage pro Woche, neuneinhalb Stunden täglich, an Donnerstagen jeweils zwölf Stunden im Verkaufsladen gestanden"), ist ... davon auszugehen, dass seine Stellung nach innen seiner äusseren und rechtlichen als Verwaltungsratspräsident mit den entsprechenden Pflichten und der erforderlichen Verantwortung entsprach".
Aufgrund der glaubwürdigen Schilderung der tatsächlichen Verhältnisse durch den Beschwerdeführer ist - abweichend von der Vorinstanz - indessen vielmehr davon auszugehen, dass dieser nicht in seiner Eigenschaft als Verwaltungsratspräsident tätig war, sondern wie irgend ein anderer Arbeitnehmer der betreffenden Firma. Es erscheint auch als glaubhaft, dass der Monatslohn, den er in seinem Leistungsgesuch gegenüber der Arbeitslosenkasse auf Fr. ... beziffert, keine Entschädigung für seine Tätigkeit als Verwaltungsrat enthält. Folglich kann die grundsätzliche Frage nach dem Versicherungsschutz bezüglich der reinen Verwaltungsratstätigkeit - wie gesagt - offenbleiben.
4.
Das BIGA weist schliesslich noch darauf hin, dass der Arbeitnehmer gemäss
Art. 55 Abs. 1 AVIG
im Konkurs- oder Pfändungsverfahren alles unternehmen muss, um seine Ansprüche gegenüber dem Arbeitgeber zu wahren. Insbesondere habe ein Arbeitnehmer, dessen Forderung in der 5. anstatt in der 1. Klasse kolloziert worden ist, den Kollokationsplan anzufechten, um die erwähnte Pflicht zu erfüllen.
Ob und unter welchen Umständen ein Versicherter allenfalls gehalten ist, den Kollokationsplan anzufechten, um
Art. 55 Abs. 1 AVIG
zu genügen, kann ebenfalls offenbleiben.
Art. 55 Abs. 2 AVIG
sieht lediglich die Rückerstattung der Insolvenzentschädigung vor, "soweit die Lohnforderung im Konkurs oder in der Pfändung abgewiesen oder aus Gründen nicht gedeckt wird, die der Arbeitnehmer absichtlich oder grobfahrlässig herbeigeführt hat...". Diese Bestimmung, die weder in den vorberatenden parlamentarischen Kommissionen noch im Plenum der Räte diskutiert wurde, ist jedenfalls insofern klar, als darin die Leistungsverweigerung im Hinblick auf einen vom Versicherten der Arbeitslosenkasse absichtlich oder grobfahrlässig verursachten Schaden nicht erwähnt wird. Das bedeutet bei wörtlicher Auslegung, dass zuerst ein allfälliger Schaden entstanden sein muss, bevor ein schuldhaftes
BGE 112 V 55 S. 70
Verhalten des Versicherten zu einer Sanktion Anlass geben kann. Der Grund für eine derartige Lösung dürfte darin liegen, dass die Arbeitslosenkassen vorerst einmal die Insolvenzentschädigung auszuzahlen haben, um dem Versicherten die notwendigen Mittel für den Lebensunterhalt beim Verlust des Arbeitsplatzes zur Verfügung zu stellen (vgl. BBl 1980 III 606). Ein Schaden war im vorliegenden Fall im Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Verfügung, der für die richterliche Beurteilung einer Verwaltungsgerichtsbeschwerde in der Regel massgebend ist (
BGE 109 V 179
,
BGE 107 V 5
,
BGE 105 V 141
und 154,
BGE 104 V 61
und 143), nicht gegeben.
Demzufolge lässt sich auch aus
Art. 55 Abs. 1 AVIG
nichts ableiten, was zur Verneinung des Anspruchs des Beschwerdeführers auf Insolvenzentschädigung führen müsste.
5.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass dem Beschwerdeführer grundsätzlich ein Anspruch auf Insolvenzentschädigung zusteht. Deren Umfang wird von der Arbeitslosenkasse in einer neuen beschwerdefähigen Verfügung festzusetzen sein. | de |
40ab6ad5-e0e8-4293-abf8-95a7f07bbf50 | Sachverhalt
ab Seite 168
BGE 129 IV 168 S. 168
A.-
X. begab sich am 23. September 2000, um 21.30 Uhr, in die Nähe des B.-Schulhauses in A. Dort näherte er sich den anwesenden vier 15-jährigen Kindern, beobachtete sie über eine Stunde lang vom angrenzenden Waldrand aus, zog seine Hosen herunter und onanierte. Die Jugendlichen hatten ihn bemerkt und jeweils anhand der Glut der von ihm gerauchten Zigaretten lokalisiert. Den eigentlichen Akt der Selbstbefriedigung konnten sie nicht beobachten; sie realisierten aber, dass er am Unterkörper nackt oder allenfalls nur leicht bekleidet war.
B.-
Das Bezirksgericht Brugg sprach X. mit Urteil vom 9. Oktober 2001 von der Anklage der sexuellen Handlung mit Kindern und des Exhibitionismus frei, auferlegte ihm indes die Verfahrenskosten. Auf Berufung der Staatsanwaltschaft und des Beurteilten hin erklärte das Obergericht des Kantons Aargau X. der sexuellen Handlungen mit Kindern (
Art. 187 Ziff. 1 StGB
) schuldig und verurteilte ihn zu zwei Monaten Gefängnis unbedingt. Eine hiegegen geführte eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde hiess das Bundesgericht mit Urteil vom 20. September 2002 gut und hob das angefochtene Urteil auf.
BGE 129 IV 168 S. 169
C.-
Mit Urteil vom 24. Oktober 2002 erklärte das Obergericht des Kantons Aargau X. erneut der sexuellen Handlung mit Kindern (
Art. 187 Ziff. 1 StGB
) schuldig und verurteilte ihn zu zwei Monaten Gefängnis unbedingt.
D.-
X. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
E.-
Das Obergericht des Kantons Aargau beantragt in seiner Vernehmlassung die Abweisung der Beschwerde. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau schliesst unter Verzicht auf Vernehmlassung ebenfalls auf Abweisung der Beschwerde. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
3.1
Gemäss
Art. 187 Ziff. 1 StGB
macht sich der sexuellen Handlungen mit Kindern u.a. schuldig, wer ein Kind unter 16 Jahren in eine sexuelle Handlung einbezieht (aura mêlé ... à un acte d'ordre sexuel; coinvolge ... in un atto sessuale). Das frühere Recht hatte noch die blosse Vornahme einer solchen Handlung vor einem Kind mit Strafe bedroht (Art. 191 Ziff. 2 aStGB). Die neue Fassung des Gesetzes verdeutlicht, dass der Täter die geschlechtliche Handlung bewusst vor dem Kinde ausführen und beabsichtigen muss, dass dieses die Handlung wahrnimmt (Botschaft über die Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes [Strafbare Handlungen gegen Leib und Leben, gegen die Sittlichkeit und gegen die Familie] vom 26. Juni 1985, BBl 1985 II 1009, S. 1067). Das Einbeziehen des Kindes in eine sexuelle Handlung bedeutet, dass der Täter das Kind gezielt zum Zuschauer seiner sexuellen Handlungen, und dadurch zum Sexualobjekt macht (TRECHSEL, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Kurzkommentar, 2. Aufl., Zürich 1997,
Art. 187 StGB
N. 9; STRATENWERTH/JENNY, Schweizerisches Strafrecht, Bes. Teil I, 6. Aufl., Bern 2003, § 7 N. 16; REHBERG/SCHMID, Strafrecht III, 7. Aufl., Zürich 1997, S. 382; CORBOZ, Les infractions en droit suisse, Bd. I, Bern 2002, S. 723 N. 24; vgl. auch PHILIPP MAIER, Basler Kommentar, Strafgesetzbuch II,
Art. 187 StGB
N. 14; ders., Umschreibung von sexuellen Verhaltensweisen im Strafrecht, AJP 1999 S. 1398 f.). Das ist etwa der Fall, wenn der Täter vor dem Kind mit allen Zeichen sexueller Erregung onaniert (JENNY, Kommentar zum Schweizerischen Strafrecht, 4. Bd.: Delikte gegen die sexuelle Integrität und gegen die Familie,
Art. 187 StGB
BGE 129 IV 168 S. 170
N. 21; STRATENWERTH/JENNY, a.a.O., § 7 N. 16). Nicht erforderlich ist, dass das Kind den Vorgang als sexuelle Handlung begreift; was der Täter mit seiner Handlung bezweckt, muss es nicht verstehen (JENNY, a.a.O.,
Art. 187 StGB
N. 15; TRECHSEL, a.a.O.,
Art. 187 StGB
N. 5).
3.2
Nach den Feststellungen der Vorinstanz haben die Jugendlichen hier lediglich wahrgenommen, dass der Beschwerdeführer "am Unterkörper nackt oder allenfalls nur leicht bekleidet war". Seinen Penis oder die eigentliche Selbstbefriedigung haben sie nicht gesehen. Nach Auffassung der Vorinstanz haben sie "den Vorgang aber gestützt auf die gesamten Umstände als sexuelle Handlung interpretiert" bzw. haben sie "die gesamten Umstände richtig eingeordnet und realisiert, dass der Beschwerdeführer sexuelle Absichten verfolgte".
Dies lässt sich, wie der Beschwerdeführer zu Recht einwendet, nicht als Wahrnehmung einer sexuellen Handlung im Sinne von
Art. 187 Ziff. 1 StGB
würdigen. Der Tatbestand des Einbeziehens von Kindern in eine sexuelle Handlung erfordert, dass diese den äusseren Vorgang der sexuellen Handlung als Ganzes unmittelbar sinnlich wahrnehmen (vgl. TRECHSEL, a.a.O.,
Art. 187 StGB
N. 9). Unmittelbar wahrgenommen haben die Jugendlichen hier, wie ausgeführt, aber nur, dass der Beschwerdeführer etliche Zeit auf dem Schulhausareal herumgeschlichen ist und dass er im Bereich des Unterkörpers - jedenfalls an den Oberschenkeln - nicht bekleidet war. Das fällt nicht unter den Tatbestand der sexuellen Handlungen mit Kindern im Sinne von
Art. 187 Ziff. 1 StGB
.
Keiner der Jugendlichen schildert in seinen Aussagen vor der Kantonspolizei denn auch nur ansatzweise, er hätte beobachtet, wie der Beschwerdeführer sich selbst befriedigt habe, dass er an seinem Körper Manipulationen vorgenommen habe, die auf so etwas hätten schliessen lassen, oder dass sie das Glied des Beschwerdeführers gesehen hätten. Die Vorinstanz stützt sich für ihren Schuldspruch letztlich allein auf den Umstand, dass der Beschwerdeführer anlässlich seiner Einvernahme durch die Kantonspolizei zugestanden hatte, er habe sich am fraglichen Ort - nach seiner Darstellung allerdings vor Eintreffen der Jugendlichen - selbst befriedigt. Aus diesem Zugeständnis lässt sich aber nicht ableiten, die Jugendlichen hätten die Selbstbefriedigung des Beschwerdeführers auch tatsächlich gesehen. Das folgt entgegen der Auffassung der Vorinstanz auch nicht daraus, dass die betroffenen Mädchen Strafantrag erhoben haben und dass der Beschwerdeführer nach Eintreffen der alarmierten Polizei die Flucht ergriffen hat.
BGE 129 IV 168 S. 171
Es mag zutreffen, dass die Jugendlichen die Verhaltensweise des Beschwerdeführers als belästigende sexuelle Handlung eingeordnet haben. Diese Zuweisung eines sexuellen Bedeutungsgehalts kann sich aber nur darauf beziehen, was von ihnen tatsächlich unmittelbar beobachtet werden konnte, nämlich dass der Beschwerdeführer sich ihnen während einiger Zeit in teilweise unbekleidetem Zustand mehrfach genähert hat. Das ist keine sexuelle Handlung im Sinne des Gesetzes (vgl.
BGE 125 IV 58
E. 3b). Wie der Beschwerdeführer zu Recht vorbringt, ist der Tatbestand der sexuellen Handlungen mit Kindern nicht erfüllt, wenn sich die Wahrnehmungen der Kinder lediglich auf die Begleitumstände der sexuellen Handlung beschränken.
Im Übrigen ist zu beachten, dass der Einbezug eines Kindes in eine sexuelle Handlung den Tatvarianten der Vornahme einer sexuellen Handlung mit einem Kinde oder der Verleitung eines Kindes zu einer solchen Handlung gleichsteht und dass für alle Tatvarianten dieselben Strafdrohungen, nämlich Zuchthaus bis zu fünf Jahren oder Gefängnis, gelten. Der Tatbestand des Einbeziehens erfordert daher eine Verhaltensweise von einiger Erheblichkeit, mithin eine ähnlich intensive Beteiligung des Kindes wie bei den anderen beiden Tatvarianten der Vornahme oder der Verleitung (vgl. JENNY, a.a.O.,
Art. 187 StGB
N. 16).
Der Schluss der Vorinstanz, der Beschwerdeführer habe den objektiven Tatbestand des
Art. 187 Ziff. 1 StGB
erfüllt, verletzt daher Bundesrecht. Die Beschwerde erweist sich somit als begründet. | de |
0d037d69-891e-4b9e-8384-34551140bd45 | Sachverhalt
ab Seite 174
BGE 119 II 173 S. 174
Mit Telex vom 21. März 1989 beauftragte die Schweizerische Kreditanstalt die in Hamburg domizilierte Bank Kreiss AG, der Firma Borak Eléments de Construction SA in Genf die Eröffnung eines Dokumentenakkreditivs im Betrage von US-$ 7'650'000.-- (+0/-5%) zu avisieren ohne dieses gegenüber der Begünstigten zu bestätigen. Der Akkreditivbetrag war für die Bezahlung von drei Stahllieferungen bestimmt. Bei der letzten Lieferung verweigerte die Schweizerische Kreditanstalt Zahlungen aus dem Akkreditiv, indem sie sich u.a. auf ein einstweiliges richterliches Zahlungsverbot berief. Dennoch schrieb die Bank Kreiss AG der Akkreditivbegünstigten einen Betrag von US-$ 3'049'289.78 gut. Die Bank Kreiss AG klagte am 16. November 1989 beim Handelsgericht des Kantons Zürich gegen die Schweizerische Kreditanstalt auf Zahlung dieser Summe nebst Zins. Die Klage wurde am 18. September 1991 abgewiesen.
Die Klägerin hat Berufung eingelegt und beantragt dem Bundesgericht, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage gutzuheissen; eventuell sei die Streitsache an die Vorinstanz zu neuer Entscheidung zurückzuweisen. Die Beklagte schliesst auf Abweisung der Berufung, soweit darauf einzutreten sei. Das Bundesgericht weist die Berufung ab Erwägungen
aus folgenden Erwägungen:
1.
Die Klägerin macht geltend, das Handelsgericht habe zu Unrecht deutsches Recht als anwendbar erklärt. Sie schliesst aus dem Umstand, dass die Parteien im Prozess auf schweizerisches Recht Bezug nahmen, auf eine gültige Rechtswahl. Die Rüge ist nach
Art. 43 Abs. 1 OG
zulässig (
BGE 72 II 409
E. 2).
a) Das Handelsgericht hält fest, die Parteien hätten sich nicht zum anwendbaren Recht geäussert und keine Rechtswahl getroffen. Das Kassationsgericht sah darin keinen Widerspruch. Zwar hätten die Parteien wohl schweizerisches Recht diskutiert und namentlich Literatur- und Judikaturstellen dazu zitiert, allerdings nicht in einem
BGE 119 II 173 S. 175
kollisionsrechtlichen Bezug und namentlich nicht unter Berufung auf eine Rechtswahl. Die negative Feststellung des Handelsgerichts sei daher bloss kollisionsrechtlich zu verstehen. Damit kann dem Handelsgericht auch kein vom Bundesgericht im Berufungsverfahren zu korrigierendes offensichtliches Versehen vorgeworfen werden (
Art. 63 Abs. 2 OG
;
BGE 113 II 524
E. 4b,
BGE 104 II 74
E. 3b). Dagegen ist als Rechtsfrage zu prüfen, ob es nach dem, was in tatsächlicher Hinsicht feststeht, den Abschluss eines Verweisungsvertrags zu Unrecht verneint hat.
b) Der Vertrag untersteht dem von den Parteien gewählten Recht (
Art. 116 Abs. 1 IPRG
), wobei die Rechtswahl ausdrücklich sein oder sich eindeutig aus dem Vertrag oder den Umständen ergeben muss (
Art. 116 Abs. 2 IPRG
). Die Bestimmung konsolidiert sowohl hinsichtlich der grundsätzlich freien Rechtswahl (vgl.
BGE 111 II 180
) wie hinsichtlich deren Voraussetzungen (grundlegend
BGE 87 II 200
E. d) im wesentlichen die bisherige bundesgerichtliche Rechtsprechung (Botschaft zum IPRG, BBl 1983 I 263ff., 407 ff.; HEINI, Die Rechtswahl im Vertragsrecht und das neue IPR-Gesetz, in Beiträge zum neuen IPR des Sachen-, Schuld- und Gesellschaftsrecht, FS Rudolf Moser, S. 67 ff.).
Das Bundesgericht steht seit seiner mit
BGE 87 II 200
E. d begründeten Rechtsprechung auf dem Standpunkt, von einer Rechtswahl zugunsten eines bestimmten und von einem Verzicht auf die Anwendung eines andern Rechts könne logischerweise nur dort gesprochen werden, wo den Parteien überhaupt bewusst geworden sei, dass sich die Frage nach dem massgebenden Recht stelle. Denn die Wahl treffen könne nur, wer wisse, dass er die Möglichkeit habe, ein Vertragsverhältnis der einen oder der andern Rechtsordnung zu unterstellen, und ebenso könne auf eine von zwei Möglichkeiten nur verzichten, wer die beiden zu Gebote stehenden Möglichkeiten kenne. Ein auf übereinstimmenden Erklärungen beruhender Verweisungsvertrag, wie er für eine Rechtswahl notwendig sei, setze damit voraus, dass die Parteien einen bewussten Rechtswahl-Willen hätten und diesen äussern wollten. Dächten die Parteien dagegen überhaupt nicht an die Frage des anwendbaren Rechts, so könne darin, dass sie von der inländischen Rechtsordnung ausgingen, für sich allein noch keine Rechtswahl erblickt werden (vgl.
BGE 91 II 46
E. 3 und 445 E. 1; vgl. auch VISCHER/VON PLANTA, Internationales Privatrecht, 2. Aufl., S. 170; KELLER/SIEHR, Allgemeine Lehren des internationalen Privatrechts, S. 377/8). Später hat es diese Auffassung insoweit verdeutlicht, als es die gemeinsame Berufung auf ein bestimmtes Recht je nach den Umständen als Ausdruck oder Folge bewusster stillschweigender Rechtswahl oder mindestens als Indiz dafür jedenfalls
BGE 119 II 173 S. 176
nicht ausschloss (
BGE 99 II 317
E. 3a; vgl. KNOEPFLER/SCHWEIZER, Précis de droit international privé suisse, S. 164 Rz. 503). Inwieweit dies unter dem eher restriktiven Wortlaut von
Art. 116 Abs. 2 IPRG
weiter gilt, kann im vorliegenden Fall offenbleiben, da der Schluss von einem bestimmten Verhalten der Parteien auf einen tatsächlichen Konsens im einen wie im andern Fall eine vom kantonalen Sachrichter abschliessend zu beantwortende Tatfrage darstellt, die vom Bundesgericht im Berufungsverfahren von hier nicht gegebenen Ausnahmen abgesehen nicht überprüft werden kann. Dies gilt auch insoweit, als eine Rechtswahl durch bestimmte Prozessvorbringen einer Branchenusanz international tätiger Anwälte entsprechen sollte, ist doch auch eine solche Usanz Tatfrage und im vorliegenden Fall vom Handelsgericht nicht festgestellt (POUDRET, COJ, N. 4.6.1 zu
Art. 63 OG
mit Hinweisen).
Zwar bleibt ein hypothetischer Parteiwille als versteckte Anknüpfung grundsätzlich unbeachtlich (dazu SCHWANDER, Zur Rechtswahl im IPR des Schuldvertragsrechts, in FS Max Keller, S. 473 ff., 481), doch reicht auch für den Abschluss eines Verweisungsvertrags ein normativer Konsens aus. Die vom Gesetzgeber geforderte Klarheit der Rechtswahl erfordert hier allerdings eine objektiv hinreichend schlüssige ausdrückliche oder konkludente Willenserklärung, welche vom Empfänger nach dem Vertrauensgrundsatz unzweideutig als Offerte eines Verweisungsvertrags verstanden werden darf und muss. Im vorliegenden Fall fehlen indessen tatsächliche Feststellungen der Vorinstanz, dass die Prozessparteien sich im kantonalen Verfahren in einer Art und Weise geäussert hätten, welche nach dem Vertrauensgrundsatz auf eine einvernehmliche Rechtswahl schliessen liesse. Ein solcher Rechtsfolgewillen darf namentlich nicht bereits aus einer Bezugnahme auf ein bestimmtes Recht abgeleitet werden. Vielmehr müssen zusätzlich objektive Anhaltspunkte den Schluss zulassen, damit solle in Abweichung der objektiven kollisionsrechtlichen Anknüpfung ein anderes materielles Recht bestimmt werden. Solche Umstände aber sind im vorliegenden Fall nicht erstellt.
2.
Im Eventualstandpunkt hält die Klägerin schweizerisches Recht auch bei objektiver Anknüpfung für anwendbar.
Bei Fehlen einer Rechtswahl untersteht der Vertrag dem Recht des Staates, mit dem er am engsten zusammenhängt (
Art. 117 Abs. 1 IPRG
). Dabei wird vermutet, dieser engste Zusammenhang bestehe im kaufmännischen Rechtsverhältnis mit dem Staat, in dem die Partei, welche die charakteristische Leistung erbringen soll, ihre Niederlassung hat (
Art. 117 Abs. 2 IPRG
).
Nach schweizerischem Verständnis besteht zwischen der eröffnenden Bank und der Korrespondenzbank ein Auftragsverhältnis, wobei
BGE 119 II 173 S. 177
insoweit unerheblich ist, ob die Korrespondenzbank als Avisorin, als Zahlstelle oder als Bestätigungsbank auftritt (
BGE 114 II 48
E. a; OR-KOLLER, Anhang zum 18. Titel, N. 10; MEIER-HAYOZ/VON DER CRONE, Wertpapierrecht, S. 409 Rz. 79; ULRICH, Rechtsprobleme des Dokumentenakkreditivs, Diss. Zürich 1989, S. 164). In diesem Verhältnis gilt die Dienstleistung, d.h. die Leistung der Beauftragten als die für eine objektive Anknüpfung charakteristische (Art. 117 Abs. 3 lit c. IPRG). Kollisionsrechtlich bestimmt mithin die Niederlassung der Korrespondenzbank auch im hier interessierenden Verhältnis das anwendbare Recht (vgl.
BGE 115 II 69
E. 1; VISCHER/VON PLANTA, a.a.O., S. 181; VISCHER, Internationales Vertragsrecht, S. 121 ff.; DOHM, Bankgarantien im internationalen Handel, S. 144 Rz. 318; EISEMANN/SCHÜTZE, Das Dokumentenakkreditiv im Internationalen Handelsverkehr, 3. Aufl., S. 213). Ob anderes gilt, wenn die Korrespondenzbank (Zweitbank) sich ihren Remboursanspruch durch eine selbständige Rückgarantie der eröffnenden Bank (Erstbank) sichern lässt, kann im vorliegenden Fall offenbleiben, da eine solche Garantieverpflichtung weder festgestellt noch behauptet ist (dazu DOHM, a.a.O., S. 145 Rz. 319 ff.). Mithin hat das Handelsgericht das Rechtsverhältnis der Parteien bundesrechtskonform deutschem Recht unterstellt. | de |
1ad5c488-34f6-4356-b298-7ffbb56ee78f | Sachverhalt
ab Seite 335
BGE 114 II 335 S. 335
A.-
Aufgrund eines mit dem Kanton Zürich im Jahr 1977 abgeschlossenen Werkvertrags, in dem ergänzend die "Allgemeinen Bedingungen für Bauarbeiten" gemäss SIA-Norm 118 (Ausgabe 1962) gelten sollten, installierte die an der Flugplatzstrasse 59 in Grenchen domizilierte Firma Fornax AG von ihr gelieferte Kehrichtbeseitigungsanlagen in Neubauten der Universität Zürich. Die vorläufige Abnahme der Arbeiten im Sinne von Art. 26 SIA-Norm fand am 6. April 1979 statt. Innert der nachfolgenden Garantiefrist von zwei Jahren (Art. 27 Abs. 1 und 2 SIA-Norm) rügte der Kanton Zürich verschiedene Mängel, die nicht alle zu seiner Zufriedenheit behoben wurden. Am 22. August 1983 erklärte der Besteller die Wandelung des Werkvertrags.
B.-
Mit Begehren an das Richteramt Solothurn-Lebern vom 28. März 1984 liess der Kanton Zürich die "Fornax Engineering AG, Erlenstr. 18, Grenchen" zum Aussöhnungsversuch über Ansprüche "betr. Werkvertrag, Wandelung, Forderung, Schadenersatz etc. (Bundesgerichtskompetenz)" laden. Am 5. April 1984 erging die Vorladung an die im Vorladungsbegehren genannten Parteien. Am Aussöhnungstermin vom 13. September 1984 bezeichnete sich Fürsprecher H. als Vertreter der Fornax Engineering AG und bestritt deren Passivlegitimation, da die Fornax AG Unternehmerin im streitigen Werkvertragsverhältnis sei.
C.-
Am 3. Januar 1985 klagte der Kanton Zürich beim Amtsgericht Solothurn-Lebern gegen die Fornax AG u.a. auf Zahlung von Fr. 67'883.65 aus Wandelung einschliesslich Schadenersatz. Im auf die Frage der Verjährung beschränkten Prozess schützte das Amtsgericht die Verjährungseinrede der Beklagten und wies die Klage am 25. Februar 1987 ab. Auf Appellation des Klägers
BGE 114 II 335 S. 336
hin verwarf das Obergericht des Kantons Solothurn die Verjährungseinrede und hob das erstinstanzliche Urteil am 3. Mai 1988 auf, da die mit der vorläufigen Abnahme am 6. April 1979 in Gang gesetzte Verjährungsfrist fünf Jahre betrage und durch den Kläger mit seinem gegen die Fornax Engineering AG gerichteten Ladungsbegehren am 28. März 1984 auch gegenüber der Beklagten unterbrochen worden sei.
D.-
Die Beklagte hat gegen den Entscheid des Obergerichts Berufung eingereicht und beantragt, diesen aufzuheben, den Eintritt der Verjährung festzustellen und die Klage abzuweisen. Der Kläger schliesst auf Abweisung der Berufung. Das Bundesgericht weist die Berufung ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Zu prüfen bleibt, ob das Ladungsbegehren gegen die Fornax Engineering AG vom 28. März 1984 die am 6. April 1979 beginnende Verjährungsfrist von fünf Jahren auch gegenüber der Beklagten unterbrochen habe.
a) Ob dem Begehren diese Wirkung trotz der unrichtigen Parteibezeichnung zugekommen ist, beurteilt sich nach
Art. 135 Ziff. 2 OR
und ist damit eine Frage des Bundesrechts. Nach dieser Bestimmung tritt die Unterbrechung u.a. mit der Ladung zu einem amtlichen Sühneversuch ein, d.h. im Zeitpunkt, in dem der Ansprecher zum ersten Mal in bestimmter Form den Schutz des Richters anruft (
BGE 110 II 389
E. 2a mit Hinweisen). Die Wahrung der Form beschlägt kantonales Prozessrecht, das im Berufungsverfahren nicht überprüft wird (
Art. 55 Abs. 1 lit. c OG
); dazu gehört insbesondere die vom Obergericht bejahte Frage, ob das solothurnische Prozessrecht eine Korrektur der Parteibezeichnung zuliess oder einen Parteiwechsel erforderte (
BGE 85 II 316
E. 2). In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass die kantonalen Prozessordnungen in der Berichtigung fehlerhafter Parteibezeichnungen grosszügig sind, sofern die Identität der Partei eindeutig ist (
BGE 85 II 316
f. E. 2; WALTER BISCHOFBERGER, Parteiwechsel im Zivilprozess unter besonderer Berücksichtigung des deutschen und des zürcherischen Zivilprozessrechts, Diss. Zürich 1973, S. 30 ff.; STRÄULI/MESSMER, N. 3 zu
§ 108 ZPO
/ZH; LEUCH, N. 2 zu
Art. 157 ZPO
/BE).
Damit die in
Art. 135 Ziff. 2 OR
aufgezählten Handlungen die Verjährung unterbrechen, ist erforderlich, dass sie vom Forderungsgläubiger
BGE 114 II 335 S. 337
ausgehen (
BGE 111 II 364
f. E. 4a) und gegen den richtigen Schuldner gerichtet sind (OSER/SCHÖNENBERGER, N. 2 zu
Art. 139 OR
; SPIRO, Die Begrenzung privater Rechte durch Verjährungs-, Verwirkungs- und Fatalfristen, Bd. I, S. 430; SOERGEL/WALTER, N. 11 zu § 209 BGB). Das Risiko, dass die Verjährung durch Klage gegen den falschen Schuldner nicht unterbrochen wird, trägt der Gläubiger (STAUDINGER/DILCHER, N. 8 zu § 209 BGB; SOERGEL/WALTER, a.a.O.). Belangt der Gläubiger jedoch nicht den falschen Schuldner, sondern irrt er sich bloss in dessen Bezeichnung, tritt diese Folge nicht unbedingt ein. So sind Betreibungsurkunden gegen nicht klar und unzweideutig bezeichnete Schuldner grundsätzlich nichtig; lässt die mangelhafte Bezeichnung den wirklich gemeinten Schuldner aber ohne weiteres erkennen, ist die Betreibung gültig und bloss die Urkunde zu berichtigen (
BGE 102 III 64
ff. E. 2 und 3). Vermag der Schuldner trotz fehlerhafter Bezeichnung klar zu erkennen, dass ein Zahlungsbefehl gegen ihn ausgestellt ist, kann er sich nicht in guten Treuen darauf berufen, die unrichtige Angabe lasse seine Identität als zweifelhaft erscheinen (SCHWARTZ, Die Bezeichnung der Parteien in den Betreibungsurkunden, BlSchKG 19/1955, S. 11; FRITZSCHE/WALDER, Schuldbetreibung und Konkurs nach schweizerischem Recht, Bd. I, S. 193 Rz. 6).
Gleiches muss für die Gültigkeit und damit die verjährungsunterbrechende Wirkung von Vorkehren der gerichtlichen Rechtsverfolgung wie dem Ladungsbegehren des Klägers vom 28. März 1984 gelten. In Anlehnung an die von der massgeblichen Literatur befürwortete Rechtsprechung des deutschen Bundesgerichtshofs (Urteil vom 12. Mai 1977 in: NJW 1977 S. 1686 f.; VON FELDMANN, MünchKomm, N. 14 zu § 209 BGB; STAUDINGER/DILCHER, N. 8 zu § 209 BGB; entsprechend bei unrichtiger Gläubigerbezeichnung JOHANNSEN, RGRK, N. 9 zu § 209 BGB) ist eine fehlerhafte Parteibezeichnung unschädlich, wenn keine Zweifel an der Identität der wahren Partei bestehen. Nach dem die schweizerische Rechtsordnung beherrschenden Vertrauensgrundsatz hat es dabei im Gegensatz zur deutschen Auffassung, welche die Erkennbarkeit der wahren Partei für unbeteiligte Dritte fordert, zu genügen, dass der Schuldner nach den Umständen trotz unrichtiger Bezeichnung die Absicht des Gläubigers, ihn ins Recht zu fassen, erkennt oder erkennen muss. Treu und Glauben verbieten es auch hier, dass der Schuldner bei Kenntnis des wirklichen Willens des Gläubigers Vorteile aus einer diesem Willen äusserlich nicht entsprechenden Parteibezeichnung zieht.
BGE 114 II 335 S. 338
Kann der Schuldner über die Absichten des Gläubigers nicht im Unklaren sein, werden keine schutzwürdigen Interessen des Schuldners verletzt, wenn mit bloss formellen Fehlern in der Parteibezeichnung behaftete Prozesserklärungen dem wirklichen Willen und Verständnis entsprechend behandelt werden. In der Gewissheit des Prozessgegners über die Absichten des Ansprechers liegt auch die Rechtfertigung des
Art. 139 OR
. Nach herrschender Auffassung verhindert diese Bestimmung die Folgen des Verjährungseintritts durch Einräumung einer sechzigtägigen Nachfrist zwar bei innert dieser Frist zu behebenden Formfehlern, nicht aber bei Klageabweisung wegen fehlender Passivlegitimation eines irrtümlich als Beklagten ins Recht gefassten Dritten, da sich der Wille des Gläubigers nur im ersten Fall für den Schuldner erkennbar gegen diesen, im zweiten Fall jedoch gegen den Dritten richtet (BECKER, N. 2 zu
Art. 139 OR
). Ob
Art. 139 OR
im vorliegenden Fall zudem unmittelbar angewandt werden könnte, wie das die Vorinstanz in ihrer Hilfsbegründung tut, kann offenbleiben.
b) Vorliegend stand für die Beklagte ausser Zweifel, dass der Kläger mit dem Vorladungsbegehren vom 28. März 1984 gegenüber ihr und nicht gegenüber der Fornax Engineering AG Sachgewährleistungsansprüche aus dem 1977 abgeschlossenen Werkvertrag geltend machen wollte, so dass das Begehren trotz falscher Parteibezeichnung die Verjährung unterbrochen hat. Einmal stellt die Vorinstanz für das Bundesgericht verbindlich fest (
BGE 113 II 27
E. 1a mit Hinweisen), dass der Kläger von Anfang an einzig die Beklagte zu belangen beabsichtigte, sich jedoch hinsichtlich der Parteibezeichnung irrte, weil er die Firma der Fornax Engineering AG, die ebenfalls in Grenchen domizilierte Schwestergesellschaft der Fornax AG, für die Firma der Vertragspartnerin hielt. Diesen Irrtum dem Kläger anzulasten besteht nach dem Vertrauensgrundsatz um so weniger Anlass, als es nicht der Kläger zu vertreten hat, dass sich die beiden Firmen nur durch den Zusatz "Engineering" unterscheiden und damit leicht zu Verwechslungen führen, zumal sich beide Gesellschaften nach dem statutarischen Zweck mit Feuerungsanlagen befassen. Ebenfalls verbindlich ist sodann die Feststellung des Obergerichts, die Beklagte habe nicht nur erkennen müssen, sondern auch tatsächlich erkannt, dass sich die im Vorladungsbegehren genannten Forderungen aus Werkvertrag nicht gegen die Fornax Engineering AG, sondern nur gegen sie selbst richten konnten. F., der sich als einzelzeichnungsberechtigter Verwaltungsrat der Fornax AG intensiv mit der Abwicklung
BGE 114 II 335 S. 339
des Werkvertrags befasst und genaue Kenntnis von den daraus entstandenen Differenzen gehabt habe, sei zugleich alleiniger und einzelzeichnungsberechtigter Verwaltungsrat der im übrigen erst 1981 und damit nach der vorläufigen Abnahme vom 6. April 1979 gegründeten Fornax Engineering AG gewesen. Nach Zustellung der Vorladung zum Aussöhnungsversuch an die im Vorladungsbegehren bezeichneten Parteien habe denn auch der von F. beauftragte Fürsprecher H. mit Brief vom 19. Juni 1984 namens und im Auftrag der "Firma Fornax" um Verschiebung des Termins ersucht und laut Orientierungsvermerk eine Kopie des Schreibens der "Fornax AG, Flugplatz, Grenchen" zur Kenntnis zugestellt.
c) Ob bei Gewissheit des Schuldners über Forderung und Ansprecher die Verjährung regelmässig selbst durch Prozesshandlungen eines nicht aktivlegitimierten Dritten unterbrochen wird (BUCHER, OR Allgemeiner Teil, 2. A. 1988, S. 464 Fn. 98; ähnlich SPIRO, a.a.O. S. 422 f., 425 und 427), ob bei für den Schuldner klarer Situation der unbeholfene oder unwissende Gläubiger ganz allgemein keinen Rechtsverlust erleiden darf (SPIRO, a.a.O. S. 421) und ob in gewissen Fällen sogar die Belangung eines anderen als des Verpflichteten unschädlich sein kann (SPIRO, a.a.O. S. 449 ff.), braucht wie in einem nicht publizierten Entscheid des Bundesgerichts vom 24. Juni 1980 i.S. K. AG und Mitb. nicht entschieden zu werden. Immerhin wurde dort in Ablehnung einer formalistischen Auffassung erkannt, dass mit dem Vorladungsbegehren dreier Gläubiger zum Aussöhnungsversuch über ihre sowie über noch nicht an sie zedierte Ansprüche weiterer achtzehn Gläubiger die Verjährung sämtlicher Ansprüche unterbrochen worden sei, da der Schuldner nach den gesamten Umständen um die Geltendmachung der Ansprüche aller einundzwanzig Gläubiger gewusst habe. | de |
f7f80360-79f6-461f-837a-1c6e4d1be0a7 | Die Vollstreckung eines deutschen Versäumnisurteils, das in Übereinstimmung mit der deutschen Zivilprozessordnung weder eine Sachverhaltsdarstellung noch Entscheidungsgründe enthält, verletzt den schweizerischen ordre public nicht (Bestätigung der Rechtsprechung).
Sachverhalt
ab Seite 200
BGE 103 Ia 199 S. 200
Anton Bertl, der in Affoltern a.A. wohnhaft ist, wurde am 22. Mai 1975 durch Versäumnisurteil des Landgerichts Ravensburg zur Leistung von DM 50'000.-- an die Deutsche Bau- und Bodenbank AG verurteilt. Ferner wurden ihm die Kosten des Verfahrens auferlegt. Mit Zahlungsbefehl vom 29. September 1975 betrieb die Bau- und Bodenbank AG Bertl gestützt auf das erwähnte Urteil. Auf Rechtsvorschlag Bertls hin erteilte der Einzelrichter im summarischen Verfahren des Bezirks Affoltern der Bau- und Bodenbank AG die definitive Rechtsöffnung. Ein dagegen gerichteter Rekurs an das Obergericht des Kantons Zürich blieb ohne Erfolg. Anton Bertl erhebt staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung des Abkommens zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und dem Deutschen Reich über die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung von gerichtlichen Entscheidungen und Schiedssprüchen vom 2. November 1929 (Vollstreckungsabkommen, VA), im wesentlichen mit der Begründung, das Versäumnisurteil des Landgerichts Ravensburg könne in der Schweiz nicht vollstreckt werden, weil dem Gericht die Zuständigkeit gefehlt habe und weil das Urteil keine Entscheidungsgründe enthalte.
Das Bundesgericht hat die Beschwerde abgewiesen. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
(Die Rüge, das deutsche Urteil könne wegen fehlender Zuständigkeit des Landgerichts Ravensburg nicht vollstreckt werden, ist unbegründet.)
3.
a) Gemäss Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 des Vollstreckungsabkommens ist die Vollstreckung zu versagen, wenn durch die Entscheidung ein Rechtsverhältnis zur Verwirklichung gelangen soll, dem im Vollstreckungsstaat aus Rücksichten der öffentlichen Ordnung oder der Sittlichkeit die Gültigkeit, Verfolgbarkeit oder Klagbarkeit versagt ist. Diese staatsvertragliche ordre public-Klausel geht als Spezialnorm dem allgemeinen Begriff des ordre public, wie er unter anderem in den kantonalen Zivilprozessordnungen enthalten ist, vor (vgl. SCHNITZER, Handbuch des Internationalen Privatrechts, 4. A., S. 237;
BGE 87 I 78
E. 6;
BGE 85 I 48
E. 4a am Ende). Die in einem Staatsvertrag enthaltenen Bestimmungen
BGE 103 Ia 199 S. 201
werden zu schweizerischem Recht und können deshalb nicht gegen die hiesige öffentliche Ordnung verstossen, selbst wenn sie inhaltlich von der sonst üblichen einheimischen Auffassung abweichen (
BGE 101 Ia 526
;
BGE 94 I 362
ff.;
87 I 80
;
BGE 81 I 231
;
BGE 81 II 179
). Der Anwendungsbereich des vertraglichen und des allgemeinen Vorbehalts des ordre public wird dabei in dem Umfang eingeschränkt, als die Voraussetzungen, unter welchen ein ausländisches Urteil zu vollstrecken ist, im Staatsvertrag näher umschrieben sind. Es geht nicht an, die staatsvertragliche Regelung unter Berufung auf den ordre public im Ergebnis praktisch rückgängig zu machen und die Wirkungen des Vertrages, dessen Ziel gerade darin besteht, die Existenz der verschiedenen Rechtssysteme anzuerkennen und zu koordinieren, zu vereiteln (
BGE 102 Ia 316
;
BGE 101 Ia 529
, 526).
b) Mit der Formulierung des Vorbehalts in Art. 4 Abs. 1 des Vollstreckungsabkommens wurde versucht, den Anwendungsbereich der ordre public-Klausel möglichst einzuschränken (
BGE 102 Ia 314
; Botschaft des Bundesrates zum VA, BBl 1929 III S. 536 f.). Diese ist daher eng auszulegen und anzuwenden. Das bedeutet nicht, dass ein Urteil gegen die öffentliche Ordnung nur wegen seines materiellen Inhalts verstossen könne, obwohl der Wortlaut der Vertragsklausel darauf primär hinweist. Vielmehr kann ein solcher Verstoss auch wegen des Verfahrens vorliegen, in welchem das Urteil zustandegekommen ist (
BGE 102 Ia 313
E. 5;
BGE 101 Ia 526
E. 4a;
BGE 98 Ia 553
E. 3;
BGE 97 I 256
E. 6, 157 E. 5 mit Hinweisen).
c) Nach Art. 7 Abs. 1 Ziff. 1 VA hat die Partei, welche die Vollstreckung verlangt, eine "vollständige Ausfertigung" der Entscheidung beizubringen. Diese Voraussetzung ist im Falle eines deutschen Versäumnisurteils erfüllt, wenn es so ausgefertigt ist, wie die massgebenden deutschen Verfahrensvorschriften dies vorsehen, denn es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass das Vollstreckungsabkommen einen selbständigen Begriff der "vollständigen Ausfertigung" schaffen wollte, dessen Erfordernisse durch die nach der deutschen ZPO ergangenen Versäumnisurteile nicht erfüllt würden (
BGE 87 I 80
;
BGE 68 I 164
; nicht veröffentlichtes Urteil i.S. Dewald vom 8. März 1936, E. 1).
d) Für die Herstellung und Ausfertigung eines Versäumnisurteils enthalten die §§ 313 Abs. 3 und 317 Abs. 4 der deutschen Zivilprozessordnung folgende Regelung:
BGE 103 Ia 199 S. 202
Nach § 313 Abs. 3 D-ZPO kann, wenn durch Versäumnis- oder Anerkenntnisurteil nach dem Antrag des Klägers erkannt wird, das Urteil in abgekürzter Form auf die bei den Akten befindliche Urschrift oder Abschrift der Klage oder auf ein damit zu verbindendes Blatt gesetzt werden. In diesem Falle ist das Urteil als Versäumnis- oder Anerkenntnisurteil zu bezeichnen. Des Tatbestandes, der Entscheidungsgründe und der Bezeichnung der mitwirkenden Richter bedarf es nicht. Der Bezeichnung der Parteien, ihrer gesetzlichen Vertreter und der Prozessbevollmächtigten bedarf es nur insoweit, als von den Angaben der Klageschrift abgewichen wird. In der Urteilsformel kann auf die Klageschrift Bezug genommen werden.
Nach § 317 Abs. 4 D-ZPO erfolgt die Ausfertigung, sofern das Urteil nach § 313 Abs. 3 in abgekürzter Form hergestellt ist, in gleicher Weise unter Benutzung einer beglaubigten Abschrift der Klageschrift oder in der Weise, dass das Urteil durch Aufnahme der in § 313 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 5 bezeichneten Angaben vervollständigt wird (Bezeichnung der Parteien, ihrer gesetzlichen Vertreter und der Prozessbevollmächtigten; Bezeichnung des Gerichts und Namen der Richter; Urteilsformel).
Die Herstellung eines Versäumnisurteils in der abgekürzten Form ist nach der deutschen Gesetzgebung in gewissen Rechtsgebieten und gegenüber gewissen Vertragsstaaten, in denen das Urteil geltend gemacht werden soll, ausgeschlossen. Im hier interessierenden Zusammenhang ist dies jedoch nicht der Fall.
e) Die von der Bau- und Bodenbank AG beigebrachte Urteilsausfertigung entspricht den dargelegten Vorschriften der deutschen Zivilprozessordnung. Dass das Urteil nicht auf eine Abschrift der Klage oder ein damit verbundenes Blatt gesetzt ist, stellt keinen Mangel dar. § 317 Abs. 4 D-ZPO lässt dem Urkundsbeamten die Wahl zwischen einer solchen Ausfertigung und der Ergänzung des Urteils durch Aufnahme der in § 313 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 5 bezeichneten Angaben. Im vorliegenden Falle wurde die zweite Möglichkeit gewählt. Entspricht die Urteilsausfertigung den massgebenden landesrechtlichen Vorschriften und ist sie demnach "vollständig" im Sinne von Art. 7 Abs. 1 Ziff. 1 des Vollstreckungsabkommens, so kann der Beschwerdeführer das Fehlen einer Urteilsbegründung
BGE 103 Ia 199 S. 203
nach dem schon Gesagten nicht als Verstoss gegen den ordre public beanstanden (
BGE 87 I 80
;
BGE 86 I 164
; Urteil Dewald, E. 1). An dieser Rechtsprechung, die in der Lehre Zustimmung gefunden hat (STAEHELIN, Die Staatsverträge über Zivilprozess und Zwangsvollstreckung nach der neueren Praxis des Bundesgerichts, in: Erhaltung und Entfaltung des Rechts in der Rechtsprechung des Schweizerischen Bundesgerichts, S. 582; DAVID/MAIER. Die Vollstreckung von gerichtlichen Entscheidungen ..., S. 69, 90), ist festzuhalten, wie in den nachfolgenden Erwägungen zusätzlich begründet werden soll.
Dem Abschluss des Vollstreckungsabkommens mit dem Deutschen Reich vom 2. November 1929 ging der Vertrag zwischen der Schweiz und Osterreich vom 15. März 1927 über die Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen voraus. Dessen Art. 4 Abs. 1 Ziff. 4 bestimmte ausdrücklich, dass die Partei, welche die Vollstreckung beantragt, eine Abschrift der Klage oder andere geeignete Urkunden beizubringen habe, wenn die Entscheidung den ihr zugrundeliegenden Sachverhalt nicht soweit erkennen lasse, dass eine Prüfung im Hinblick auf die in Art. 1 des Vertrages geregelten Voraussetzungen der Vollstreckung, wo auch der Vorbehalt der öffentlichen Ordnung enthalten war, möglich sei (vgl. auch Art. 6 Abs. 1 Ziff. 4 des neuen Vertrags mit der Republik Osterreich vom 16. Dezember 1960). Den schweizerischen Behörden konnte unter diesen Umständen bei Abschluss des Abkommens mit dem deutschen Reich nicht unbekannt sein, dass sich Urteile ohne Tatbestand und Entscheidungsgründe nicht ohne weiteres auf ihre Vereinbarkeit mit der einheimischen öffentlichen Ordnung überprüfen lassen. Ebenso konnte ihnen nicht entgangen sein, dass die damals geltende Zivilprozessordnung für das Deutsche Reich die Ausfertigung von Versäumnisurteilen ohne Tatbestand und Entscheidungsgründe vorsah (vgl. z.B. STEIN/JONAS, Die Zivilprozessordnung für das Deutsche Reich, 14. A., 1928, S. 894 f., 900 f.). Bei dieser Sachlage muss der Schluss gezogen werden, dass die Schweiz darauf verzichtete, als Voraussetzung für die Vollstreckung deutscher Versäumnisurteile in der Schweiz eine Ausfertigung mit Tatbestand und Entscheidungsgründen oder allenfalls die Vorlage einer Abschrift der Klage oder anderer Urkunden zu verlangen, die geeignet wären, den dem Urteil zugrundeliegenden Rechtsstreit und die Entscheidungsgründe
BGE 103 Ia 199 S. 204
zu erhellen. Ein Verstoss gegen den Vorbehalt der öffentlichen Ordnung im Sinne von Art. 4 Abs. 1 VA kann bei Vollstreckung eines deutschen Versäumnisurteils, das weder einen Tatbestand noch Entscheidungsgründe enthält, deshalb nicht vorliegen (vgl. auch
BGE 102 Ia 316
f.;
BGE 101 Ia 529
).
4.
a) Zu einem anderen Ergebnis gelangte man auch dann nicht, wenn nicht schon aus dem Abkommen selber zu schliessen wäre, dass das Fehlen einer Sachverhaltsdarstellung und von Entscheidungsgründen kein Hindernis für die Vollstreckung deutscher Versäumnisurteile in der Schweiz sein solle.
Der Vorbehalt des ordre public greift nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung nur dann Platz, wenn das einheimische Rechtsgefühl durch die Anerkennung und Vollstreckung eines ausländischen Urteils in unerträglicher Weise verletzt würde, weil durch dieses Urteil grundlegende Vorschriften der schweizerischen Rechtsordnung missachtet werden. Dabei sind nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts der Anwendung der ordre public-Klausel mit Bezug auf die Vollstreckung eines ausländischen Urteils engere Grenzen gesetzt als im Gebiet der direkten Rechtsanwendung (
BGE 102 Ia 313
f.;
BGE 98 Ia 533
E. 3a und b;
BGE 97 I 256
E. 6, 157 E. 5 mit Hinweisen).
b) Nach § 328 D-ZPO steht der Partei, gegen die ein Versäumnisurteil ergangen ist, der Einspruch zu. Ist dieser Rechtsbehelf, der von keinen besonderen Voraussetzungen abhängt (§ 340 D-ZPO) und nicht weiter begründet werden muss, innert der Frist von zwei Wochen erhoben worden, so wird der Prozess in die Lage zurückversetzt, in der er sich vor Erlass des Versäumnisurteils befand (§ 342 D-ZPO). Kommt es in der Folge zu einem Entscheid im ordentlichen Verfahren, so hat das Urteil nach § 313 Abs. 1 Nr. 3 und 4 D-ZPO eine Tatbestandsdarstellung und Entscheidungsgründe zu enthalten und ist, sofern das beantragt wird, in dieser Weise auszufertigen und zuzustellen (§ 317 Abs. 2 D-ZPO).
c) Bei dieser Sachlage kann nicht davon gesprochen werden, dass das einheimische Rechtsgefühl durch die Vollstreckung des nicht mit einem Tatbestand und Entscheidungsgründen versehenen deutschen Versäumnisurteils in unerträglicher Weise verletzt würde, weil durch dieses Urteil grundlegende Vorschriften der schweizerischen Rechtsordnung missachtet werden.
BGE 103 Ia 199 S. 205
Ob und in welcher Weise Verfügungen und Urteile zu begründen sind, bestimmt sich nach schweizerischem Recht vorab aufgrund der massgebenden (kantonalen oder eidgenössischen) Verfahrensvorschriften. Eine Pflicht zur Begründung kann sich darüber hinaus unmittelbar aus
Art. 4 BV
ergeben (
BGE 101 Ia 48
f.;
98 Ia 464
E. 5a). Unter welchen Umständen dies der Fall ist und welche Erfordernisse sich diesfalls aus der Begründungspflicht ergeben, braucht hier nicht im einzelnen erörtert zu werden.
Art. 4 BV
will vorab gewährleisten, dass dem Betroffenen die Gründe des gegen ihn ergangenen Entscheids bekannt sind, damit er ihn gegebenenfalls sachgemäss anfechten kann. Zudem soll dadurch, dass die Gründe des Entscheids offengelegt werden müssen, verhindert werden, dass sich die Gerichtsbehörden von unsachlichen Motiven leiten lassen. Daraus folgt, dass mit
Art. 4 BV
jedenfalls nicht unvereinbar sein kann, wenn ein Versäumnisurteil in Übereinstimmung mit den massgebenden Verfahrensvorschriften ohne Tatbestand und Entscheidungsgründe ausgefertigt wird, jedoch die unterlegene Partei das Verfahren durch einen nicht näher zu begründenden Einspruch ohne weiteres in die ursprüngliche Lage zurückversetzen und ein Urteil erwirken kann, das Tatbestand und Entscheidungsgründe enthält. Im Hinblick auf den dargelegten Schutzzweck verhält es sich nicht wesentlich anders, als wenn in den massgebenden Prozessvorschriften vorgesehen ist, dass ein Urteil nur auf Begehren einer Partei mit Entscheidungsgründen versehen wird (vgl. z.B. § 158 des zürcherischen Gerichtsverfassungsgesetzes vom 13. Juni 1976). Solchen Regelungen, die der Rationalisierung und der Beschleunigung der Rechtspflege dienen, ohne jedoch mit den dargelegten Zielsetzungen unvereinbar zu sein, steht
Art. 4 BV
nicht entgegen.
Nichts anderes folgt ferner aus der Europäischen Menschenrechtskonvention, die als Bestandteil des Bundesrechts zur Bestimmung des schweizerischen ordre public beizuziehen ist (vgl. auch BAUR, Einige Bemerkungen zum verfahrensrechtlichen ordre public, in Festschrift Guldener, S. 18 ff.). Zwar trifft es zu, dass sich nach der Rechtsprechung der Europäischen Kommission eine Begründungspflicht für gerichtliche Urteile aus
Art. 6 EMRK
ergibt, obwohl in dieser Gewährleistung eine entsprechende Vorschrift nicht ausdrücklich enthalten ist. Diese Pflicht gilt indes nicht unbeschränkt.
BGE 103 Ia 199 S. 206
So sind die Gerichte nicht gehalten, sich im Urteil mit sämtlichen Vorbringen der Parteien auseinanderzusetzen. Der Vorschrift ist Genüge getan, wenn sich das Gericht zu den klar vorgebrachten und erheblichen Einwendungen geäussert hat (Requête No 5460/72, Annuaire 1973, S. 169; vgl. auch JACOBS, The European Convention on Human Rights, S. 102 f.). In Bezug auf den Umfang der Begründung darf ferner ohne Verletzung von
Art. 6 EMRK
berücksichtigt werden, ob das Urteil einem Rechtsmittel unterliege oder nicht. Besteht keine Anfechtungsmöglichkeit, so verletzt das Fehlen von Entscheidungsgründen
Art. 6 EMRK
nicht (Requête No 1035/61, Annuaire 1963, S. 180; vgl. auch GURADZE, Die Europäische Menschenrechtskonvention, S. 99). Es besteht bei dieser Sachlage kein Grund zur Annahme, dass
Art. 6 EMRK
die Herstellung und Ausfertigung eines Versäumnisurteils ohne Entscheidungsgründe ausschliessen wolle, wenn es durch eine blosse und nicht näher zu begründende Einsprache beseitigt und in der Folge ein mit Entscheidungsgründen versehenes Urteil erlangt werden kann. Ist das Fehlen von Urteilsgründen in einem Versäumnisurteil unter den dargelegten Umständen weder mit
Art. 4 BV
noch mit
Art. 6 EMRK
unvereinbar, so kann von einer Verletzung der einheimischen öffentlichen Ordnung im Falle der Vollstreckung eines derartigen Urteils nicht die Rede sein. | de |
87dea2e2-54aa-4a8d-8861-23331d6c9719 | Sachverhalt
ab Seite 86
BGE 145 III 85 S. 86
A.
Die A. SA (Beschwerdeführerin) ersuchte das Eidgenössische Institut für Geistiges Eigentum (IGE) am 23. Oktober 2015 um Eintragung der Wort-/Bildmarke Nr. 63209/2015 "adb" (fig.) für Waren und Dienstleistungen der Klassen 9, 35 und 42. Das Zeichen sieht wie folgt aus:
Das IGE wies das Markeneintragungsgesuch mit Verfügung vom 6. Dezember 2016 mit der Begründung ab, das Zeichen übernehme das Sigel "ADB" der Asian Development Bank und sei aus diesem Grund vom Markenschutz ausgeschlossen.
B.
Diese Verfügung focht die A. SA beim Bundesverwaltungsgericht an. Dieses wies die Beschwerde mit Urteil vom 30. Juli 2018 ab, soweit es darauf eintrat, und bestätigte die Verfügung des IGE. (...)
Das Bundesgericht weist die von der A. SA erhobene Beschwerde in Zivilsachen ab.
(Auszug)
BGE 145 III 85 S. 87 Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
2.1
Nach
Art. 2 lit. d MSchG
(SR 232.11) sind Zeichen, die gegen die öffentliche Ordnung, die guten Sitten oder geltendes Recht verstossen, vom Markenschutz ausgeschlossen.
Das IGE stützte seine Verfügung auf das Bundesgesetz vom 15. Dezember 1961 zum Schutz von Namen und Zeichen der Organisation der Vereinten Nationen und anderer zwischenstaatlicher Organisationen (nachfolgend: NZSchG; SR 232.23). Es erwog, das Sigel "ADB" sei durch dieses Gesetz geschützt. Die hinterlegte Marke "adb" (fig.) verstosse daher gegen "geltendes Recht" im Sinne von
Art. 2 lit. d MSchG
.
2.2
Art. 1 Abs. 1 NZSchG untersagt, ohne ausdrückliche Ermächtigung des Generalsekretärs der Organisation der Vereinten Nationen folgende, der Schweiz mitgeteilte Kennzeichen dieser Organisation zu benützen: ihren Namen (in irgendwelcher Sprache), ihre Sigel (in den schweizerischen Amtssprachen oder in englischer Sprache) sowie ihre Wappen, Flaggen und anderen Zeichen. Art. 1 Abs. 2 NZSchG erstreckt dieses Verbot auch auf Zeichen, die mit diesen Kennzeichen verwechselt werden können. In der bis 31. Dezember 2016 geltenden Fassung dieses Absatzes erstreckte sich das Verbot auf "Nachahmungen dieser Kennzeichen". Die Botschaft vom 18. November 2009 zur Änderung des Markenschutzgesetzes und zu einem Bundesgesetz über den Schutz des Schweizerwappens und anderer öffentlicher Zeichen ("Swissness"-Vorlage [nachfolgend: Botschaft Swissness], BBl 2009 8650 Ziff. 2.3.7) hält fest, dass sich durch die Verwendung des Kriteriums der Verwechselbarkeit anstelle des bisherigen Begriffs "Nachahmung" keine materielle Änderung ergebe.
Art. 2 NZSchG dehnt das Verbot auf Kennzeichen von Spezialorganisationen der Vereinten Nationen und angeschlossener zwischenstaatlicher Organisationen aus. Art. 3 NZSchG zieht auch die Kennzeichen von anderen zwischenstaatlichen Organisationen in den Schutzbereich ein, denen ein oder mehrere Mitgliedstaaten der Pariser Übereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums revidiert in Stockholm am 14. Juli 1967 (SR 0.232.04), angehören. Art. 4 NZSchG hält sodann fest, dass die Namen und Sigel und eine Wiedergabe der Wappen, Flaggen und anderen Zeichen der in den Art. 1-3 NZSchG
BGE 145 III 85 S. 88
genannten zwischenstaatlichen Organisationen, die den Schutz des NZSchG erhalten, veröffentlicht werden (Abs. 1). Für jede Organisation tritt der Schutz am Tag der Veröffentlichung ein, welche sie betrifft (Abs. 2).
Gemäss Art. 5 Satz 1 NZSchG darf, wer in gutem Glauben vor der in Art. 4 NZSchG vorgesehenen Veröffentlichung Namen, Sigel, Wappen, Flaggen oder andere geschützte Kennzeichen zu benützen begonnen hat, diese Benützung fortsetzen, sofern daraus der betroffenen zwischenstaatlichen Organisation kein Nachteil erwächst.
Schliesslich darf gemäss Art. 6 NZSchG ein Zeichen, dessen Gebrauch nach diesem Gesetz unzulässig ist, oder ein mit ihm verwechselbares Zeichen nicht als Marke, Design, Firma, Vereins- oder Stiftungsname oder als Bestandteil davon eingetragen werden. Diese Bestimmung wurde im Rahmen der erwähnten "Swissness"-Vorlage geändert und lautete in der bis am 31. Dezember 2016 anwendbaren Fassung wie folgt: Firmen, deren Gebrauch nach den Vorschriften dieses Gesetzes verboten ist, dürfen im Handelsregister nicht eingetragen werden (Abs. 1). Ebenso sind Fabrik- und Handelsmarken und gewerbliche Muster und Modelle, die gegen dieses Gesetz verstossen, von der Hinterlegung ausgeschlossen (Abs. 2).
2.3
Mit Veröffentlichung im Bundesblatt vom 12. Mai 2009 wurde das Sigel "ADB" der "Banque asiatique de développement" gemäss NZSchG geschützt (BBl 2009 3190). Es ist unbestritten, dass die von der Beschwerdeführerin hinterlegte Marke die Buchstabenfolge "adb" verwendet. Damit liegt grundsätzlich die Übernahme eines geschützten Kennzeichens vor, wie die Vorinstanz zu Recht festgestellt hat. Die Beschwerdeführerin macht auch nicht geltend, die übernommene Buchstabenfolge gehe in der von ihr hinterlegten Marke gewissermassen "unter" oder es komme ihr im Rahmen der gesamten Ausgestaltung des Zeichens eine weitere eigenständige Bedeutung zu - sei es als beschreibender Begriff oder generische Bezeichnung der Alltagssprache -, was nach der Rechtsprechung eine Ausnahme vom Verbot des Gebrauchs rechtfertigen könnte (vgl.
BGE 135 III 648
E. 2.5). Hingegen meint sie, ihr stehe ein Weiterbenützungsrecht im Sinne von Art. 5 NZSchG zu, da sie das Zeichen "ADB" seit 1995 in verschiedenen Darstellungsformen als Unternehmenskennzeichen und Marke für ihre Produkte und Dienstleistungen verwendet habe.
(...)
BGE 145 III 85 S. 89
3.
3.1
Der Schutz, den das NZSchG den Kennzeichen zwischenstaatlicher Organisationen gewährt, geht weiter als derjenige, den die Minimalvorschrift von Art. 6
ter
der Pariser Übereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums verlangt. Dies gilt auch für die in Art. 5 NZSchG getroffene Regelung (
BGE 135 III 648
E. 2.4;
BGE 105 II 135
E. 2c S. 139).
3.2
Auch das MSchG und das Bundesgesetz vom 21. Juni 2013 über den Schutz des Schweizerwappens und anderer öffentlicher Zeichen (Wappenschutzgesetz, WSchG; SR 232.21) sehen Weiterbenützungsrechte vor. So hält
Art. 14 Abs. 1 MSchG
unter der Marginalie "Einschränkung zugunsten vorbenützter Zeichen" fest, dass der Markeninhaber einem anderen nicht verbieten kann, ein von diesem bereits vor der Hinterlegung gebrauchtes Zeichen im bisherigen Umfang weiter zu gebrauchen. Die Lehre hält - jedenfalls teilweise - dafür, dass diese Bestimmung den Inhaber des Weiterbenützungsrechts nicht berechtige, sein bisher nicht eingetragenes Zeichen noch nachträglich eintragen zu lassen (vgl. UELI BURI, Das Weiterbenützungsrecht nach
Art. 14 MSchG
- eine Bestandesaufnahme, in: 125 Jahre Markenhinterlegung, sic! 2005 Sondernummer S. 114; LUCAS DAVID, in: Basler Kommentar, Markenschutzgesetz/Muster- und Modellgesetz, 2. Aufl. 1999, N. 4 zu
Art. 14 MSchG
; MICHAEL ISLER, in: Basler Kommentar, Markenschutzgesetz/Wappenschutzgesetz, 3. Aufl. 2017, N. 20 zu
Art. 14 MSchG
; siehe aber PHILIPPE GILLIÉRON, in: Commentaire romand, Propriété intellectuelle, 2013, N. 21 f. zu
Art. 14 MSchG
). Umgekehrt sieht
Art. 14 Abs. 3 WSchG
ausdrücklich eine Ausnahme vom Eintragungsverbot für Zeichen vor, für die das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement ein Weiterbenützungsrecht nach
Art. 35 WSchG
erteilt hat. Diese letzte Bestimmung soll den Interessen traditioneller Schweizer Unternehmen und Vereine Rechnung tragen, die das Schweizer Wappen oder ein wappenähnliches Zeichen bereits seit vielen Jahren benutzen und deren Zeichen sich beim Publikum als Kennzeichen durchgesetzt haben (Botschaft Swissness, BBl 2009 8651 Ziff. 2.3.7). Das in diesen Fällen eingeräumte (bewilligte) Weiterbenützungsrecht schliesst das Recht ein, das Zeichen als Marke einzutragen. Mit dieser Regelung sollte insbesondere auch der Schutz der entsprechenden Zeichen im Ausland verbessert werden (Botschaft Swissness, BBl 2009 8637 Ziff. 2.3.2.3).
Ob aber im Anwendungsbereich des NZSchG die Annahme der Beschwerdeführerin zutrifft, eine zulässige (Weiter-)Benützung lasse
BGE 145 III 85 S. 90
stets auf die Zulässigkeit der Eintragung schliessen, kann dahingestellt bleiben: Wie sich aus ihren Ausführungen ergibt, beantragt die Beschwerdeführerin (im Hauptbegehren) die Eintragung eines im Vergleich zum bisherigen Gebrauch "modernisierten", "grafisch neu gestalteten" Zeichens, das eine "Darstellungsvariante" des vorbenützten Zeichens sei. Das NZSchG gewährleistet indes einen weitgehenden Schutz der Kennzeichen der Vereinten Nationen sowie der betreffenden zwischenstaatlichen Organisationen und will unter anderem verhindern, dass durch einen (unautorisierten) Gebrauch der geschützten Kennzeichen deren Ansehen beeinträchtigt wird oder die internationalen Beziehungen der Schweiz gestört werden könnten (vgl.
BGE 135 III 648
E. 2.3). Die öffentlichen Interessen am Schutz der Kennzeichen zwischenstaatlicher Organisationen überwiegen grundsätzlich das private Interesse des Zeicheninhabers (
BGE 105 II 135
E. 4c). Art. 5 NZSchG schafft einzig insofern ein Korrektiv, als wohlerworbene Rechte gewahrt werden sollen (Botschaft vom 5. Juni 1961 zum Entwurf eines Bundesgesetzes zum Schutz von Namen und Zeichen der Organisation der Vereinigten Nationen und anderer zwischenstaatlicher Organisationen, BBl 1961 l 1337 Ziff. II). Dies legt es nahe, dass zumindest Zeichen, die sich von der bisher benützten Version unterscheiden, nach Art. 6 NZSchG (sowohl in der vor dem 1. Januar 2017 geltenden als auch in der revidierten Fassung) nicht als Marke eingetragen werden dürfen.
Diese Auslegung rechtfertigt sich auch mit Blick auf den Wortlaut der relevanten Bestimmungen: Die Art. 5 und Art. 6 NZSchG wurden (in umgekehrter Reihenfolge) von Art. 3 und Art. 4 des in der Folge aufgehobenen Bundesgesetzes vom 25. März 1954 zum Schutz des Zeichens und des Namens der Weltgesundheitsorganisation (AS 1954 1293) übernommen (vgl.
BGE 105 II 135
E. 2b S. 138). Art. 5 NZSchG und Art. 4 des erwähnten Vorgängererlasses zufolge darf "diese Benützung" - also die Benützung, wie sie vor der Veröffentlichung nach Art. 4 NZSchG begonnen wurde - fortgesetzt werden. Die französisch- und italienischsprachigen Gesetzesfassungen bringen zum Ausdruck, dass der Benützer "le même usage" beziehungsweise "lo stesso uso" fortsetzen kann (eine Formulierung, die sich in allen Sprachfassungen vom Wortlaut der
Art. 14 Abs. 1 MSchG
und
Art. 35 WSchG
unterscheidet). Es ginge vor diesem Hintergrund zu weit, eine durch Eintragung im Markenregister zu schützende "Weiterentwicklung und Modernisierung" des bis anhin benützten Zeichens zuzulassen und gegen eine Eintragung erst dann einzuschreiten,
BGE 145 III 85 S. 91
wenn der betroffenen zwischenstaatlichen Organisation daraus ein Nachteil erwüchse. Dies hat die Vorinstanz zu Recht erkannt.
3.3
Einer Eintragung der hinterlegten Marke steht demnach ein absoluter Ausschlussgrund entgegen (
Art. 2 lit. d MSchG
i.V.m. Art. 6 NZSchG). Der Gesetzgeber hat den Interessen des Inhabers eines vorbenützten Zeichens mit Art. 5 NZSchG Rechnung getragen. Diese Regelung des NZSchG ist für das Bundesgericht massgebend (vgl.
Art. 190 BV
). Für die von der Beschwerdeführerin erhobene Rüge, sie stelle einen unverhältnismässigen Eingriff in die Eigentumsgarantie (
Art. 26 BV
) dar, bleibt kein Raum (siehe auch
BGE 140 III 297
E. 5.3 S. 307). | de |
a7948ce4-9523-4c75-acb3-f7c833a2b832 | Sachverhalt
ab Seite 377
BGE 126 V 376 S. 377
A.-
Die 1960 geborene, aus Mazedonien stammende M. reiste im Jahre 1995 in die Schweiz ein. Vom Kanton Bern erhielt sie eine bis 8. Dezember 1998 gültige Aufenthaltsbewilligung (Ausländerausweis B) mit dem Aufenthaltszweck "Verbleib beim Ehemann". Seither widmete sie sich der Erziehung ihrer drei 1984, 1987 und 1991 geborenen Kinder, ohne daneben einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Am 16. Juni 1997 meldete sich M. zur Arbeitsvermittlung und beantragte ab 15. August 1997 Arbeitslosenentschädigung. Unter Hinweis darauf, dass die Versicherte seit dem 16. Juni 1997 die Kontrollpflicht erfülle und Anspruch auf Leistungen der Arbeitslosenversicherung unter Anrechnung von Erziehungszeiten geltend mache, unterbreitete die Arbeitslosenkasse Bern die Sache dem Kantonalen Amt für Industrie, Gewerbe und Arbeit (KIGA) zum Entscheid über die Anspruchsvoraussetzung. Mit Verfügung vom 6. Februar 1998 bejahte dieses den grundsätzlichen Anspruch auf Leistungen der Arbeitslosenversicherung ab 16. Juni 1997.
B.-
Die vom Bundesamt für Wirtschaft und Arbeit (ab 1. Juli 1999: Staatssekretariat für Wirtschaft [seco]) dagegen erhobene Beschwerde mit dem Antrag, es sei infolge fehlender Vermittlungsfähigkeit für die Zeit ab 16. Juni 1997 die Anspruchsberechtigung zu verneinen, wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 8. März 1999 ab.
C.-
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde erneuert das seco das vorinstanzlich gestellte Rechtsbegehren.
Während das KIGA auf eine Vernehmlassung verzichtet, hat sich die zum Verfahren beigeladene M. nicht vernehmen lassen. Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern nimmt in abweisendem Sinne Stellung.
D.-
Der Instruktionsrichter hat beim Bundesamt für Ausländerfragen einen Amtsbericht zur praktischen Handhabung von
Art. 17 Abs. 2 ANAG
und
Art. 8 Abs. 5 ANAV
eingeholt, welcher am 7. Juli 2000 ergangen ist. Das KIGA hat dazu am 24. Juli 2000 und das seco am 14. August 2000 Stellung genommen. Erwägungen
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
a) Für den Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung ist gemäss
Art. 8 Abs. 1 lit. c AVIG
u.a. Voraussetzung, dass der Versicherte in der Schweiz wohnt. Gemäss
Art. 12 AVIG
gelten
BGE 126 V 376 S. 378
Ausländer ohne Niederlassungsbewilligung als in der Schweiz wohnend, solange sie sich auf Grund einer Aufenthaltsbewilligung zur Erwerbstätigkeit oder einer Saisonbewilligung tatsächlich in der Schweiz aufhalten (vgl. dazu ARV 1996/97 Nr. 18 S. 89 Erw. 3a und Nr. 33 S. 186 Erw. 3a/aa; SVR 1996 ALV Nr. 77 S. 235 Erw. 3a).
b) Eine weitere gesetzliche Voraussetzung für den Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung ist die Vermittlungsfähigkeit (
Art. 8 Abs. 1 lit. f AVIG
). Ein Arbeitsloser ist vermittlungsfähig, wenn er bereit, in der Lage und berechtigt ist, eine zumutbare Arbeit anzunehmen (
Art. 15 Abs. 1 AVIG
). Somit gehören zur Vermittlungsfähigkeit nicht nur die Arbeitsfähigkeit und die Vermittlungsbereitschaft, sondern auch die Arbeitsberechtigung. Wenn und solange keine Arbeitsberechtigung besteht, fehlt es auch an der Vermittlungsfähigkeit des Versicherten und damit an seiner Anspruchsberechtigung (ARV 1996/97 Nr. 18 S. 90 Erw. 3b und Nr. 33 S. 187 Erw. 3a/bb; ARV 1993/94 Nr. 2 S. 12 Erw. 1 und Nr. 28 S. 200 Erw. 2a; SVR 1996 ALV Nr. 77 S. 236 Erw. 3b).
c) Da ein Ausländer ohne Niederlassungsbewilligung nur als in der Schweiz wohnend gilt, wenn er entweder im Besitze einer die Berechtigung zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit einschliessenden fremdenpolizeilichen Bewilligung ist oder im Falle ihres Ablaufes mit einer Bewilligungsverlängerung rechnen kann, die Arbeitsberechtigung dieser Kategorie von Versicherten aber zugleich auch Voraussetzung ihrer Vermittlungsfähigkeit ist, überschneiden sich die beiden Anspruchsvoraussetzungen von
Art. 8 Abs. 1 lit. c und f AVIG
bei diesen Versicherten teilweise. Sowohl die Arbeitsberechtigung als Element der Vermittlungsfähigkeit als auch die Anspruchsvoraussetzung des Wohnens in der Schweiz sind bei Ausländern ohne Niederlassungsbewilligung entscheidend vom Vorhandensein oder der mutmasslichen Verlängerung einer fremdenpolizeilichen Aufenthaltsbewilligung zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit abhängig (ARV 1996/97 Nr. 18 S. 90 Erw. 3c und Nr. 33 S. 187 Erw. 3b; SVR 1996 ALV Nr. 77 S. 236 Erw. 3c).
2.
Der Ausländer bedarf zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit sowie zum Stellen- und Berufswechsel einer Bewilligung; ausgenommen von der Bewilligungspflicht ist nur die erwerbliche Betätigung der niedergelassenen Ausländer (Art. 3 Abs. 3 des Bundesgesetzes über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer vom 26. März 1931 [ANAG, SR 142.20]). Nach
Art. 14c Abs. 3 ANAG
bewilligen die kantonalen Behörden den Ausländern eine
BGE 126 V 376 S. 379
unselbstständige Erwerbstätigkeit, sofern die Arbeitsmarkt- und Wirtschaftslage dies gestattet. Das Bewilligungsverfahren ist so geregelt, dass die kantonale Fremdenpolizeibehörde vor der Erteilung einer Bewilligung in der Regel "die Begutachtung des zuständigen Arbeitsnachweises einzuholen" hat, wenn der Ausländer eine Stelle antreten will (
Art. 16 Abs. 2 ANAG
). Bevor die kantonale Fremdenpolizei dem Ausländer eine Bewilligung erteilt, hat sie deshalb einen Vorentscheid (bei erstmaligen Gesuchen) oder eine Stellungnahme (insbesondere bei Verlängerungsgesuchen und Gesuchen um Bewilligung eines Stellenwechsels) der kantonalen Arbeitsmarktbehörde zur Frage einzuholen, ob die nach Art. 6 ff. der Verordnung über die Begrenzung der Zahl der Ausländer vom 6. Oktober 1986 (BVO, SR 823.21) geltenden Voraussetzungen erfüllt sind und ob die Wirtschafts- und Arbeitsmarktlage die Erteilung einer Arbeitsbewilligung gestattet (Art. 42 Abs. 1 und
Art. 43 Abs. 1 und 2 BVO
). Vorentscheid oder Stellungnahme der Arbeitsmarktbehörde sind für die Fremdenpolizeibehörde verbindlich. Die kantonale Fremdenpolizei kann jedoch trotz eines positiven Vorentscheides die Bewilligung aus anderen als wirtschaftlichen oder arbeitsmarktlichen Gründen verweigern (
Art. 42 Abs. 4 und
Art. 43 Abs. 4 BVO
;
BGE 120 V 380
Erw. 2b; ARV 1996/97 Nr. 18 S. 91 Erw. 4a und Nr. 33 S. 188 Erw. 4a; SVR 1996 ALV Nr. 77 S. 236 Erw. 4a).
3.
a) Das KIGA, welches gleichzeitig auch zuständige kantonale Arbeitsbewilligungsbehörde ist, führte in der Verfügung vom 6. Februar 1998 aus, seit der Einreise in die Schweiz hätten sich die Lebensverhältnisse der Versicherten verändert. Ihr könne daher unter bestimmten Voraussetzungen eine Arbeitsbewilligung erteilt werden, wenn sie ein konkretes Arbeitsverhältnis nachweise. Daher sei sie nicht generell vermittlungsunfähig. Auch weise sie Erziehungszeiten und eine wirtschaftliche Zwangslage aus. Demzufolge habe sie grundsätzlich Anspruch auf Leistungen der Arbeitslosenversicherung. In der Vernehmlassung im kantonalen Beschwerdeverfahren führte das KIGA ergänzend aus, Vermittlungsfähigkeit sei gegeben, wenn die kantonale Arbeitsmarktbehörde bei einem konkret in Aussicht stehenden Stellenantritt die Arbeitsbewilligung erteilen würde; vorliegend seien keine Gründe ersichtlich, welche dem zum Vornherein entgegenstehen würden. Das kantonale Gericht hat die Kassenverfügung vollumfänglich bestätigt.
b) Das seco macht demgegenüber geltend, in Zeiten angespannter Lage auf dem Arbeitsmarkt könnten Ausländer mit Ausweis B,
BGE 126 V 376 S. 380
die im Familiennachzug als Ehegattin oder Ehegatte in die Schweiz eingereist sind, wegen der gewollten Privilegierung von inländischen Arbeitskräften und bestimmter Ausländerkategorien praktisch nie mit der Erteilung einer Arbeitsbewilligung rechnen. Zudem dürften ausländische Staatsangehörige arbeitslosenversicherungsrechtlich nicht bereits dann als vermittlungsfähig qualifiziert werden, wenn sie lediglich mit einer Arbeitsbewilligung rechnen könnten. Denn nach der Rechtsprechung des Eidg. Versicherungsgerichts werde nicht eine mutmassliche Erteilung, sondern die mutmassliche Verlängerung einer abgelaufenen, vorbestandenen Aufenthaltsbewilligung vorausgesetzt, damit vom gesetzlichen Erfordernis des Vorhandenseins einer gültigen Arbeitsbewilligung ausnahmsweise abgewichen werden könne.
4.
a) Zur Vermittlungsfähigkeit im Sinne von Art. 8 Abs. 1 lit. f in Verbindung mit
Art. 15 Abs. 1 AVIG
gehört die Arbeitsberechtigung. Während Ausländer, die über eine Niederlassungsbewilligung verfügen (Ausländerausweis C), für dauernd in der Schweiz zugelassen sind und jede selbstständige oder unselbstständige Erwerbstätigkeit ausüben können, die nicht ausdrücklich Schweizer Bürgern vorbehalten ist (GERHARDS, Kommentar zum Arbeitslosenversicherungsgesetz Bd. I, N. 7 zu Art. 12), müssen Ausländer ohne Niederlassungsbewilligung grundsätzlich über eine Arbeitsbewilligung verfügen oder mit einer solchen rechnen können, falls sie eine zumutbare Arbeitsstelle finden (THOMAS NUSSBAUMER, Arbeitslosenversicherung, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Bd. Soziale Sicherheit, Rz 217).
Art. 12 AVIG
, welcher
Art. 8 Abs. 1 lit. c AVIG
für Ausländer ohne Niederlassungsbewilligung konkretisiert, betrachtet diese denn auch - abweichend von
Art. 23 ff. ZGB
- als in der Schweiz wohnend, wenn sie sich auf Grund einer Aufenthaltsbewilligung zur Erwerbstätigkeit oder einer Saisonbewilligung hier aufhalten. Für Ausländer ohne Niederlassungsbewilligung enthält der Begriff des Wohnens somit ein zusätzliches, durch
Art. 3 Abs. 3 ANAG
bedingtes fremdenpolizeiliches Element (NUSSBAUMER, a.a.O., Rz 141). Eine differenzierte Betrachtungsweise nimmt die Rechtsprechung bei ausländischen Ehegatten von Schweizerinnen und Schweizern vor. Auf Grund ihrer privilegierten ausländerrechtlichen Stellung gelten sie selbst dann als in der Schweiz wohnend, wenn ihre Aufenthaltsbewilligung abgelaufen und nicht rechtzeitig um deren Verlängerung nachgesucht worden ist (SVR 1996 ALV Nr. 77 S. 235).
BGE 126 V 376 S. 381
b) Mit Bezug auf Asylbewerber führte das Eidg. Versicherungsgericht aus, weil Arbeitsbewilligungen grundsätzlich nur für eine bestimmte Arbeitsstelle erteilt würden und bei der Auflösung des Arbeitsverhältnisses erlöschen (
Art. 29 Abs. 1 und 4 BVO
), verfüge der arbeitslos gewordene Asylbewerber in der Regel über keine Arbeitsbewilligung und habe auch keinen Anspruch auf deren Erneuerung. Das Gericht hielt jedoch fest, dass ein arbeitsloser Asylbewerber bereits dann als vermittlungsfähig zu betrachten sei, wenn er damit rechnen könne, eine Arbeitsbewilligung zu erhalten, falls er eine Stelle finde (
BGE 120 V 381
Erw. 2c; ARV 1993/94 Nr. 2 S. 15 Erw. 2c; SVR 1995 ALV Nr. 26 S. 63 Erw. 2b).
5.
a) Nach
Art. 17 Abs. 2 ANAG
haben Ehegatten, die zu Ausländern im Besitz der Niederlassungsbewilligung einreisen, einen Rechtsanspruch auf Aufenthaltsbewilligung und nach einem Aufenthalt von fünf Jahren auf Niederlassungsbewilligung. Anders als ledige Kinder unter 18 Jahren haben sie gemäss der seit 1. Januar 1992 gültigen Fassung dieser Bestimmung jedoch keinen Anspruch auf Einbezug in die Niederlassungsbewilligung des Ausländers.
Art. 8 Abs. 5 der Vollziehungsverordnung vom 1. März 1949 zum Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAV; SR 142.201)
, gemäss welchem die nach Art. 17 Abs. 2 des Gesetzes in die Bewilligung des Ausländers Einbezogenen keinen Anspruch auf Bewilligung einer Erwerbstätigkeit haben, solange der Ausländer nicht eine Niederlassungsbewilligung besitzt, ist auf Ehegatten daher nicht (mehr) anwendbar. Im vorliegenden Fall verfügt die Versicherte über keine Niederlassungsbewilligung. Ihr Anspruch beurteilt sich daher nach den Bestimmungen der BVO.
b) Gemäss BVO dürfen Ausländern Bewilligungen zur erstmaligen Erwerbstätigkeit, zum Stellen- oder Berufswechsel und zur Verlängerung des Aufenthaltes nur erteilt werden, wenn der Arbeitgeber trotz - konkret nachgewiesener - Bemühungen keine einheimische Arbeitskraft findet, die gewillt und fähig ist, die Arbeit zu den orts- und berufsüblichen Lohn- und Arbeitsbedingungen zu leisten (
Art. 7 Abs. 1 und 4 BVO
). Geht es um die erstmalige Erwerbstätigkeit, haben neben den einheimischen Arbeitskräften diejenigen stellensuchenden Ausländer den Vorrang, die sich bereits in der Schweiz aufhalten und zur Erwerbstätigkeit berechtigt sind (
Art. 7 Abs. 3 BVO
). Nach dem mit der Verordnungsänderung vom 25. Oktober 1995 eingefügten
Art. 7 Abs. 5bis BVO
(in Kraft seit 1. November 1995; AS 1995 4869 f.) gilt Absatz 3 dieser Bestimmung jedoch nicht für den Ehegatten eines Ausländers und
BGE 126 V 376 S. 382
seine Kinder, wenn sie eine Aufenthaltsbewilligung im Rahmen des Familiennachzugs erhalten haben (
Art. 38 und 39 BVO
). In ihren Erläuterungen vom Oktober 1995 zur Änderung der BVO führten das seco (damals noch Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit) und das Bundesamt für Ausländerfragen aus, die Einfügung von Abs. 5bis stehe in engem Zusammenhang mit den neuen Erleichterungen für Familien von Diplomaten und internationalen Beamten und diene der einheitlichen Zulassung von Personen auf dem Arbeitsmarkt, die im Rahmen des normalen Familiennachzugs eingereist seien. Infolge dieser Änderung habe
Art. 13 lit. a BVO
aufgehoben werden können, zumal die im Familiennachzug gemäss
Art. 38 BVO
zugelassenen Personen gemäss
Art. 12 Abs. 2 Satz 2 BVO
bereits von der zahlenmässigen Begrenzung ausgenommen seien, wenn sie eine erstmalige Erwerbstätigkeit ausübten. Nach der neuen Bestimmung hätten sie einen erleichterten Zugang zum Arbeitsmarkt, unterstünden jedoch der Kontrolle der Anstellungsbedingungen (
Art. 9 BVO
). In einer Weisung vom 8. September 1999 hält das Bundesamt für Ausländerfragen sodann fest,
Art. 7 Abs. 5bis BVO
sei in dem Sinne zu verstehen, dass Ehegatten eines Ausländers, die im Rahmen des Familiennachzugs eingereist sind, bei der Aufnahme einer erstmaligen Erwerbstätigkeit dem Vorrang der einheimischen Arbeitskräfte (gemäss Abs. 1), nicht aber dem Vorrang der stellensuchenden Ausländer (gemäss Abs. 3) unterstehen.
c) Daraus ergibt sich, dass im Familiennachzug eingereiste Ausländer nicht einem generellen Arbeitsverbot unterliegen. Wie Asylbewerber (
Art. 13 lit. g BVO
) sind sie von der für erwerbstätige Jahresaufenthalter geltenden zahlenmässigen Zulassungsbegrenzung ausgenommen (
Art. 12 Abs. 2 BVO
). Gegenüber jenen sind sie insofern privilegiert, als der Vorrang der stellensuchenden Ausländer nach
Art. 7 Abs. 3 BVO
, die sich bereits in der Schweiz aufhalten und zur Erwerbstätigkeit berechtigt sind, nicht zur Anwendung kommt. Namentlich Jahresaufenthalter können somit gegenüber den Personen, die im Familiennachzug eingereist sind, keinen Vorrang geltend machen. Die Arbeitsmarktbehörde hat daher im Rahmen des Vorentscheides oder der Stellungnahme gemäss
Art. 42 und 43 BVO
den Vorrang der einheimischen Arbeitskräfte zu beachten (
Art. 7 Abs. 1 und 4 BVO
) und zu prüfen, ob die orts- und berufsüblichen Lohn- und Arbeitsbedingungen eingehalten sind (
Art. 9 BVO
). Damit steht den zuständigen kantonalen Behörden bei der Bewilligung von Arbeitsberechtigungen von Ausländern,
BGE 126 V 376 S. 383
welche im Familiennachzug in die Schweiz eingereist sind, nach wie vor ein weiter Ermessensspielraum zu (vgl. SVR 1995 ALV Nr. 26 S. 63 Erw. 3b).
6.
a) Nach der Rechtsprechung beurteilt sich die Arbeitsberechtigung auf Grund einer individuell-konkreten und nicht einer generell-abstrakten Betrachtungsweise, wobei im konkreten Einzelfall zu entscheiden ist, ob der Ausländer über eine Arbeitsbewilligung verfügt oder mit einer solchen rechnen kann (SVR 1995 ALV Nr. 26 S. 63 Erw. 3c und S. 64 Erw. 5a). In dem in den Akten wiederholt erwähnten Urteil A. vom 24. August 1998 (ARV 1998 Nr. 44 S. 249) ging das Eidg. Versicherungsgericht - ohne ausdrücklich auf
Art. 7 Abs. 5bis BVO
Bezug zu nehmen - davon aus, dass auch hinsichtlich der im Familiennachzug eingereisten Personen zu prüfen sei, ob eine Arbeitsbewilligung vorliege oder mit einer solchen gerechnet werden könne (vgl. ARV 1998 Nr. 44 S. 252 Erw. 2a). Von dieser Betrachtungsweise abzuweichen, besteht auch unter Berücksichtigung der in Erwägung 5b hievor dargelegten Rechtsordnung kein Anlass.
Wenn für die Belange der Arbeitslosenversicherung eine die Bewilligung zur Ausübung einer (unselbstständigen) Erwerbstätigkeit einschliessende Aufenthaltsbewilligung verlangt wird (vgl.
Art. 12 und
Art. 15 Abs. 1 AVIG
), kann dies nur im Sinne einer Abgrenzung gegenüber jenen Wohnsitz- oder Aufenthaltsberechtigungen (beispielsweise Aufenthaltsbewilligung mit dem Zweck des Wohnens oder Studierens oder zu Kuraufenthalten) verstanden werden, die diese Qualität eben gerade nicht besitzen (vgl. GERHARDS, a.a.O., Rz 18 zu Art. 12). Hinzu kommt, dass wegen des Vorrangs der inländischen Arbeitskräfte im Sinne von
Art. 7 BVO
nur Bewilligungen für Berufe und Branchen mit Arbeitskräftemangel erteilt werden können, wobei der Arbeitgeber jeweils nachweisen muss, dass er keine einheimische Arbeitskraft gefunden hat. Die Bewilligungspraxis der Arbeitsmarktbehörde für die Erwerbstätigkeit der Familiennachzüger wird somit durch die Arbeitsmarktlage bestimmt. Sie hängt entscheidend von der jeweiligen Konjunkturlage und den besonderen kantonalen Verhältnissen ab (vgl. PETER KOTTUSCH, Zur rechtlichen Regelung des Familiennachzugs von Ausländern, in: ZBl 1989 S. 354). Da folglich nicht zum Vornherein festgelegt werden kann, ob ein im Familiennachzug in die Schweiz eingereister Ausländer eine gefundene Stelle antreten darf, muss es arbeitslosenversicherungsrechtlich genügen, wenn er gestützt auf eine konkrete Auskunft der zuständigen Behörde
BGE 126 V 376 S. 384
(
Art. 42 und
Art. 43 BVO
) mit einer (Ausnahme-)Bewilligung zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit rechnen kann. Besonders qualifizierte Umstände, wie sie das seco geltend macht, sind dabei nicht erforderlich.
b) Im vorliegenden Fall hat das KIGA in der Verfügung vom 6. Februar 1998 ausgeführt, der Versicherten könne unter bestimmten Voraussetzungen eine Arbeitsbewilligung erteilt werden, wenn sie ein konkretes Arbeitsverhältnis nachweise, weshalb sie nicht generell als vermittlungsunfähig betrachtet werden könne. Zudem wies es das Regionale Arbeitsvermittlungszentrum an, ihr eine zumutbare Stelle oder einen Einsatz in einem Beschäftigungsprogramm zuzuweisen. Im vorinstanzlichen Verfahren hielt das KIGA fest, die kantonalen Verhältnisse erlaubten es, Inhaberinnen von B-Ausweisen im Falle eines Stellennachweises eine erstmalige Arbeitsbewilligung zu erteilen. Diese kantonale Praxis zu überprüfen fällt nicht in die Zuständigkeit des Sozialversicherungsrichters. Aus der Anmeldung zur Arbeitsvermittlung ergibt sich, dass die als Verkäuferin ausgebildete Versicherte eine Tätigkeit in einer Fabrikation oder als Küchenhilfe sucht. Für eine solche Tätigkeit kann sie - vorbehältlich der Bewilligung der kantonalen Fremdenpolizei gemäss
Art. 43 BVO
- mit einer Arbeitsbewilligung rechnen. Unter diesen Umständen kann ihr die Vermittlungsfähigkeit nicht zum Vornherein abgesprochen werden. Mithin steht ihr eine Arbeitslosenentschädigung zu, sofern die übrigen Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind. | de |
0fd73c70-88fa-47ee-b5ce-9791e6c47fd9 | Erwägungen
ab Seite 140
BGE 94 II 139 S. 140
4.
Verfügungen, die der Erblasser unter dem Einfluss eines Irrtums errichtet hat, sind nach
Art. 469 Abs. 1 ZGB
ungültig; eine solche Verfügung wird nach
Art. 519 Abs. 1 Ziff. 2 ZGB
auf erhobene Klage für ungültig erklärt. Der Irrtum braucht kein wesentlicher im Sinne von
Art. 23 ff. OR
zu sein. Insbesondere kommt ein Irrtum im Beweggrund nicht bloss dann in Betracht, wenn es sich dabei um einen Grundlagenirrtum im Sinne von
Art. 24 Ziff. 4 OR
handelt. Vielmehr ist jeder Motivirrtum beachtlich, sofern er einen bestimmenden Einfluss auf die Verfügung hatte. Ein Testament wegen eines Motivirrtums für ungültig zu erklären, rechtfertigt sich indessen nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts nur dann, wenn als wahrscheinlich dargetan ist, dass es der Erblasser bei Kenntnis der Sachlage vorgezogen hätte, die angefochtene Verfügung aufzuheben, statt sie unverändert fortbestehen zu lassen (
BGE 75 II 284
ff., insbesondere 284 Erw. 3 und 287 Erw. 6). An dieser Rechtsprechung, die von RASCHEIN (Die Ungültigkeit der Verfügungen von Todes wegen, Berner Diss. 1954, S. 25) und von ESCHER (3. Aufl., N. 7 zu
Art. 469 ZGB
) kritisiert, von GUHL (ZBJV 1950 S. 506 f.) und von PICENONI (Die Auslegung von Testament und Erbvertrag, S. 61/62) dagegen nicht beanstandet wird, ist festzuhalten. Sie mutet dem das Testament anfechtenden Erben, der den Irrtum und dessen Kausalität für die Verfügung zu beweisen hat (
Art. 8 ZGB
; ESCHER, N. 6 zu
Art. 469 ZGB
; PICENONI, a.a.O. S. 61), entgegen der Auffassung von RASCHEIN nicht den schwierigen Nachweis zu, "wie" der Erblasser ohne den Irrtum verfügt, m.a.W. was er bei Kenntnis des Sachverhalts im einzelnen angeordnet hätte, sondern verlangt nur, es müsse wahrscheinlich gemacht werden, dass der Erblasser in diesem Falle die Aufhebung der Verfügung ihrer Aufrechterhaltung vorgezogen hätte. Wenn RASCHEIN ausserdem geltend macht, das gesetzliche Erbrecht müsse billiger erscheinen als eine unter Irrtum entstandene Verfügung und auch eine frühere mängelfreie Verfügung sei einer spätern mangelhaften vorzuziehen, so übersieht er, dass ein Erblasser unter Umständen auch eine mangelhafte Verfügung noch dem
BGE 94 II 139 S. 141
gesetzlichen Erbrecht oder einer früheren mängelfreien Verfügung vorziehen kann. Es entspricht der Bedeutung, die das schweizerische Erbrecht dem Willen des Erblassers einräumt, dass darauf geachtet wird, ob eine Ungültigerklärung des Testaments den Absichten des Erblassers entsprechen würde oder nicht. | de |
37647234-1910-4f64-a704-d79aa70bd630 | Sachverhalt
ab Seite 191
BGE 145 IV 190 S. 191
A.
A.a
Das Bezirksgericht Winterthur sprach X. am 7. Dezember 2017 des banden- und gewerbsmässigen Diebstahls (Art. 139 Ziff. 1 i.V.m. Ziff. 2 und 3 Abs. 2 StGB), der mehrfachen Sachbeschädigung (
Art. 144 Abs. 1 StGB
), des mehrfachen, teilweise versuchten Hausfriedensbruchs (
Art. 186 StGB
, teilweise i.V.m.
Art. 22 Abs. 1 StGB
), des versuchten Betrugs (Art. 146 Abs. 1 i.V.m.
Art. 22 Abs. 1 StGB
), der Urkundenfälschung (
Art. 251 Ziff. 1 StGB
) und des mehrfachen Fahrens ohne Berechtigung (
Art. 95 Abs. 1 lit. b SVG
) schuldig. Es verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von 42 Monaten und ordnete eine ambulante Behandlung im Sinne von
Art. 63 StGB
an. Es verpflichtete X. zudem, insgesamt neun Privatklägern (Geschädigten und Versicherungen), unter solidarischer Haftung mit allfälligen Mittätern, Schadenersatzzahlungen zu leisten, wobei es vier Privatkläger im Mehrbetrag auf den Zivilweg verwies. Zwei Privatkläger verwies es vollumfänglich auf den Zivilweg. X. erhob gegen dieses Urteil Berufung.
A.b
Das Obergericht des Kantons Zürich bestätigte am 3. September 2018 das erstinstanzliche Urteil im Schuld- und Strafpunkt, soweit angefochten. Im Zivilpunkt hiess es die Berufung teilweise gut, indem es zwei zusätzliche Privatkläger auf den Zivilweg verwies und die Schadenersatzansprüche zweier weiterer Privatkläger betragsmässig kürzte. Im Übrigen bestätigte es die erstinstanzlich zugesprochenen Schadenersatzforderungen.
B.
X. beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, die Schuldsprüche wegen Hausfriedensbruchs und Sachbeschädigung seien aufzuheben und das Verfahren sei insofern mangels gültiger Strafanträge einzustellen.
BGE 145 IV 190 S. 192
Er wendet sich zudem gegen die Strafzumessung und beantragt, er sei zu einer Freiheitsstrafe von lediglich 14 Monaten zu verurteilen. Eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. X. ersucht um unentgeltliche Rechtspflege.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt. Aus den Erwägungen:
Erwägungen
1.
(...)
1.3
1.3.1
In welcher Form und bei welcher Behörde der Strafantrag zu stellen ist, war vor Inkrafttreten der StPO im kantonalen Recht geregelt (
BGE 131 IV 97
E. 3.1 S. 98; Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 1085 ff., 1259 zu Art. 303 E-StPO). Soweit dieses nichts anderes vorschrieb, genügte auch ein mündlich gestellter Antrag (
BGE 106 IV 244
E. 1 S. 245). Im Kanton Zürich etwa bedurfte der Strafantrag keiner besonderen Form (Urteile 6B_396/2008 vom 25. August 2008 E. 3.3.2; 6S.302/2005 vom 31. Oktober 2005 E. 5).
Seit Inkrafttreten der StPO am 1. Januar 2011 sind Form und Adressat des Strafantrags in
Art. 304 Abs. 1 StPO
geregelt. Danach ist der Strafantrag bei der Polizei, der Staatsanwaltschaft oder der Übertretungsstrafbehörde schriftlich einzureichen oder mündlich zu Protokoll zu geben. Der Gesetzgeber wollte den Geschädigten folglich ermöglichen, ihren Strafantrag wahlweise schriftlich oder mündlich zu stellen.
1.3.2
Das Erfordernis der Schriftlichkeit ist erfüllt, wenn der Strafantrag vom Strafantragsteller schriftlich verfasst und unterzeichnet wurde. Bei elektronischer Übermittlung muss die Eingabe mit einer anerkannten elektronischen Signatur versehen sein (
Art. 110 Abs. 1 und 2 StPO
; Urteil 6B_284/2013 vom 10. Oktober 2013 E. 2.2).
Fraglich ist, was im Falle eines mündlichen Strafantrags unter einem Protokoll im Sinne von
Art. 304 Abs. 1 StPO
zu verstehen ist bzw. ob damit ein Protokoll im Sinne von
Art. 76 ff. StPO
gemeint ist.
1.3.3
Die StPO regelt das Strafverfahren (vgl.
Art. 1 Abs. 1 StPO
), welches mit dem Vorverfahren beginnt. Das Vorverfahren besteht aus dem Ermittlungsverfahren der Polizei und der Untersuchung der Staatsanwaltschaft (
Art. 299 Abs. 1 StPO
). Das Vorverfahren wird durch die Ermittlungstätigkeit der Polizei oder die Eröffnung einer Untersuchung durch die Staatsanwaltschaft eingeleitet
BGE 145 IV 190 S. 193
(
Art. 300 Abs. 1 lit. a und b StPO
). Bei Straftaten, die nur auf Antrag verfolgt werden, wird ein Vorverfahren gemäss
Art. 303 Abs. 1 StPO
erst eingeleitet, wenn der Strafantrag gestellt wurde.
Die Protokollierungsvorschriften von
Art. 76 ff. StPO
beziehen sich ausdrücklich auf die Protokollierung von Parteiaussagen, von mündlichen Entscheiden der Behörden sowie von anderen, nicht schriftlich durchgeführten Verfahrenshandlungen (vgl.
Art. 76 Abs. 1 StPO
). Die Bestimmungen betreffen demnach Verfahrens- und Einvernahmeprotokolle, welche zu erstellen sind, wenn zumindest ein Vorverfahren eröffnet wurde. Dies ist im Zeitpunkt des Strafantrags in der Regel gerade nicht der Fall. Die Vorschriften der StPO über die Befragung von Personen gelangen erst zur Anwendung, wenn ein Verdacht auf eine strafbare Handlung besteht. Zuvor darf die Polizei zumindest im Kanton Zürich eine Person ohne die Beachtung besonderer Formvorschriften zu Sachverhalten befragen, wenn dies für die Erfüllung polizeilicher Aufgaben notwendig ist (§ 24 Abs. 1 und 2 des Polizeigesetzes des Kantons Zürich vom 23. April 2007 [PolG/ZH; LS 550.1]). Naheliegend ist daher, dass es sich beim Protokoll im Sinne von
Art. 304 Abs. 1 StPO
nicht zwingend um ein Verfahrens- oder Einvernahmeprotokoll gemäss
Art. 76 ff. StPO
handeln muss, da der Strafantrag vor der Eröffnung eines Vorverfahrens zu erfolgen hat, die
Art. 76 ff. StPO
jedoch die Protokollierung im Strafverfahren betreffen.
Die Protokollierungspflicht gemäss
Art. 304 Abs. 1 StPO
soll sicherstellen, dass auch ein mündlicher Strafantrag schriftlich festgehalten, d.h. dokumentiert ist. Sollen Geschädigte den Strafantrag bei der Polizei - wie in
Art. 304 Abs. 1 StPO
vorgesehen - wahlweise schriftlich oder mündlich stellen können, ist die Bestimmung dahingehend auszulegen, dass der mündliche Strafantrag auch in einem Polizeirapport protokolliert werden kann. Wenn in
Art. 304 Abs. 1 StPO
von Protokoll die Rede ist, kann damit folglich auch ein Polizeirapport als Protokoll im weiteren Sinne gemeint sein.
1.4
Zu prüfen ist weiter, ob ein Polizeirapport für eine rechtsgültige Protokollierung des mündlich gestellten Strafantrags die Unterschrift des rapportierenden Polizeibeamten enthalten muss.
1.4.1
Gemäss
Art. 76 Abs. 2 StPO
müssen die protokollführende Person, die Verfahrensleitung und die allenfalls zur Übersetzung beigezogene Person die Richtigkeit des Protokolls bestätigen. Die Bestimmung ist auf Verfahrens- und Einvernahmeprotokolle im Sinne von
BGE 145 IV 190 S. 194
Art. 76 Abs. 1 StPO
zugeschnitten, nicht jedoch auf Polizeirapporte.
Art. 76 Abs. 2 StPO
verlangt zudem lediglich, dass das Protokoll "als richtig bestätigt" wird.
Auch
Art. 304 Abs. 1 StPO
selber statuiert keine Pflicht zur Unterschrift des Protokolls. Eine solche ist von Bundesrechts wegen daher nicht zwingend. Ein Polizeirapport, in welchem vermerkt ist, dass ein Strafantrag gestellt wurde, ist vielmehr auch ohne Unterschrift als Urkunde im Sinne von
Art. 110 Abs. 4 StGB
zu qualifizieren (siehe zur Urkundenqualität von Polizeirapporten etwa Urteile 6B_685/2010 vom 4. April 2011 E. 3.1; 6S.703/1993 vom 18. März 1994 E. 3; vgl. auch
BGE 142 IV 289
E. 3.1 S. 297;
BGE 93 IV 49
E. III.2.a S. 55 f.). Entscheidend ist, dass der Verfasser bzw. der Aussteller des Polizeirapports erkennbar ist (ausführlich zum Erfordernis der Erkennbarkeit des Ausstellers: MARKUS BOOG, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. I, 4. Aufl. 2019, N. 38 ff. zu
Art. 110 StGB
). Sofern dies nicht gesetzlich vorgesehen ist, muss eine Urkunde nicht zwingend die Unterschrift des Ausstellers enthalten. Es reicht aus, wenn die Person des Ausstellers aus dem Text aufscheint bzw. aus dem Inhalt der Urkunde und den Umständen ihrer Ausgabe oder Verwendung objektiv bestimmbar ist (BOOG, a.a.O., N. 45 zu
Art. 110 StGB
; STRATENWERTH/BOMMER, Besonderer Teil, Bd. II, 7. Aufl. 2013, § 35 N. 20; DONATSCH/THOMMEN/WOHLERS, Delikte gegen die Allgemeinheit, 5. Aufl. 2017, S. 143 f.; BERNARD CORBOZ, Les infractions en droit suisse, Bd. II, 3. Aufl. 2010, N. 52 zu
Art. 251 StGB
).
1.4.2
Dies ist bei den beanstandeten Polizeirapporten ohne Weiteres der Fall. In den Polizeirapporten ist deren Verfasser eingangs namentlich erwähnt. Als Verfasser steht der betreffende Polizeibeamte auch ohne seine Unterschrift als Garant für die Richtigkeit des von ihm erstellten Polizeirapports. Den erwähnten Polizeirapporten kommt zumindest in Bezug auf die Frage, ob ein Strafantrag gestellt wurde, daher auch ohne Unterschrift des rapportierenden Polizeibeamten Beweiskraft zu.
Nicht verlangt wird, dass nebst dem rapportierenden Polizeibeamten auch weitere Personen die Richtigkeit des Polizeirapports bzw. Protokolls bestätigen. Nicht erforderlich ist insbesondere, dass die Anzeige erstattende Person das Protokoll unterzeichnet (SCHMID/JOSITSCH, Schweizerische Strafprozessordnung [StPO], Praxiskommentar, 3. Aufl. 2018, N. 1 zu
Art. 304 StPO
; LANDSHUT/BOSSHARD, in: Kommentar zur schweizerischen Strafprozessordnung [StPO],
BGE 145 IV 190 S. 195
2. Aufl. 2014, N. 2 zu
Art. 304 StPO
; RIEDO/BONER, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, Bd. II, 2. Aufl. 2014, N. 17 zu
Art. 304 StPO
).
1.4.3
Der in einem Polizeirapport protokollierte Strafantrag kann mit einem Strafantrag per E-Mail, der nach der Rechtsprechung ungültig ist (Urteil 6B_284/2013 vom 10. Oktober 2013 E. 2.2), nicht verglichen werden. Bei einer E-Mail ohne elektronische Signatur besteht über den Absender wenig Gewissheit (
BGE 142 IV 299
E. 1.1 S. 302). Bei einem mündlichen Strafantrag unter Anwesenden lässt sich die Identität des Strafantragstellers demgegenüber anhand von Personalausweisen überprüfen. Entgegen der Kritik des Beschwerdeführers liegt darin, dass ein Strafantrag per E-Mail ohne elektronische Signatur den Formerfordernissen von
Art. 304 Abs. 1 StPO
nicht genügt, ein Polizeirapport jedoch ohne Unterschrift gültig sein kann, kein Widerspruch.
1.4.4
Die Strafanträge wurden nach dem Gesagten formgültig in den entsprechenden Polizeirapporten protokolliert.
1.5
1.5.1
Die in
Art. 10 Abs. 3 StPO
verankerte Beweiswürdigungsregel gilt auch für die prozessualen Voraussetzungen der Strafverfolgung wie den Strafantrag (BBl 2006 1132 in fine). Ob ein gültiger Strafantrag vorliegt, ist vom Staat zu beweisen (ESTHER TOPHINKE, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, Bd. I, 2. Aufl. 2014, N. 20 zu
Art. 10 StPO
; CHRISTOF RIEDO, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. I, 4. Aufl. 2019, N. 42 zu
Art. 31 StGB
).
1.5.2
Die Vorinstanz verneint zu Recht Anhaltspunkte dafür, dass die Polizeirapporte nicht der Wahrheit entsprechen. Bereits die Tatsache, dass die Geschädigten die Polizei avisierten, deutet darauf hin, dass sie die Täterschaft strafrechtlich zur Verantwortung ziehen wollten, was beim Hausfriedensbruch (
Art. 186 StGB
) und der Sachbeschädigung im Sinne von
Art. 144 Abs. 1 StGB
nur über einen Strafantrag geht.
Der Beschwerdeführer bringt dagegen vor, drei Geschädigte hätten ausdrücklich erklärt, sich nicht als Privatkläger am Strafverfahren beteiligen zu wollen. Dies mag zutreffen. Der Beschwerdeführer vermischt damit jedoch den Strafantrag mit der Privatstrafklage. Bei Ersterem handelt es sich um eine Prozessvoraussetzung; ohne Strafantrag darf der Staat kein Strafverfahren führen (
Art. 303 Abs. 1 StPO
;
BGE 141 IV 205
E. 6.1 S. 213;
BGE 129 IV 305
E. 4.2.3 S. 311; RIEDO, a.a.O.,
BGE 145 IV 190 S. 196
N. 21 ff. vor
Art. 30 StGB
). Bei Letzterem geht es um die Frage, ob die geschädigte Person nebst der die Anklage vertretenden Staatsanwaltschaft (vgl.
Art. 16 Abs. 2 StPO
) als Straf- oder Zivilklägerin im Strafverfahren im Sinne von
Art. 118 ff. StPO
auftritt. Der Verzicht auf die Stellung als Privatkläger (vgl.
Art. 120 StPO
) gilt nicht als Rückzug des Strafantrags im Sinne von
Art. 33 StGB
(
BGE 138 IV 248
E. 4.2.1 S. 252). Wird der Strafantrag nicht ausdrücklich zurückgezogen, ist das Strafverfahren trotz Desinteresse des Geschädigten fortzusetzen (MAZZUCHELLI/POSTIZZI, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, Bd. I, 2. Aufl. 2014, N. 6 zu Art. 118 und N. 3 zu
Art. 120 StPO
).
1.5.3
Der Geschädigte A. (Dossier 4) meldete den Schaden, inkl. den durch den Einbruch verursachten Sachschaden, seiner Versicherung, welche ihn für die gestohlenen Gegenstände und den durch den Einbruch entstandenen Sachschaden mit Fr. 1'739.90 entschädigte und sich in der Folge selber als Privatklägerin konstituierte. Die Versicherung kam demnach für den Schaden von A. auf, weshalb dieser insofern keine Schadenersatzforderungen gegenüber dem Beschwerdeführer geltend machen konnte. Daraus kann nicht geschlossen werden, A. habe nie den Willen gehabt, den Beschwerdeführer strafrechtlich zur Rechenschaft zu ziehen.
Im vom Beschwerdeführer erwähnten Dossier 16 (Geschädigter B.) blieb es beim versuchten Diebstahl. Dem Geschädigten kamen keine Gegenstände abhanden. Jedoch entstand beim Versuch, in die Liegenschaft einzudringen, ein Sachschaden. Aus dem vom Beschwerdeführer zitierten Schreiben von B. geht nur hervor, dass sich der Geschädigte nicht als Privatkläger am Verfahren beteiligen wollte ("Ich bin der Meinung, dass ich zwar Geschädigter bin, aber auf meine Rechte als Privatkläger verzichtet habe"). B. war folglich damit einverstanden, dass gegen den Beschwerdeführer ein Strafverfahren geführt wird, in welchem er grundsätzlich Rechte als Geschädigter hätte geltend machen können. Er verzichtete lediglich darauf, sich persönlich am Strafverfahren zu beteiligen. Dieser Verzicht auf die Stellung als Privatkläger gilt nicht als Rückzug des Strafantrags.
Bezüglich des vom Beschwerdeführer erwähnten Dossiers 20 (Geschädigter C.), das ebenfalls einen versuchten Diebstahl betraf, wurde das Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer wegen Hausfriedensbruchs und Sachbeschädigung bereits erstinstanzlich eingestellt. Darauf braucht daher nicht weiter eingegangen zu werden.
BGE 145 IV 190 S. 197
1.5.4
Anhaltspunkte, dass in den Polizeirapporten wahrheitswidrig rapportiert wurde, die Geschädigten hätten Strafantrag wegen Hausfriedensbruchs und Sachbeschädigung gestellt, liegen damit nicht vor. Die Vorinstanz ging zu Recht von gültigen Strafanträgen aus. Sie war entgegen dem Antrag des Beschwerdeführers nicht verpflichtet, durch Einvernahmen oder schriftliche Stellungnahmen abzuklären, ob die Geschädigten tatsächlich Strafantrag gestellt haben. Die Rüge des Beschwerdeführers ist unbegründet. | de |
18707e38-d5ff-4574-bbe0-94fe7d7e39c4 | Sachverhalt
ab Seite 314
BGE 144 III 313 S. 314
A.
A.a
2016 verstarb C.A. (geb. 1928; Erblasser). Er hinterliess als gesetzliche Erben die Ehefrau D.A. (geb. 1945) sowie die Enkel A.A. (geb. 1993; Beschwerdeführer 1) und B.A. (geb. 1995; Beschwerdeführer 2). Als Willensvollstrecker hatte er am 11. August 2005 E. eingesetzt.
A.b
Auf Antrag von A.A. und B.A. hin ordnete die stellvertretende Regierungsstatthalterin von Biel/Bienne am 29. Dezember 2016 die Errichtung eines öffentlichen Inventars über den Nachlass an. Zur verantwortlichen Urkundsperson ernannte sie den Notar F. Zudem setzte sie einen Massaverwalter ein.
Der Notar schloss das Inventar am 28. Februar 2017 und stellte es den Erben und dem Willensvollstrecker zu. Aufgrund verschiedener Bemerkungen sowie Ergänzungs- und Änderungsanträgen von A.A. und B.A. musste es nochmals überarbeitet werden. Am 3. Juli 2017 reichte F. das Inventar (inklusive Nachtrag vom 30. Juni 2017) schliesslich beim Regierungsstatthalteramt ein. Je ein Exemplar liess er den Erben zukommen.
Mit Eingabe vom 7. Juli 2017 beanstandeten A.A. und B.A. das Inventar in verschiedenen Punkten und beantragten, es sei von der Ansetzung einer Erklärungsfrist abzusehen und der Notar anzuweisen, weitere Abklärungen zu treffen sowie das Inventar anzupassen. Mit Schreiben vom gleichen Tag setzte die stellvertretende Regierungsstatthalterin den Erben Frist von einem Monat zur Erklärung, ob sie
BGE 144 III 313 S. 315
die Erbschaft annehmen wollen. Am 12. Juli 2017 wies sie ausserdem die Anträge um weitere Abklärungen und Ergänzung des Inventars ab.
B.
Mit Beschwerde vom 2. August 2017 gelangten A.A. und B.A. an das Obergericht des Kantons Bern und beantragten die Aufhebung der Verfügungen vom 7. und vom 12. Juli 2017. Ausserdem ersuchten sie um Rückweisung der Sache an das Regierungsstatthalteramt mit der Weisung, das Inventar nach Vornahme zusätzlicher Abklärungen anzupassen und eine neue Erklärungsfrist anzusetzen. Mit Entscheid vom 31. August 2017 wies das Obergericht die Beschwerde ab und setzte A.A. und B.A. Frist an, um sich zur Annahme der Erbschaft zu erklären.
C.
Mit Beschwerde in Zivilsachen vom 8. Oktober 2017 sind A.A. und B.A. mit dem Antrag an das Bundesgericht gelangt, es sei der Entscheid des Obergerichts vom 31. August 2017 aufzuheben. Das Regierungsstatthalteramt sei anzuweisen, das öffentliche Inventar (inkl. Nachtrag) zu ergänzen und zu bereinigen. Insbesondere seien verschiedene (namentlich genannte) "Aktiv- und Passivpositionen" der Erbschaft abzuklären. Anschliessend sei das Regierungsstatthalteramt anzuhalten, das Inventar erneut aufzulegen und A.A. und B.A. eine neue Frist zur Erklärung über die Annahme der Erbschaft anzusetzen.
Das Obergericht und das Regierungsstatthalteramt haben auf eine Vernehmlassung verzichtet.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
(Zusammenfassung) Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
2.1
Nach Ansicht der Beschwerdeführer haben die Vorinstanzen die bundesrechtlichen Bestimmungen zum Verfahren der Inventaraufnahme (vorab
Art. 584 ZGB
) sowie den verfassungsmässigen Anspruch auf rechtliches Gehör (
Art. 29 Abs. 2 BV
) verletzt, indem der Nachtrag zum Inventar vom 30. Juni 2017 nicht aufgelegt und ihnen keine Möglichkeit eingeräumt wurde, sich zu diesem zu äussern.
In sachverhaltlicher Hinsicht ist unbestritten, dass der Notar das Inventar am 28. Februar 2017 abschloss und den Beschwerdeführern anschliessend Gelegenheit für allfällige Änderungsanträge gab, von der diese Gebrauch machten. Am 3. Juli 2017 reichte er das Inventar mitsamt einem Nachtrag vom 30. Juni 2017 ohne weitere Auflegung
BGE 144 III 313 S. 316
beim Regierungsstatthalteramt ein, worüber er die Beschwerdeführer informierte. Die stellvertretende Regierungsstatthalterin setzte diesen anschliessend Frist an, um sich über die Annahme der Erbschaft zu erklären. Weitere Änderungs- und Ergänzungsanträge bezüglich des Inventars wies sie ab.
(...)
2.3
Gemäss
Art. 582 Abs. 1 ZGB
verbindet die Behörde mit der Aufnahme des Inventars einen Rechnungsruf, durch den auf dem Wege angemessener öffentlicher Auskündigung die Gläubiger und Schuldner des Erblassers mit Einschluss der Bürgschaftsgläubiger aufgefordert werden, binnen einer bestimmten Frist ihre Forderungen und Schulden anzumelden. Die Frist ist auf mindestens einen Monat, vom Tage der ersten Auskündigung an gerechnet, anzusetzen (
Art. 582 Abs. 3 ZGB
). Forderungen und Schulden, die aus öffentlichen Büchern oder den Papieren des Erblassers ersichtlich sind, werden von Amtes wegen in das Inventar aufgenommen (
Art. 583 Abs. 1 ZGB
). Nach Ablauf der Auskündigungsfrist wird das Inventar geschlossen und hierauf während wenigstens eines Monats zur Einsicht der Beteiligten aufgelegt (
Art. 584 Abs. 1 ZGB
). Nach Abschluss des Inventars wird jeder Erbe aufgefordert, sich binnen Monatsfrist über den Erwerb der Erbschaft zu erklären (sog. Deliberationsfrist;
Art. 587 Abs. 1 ZGB
). Wo die Umstände es rechtfertigen, kann die zuständige Behörde zur Einholung von Schätzungen, zur Erledigung von streitigen Ansprüchen und dergleichen eine weitere Frist einräumen (
Art. 587 Abs. 2 ZGB
; allgemein zum Verfahren der Inventaraufnahme vgl. Urteil 5A_392/2016 vom 1. November 2016 E. 4.1-4.3).
2.4
Wie das Obergericht richtig festhält, sieht das Gesetz nach seinem Wortlaut damit nur eine einmalige Auflage des Inventars zur Einsicht vor (
Art. 584 Abs. 1 ZGB
). Diese Regelung ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass das Institut des öffentlichen Inventars eine bloss beschränkte Aufgabe erfüllt: Es dient einzig der Information der Erben über die Aktiven und Passiven der Erbschaft und gibt Ersteren in Form des Instituts der Annahme der Erbschaft unter öffentlichem Inventar die Möglichkeit, die Schuldenhaftung zu beschränken (vgl. Urteile 5A_184/2012 vom 6. Juli 2012 E. 1.2, nicht publ. in:
BGE 138 III 545
, aber in: Pra 102/2013 Nr. 14 S. 128; 5P.155/2001 vom 24. Juli 2001 E. 2a). Es hat keinen konstitutiven Charakter. Der Streit um den (materiellen) Bestand und Inhalt der Aktiven und Passiven der Erbschaft wird nicht im Rahmen der Inventaraufnahme, sondern eines späteren Zivilprozesses geführt (vgl.
BGE 144 III 313 S. 317
Urteil 5A_392/2016 vom 1. November 2016 E. 4.3; COUCHEPIN/MAIRE, in: Commentaire du droit des successions, Eigenmann/Rouiller [Hrsg.], 2012, N. 11 f. zu
Art. 581 ZGB
; ROLF MATTER, Die Haftung des Erben für Bürgschaftsschulden des Erblassers nach schweizerischem ZGB, 1943, S. 64 f.; STEFAN PFYL, Die Wirkungen des öffentlichen Inventars [
Art. 587-590 ZGB
], 1996, S. 10; TUOR/PICENONI, Berner Kommentar, 2. Aufl. 1964, N. 10a zu
Art. 581 ZGB
; WISSMANN/VOGT/LEU, in: Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch, Bd. II, 5. Aufl. 2015, N. 11 zu
Art. 581 ZGB
). Dieser beschränkte Zweck des Inventars lässt es nicht als notwendig erscheinen, den Erben eine mehr als einmalige Einsichts- und Äusserungsmöglichkeit einzuräumen. Die Einräumung einer wiederholten Äusserungsmöglichkeit würde ausserdem zu einer Verlängerung der Inventaraufnahme führen, was dem in verschiedenen (Frist-)Bestimmungen des Gesetzes zum Ausdruck kommenden Interesse der Gläubiger daran widersprechen würde, dass der Entscheid über die Annahme oder Ablehnung der Erbschaft nicht allzu sehr verzögert wird (vgl.
BGE 138 III 545
E. 2.1; COUCHEPIN/MAIRE, a.a.O., N. 13 zu
Art. 580 ZGB
; WISSMANN/VOGT/LEU, a.a.O., N. 9 zu
Art. 580 ZGB
; vgl. auch
BGE 104 II 249
E. 4d).
Unter diesen Umständen besteht kein Anlass, vom Wortlaut des Gesetzes abzuweichen (vgl.
BGE 143 III 385
E. 4.1;
BGE 142 V 402
E. 4.1; je mit Hinweisen) und den Erben mehr als eine Einsichts- und Äusserungsmöglichkeit einzuräumen. Dies gilt auch mit Blick auf
Art. 29 Abs. 2 BV
. Um den berechtigten Informationsinteressen der Erben Rechnung zu tragen, ist diesen eine allfällige nachträgliche Berichtigung von Aktiven und Passiven aber anzuzeigen (vgl. ARNOLD ESCHER, Zürcher Kommentar, 3. Aufl. 1960, N. 2 zu
Art. 584 ZGB
; PFYL, a.a.O., S. 13; TUOR/PICENONI, a.a.O., N. 6 zu
Art. 584 ZGB
; WISSMANN/VOGT/LEU, a.a.O., N. 10 zu
Art. 584 ZGB
).
(...)
3.
3.1
Die Beschwerdeführer rügen weiter, das öffentliche Inventar sei inhaltlich nicht vollständig und vermöge den gesetzlichen Anforderungen des ZGB sowie der einschlägigen kantonalen Bestimmungen nicht zu genügen. Notwendige Abklärungen seien trotz entsprechender Anträge unterblieben, weshalb der Anspruch auf rechtliches Gehör mehrfach verletzt sei. Aktiven und Passiven der Erbschaft seien, sofern überhaupt festgestellt und inventarisiert, beliebig bewertet worden, offensichtlich aufzunehmende Positionen, namentlich
BGE 144 III 313 S. 318
Steuerforderungen, seien grundlos ausser Acht geblieben und verschiedene Passiven, die entweder nicht bestünden oder verspätet angemeldet worden seien, hätten Eingang in das Inventar gefunden. Einzelne Forderungen seien zu hoch bewertet worden und das Inventar sei anzupassen.
3.2
Mit ihren Vorbringen verkennen die Beschwerdeführer, dass das öffentliche Inventar nicht der Ort ist, um den Streit um Inhalt und Bestand der Aktiven und Passiven der Erbschaft zu führen. Hierüber ist vielmehr in einem Zivilprozess zu entscheiden (vgl. vorne E. 2.4 und die dortigen Hinweise). Die Aufnahme eines Passivum in das Inventar hat denn auch allein deklaratorische Wirkung. Das Inventar gibt bloss Auskunft darüber, welche Schulden aufgrund der einschlägigen Bestimmungen aufgenommen wurden, ohne sich zu deren Begründetheit zu äussern. Die zuständige Behörde hat bei der Inventaraufnahme diesbezüglich keine Entscheidungsbefugnis. Entsprechend hat sie die angemeldeten Forderungen im Inventar aufzunehmen, ohne sie einer Prüfung zu unterziehen. Sie darf diese weder zurückweisen noch herabsetzen (vgl. ESCHER, a.a.O., N. 3 zu
Art. 581 ZGB
; MATTER, a.a.O., S. 64 f.; PFYL, a.a.O., S. 10). Das öffentliche Inventar gibt einzig einen informativen Überblick über die Aktiven und Passiven der Erbschaft, enthält aber keine umfassende und inhaltlich bereinigte Zusammenstellung derselben. Dementsprechend ist auch nicht bei der Aufnahme des Inventars, sondern im Zivilprozess über die Frage zu entscheiden, ob eine Forderung rechtzeitig angemeldet wurde oder die Präklusionswirkung (vgl.
Art. 590 ZGB
) eingetreten ist (für Beispiele entsprechender Zivilprozesse vgl.
BGE 110 II 228
;
79 II 362
; Urteil 5C.126/2006 vom 23. August 2006, teilweise publ. in:
BGE 133 III 1
; zu den materiellrechtlichen Folgen der Präklusion vgl. etwa NONN/ENGLER, in: Praxiskommentar Erbrecht, Abt/Weibel [Hrsg.], 3. Aufl. 2015, N. 4 ff. zu
Art. 590 ZGB
; TUOR/PICENONI, a.a.O., N. 2 zu Art. 589/590 ZGB; WISSMANN/VOGT/LEU, a.a.O., N. 1 und 3 zu
Art. 590 ZGB
; WOLF/GENNA, Erbrecht, SPR, Bd. IV/2, 2015, S. 115 ff.). Hieran ändert nichts, dass Erbschaftsgläubiger berechtigt sind, gegen die Nichtaufnahme ihrer Forderung in das Inventar vorzugehen (vgl. Urteil 5A_392/2016 vom 1. November 2016). Anders als die Beschwerdeführer meinen, sind Steuerforderungen sodann von vornherein nicht in das Inventar aufzunehmen (
Art. 165 Abs. 4 DBG
[SR 642.11] und Art. 238 Abs. 4 des Steuergesetzes [des Kantons Bern] vom 21. Mai 2000 [StG/BE; BSG 661.11];
BGE 132 I 117
E. 5.1;
BGE 102 Ia 483
E. 5 und 6; Urteil 2C_377/2017 vom 4. Oktober 2017 E. 2). Somit
BGE 144 III 313 S. 319
besteht kein Platz, im vorliegenden Verfahren, das sich zudem nicht unwesentlich nach kantonalem Recht richtet (
Art. 581 Abs. 1 ZGB
),über die von den Beschwerdeführern aufgeworfenen Fragen zu entscheiden. Unter diesen Umständen erübrigt es sich, auf die zahlreichen auch in diesem Zusammenhang erhobenen Rügen der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör einzugehen (vgl. Urteile 5A_483/2017 /5A_484/2017 vom 6. November 2017 E. 3.2.3; 5A_749/2016 vom 11. Mai 2017 E. 6; 4A_453/2016 vom 16. Februar 2017 E. 4.2). Zusammenfassend erweist es sich als bundesrechtskonform, dass das Obergericht das bei ihm erhobene Rechtsmittel abgewiesen hat. | de |
6e951963-e4dc-4658-8d8a-333fd96cf8ac | Sachverhalt
ab Seite 59
BGE 124 II 58 S. 59
Im Kanton Bern ist eine Voruntersuchung gegen den Financier Werner K. Rey und weitere Verantwortliche der Omni-Gesellschaften wegen Betrugs, Urkundenfälschung, Konkursdelikten und weiterer Tatbestände eingeleitet worden. Im Rahmen dieser Voruntersuchung forderte der Besondere Untersuchungsrichter III für den Kanton Bern (im folgenden "der Besondere Untersuchungsrichter") die Berner Kantonalbank auf, im Zusammenhang mit der Publikumsöffnung und Kapitalerhöhung 1986 der Inspectorate International SA (im folgenden "Inspectorate SA"), die unter ihrer Leitung
BGE 124 II 58 S. 60
durch verschiedene Konsortialbanken durchgeführt worden waren, alle Unterlagen herauszugeben. Dieser Editionsaufforderung kam die Bank nach.
Mit Gesuch vom 27. Juni 1995 forderte die Eidgenössische Steuerverwaltung beim Besonderen Untersuchungsrichter Einsicht in die Akten der Strafuntersuchung gegen Werner K. Rey und Gesellschaften der Rey-Gruppe sowie Einsicht in allfällig vorhandene Akten von Strafuntersuchungen gegen natürliche und juristische Personen, die bei Werner K. Rey und dessen Gesellschaften Kapital investiert haben. Bereits am 7. Juni 1995 hatte der Besondere Untersuchungsrichter die Eidgenössische Steuerverwaltung ermächtigt, Einsicht in die Akten der Strafuntersuchung gegen die Omni Holding AG und Werner K. Rey zu nehmen.
Der Besondere Untersuchungsrichter hiess das Gesuch mit Verfügung vom 20. September 1995 gut, soweit es Akten von Angeschuldigten betrifft, die in der Schweiz steuerpflichtig sind, oder von juristischen Personen, die von Angeschuldigten beherrscht werden. Hingegen wies er das Gesuch ab hinsichtlich der Akten von Personen (Investoren), die im Gesuch nicht näher bezeichnet und in das Strafverfahren nicht verwickelt sind. Ebenso verweigerte er die Einsichtnahme in die von der Bank im Strafverfahren unter Aufhebung des Bankgeheimnisses herausverlangten Aufstellungen und Namenslisten von Kunden, die im Zug der Publikumsöffnung der Inspectorate SA im Jahre 1986 aus der Kapitalerhöhung Zuteilungen erhalten haben. In der Rechtsmittelbelehrung wurde angegeben, dass gegen diese Verfügung bei der Justiz-, Gemeinde- und Kirchendirektion des Kantons Bern Verwaltungsbeschwerde erhoben werden könne.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die Eidgenössische Steuerverwaltung dem Bundesgericht, die Verfügung des Besonderen Untersuchungsrichters vom 20. September 1995 sei insoweit aufzuheben, als ihr die Einsichtnahme in die Untersuchungsakten verweigert werde, die sich auf Investoren bei Werner K. Rey und dessen Gesellschaften beziehen sowie auf Kunden der Berner Kantonalbank und ihrer Konsortialbanken, die im Zuge der Publikumsöffnung der Inspectorate SA im Jahre 1986 aus der Kapitalerhöhung Zuteilungen erhielten.
Da gemäss Rechtsmittelbelehrung noch der kantonale Rechtsmittelweg offenzustehen schien, wurde das bundesgerichtliche Verfahren sistiert und der Regierungsrat des Kantons Bern eingeladen, sich zur Frage der Letztinstanzlichkeit zu äussern. Am 27. Oktober 1995
BGE 124 II 58 S. 61
teilte die Justiz-, Gemeinde- und Kirchendirektion des Kantons Bern dem Bundesgericht mit, die Eidgenössische Steuerverwaltung habe bei ihr ebenfalls eine Beschwerde eingereicht. Allerdings sei die Justiz-, Gemeinde- und Kirchendirektion nicht zuständig, über Beschwerden gegen Verfügungen von Justizinstanzen zu befinden.
Das Rechtsamt der Justiz-, Gemeinde- und Kirchendirektion eröffnete in der Folge das Meinungsaustauschverfahren mit dem Obergericht und dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern über die Frage der Zuständigkeit. Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern stellte am 26. Februar 1996 autoritativ fest, dass es zur Beurteilung der Beschwerde nicht zuständig sei, weil im Rahmen der Strafuntersuchung gegen Verfügungen des Untersuchungsrichters die Rechtsmittel und Rechtsbehelfe des Strafverfahrens offenstünden und die angefochtene Verfügung kantonal letztinstanzlich sei, wenn kein Rechtsmittel des Strafverfahrens gegeben sei; auch
Art. 98a OG
verlange nicht zwingend ein kantonales Rechtsmittel, weil es sich beim Besonderen Untersuchungsrichter bereits um eine richterliche Behörde handle.
Das Verwaltungsgericht überwies deshalb die Beschwerde an die Anklagekammer des Obergerichts des Kantons Bern. Diese nahm die Eingabe als Beschwerde im Sinne von Art. 64 des damals geltenden Gesetzes über das Strafverfahren des Kantons Bern vom 20. Mai 1928 (aStrV) entgegen. Mit Beschluss vom 31. Mai 1996 wies die Anklagekammer des Obergerichts die Beschwerde der Eidgenössischen Steuerverwaltung ab.
In der Folge wurde das bundesgerichtliche Verfahren wieder aufgenommen und der Besondere Untersuchungsrichter sowie die Berner Kantonalbank zur Vernehmlassung eingeladen. Der Besondere Untersuchungsrichter hält an der Begründung in seiner Verfügung fest. Die Berner Kantonalbank beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
a) Die Eidgenössische Steuerverwaltung stützt ihr Auskunftsersuchen auf Art. 112 des Bundesgesetzes vom 14. Dezember 1990 über die direkte Bundessteuer (DBG; SR 642.11). Die angefochtene Verfügung des Besonderen Untersuchungsrichters erging zwar im Rahmen des kantonalen Strafverfahrens, sie hat jedoch die Anwendung von öffentlichem Recht des Bundes zum Gegenstand.
BGE 124 II 58 S. 62
Es handelt sich somit um eine Verfügung im Sinne von Art. 5 des Bundesgesetzes vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren (VwVG, SR 172.021), die letztinstanzlich mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht weitergezogen werden kann (
Art. 97 Abs. 1 OG
, 98 lit. g, 98a OG).
b) Die Beschwerdeführerin hat auch eine kantonale Beschwerde eingereicht, die von der Anklagekammer des Obergerichts des Kantons Bern als Beschwerde im Sinne von Art. 64 aStrV entgegengenommen und behandelt worden ist. Diese Beschwerde ist indessen kein prozessuales Rechtsmittel im technischen Sinn, sondern ein Aufsichtsmittel, das gegen die Richter und Gerichtsschreiber der ersten Instanz wegen "nicht strafbarer Amtspflichtverletzung oder ungebührlicher Behandlung" ergriffen werden kann (Art. 64 aStrV). Eine Amtspflichtverletzung liegt nach der Praxis vor, wenn eine an sich ungesetzliche oder ungerechtfertigte Amtshandlung aus unsachlichen oder zum vornherein nicht stichhaltigen Gründen erfolgt, und nicht schon dann, wenn diese ungesetzlich oder ungerechtfertigt ist (WAIBLINGER, Das Strafverfahren für den Kanton Bern, Langenthal 1937 und 1942, N. 2 zu Art. 64). Es geht aus den Erwägungen des Beschlusses der Anklagekammer klar hervor, dass sie die Anordnung (Verfügung) des Besonderen Untersuchungsrichters nur unter diesem beschränkten Gesichtswinkel und nicht umfassend daraufhin, ob diese öffentliches Recht des Bundes verletzt, geprüft hat, auch wenn sie sich mit der Rechtsprechung des Bundesgerichts zu
Art. 112 DBG
(bzw. zum früheren Art. 90 Abs. 1 des Bundesratsbeschlusses vom 9. Dezember 1940 über die Erhebung einer direkten Bundessteuer, BdBSt) auseinandergesetzt hat. Im Lichte von
Art. 98 lit. g OG
war deshalb für die Beschwerdeführerin nicht erforderlich, diesen Entscheid mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde anzufechten (s. auch Urteil vom 14. März 1996, ASA 65 S. 649 E. 3).
c) Es stellt sich indes die Frage, ob gemäss
Art. 98a OG
gegen die Verfügung des Besonderen Untersuchungsrichters ein kantonaler Instanzenzug vorgesehen sein müsste. Aufgrund dieser Bestimmung bestellen die Kantone richterliche Behörden als letzte kantonale Instanzen, soweit gegen deren Entscheide unmittelbar die Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Bundesgericht zulässig ist. Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern trat auf die im Kanton erhobene Beschwerde der Eidgenössischen Steuerverwaltung nicht ein. Es ist der Ansicht, eine zusätzliche kantonale Instanz nach
Art. 98a OG
sei nicht erforderlich, weil es sich beim Besonderen Untersuchungsrichter
BGE 124 II 58 S. 63
bereits um eine richterliche Behörde im Sinne dieser Vorschrift handle.
Ob diese Ansicht zutrifft, erscheint fraglich. Das Gericht charakterisiert sich dadurch, dass es in einem justizförmigen Verfahren über eine Streitfrage eine Entscheidung trifft. Zum Wesen eines Gerichtes gehört, dass es die rechtserheblichen Tatsachen selbst ermittelt, die Gesetze und Rechtsgrundsätze auf den in Frage stehenden Sachverhalt anwendet und eine für die Parteien verbindliche Entscheidung trifft. Merkmale eines Gerichts sind dessen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit. Zur gleichen Neutralität ist der mit einem Ermittlungsauftrag betraute Untersuchungsrichter nicht verpflichtet. Er gilt objektiv nicht im gleichen Masse als unabhängig und unbefangen wie ein Gericht (vgl.
BGE 123 I 87
E. 4a und e betreffend Notariatskommission; zur Stellung des Untersuchungsrichters siehe auch den Fall De Cubber gegen Belgien, Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 26. Oktober 1984, Serie A, Nr. 86 Ziff. 23 ff.). Der Untersuchungsrichter kann deshalb schwerlich oder jedenfalls nicht ohne weiteres als Gericht im Sinne von
Art. 98a OG
angesehen werden.
Die Frage, ob der Kanton Bern verpflichtet gewesen wäre, eine richterliche Instanz zur Verfügung zu stellen, braucht im vorliegenden Fall indessen nicht entschieden zu werden, weil die mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde angefochtene Verfügung des Besonderen Untersuchungsrichters am 20. September 1995 erging, mithin vor Ablauf der Frist, die den Kantonen zur Anpassung ihrer Gesetzgebung an
Art. 98a OG
eingeräumt ist (Schlussbestimmung Ziff. 1 zur Änderung 1991 OG; Inkrafttreten der Gesetzesnovelle: 15. Februar 1992), und intertemporalrechtlich für die Frage des zulässigen Rechtsmittels in der Regel auf das Datum des angefochtenen Entscheides abzustellen ist (s. auch Urteil vom 30. September 1997 i.S. F., betreffend Ermessensveranlagung, ASA-Publikation vorgesehen).
d) Für Entscheide nach Ablauf dieser Frist haben die Kantone dann allerdings eine kantonale richterliche Behörde als letzte kantonale Instanz vorzusehen, wenn es sich bei der um Akteneinsicht ersuchten Behörde nicht bereits um eine richterliche Behörde im Sinne von
Art. 98a OG
handelt. Die Ausgestaltung des Rechtsweges obliegt dem Kanton, weil das Bundesgesetz über die direkte Bundessteuer das Verfahren nicht regelt. Zu beachten ist auch das Bundesgesetz vom 14. Dezember 1990 über die Harmonisierung der direkten Steuern der Kantone und Gemeinden (StHG; SR 642.14), dessen Art. 39 Abs. 3 die Voraussetzungen zur Amtshilfe grundsätzlich
BGE 124 II 58 S. 64
gleich umschreibt wie
Art. 112 DBG
. Da gegen Entscheide der letzten kantonalen Instanzen in dieser Materie ebenfalls die Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht zulässig ist (
Art. 73 Abs. 1 StHG
), wäre es denkbar, dass der Kanton für Auskunftsersuchen betreffend die kantonalen Steuern die gleiche richterliche Instanz vorsieht wie für Auskunftsersuchen betreffend die direkte Bundessteuer. Das könnte beispielsweise die in
Art. 50 Abs. 1 StHG
vorgesehene Rekursinstanz sein, bei der es sich um ein verwaltungsunabhängiges Gericht handelt (CAVELTI in: Kommentar zum Schweizerischen Steuerrecht I/1, N. 7 zu
Art. 50 StHG
).
e) Nach dem Gesagten ergibt sich, dass die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen die Verfügung des Besonderen Untersuchungsrichters zulässig ist. Zur Beschwerde legitimiert ist auch die Eidgenössische Steuerverwaltung. Ihre Beschwerdebefugnis ist im Bundesgesetz über die direkte Bundessteuer nicht mehr ausdrücklich verankert, doch ergibt sich aus der bundesrätlichen Verordnung über die Aufgaben der Departemente, Gruppen und Ämter vom 9. Mai 1979 (SR 172.010.15), dass es sich bei der Eidgenössischen Steuerverwaltung um die im Sinne von
Art. 103 lit. b OG
zuständige Dienstabteilung handelt (Art. 11 Ziff. 5; s. auch AGNER/JUNG/STEINMANN, Kommentar zum Gesetz über die direkte Bundessteuer, N. 4 zu Art. 146). Auf die auch den übrigen formellen Erfordernissen genügende Beschwerde ist somit einzutreten.
2.
Streitig ist im vorliegenden Fall die Frage, in welchem Umfang die Beschwerdeführerin Einsicht in die Akten des gegen Werner K. Rey und Konsorten geführten Strafverfahrens nehmen darf. Der Besondere Untersuchungsrichter hat das Akteneinsichtsersuchen bewilligt, soweit es im Strafverfahren angeschuldigte Personen betrifft oder sich auf Gesellschaften bezieht, bei denen solche Personen eine beherrschende Stellung innehaben. Er hat jedoch das Gesuch abgewiesen, soweit die Beschwerdeführerin in Akten Einblick nehmen will, welche nicht in das Strafverfahren involvierte Personen betreffen. Er begründete seinen ablehnenden Entscheid damit, dass der Beschwerdeführerin diese Personen nicht bekannt seien und es nicht Aufgabe der Strafverfolgungsbehörde sein könne, den Steuerbehörden zu einer allgemeinen Suchaktion zu verhelfen.
Das Akteneinsichtsersuchen der Beschwerdeführerin, soweit es vom Untersuchungsrichter nicht bereits bewilligt worden ist, steht nicht mit der Veranlagung eines bestimmten Steuerpflichtigen in einem Zusammenhang. Es betrifft generell Personen, die bei Werner K. Rey bzw. dessen Gesellschaften Investitionen getätigt haben oder
BGE 124 II 58 S. 65
aus der Kapitalerhöhung der Inspectorate SA Zuteilungen erhielten. Es steht ausser Frage, dass auf das Gesuch
Art. 112 Abs. 1 DBG
Anwendung findet, zumal es nach dem 1. Januar 1995 gestellt worden ist. Das hindert nicht, bei der Auslegung der neuen Bestimmung die bisherige Rechtsprechung zu
Art. 90 Abs. 1 BdBSt
zu berücksichtigen.
3.
Unter dem Marginale "Amtshilfe anderer Behörden" bestimmt
Art. 112 Abs. 1 und 3 DBG
:
1 Die Behörden des Bundes, der Kantone, Bezirke, Kreise und Gemeinden erteilen den mit dem Vollzug betrauten Behörden auf Ersuchen hin alle erforderlichen Auskünfte. Sie können diese Behörden von sich aus darauf aufmerksam machen, wenn sie vermuten, dass eine Veranlagung unvollständig ist.
3 Von der Auskunfts- und Mitteilungspflicht ausgenommen sind die Organe der PTT-Betriebe und der öffentlichen Kreditinstitute für Tatsachen, die einer besonderen, gesetzlich auferlegten Geheimhaltung unterstehen.
a)
Art. 112 Abs. 1 DBG
übernimmt weitgehend
Art. 90 Abs. 1 BdBSt
(Urteil vom 14. März 1996, ASA 65 S. 650 E. 5). Nach dieser Vorschrift hatten die Verwaltungs- und Gerichtsbehörden des Bundes, der Kantone und Gemeinden, "ungeachtet einer allfälligen Geheimhaltungspflicht, der Veranlagungsbehörde auf deren Verlangen aus den amtlichen Registern sowie aus sonstigen Akten, die für die Veranlagung eines Steuerpflichtigen von Bedeutung sein können, kostenlos Auskunft zu erteilen." Gewährleistet blieb nur das Post- und Telegrafengeheimnis. Nach der Rechtsprechung zu
Art. 90 Abs. 1 BdBSt
konnte die Steuerverwaltung Einsicht in die Akten eines Strafverfahrens nehmen, sofern sie konkrete Anhaltspunkte für den Verdacht hatte, dass ein Steuerpflichtiger eine Steuerwiderhandlung begangen hatte (
BGE 108 Ib 231
). Das Einsichtsrecht beschränkte sich aber nicht auf die im Strafverfahren angeschuldigten Personen. Die Steuerbehörde durfte Tatsachen, die sie bei der Konsultation der Strafakten in Erfahrung brachte, auch gegenüber den in das Strafverfahren nicht involvierten Personen verwenden, und zwar selbst dann, wenn sie diesen gegenüber anfänglich keinen Verdacht hatte (
BGE 113 Ib 193
; Urteil vom 6. Oktober 1987, ASA 58 S. 359). Der Fiskus konnte sogar in die Akten eines Strafverfahrens Einsicht nehmen, wenn er einen konkreten Verdacht nur gegenüber einer am Strafverfahren nicht beteiligten Person hegte, vorausgesetzt die Strafakten standen mit dieser Person in einem Zusammenhang (
BGE 108 Ib 465
; Urteil vom 29. September 1978, ASA 48 S. 483, deutsche Übersetzung in StR 35/1980 S. 374).
BGE 124 II 58 S. 66
b) Das Einsichtsrecht des Fiskus machte dabei auch vor Bankdokumenten nicht halt.
Art. 89 Abs. 2 BdBSt
behielt zwar für das Veranlagungsverfahren das gesetzlich geschützte Berufsgeheimnis - wozu das Bankgeheimnis gehört - vor. Die Veranlagungsbehörde konnte sich deshalb nicht direkt an die Bank wenden, wenn der Steuerpflichtige sich weigerte, durch das Geheimnis geschützte Tatsachen oder Beweismittel zu offenbaren.
Der Schutz des Bankgeheimnisses versagte jedoch dann, wenn in einem nach strafprozessualen Grundsätzen durchgeführten Verfahren Bankdokumente herausverlangt oder beschlagnahmt worden waren. Art. 47 des Bundesgesetzes über die Banken und Sparkassen vom 8. November 1934 (BankG, in der Fassung vom 1. April 1996, SR 952.0), der das Bankgeheimnis strafrechtlich unter Schutz stellt, behält in Ziff. 4 die eidgenössischen und kantonalen Bestimmungen über die Zeugnispflicht und die Auskunftspflicht gegenüber einer Behörde ausdrücklich vor, weshalb das Bankgeheimnis in Strafverfahren entfällt, wenn nicht das anwendbare Prozessrecht das Gegenteil anordnet. Aus diesem Grund durften die Veranlagungsbehörden gestützt auf
Art. 90 Abs. 1 BdBSt
in die in einem Strafverfahren erlangten Bankdokumente Einblick nehmen, vorausgesetzt sie hatten einen konkreten Verdacht (
BGE 108 Ib 231
E. 3, 465 E. 3;
BGE 113 Ib 193
E. 3a; ASA 48 S. 483 E. 3b/bb).
Der wesentliche Unterschied zwischen
Art. 90 Abs. 1 und
Art. 89 Abs. 2 BdBSt
bestand darin, dass Art. 89 Abs. 2 für die Auskunftspflicht des Steuerpflichtigen im Veranlagungsverfahren alle Berufsgeheimnisse vorbehielt, soweit sie vom Gesetz geschützt waren, Art. 90 Abs. 1 für die Auskunftspflicht von Behörden jedoch nur das Post- und Telegrafengeheimnis. Deshalb waren die Veranlagungsbehörden in den Schranken von
Art. 90 Abs. 1 BdBSt
befugt, in Bankdokumente Einsicht zu nehmen, sofern sie in einem Strafverfahren rechtmässig herausverlangt oder beschlagnahmt worden waren (ASA 48 S. 483 E. 3b).
c) Bei der Konsultation von Bankdokumenten eines Strafverfahrens durfte der Fiskus - ohne dass ihm das Bankgeheimnis entgegengehalten werden konnte - auch Kenntnis nehmen von Tatsachen über Personen, die nicht im Strafverfahren standen. Die Begründung dafür ist darin zu sehen, dass die Steuerbehörde schon aufgrund von
Art. 89 Abs. 2 BdBSt
bei der Veranlagung des Steuerpflichtigen von Tatsachen Kenntnis nehmen durfte, die Drittpersonen betrafen (Urteil vom 9. Januar 1978, ASA 47 S. 490). Ein Steuerpflichtiger musste daher jederzeit damit rechnen, dass Tatsachen, die dem
BGE 124 II 58 S. 67
Fiskus bei der Veranlagung eines anderen Steuerpflichtigen zur Kenntnis gelangt waren, gegen ihn verwendet wurden. Nicht anders verhielt es sich in bezug auf Bankdokumente, die in einem Strafverfahren herausverlangt oder beschlagnahmt worden waren. Das Berufsgeheimnis kann nur vom Geheimnisherrn bzw. von demjenigen angerufen werden, der gesetzlich zur Geheimhaltung verpflichtet ist. Hat sich dieser im Strafverfahren veranlasst gesehen, es preiszugeben, so kann es von den Steuerbehörden auch Dritten gegenüber verwendet werden (ASA 48 S. 483 E. 3b/bb).
d) Die Rechtsprechung hat dem Akteneinsichtsrecht der Steuerverwaltung allerdings auch Schranken gesetzt. Die der Veranlagungsbehörde in
Art. 90 Abs. 1 BdBSt
verliehene Befugnis bedeutete nicht, dass der Fiskus unterschiedslos und ohne konkretes Ziel die amtlichen Akten studieren konnte; allgemeine Suchaktionen waren unzulässig. Vielmehr war erforderlich, dass die Steuerbehörde einen hinreichend konkreten Verdacht gegenüber bestimmten Steuerpflichtigen hegte. Sie durfte aber Einblick in die Listen mit Namen von Personen, beispielsweise von Gläubigern oder Lieferanten, nehmen und die so gewonnenen Erfahrungen auswerten, wenn Grund bestand, diese der Steuerwiderhandlung zu verdächtigen. Im Fall, der in
BGE 108 Ib 465
zu beurteilen war, konnten die von den im Strafverfahren stehenden Personen bei ihrer Tätigkeit begangenen Delikte praktisch nur Beziehungen zu den Kunden betroffen haben, so dass deren Identifizierung notwendig und gerechtfertigt war. Deshalb handelte es sich nicht um eine unzulässige allgemeine Suchaktion, wenn die Steuerbehörde Einsicht in diese Personen betreffende Akten verlangte (
BGE 108 Ib 465
E. 3b; s. auch
BGE 113 Ib 193
E. 3b; ASA 48 483 E. 3b/cc).
e) Die dargestellte Rechtsprechung ist auch bei der Auslegung und Anwendung von
Art. 112 DBG
zu beachten. Das Bundesgericht hat sie bereits im Urteil vom 14. März 1996 in bezug auf die neue Vorschrift bestätigt, dabei aber auch gewisse Präzisierungen angebracht (ASA 65 S. 649 E. 5). So ist zu beachten, dass neu auch die AHV-Organe zur Auskunft verpflichtet sind (AGNER/JUNG/STEINMANN, a.a.O., N. 3 zu Art. 112). Ferner können die in
Art. 112 DBG
genannten Behörden die Steuerbehörden von sich aus darauf aufmerksam machen, wenn sie vermuten, dass eine Veranlagung unvollständig ist. Insofern strebt
Art. 112 DBG
eine engere Zusammenarbeit zwischen den Behörden an. Die Bestimmung verlangt auch nicht mehr wie
Art. 90 Abs. 1 BdBSt
, dass die Auskünfte, die von den Fiskalbehörden angefordert werden, für die "Veranlagung
BGE 124 II 58 S. 68
eines Steuerpflichtigen von Bedeutung sein können".
Art. 112 Abs. 1 DBG
setzt nur voraus, dass die Auskünfte für die Anwendung des Gesetzes erforderlich sind ("nécessaire à l'application de la présente loi", "necessaria per la sua applicazione"). Der deutsche Gesetzestext ist zwar umfassender formuliert ("alle erforderlichen Auskünften"), doch verdienen die romanischen Texte den Vorzug, zumal sie mit dem Gesetzesentwurf übereinstimmen (BBl 1983 III 353, Art. 117 Abs. 1) und aus den Materialien kein Grund für die abweichende deutsche Fassung ersichtlich ist (AB 1986 S 203, 1988 N 66, S 847). Offensichtlich handelt es sich um ein Versehen bei der Schlussredaktion, das jedoch keine materielle Änderung zu bewirken vermag (Art. 32 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 23. März 1962 über den Geschäftsverkehr der Bundesversammlung sowie über die Form, die Bekanntmachung und das Inkrafttreten ihrer Erlasse, SR 171.11). Allgemeine Suchaktionen sind daher auch unter dem neuen Recht als unzulässig zu beurteilen.
4.
a) Der Besondere Untersuchungsrichter hat das Gesuch der Beschwerdeführerin gutgeheissen, soweit es um Akten der in das Strafverfahren involvierten steuerpflichtigen Personen und der von ihnen beherrschten Gesellschaften geht. Er hat es jedoch abgewiesen, soweit die Beschwerdeführerin Einsicht in die Akten von nicht namentlich genannten Personen, die bei Werner K. Rey oder dessen Gesellschaften Vermögensanlagen getätigt haben (im folgenden "die Investoren"), verlangt. Ebenso gab er dem Gesuch nicht statt, soweit es Namenslisten und Aufstellungen der Banken über Personen betrifft, die im Zuge der Publikumsöffnung der Inspectorate SA im Jahre 1986 Zuteilungen erhielten. Er räumte ein, dass die Begleitumstände der damaligen Publikumsöffnung der Inspectorate SA viele Wesenszüge einer hochspekulativen Geldanlage tragen und die gleichzeitig vorgenommene Kapitalerhöhung zahlreiche Vermögen aus unversteuerten Einkommensbestandteilen gebunden haben dürfte. Im Gesuch fehlten indessen Namen der von der Gesuchstellerin der Steuerdelinquenz verdächtigten Personen. Da der von der Gesuchstellerin vorgebrachte Verdacht ein allgemeiner bleibe, sei ihr Vorgehen als unzulässige Suchaktion zu werten.
Demgegenüber beruft sich die Beschwerdeführerin auf die im Emissionsprospekt der Inspectorate SA gemachten Angaben über die steil ansteigende Gewinnentwicklung und den in Aussicht gestellten Dividendensprung von vier (1984) auf 20 Prozent (1985) sowie auf die darin geäusserte Erwartung, diesen Dividendensatz halten zu können. Erfahrungsgemäss würden gerade bei solchen
BGE 124 II 58 S. 69
Gewinnaussichten von Steuerpflichtigen Gelder angelegt, die bisher nicht deklariert worden seien.
b) Hinsichtlich der Frage, ob der Beschwerdeführerin Einblick in die Akten zu geben sei, kann es - entgegen der Auffassung des Besonderen Untersuchungsrichters - nicht darauf ankommen, ob die Beschwerdeführerin die Namen von Steuerpflichtigen, die allenfalls Steuerdelikte begangen haben, bereits nennen kann. Es genügt, dass Grund besteht, aus den Akten ersichtliche Dritte einer Steuerwiderhandlung zu verdächtigen. Dass diese Dritten der Steuerbehörde bereits namentlich bekannt sind, war schon nach der Rechtsprechung zu
Art. 90 Abs. 1 BdBSt
nicht erforderlich und ist auch nicht Merkmal der neuen Vorschrift in
Art. 112 DBG
, die in dieser Beziehung die Voraussetzungen eher noch gelockert hat (ASA 65 S. 649 E. 5c).
Trotzdem müssen konkrete Gründe für die Annahme vorliegen, dass sich Dritte Steuerwiderhandlungen haben zuschulden kommen lassen. Solche Verdachtsgründe können sich, wie die Beschwerdeführerin mit Recht bemerkt, aus einem offensichtlichen Missverhältnis zwischen der finanziellen Lage einer Unternehmung und den in Aussicht gestellten oder ausbezahlten Erträgen ergeben. Im Fall, der dem Urteil in ASA 65 S. 649 E. 5d zugrunde liegt, ergab sich der konkrete Verdacht daraus, dass die in das Strafverfahren verwickelte Unternehmensgruppe Aktivitäten entfaltet hatte, welche Steuerhinterziehungen bei Drittpersonen indizierten. In dem in ASA 58 S. 359 beurteilten Fall wurden Renditen von 20-30 Prozent versprochen, was viel zu hoch schien. Dass dabei den Verantwortlichen vorgeworfen wurde, die Risiken vertuscht und die Anleger mit falschen Angaben über die Verwendung des erhaltenen Kapitals bzw. die Gewinnaussichten getäuscht zu haben, änderte daran nichts. Massgebend für den Entscheid über die Aktenöffnung war, dass die Unternehmensorganisation, namentlich die Verflechtung mit Gesellschaften in mehreren Ländern - unter anderem Anstalten in Liechtenstein -, die Vermutung nahelegte, dass die diesen Gesellschaften überlassenen Gelder aus unversteuerten Quellen stammten (ASA 58 S. 360/61). Auch in
BGE 108 Ib 465
konnten die von den im Strafverfahren stehenden Personen bei ihrer geschäftlichen Tätigkeit begangenen strafbaren Handlungen praktisch nur Beziehungen zu Kunden betroffen haben, so dass deren Identifizierung notwendig und gerechtfertigt war (E. 3b).
c) Im vorliegenden Fall beruft sich die Beschwerdeführerin auf die im Emissionsprospekt der Inspectorate SA für die Kapitalerhöhung
BGE 124 II 58 S. 70
im Jahre 1986 gemachten Angaben über die Gewinnentwicklung und den in Aussicht gestellten Dividendensprung von vier auf 20 Prozent. Sie weist zu Recht darauf hin, dass Werner K. Rey im Zusammenhang mit der erfolgten Publikumseröffnung der Inspectorate SA Machenschaften an den Tag gelegt hat, die heute Anlass zu Untersuchungen durch die Justizbehörden geben. In bezug auf aussenstehende Dritte erachtete es auch der Besondere Untersuchungsrichter als Erfahrungstatsache, dass die Begleitumstände der damaligen Publikumsöffnung der Inspectorate SA viele Wesenszüge einer hochspekulativen Geldanlage trugen und die gleichzeitig vorgenommene Kapitalerhöhung zahlreiche Vermögen aus unversteuerten Einkommensbestandteilen gebunden haben dürfte. Auch hält er dafür, dass solche Sachverhalte Steuerstraftatbestände indizieren. Diese Ansicht ist begründet. Erfahrungsgemäss ziehen bestimmte Gesellschaften mehr als andere Mittel aus unversteuerten Quellen an. Die Inspectorate SA erhöhte anscheinend innerhalb von kurzer Zeit mehrere Male ihr Kapital bzw. gab Partizipationsscheine heraus. Die in Aussicht gestellten Gewinne von bis zu 20 Prozent und die sechsfach überzeichnete Kapitalerhöhung des Jahres 1986 lassen auf die spekulative Natur dieser Unternehmung schliessen. Auch in dem ASA 58 S. 359 zugrundeliegenden Fall wurden Renditen in dieser Grössenordnung versprochen. Dass dort die Anleger mit falschen Angaben über die Verwendung des erhaltenen Kapitals bzw. die Gewinnaussichten getäuscht wurden, während im Fall der Inspectorate SA Banken als Vermittler auftraten, vermag keinen rechtserheblichen Unterschied zu begründen. Wie die weitere Entwicklung zeigte, wurden sicherlich auch im Falle der Firmengruppe Rey die Banken mit falschen oder unvollständigen Angaben irregeführt. Der Umstand, das Banken beteiligt waren, schliesst somit den nahen und konkreten Verdacht nicht aus, dass die Inspectorate SA von Steuerdefraudanten zu Anlagezwecken missbraucht worden sein könnte.
Aufgrund der sechsfach überzeichneten Kapitalerhöhung verlangte der Besondere Untersuchungsrichter bei der Berner Kantonalbank die Zuteilungslisten, also die Vormerkungen derjenigen Personen, die auf dem Primärmarkt neue Aktien gezeichnet hatten. Er wollte feststellen, ob einzelne Personen übermässige Zuteilungen erhalten haben und allenfalls als Beteiligte in die Strafuntersuchung einbezogen werden müssen. Die Analyse durch den Revisor hat zwar keine derartigen Anhaltspunkte ergeben. Doch wurde dabei die Frage, ob Investoren unversteuerte Mittel angelegt haben könnten,
BGE 124 II 58 S. 71
weder vom Besonderen Untersuchungsrichter noch vom Revisor untersucht. Es muss deshalb der Eidgenössischen Steuerverwaltung zugestanden werden, dass sie die Untersuchung in dieser Hinsicht ergänzt und ihr zu diesem Zweck die Akten herausgegeben werden. | de |
94f6d351-2b34-4d59-9393-68588dafaedb | Sachverhalt
ab Seite 137
BGE 143 III 137 S. 137
A.
Am 20. September 2016 reichte die A. GmbH (Beschwerdeführerin) Klage betreffend eine Forderung aus dem Verkauf von
BGE 143 III 137 S. 138
Gesellschaftsanteilen gegen die B. GmbH (Beschwerdegegnerin) beim Handelsgericht des Kantons Zürich ein. Das Klagebegehren in der Sache lautet wie folgt:
"Es sei die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin CHF 30'000,00 zuzüglich Verzugszins zu 5 % p.a. seit 8.7.2016 zu bezahlen."
Mit Beschluss vom 11. Oktober 2016 verneinte das Handelsgericht seine sachliche Zuständigkeit und trat auf die Klage nicht ein.
B. Die A. GmbH hat dagegen "Beschwerde in Zivilsachen und subsidiäre Verfassungsbeschwerde" beim Bundesgericht erhoben. Sie verlangt, es sei der angefochtene Beschluss aufzuheben, die Zuständigkeit des Handelsgerichts festzustellen und die Angelegenheit zur Neubeurteilung im Sinne der Erwägungen des Bundesgerichts an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Das Handelsgericht verzichtete auf Vernehmlassung. Die B. GmbH liess sich nicht vernehmen.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
2.1
Das Handelsgericht stellte zusammengefasst fest, der Streitwert belaufe sich - da die Zinsforderung dafür in Anwendung von
Art. 91 Abs. 1 ZPO
nicht relevant sei - auf genau Fr. 30'000.-. Damit gelte nach
Art. 243 Abs. 1 ZPO
das vereinfachte Verfahren. Da dieses jedoch gemäss
Art. 243 Abs. 3 ZPO
vor dem Handelsgericht keine Anwendung finde, sei die vorliegende Klage zufolge der in
BGE 139 III 457
publizierten bundesgerichtlichen Rechtsprechung im vereinfachten Verfahren von den ordentlichen Gerichten und nicht vom Handelsgericht zu behandeln, selbst wenn dessen Zuständigkeit nach
Art. 6 Abs. 2 ZPO
zu bejahen wäre.
Die Beschwerdeführerin hält diese Auffassung für bundesrechtswidrig. Sie meint, die vom Bundesgericht festgestellte Ausnahme von der handelsgerichtlichen Zuständigkeit im Anwendungsbereich des vereinfachten Verfahrens gelte ausschliesslich im Fall von
Art. 243 Abs. 2 ZPO
, während umgekehrt handelsrechtliche Streitigkeiten im Sinne von
Art. 6 Abs. 2 ZPO
, für die laut
Art. 243 Abs. 1 ZPO
aufgrund ihres Streitwerts
eigentlich das vereinfachte Verfahren gelte, im ordentlichen Verfahren vom Handelsgericht zu beurteilen seien.
2.2
Art. 6 Abs. 2 ZPO
definiert den Zuständigkeitsbereich des Handelsgerichts. Eine Streitigkeit gilt als handelsrechtlich, wenn: a. die
BGE 143 III 137 S. 139
geschäftliche Tätigkeit mindestens einer Partei betroffen ist; b. gegen den Entscheid die Beschwerde in Zivilsachen an das Bundesgericht offen steht; und c. die Parteien im schweizerischen Handelsregister oder in einem vergleichbaren ausländischen Register eingetragen sind. Die Streitwertgrenze nach
Art. 74 Abs. 1 BGG
bildet folglich in diesem Bereich eine Voraussetzung der sachlichen Zuständigkeit des Handelsgerichts (siehe
BGE 142 III 788
E. 4.1 S. 789;
BGE 139 III 67
E. 1.2 S. 70).
Art. 243 ZPO
bestimmt den Geltungsbereich des vereinfachten Verfahrens. Gemäss Absatz 1 umfasst dieser vermögensrechtliche Streitigkeiten bis zu einem Streitwert von 30'000 Franken. Nach Absatz 2 gilt das vereinfachte Verfahren weiter ohne Rücksicht auf den Streitwert für die in den Buchstaben a-f genannten Streitigkeiten.
Erfüllt eine Angelegenheit zugleich die Voraussetzungen der Zuständigkeit des Handelsgerichts und diejenigen für die Geltung des vereinfachten Verfahrens, ist Absatz 3 von Artikel 243 ZPO zu beachten. Gemäss diesem findet das vereinfachte Verfahren "keine Anwendung" in Streitigkeiten vor der einzigen kantonalen Instanz nach den Artikeln 5 und 8 und vor dem Handelsgericht nach Artikel 6. Das Bundesgericht hat sich in
BGE 139 III 457
ausführlich mit dieser Bestimmung auseinandergesetzt. Für die damals strittige Abgrenzung in mietrechtlichen Angelegenheiten ging es in Erwägung 4.4.3 davon aus, dass "die Regelung der Verfahrensart jener über die sachliche Zuständigkeit der Handelsgerichte" vorgehe. Zur Begründung verwies es vor allem auf die Unterschiede zwischen ordentlichem und vereinfachtem Verfahren und führte aus, die Abgrenzung zwischen der Zuständigkeit der Handelsgerichte und jener der ordentlichen Gerichte (bzw. in gewissen Kantonen der Mietgerichte) könne "nicht derart sein, dass dadurch in die von der Zivilprozessordnung vorgegebenen Verfahrensarten eingegriffen würde".
Wenn aber das Handelsgericht - wie im erwähnten Urteil entschieden - nicht zuständig ist für Streitigkeiten, die gemäss
Art. 243 Abs. 2 lit. c ZPO
im vereinfachten Verfahren zu beurteilen sind (siehe
BGE 142 III 515
E. 2.2.4 S. 517), muss das Gleiche aus derselben Überlegung auch hinsichtlich von allen anderen Angelegenheiten gelten, auf die nach
Art. 243 Abs. 1 und 2 ZPO
das vereinfachte Verfahren anwendbar ist. Die von der Beschwerdeführerin geforderte unterschiedliche Behandlung der Tatbestände gemäss den beiden Absätzen findet weder in der zitierten Erwägung des Bundesgerichts noch im Wortlaut von Absatz 3 eine Grundlage. Entgegen der
BGE 143 III 137 S. 140
Beschwerdeführerin statuiert dieser auch keine "Spezialvorschrift für die Verfahrensart" bezüglich von "handelsrechtlichen Streitigkeiten mit einem Streitwert von exakt CHF 30.000,00". Vielmehr fallen solche Angelegenheiten nach
Art. 243 Abs. 1 ZPO
in den Geltungsbereich des vereinfachten Verfahrens und damit aus dem Zuständigkeitsbereich des Handelsgerichts. Die Vorinstanz hat dies zutreffend erkannt und ihre sachliche Zuständigkeit zu Recht verneint. (...) | de |
9f55b225-a409-40ff-aea8-a221ca4bb731 | Sachverhalt
ab Seite 506
BGE 131 III 505 S. 506
X. ist Eigentümerin der Strassenparzelle Nr. 1, Grundbuch A. in B. Y. gehören die Liegenschaften Nrn. 2 und 3, beide Grundbuch A. in B. Sie liegen links und rechts der Strassenparzelle Nr. 1 und werden durch diese erschlossen. Auf den Grundstücken von Y. befinden sich insgesamt sechs Bäume; zwei auf Grundstück Nr. 3 (Serbische Fichte und Hängebuche) und vier auf Grundstück Nr. 2 (Japanische Zierkirsche, Serbische Fichte, Japanischer Fächerahorn und Hängebuche).
X. klagte beim Kantonsgericht Nidwalden gegen Y. Im Rahmen des erstinstanzlichen Verfahrens vertrat sie die Ansicht, ihr stehe ein Beseitigungsanspruch aus Bundesrecht zu, da der Blattabfall der Bäume im Herbst zu einem gefährlichen Zustand auf der Strassenparzelle führe. In einem Eventualbegehren beantragte sie, der Beklagte sei zu verpflichten, die die Strassenparzelle überragenden Äste der Bäume zu beseitigen. Das Kantonsgericht wies die Klage ab.
Gegen dieses Urteil reichte die Klägerin beim Obergericht des Kantons Nidwalden Appellation ein. Nachdem das Obergericht einen Augenschein durchgeführt hatte, wies es die Appellation ab und bestätigte das erstinstanzliche Urteil. Es kam zum Schluss, der Klägerin stehe ein Beseitigungsanspruch gestützt auf Art. 679 i.V.m.
Art. 684 ZGB
nicht zu, da der behauptete Laubabfall keine übermässige Immission im Sinne des Gesetzes darstelle. Aber auch der Eigentumsfreiheitsklage nach
Art. 641 Abs. 2 ZGB
sei kein Erfolg beschieden.
Das Bundesgericht weist die Berufung der Klägerin ab.
BGE 131 III 505 S. 507 Erwägungen
Aus den Erwägungen:
4.
4.2
Nach den für das Bundesgericht verbindlichen tatsächlichen Feststellungen des Obergerichts anlässlich des Augenscheins (
Art. 63 Abs. 2 OG
) leben die Parteien in B., einem abgelegenen Ortsteil von A., welcher nur über eine enge und für nicht Ortsansässige nur unter bestimmten Umständen befahrbare Strasse erreichbar ist. Nahezu auf dem gesamten Streckenstück zwischen A. und B. befindet sich immer wieder Laub auf der Strasse. Das Quartier, in welchem die Parteien wohnen, gilt als Villenquartier ohne Durchgangsverkehr. Strassenbenutzer sind im Wesentlichen die Bewohner des Quartiers. Praktisch um jedes Haus in der Nachbarschaft der Klägerin stehen Bäume, zum Teil dicht, so dass sie Waldcharakter vermitteln. Die Bäume machen einen wesentlichen Teil des Quartiercharakters aus. Hervorgehoben wird schliesslich, dass der Laubfall im Herbst kaum mehr als einen Monat dauert.
Erfahrungsgemäss kann Laubfall namentlich in Verbindung mit Nässe und kalter Witterung Strassen glitschig machen und insoweit zu einer gewissen Beeinträchtigung führen, die aber normalerweise nicht als übermässig im Sinne des
Art. 684 ZGB
zu gelten hat. Angesichts der örtlichen Gegebenheiten ist Laubfall auf dem fraglichen Strassenabschnitt nichts Aussergewöhnliches. Dass bei Laubfall, insbesondere in Verbindung mit Schnee, Eis und Regen besondere Vorsicht am Platz ist, entspricht allgemeiner Erfahrung und kann vorausgesetzt werden. Die in Frage stehende Beeinträchtigung dauert kaum mehr als einen Monat, und man ist ihr, anders als bei Rauch, schlechten Dünsten oder Schattenwurf, nicht einfach ausgeliefert, sondern kann sich dagegen wappnen, indem man vorsichtig fährt und die Geschwindigkeit den Strassenverhältnissen anpasst. Indem das Obergericht die Übermässigkeit der Einwirkung verneint hat, hat es
Art. 684 ZGB
nicht verletzt.
5.
Die Klägerin stützt ihren Beseitigungsanspruch auch auf
Art. 641 Abs. 2 ZGB
, da jedenfalls die beiden Hängebuchen mit ihrem mächtigen Astwerk die Grenze ihrer Liegenschaft überragten und damit ihr Eigentum verletzten; eine Schädigung sei nicht erforderlich. Dem halten Vorinstanz und Beklagter unter Hinweis auf das Kapprecht entgegen, dass der (nachbarrechtliche) Anspruch auf
BGE 131 III 505 S. 508
Beseitigung von überragenden Ästen eine Schädigung des Eigentums voraussetze, die vorliegend zu verneinen sei.
5.1
Art. 641 Abs. 2 ZGB
berechtigt den Eigentümer unter anderem dazu, jede ungerechtfertigte Einwirkung in sein Eigentum abzuwehren. Dem Eigentümer des Nachbargrundstückes steht namentlich ein Anspruch auf Beseitigung des Störungszustandes zu, sofern unmittelbar (direkt) in die Substanz seines Grundstücks eingegriffen wird (
BGE 107 II 134
E. 3 S. 136 ff.;
BGE 111 II 24
E. 2b S. 26; STEINAUER, Les droits réels, Bd. 2, 3. Aufl. 2002, Rz. 1896; MEIER-HAYOZ, Berner Kommentar, N. 89, 103 und 109 zu
Art. 641 ZGB
). Dabei gilt die blosse Tatsache eines objektiv rechtswidrigen Eingriffs, z.B. durch Hinüberragen eines Gebäudes über die Grenze, als ungerechtfertigte Einwirkung, ohne dass eine Schädigung der Sache erforderlich wäre (MEIER-HAYOZ, a.a.O., N. 104 zu
Art. 641 ZGB
sowie N. 40 zu Art. 687/688 ZGB).
5.2
Demgegenüber setzt das Kapprecht voraus, dass die überragenden Äste oder eindringenden Wurzeln das Eigentum des Nachbarn schädigen (
Art 687 Abs. 1 ZGB
). Wiewohl überragende Äste und eindringende Wurzeln von Bäumen unmittelbare Einwirkungen auf das Nachbargrundstück bedeuten, sollen sie nachbarlichen Abwehransprüchen nicht allein schon deshalb zum Opfer fallen, weil sie in den nachbarschaftlichen Herrschaftsbereich hineinragen, wenn dadurch keine erhebliche, übermässige Schädigung des Eigentums bewirkt wird (MEIER-HAYOZ, a.a.O., N. 24 zu Art. 687/ 688 ZGB; REY, Basler Kommentar, N. 8 zu Art. 687/688 ZGB;
derselbe
, Die Grundlagen des Sachenrechts und das Eigentum, 2. Aufl. 2000, Rz. 1185). Das Erfordernis einer erheblichen Schädigung zur Ausübung des Kapprechts bezweckt den Schutz der Bäume vor unverhältnismässiger oder gar zweckloser Beschädigung (MEIER-HAYOZ, a.a.O., N. 22 zu Art. 687/688 ZGB; ROOS, Pflanzen im Nachbarrecht, Zürich 2002, S. 69 und 94). Was die Übermässigkeit der (nicht zu tolerierenden) Einwirkungen anbelangt, wird in der Literatur zu Recht die Analogie zu
Art. 684 ZGB
und den diesbezüglich massgebenden Kriterien zur Beurteilung der Übermässigkeit hervorgehoben (statt vieler: STEINAUER, a.a.O., Rz. 1833).
Im vorliegenden Fall gelangt allerdings
Art. 687 ZGB
insoweit nicht zur Anwendung, als die Klägerin weder beanspruchte, vom Selbsthilferecht Gebrauch zu machen, noch ihre Klage auf diese
BGE 131 III 505 S. 509
Bestimmung stützte (welche Möglichkeit in der Literatur vereinzelt bejaht wird [ROOS, a.a.O., S. 93]). Vielmehr beruft sie sich auf
Art. 641 Abs. 2 ZGB
.
5.3
Im älteren Schrifttum war noch die Auffassung vertreten worden, die von der Spezialnorm (
Art. 687 Abs. 1 ZGB
) vorgesehene Selbsthilfe schliesse Gerichtshilfe und namentlich die actio negatoria (
Art. 641 Abs. 2 ZGB
) als allgemeine Norm aus (LEEMANN, Berner Kommentar, N. 12 zu Art. 687/688 ZGB; GISIGER, Kapprecht und Anries, Diss. Zürich 1922, S. 36 f.). Bei einer solchen Rechtslage stellte sich die Frage, ob die Beseitigung überragender Äste und eindringender Wurzeln auch ohne Nachweis einer Schädigung möglich sei, gar nicht. Heute stehen Doktrin und (kantonale) Praxis auf dem Standpunkt, dass die Anrufung des Richters sowie die Selbsthilfe grundsätzlich als gleichwertige Rechtsbehelfe nebeneinander zur Verfügung stehen (statt vieler: MEYER-HAYOZ, a.a.O., N. 40 zu Art. 687/688 ZGB; HAAB/SIMONIUS/SCHERRER/ZOBL, Zürcher Kommentar, N. 11 zu Art. 687/688 ZGB). Damit ist allerdings das Verhältnis der beiden Normen noch nicht restlos geklärt, sondern es stellt sich die im vorliegenden Verfahren aufgeworfene Frage, ob die beim Kapprecht (
Art. 687 Abs. 1 ZGB
) vorausgesetzte Schädigung des Eigentums bei der actio negatoria ebenfalls zu berücksichtigen ist.
5.4
Zu dieser Frage musste sich das Bundesgericht bislang nicht äussern. In der Lehre ist sie umstritten. Den Materialien lässt sich hierzu nichts entnehmen. MEIER-HAYOZ vertritt die Auffassung, dass der Nachbar, selbst wenn er durch in seinen Herrschaftsbereich übergreifende Pflanzen nicht geschädigt werde, diese dennoch nicht dulden müsse, sondern mit der actio negatoria deren Beseitigung verlangen könne (a.a.O., N. 26 und 40 zu Art. 687/ 688 ZGB). Er begründet dies mit dem Hinweis darauf, dass das Eindringen von Ästen und Wurzeln in einen fremden Herrschaftsbereich einen unmittelbaren und daher an sich schon ungerechtfertigten Eingriff bedeute, der von der actio negatoria erfasst werde, welche vom in
Art. 687 ZGB
geregelten Rechtsbehelf unabhängig sei. Im gleichen Sinne äussern sich REY (a.a.O., N. 12 zu Art. 687/ 688 ZGB), WALDIS (Das Nachbarrecht, 4. Aufl. 1953, S. 125 Fn. 21) und SOMMER (Nachbarrecht, 1995, S. 79); nicht klar: PIOTET (Le droit privé vaudois de la propriété foncière, Lausanne 1991, S. 110).
Andere Autoren, wenn auch teilweise mit nuancierter Begründung, vertreten die (gegenteilige) Auffassung, dass der gestützt auf die
BGE 131 III 505 S. 510
actio negatoria (
Art. 641 Abs. 2 ZGB
) erhobene Anspruch auf Beseitigung von Ästen und Wurzeln ebenfalls von einer Schädigung des Eigentums, wie sie für die Ausübung des Kapprechts Voraussetzung ist, abhängig sei (ROOS, a.a.O., S. 94; LINDENMANN, Bäume und Sträucher im Nachbarrecht, 1988, S. 74 f.; im Ergebnis ebenso LEEMANN (a.a.O., N. 12 zu Art. 687/688 ZGB) und GISIGER, (a.a.O., S. 36 f.; allerdings infolge Ausschlusses der actio negatoria). Diese Auffassung überzeugt.
5.5
Was unter ungerechtfertigter Einwirkung auf das Eigentum zu verstehen ist, ergibt sich nicht unmittelbar aus
Art. 641 Abs. 2 ZGB
, sondern bestimmt sich bei benachbarten Grundstücken vor allem nach den Regeln des Nachbarrechts, namentlich nach
Art. 679 und
Art. 684 ZGB
(vgl. MEIER/HAYOZ, a.a.O., N. 100 zu
Art. 641 ZGB
; REY, a.a.O., N. 63 zu
Art. 641 ZGB
). Diese Überlegung legt nahe, die actio negatoria, richtet sie sich gegen überragende Äste und eindringende Wurzeln, im Lichte von
Art. 687 ZGB
auszulegen, d.h. die in der Regelung des Kapprechts enthaltene Wertung und damit das Erfordernis der Eigentumsschädigung (E. 5.2) zu berücksichtigen. Anders entscheiden hiesse,
Art. 687 Abs. 1 ZGB
seines Inhaltes zu entleeren und damit auch den gesetzgeberischen Wertungsentscheid zu Gunsten der Pflanzen zu unterlaufen. Dies bedeutet nun, dass der Nachbar, ungeachtet dessen, ob er vom Selbsthilferecht (
Art. 687 Abs. 1 ZGB
) oder von der actio negatoria (
Art. 641 Abs. 2 ZGB
) Gebrauch macht, ungerechtfertigte Einwirkungen, die keine erhebliche Schädigung des Eigentums nach sich ziehen, zu dulden hat.
5.6
Aufgrund der verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz (E. 4.2) scheitert der auf
Art. 641 Abs. 2 ZGB
gestützte Beseitigungsanspruch - analog dem auf Art. 679 i.V.m
Art. 684 ZGB
gestützten - am Umstand, dass die durch den Laubfall verursachte Beeinträchtigung nicht als übermässig bzw. nicht als eigentumsschädlich zu gelten hat (E. 4.2). Damit ist aber auch eine von der Klägerin sinngemäss gerügte Verletzung von
Art. 687 ZGB
selbstredend zu verneinen. | de |
221436a0-dcf0-4c60-b355-998d533a0472 | Sachverhalt
ab Seite 626
BGE 134 III 625 S. 626
A.
Z., geboren am 12. Juli 1942, war vom 15. Februar 1961 bis zum 31. Dezember 1997 beim Zimmereibetrieb A., anschliessend bei dessen Rechtsnachfolgerin, der B. SA, angestellt. Ab 1. Juli 2003 übernahm die C. SA gewisse Arbeitgeberfunktionen für Z., welcher jedoch weiterhin bei der B. SA arbeitete.
Die B. SA war Mitglied des Schweizerischen Baumeisterverbands (im Folgenden: SBV). Gemäss den Statuten des SBV ist der
BGE 134 III 625 S. 627
Austritt eines Vereinsmitglieds nur auf Ende des Kalenderjahres zulässig, unter Beachtung einer sechsmonatigen Kündigungsfrist.
Am 12. November 2002 schlossen der SBV, die Gewerkschaft Bau und Industrie sowie die Gewerkschaft Syna den Gesamtarbeitsvertrag für den flexiblen Altersrücktritt im Bauhauptgewerbe (nachfolgend: GAV FAR), dessen betrieblicher Geltungsbereich u.a. auch das Zimmereigewerbe umfasst (Art. 2 Abs. 1 lit. c GAV FAR). Der GAV FAR bezweckt, einen flexiblen Altersrücktritt zu ermöglichen. Zu dessen Durchführung gründeten die Vertragsparteien die "Stiftung für den flexiblen Altersrücktritt im Bauhauptgewerbe (Stiftung FAR)" (im Folgenden: Stiftung), eine nicht registrierte Personalfürsorgeeinrichtung gemäss
Art. 89
bis
ZGB
. Der GAV FAR trat gemäss seinem Art. 29 am 1. Juli 2003 in Kraft; er wurde auf unbefristete Zeit geschlossen und kann jeweils auf den 30. Juni eines Jahres unter Einhaltung einer Frist von sechs Monaten gekündigt werden, erstmals per 30. Juni 2008.
Gemäss Art. 14 GAV FAR bzw. Art. 13 des Leistungs- und Beitragsreglements der Stiftung (im Folgenden: Reglement FAR) können Arbeitnehmer nach dem vollendeten 60. Altersjahr (bzw. übergangsrechtlich gestaffelt mit vollendetem 63., 62. oder 61. Altersjahr) unter bestimmten, kumulativ zu erfüllenden Voraussetzungen eine Überbrückungsrente beanspruchen. Zu diesen Voraussetzungen gehört u.a., dass der Arbeitnehmer die letzten sieben Jahre vor dem Leistungsbezug ununterbrochen in einem Betrieb gemäss Geltungsbereich GAV FAR gearbeitet hat.
Am 24. Februar 2003 beantragten der Verein Holzbau Schweiz (eine Fachgruppe des SBV) bzw. 652 Holzbaufirmen, die gleichzeitig Mitglied von Holzbau Schweiz wie auch des SBV waren, eine Änderung der Statuten des SBV mit dem Ziel, den Mitgliedern von Holzbau Schweiz den Austritt aus dem SBV bis zum 31. März 2003 zu ermöglichen. Die Generalversammlung des SBV beschloss am 26. März 2003 eine entsprechende Statutenänderung. Die B. SA trat - wie die meisten Holzbaufirmen - auf den 31. März 2003 aus dem SBV aus.
Am 25. April 2003 focht ein Mitglied des SBV die Statutenänderung vom 26. März 2003 gerichtlich an. Mit Urteil des Bundesgerichts 5C.67/2006 vom 8. Juni 2006 (
BGE 132 III 503
) wurde die Anfechtungsklage letztinstanzlich gutgeheissen und der Beschluss der Generalversammlung vom 26. März 2003 aufgehoben.
BGE 134 III 625 S. 628
B.
Am 28. Januar 2004 beantragte Z. bei der Stiftung für die Zeit ab 1. August 2004, d.h. nach Vollendung seines 62. Altersjahres am 12. Juli 2004, die reglementarischen Leistungen bei vorzeitiger Pensionierung. Mit Schreiben vom 30. Juni 2004 lehnte die Stiftung eine Überbrückungsrente ab mit der Begründung, die B. SA habe auf den 31. März 2003 ihre Mitgliedschaft beim SBV aufgelöst und unterstehe daher nicht dem GAV FAR. Die Voraussetzung, wonach der Arbeitnehmer die letzten sieben Jahre vor dem Leistungsbezug ununterbrochen in einem Betrieb gemäss Geltungsbereich GAV FAR gearbeitet haben muss (Art. 14 Abs. 1 lit. c GAV FAR), sei daher nicht erfüllt.
Am 21. Februar 2005 erhob Z. beim Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich Klage gegen die Stiftung mit dem Antrag, es sei ihm ab 1. August 2004 eine ordentliche Überbrückungsrente gemäss GAV FAR zu entrichten. Das Gericht wies die Klage mit Urteil vom 31. Mai 2007 ab.
C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt Z. die Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids und Zusprechung einer ordentlichen Überbrückungsrente gemäss Reglement FAR ab 1. August 2004.
Die Stiftung schliesst auf Abweisung der Beschwerde, während das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung verzichtet.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab. Erwägungen
Erwägungen:
1.
1.1
Streitig ist einzig, ob der Beschwerdeführer die letzten sieben Jahre vor dem Leistungsbezug ununterbrochen in einem Betrieb gemäss Geltungsbereich GAV FAR gearbeitet hat (Art. 14 Abs. 1 lit. c zweite Satzhälfte GAV FAR bzw. - gleichlautend - Art. 13 Abs. 1 lit. c zweite Satzhälfte Reglement FAR). Die übrigen Anspruchsvoraussetzungen für eine Überbrückungsrente sind unbestrittenermassen erfüllt.
1.2
Ebenfalls nicht im Streite liegt, dass der GAV FAR grundsätzlich (d.h. unter Vorbehalt einer allfälligen Nachwirkung) nur für diejenigen Holzbaufirmen gilt, die Mitglieder des SBV sind, hat doch der Bundesrat das Zimmereigewerbe von der am 5. Juni 2003 angeordneten Allgemeinverbindlicherklärung (BBl 2003 S. 4039)
BGE 134 III 625 S. 629
ausgenommen. Entscheidend ist somit die Frage, ob der Beschwerdeführer bei einer Firma gearbeitet hat, welche Mitglied des SBV war.
1.3
Die Vorinstanz hat erwogen, der Beschwerdeführer habe bei der Firma A. bzw. bei der B. SA gearbeitet, auch wenn gewisse Arbeitgeberfunktionen von der C. SA wahrgenommen worden seien. Die B. SA habe zwar nicht gültig per Ende März 2003 aus dem SBV austreten können, da die entsprechende Statutenänderung vom 26. März 2003, welche einen solchen Austritt ermöglicht hätte, aufgehoben worden sei. Sie sei daher im Zeitpunkt des Inkrafttretens des GAV FAR Mitglied des SBV gewesen und habe damit dem Geltungsbereich des GAV FAR unterstanden. Sie sei jedoch mit Wirkung per Ende 2003 aus dem SBV ausgetreten. Eine von der Rechtsprechung anerkannte Nachwirkung des GAV beziehe sich nur auf dessen normative Bestimmungen und könne nicht zur Folge haben, dass der betriebliche Geltungsbereich des GAV über den Zeitpunkt eines Verbandsaustritts hinaus ausgedehnt werde. Der Beschwerdeführer habe somit von Januar bis Juli 2004 nicht in einem Betrieb gemäss Geltungsbereich GAV FAR gearbeitet, womit die Voraussetzung der ununterbrochenen mindestens siebenjährigen Arbeit in einem solchen Betrieb unmittelbar vor dem Leistungsbezug nicht erfüllt sei.
2.
Der Beschwerdeführer macht letztinstanzlich geltend, er habe ab 1. Januar 2004 für die unbestritten dem GAV FAR unterstehende C. SA gearbeitet.
2.1
Die Vorinstanz hat hiezu erwogen, auch mit dem formellen Übertritt des Beschwerdeführers zur C. SA ab 1. Juli 2003 habe sich an seiner tatsächlichen Anstellung bei der B. SA nichts geändert; er habe den Lohn weiterhin von dieser Firma erhalten und bis unmittelbar vor dem geltend gemachten Leistungsbezug wie bis anhin auf den Baustellen der B. SA gearbeitet. Dies sind Sachverhaltsfeststellungen, welche das Bundesgericht grundsätzlich binden (Art. 97 Abs. 1 und
Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG
).
2.2
Der Beschwerdeführer legt nunmehr dem Bundesgericht eine Lohnabrechnung für den Januar 2004 vor, wonach er den Lohn von der C. SA erhalten habe. Dabei handelt es sich um ein unzulässiges Novum (
Art. 99 BGG
), da diese Abrechnung ohne weiteres auch im vorinstanzlichen Verfahren hätte vorgelegt werden können. Auch wenn sie zu berücksichtigen wäre, liesse sie die
BGE 134 III 625 S. 630
vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung nicht als offensichtlich unrichtig erscheinen: Das kantonale Gericht hat erwogen, nach dem Wortlaut von Art. 13 Abs. 1 lit. c Reglement FAR wäre entscheidend, dass der Beschwerdeführer tatsächlich bei der C. SA gearbeitet hätte, was mit einem bloss formellen Übertritt zu diesem Betrieb nicht erfüllt sei. Die Vorinstanz hat demnach entscheidwesentlich nicht auf formale Aspekte wie die Lohnzahlung abgestellt, sondern auf die tatsächlich ausgeübte Tätigkeit, welche weiterhin bei der B. SA erfolgt sei. Diese Feststellung wird durch die vorgelegte Lohnbescheinigung nicht widerlegt.
2.3
Es ist somit davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer bis zum Ende seiner Berufstätigkeit bei der B. SA gearbeitet hat.
3.
Zu prüfen ist weiter, ob die B. SA im Zeitpunkt des Inkrafttretens des GAV FAR (1. Juli 2003) Mitglied des SBV war.
3.1
Die Vorinstanz hat verbindlich festgestellt, dass die B. SA per Ende März 2003 den Austritt aus dem SBV erklärt hat. Sie hat indes erwogen, mit dem Urteil des Bundesgerichts 5C.67/2006 vom 8. Juni 2006 (
BGE 132 III 503
), mit welchem der Beschluss der Generalversammlung vom 26. März 2003 aufgehoben wurde, stehe fest, dass ein Mitglied erst auf das Ende eines Kalenderjahres und unter Einhaltung einer sechsmonatigen Kündigungsfrist aus dem SBV austreten könne. Die Austrittserklärung der B. SA entfalte ihre Wirkung daher erst per Ende 2003. Die Arbeitgeberfirma sei somit bei Inkrafttreten des GAV FAR Mitglied des SBV gewesen und habe bis Ende 2003 dem Geltungsbereich des GAV FAR unterstanden.
3.2
Die Beschwerdegegnerin macht geltend, mit der Aufhebung der Statutenänderung vom 26. März 2003 sei nur die damit geschaffene Möglichkeit eines per Ende März 2003 ausgesprochenen ordentlichen Austritts aufgehoben worden. Weiterhin vorzeitig möglich sei jedoch ein Austritt aufgrund vertraglicher Einigung oder ein ausserordentlicher Vereinsaustritt aus wichtigem Grund. Der SBV habe den Austritt der B. SA angenommen und diese ab 1. April 2003 nicht mehr als Mitglied betrachtet. Ein solcher konsensualer Austritt sei gültig. Zudem wäre angesichts der grossen wirtschaftlichen Belastung durch den GAV FAR im Umfang von mindestens 4,66 % der Lohnsumme auch ein sofortiger Austritt aus wichtigen Gründen zulässig. Entgegen der Ansicht der Vorinstanz sei daher die B. SA per Ende März 2003 aus dem SBV ausgetreten und habe dem GAV FAR gar nie unterstanden.
BGE 134 III 625 S. 631
3.3
Das kantonale Gericht hat die Möglichkeit eines Ausscheidens aus dem Verein aufgrund vertraglicher Übereinkunft grundsätzlich bejaht; es hat jedoch erwogen, wären solche Austritte hier möglich gewesen, so hätte es der Statutenänderung vom 26. März 2003 nicht bedurft. Einem vertraglichen Ausscheiden würde zudem Art. 34.1 der Statuten des SBV entgegenstehen, wonach es dem Zentralvorstand untersagt sei, auf spartenbezogene Interessen Rücksicht zu nehmen. Für die Annahme einer Übereinkunft bleibe daher kein Raum. Die Vorinstanz hat sich somit auf den Standpunkt gestellt, eine solche Übereinkunft wäre nicht zulässig. Darüber, ob eine solche besteht, hat sie keine Feststellungen getroffen, die das Bundesgericht binden würden; dieses kann daher selber eine entsprechende Sachverhaltsfeststellung treffen (
Art. 105 Abs. 2 BGG
).
3.4
Indem die B. SA den Austritt per Ende März 2003 erklärt hat (E. 3.1 hievor), hat sie einen klaren Austrittswillen geäussert. Die Beschwerdegegnerin hat sodann bereits in ihrer Eingabe vor der Vorinstanz vom 19. März 2007 ausgeführt, der SBV habe den Austritt der B. SA angenommen und diese seit 1. April 2003 nicht mehr als Mitglied behandelt. Der Beschwerdeführer stellt dies in seiner Beschwerde ans Bundesgericht nicht in Frage, sondern führt bloss aus, es sei nicht zulässig, "statutenwidrige" vertragliche Absprachen über die Beendigung der Mitgliedschaft zu treffen. Aus den Akten ergeben sich keine Hinweise darauf, dass der SBV die B. SA nach dem 31. März 2003 weiterhin als Mitglied betrachtet hätte. Auch aus den Ausführungen des SBV im Verfahren auf Ungültigerklärung des Generalversammlungsbeschlusses vom 26. März 2003 geht hervor, dass das Ansinnen der Fachgruppe Holzbau unbestritten war (
BGE 132 III 503
E. 4 S. 509). Schliesslich hat der Beschwerdeführer selber im vorinstanzlichen Verfahren geltend gemacht, der SBV habe aktiv den vorzeitigen Austritt von Holzbau Schweiz aus dem SBV unterstützt. Dass - wie der Beschwerdeführer in seiner Beschwerde ans Bundesgericht ausführt - die Holzbaufirmen auch nach dem Austritt aus dem SBV gewisse Dienstleistungen dieses Verbandes in Anspruch genommen haben, stellt einen konsensualen Austritt aus dem Verband nicht in Frage.
An dieser Betrachtungsweise ändert auch die Tatsache nichts, dass die Organe des SBV die Austrittserklärung der B. SA auf Ende März 2003 nicht im Sinne eines ausdrücklichen Vertragsakzepts bestätigt haben. Verband wie Arbeitgeberfirma haben seinerzeit nicht daran gedacht, dass die Statutenänderung unzulässig sein könnte
BGE 134 III 625 S. 632
(wie das Bundesgericht mit Urteil 5C.67/2006 vom 8. Juni 2006 entschieden hat). Der SBV hat daher die Austrittserklärung als (einseitige) Erklärung (vermeintlich) statutengemässen Ausscheidens entgegengenommen. Sie bedurfte aus damaliger Sicht (sowohl der erklärenden Firma als auch des Verbandes als Erklärungsempfänger) zu ihrer Gültigkeit keiner weiteren Reaktion seitens des SBV. Unter den geschilderten Begleitumständen steht das Passivbleiben des Verbandes der Annahme einer Austrittsvereinbarung nicht entgegen. Das Fehlen eines Vertragsakzeptes wäre nämlich nur dann von Bedeutung, wenn über den tatsächlichen Willen der Betroffenen Ungewissheit bestünde. Eine solche ist indessen nicht gegeben. Der tatsächliche Wille der (Vertrags-)Parteien steht fest: Die B. SA wollte per Ende März 2003 aus dem SBV austreten, und dieser wollte seinem Mitglied - wie allen anderen Holzbaufirmen - die angestrebte sofortige Auflösung der Mitgliedschaft ermöglichen. Einzig zufolge ihres Irrtums über die Zulässigkeit eines konsensualen Ausscheidens (hiezu nachfolgende E. 3.5) haben die Betroffenen den unnötigen (und schliesslich erfolglosen) Weg über die Statutenänderung gewählt. Ungeachtet dieses Irrtums ist aber der übereinstimmende wirkliche Wille massgebend (
Art. 18 Abs. 1 OR
): Wenn der Verein und die Zimmereifirmen übereinstimmend davon ausgegangen sind, Letztere seien aus dem Verein ausgetreten, kann nicht nachträglich unterstellt werden, sie seien trotzdem noch Mitglieder gewesen, bloss weil - in beiderseitigem Glauben daran, der Vereinsaustritt sei bereits gestützt auf die Statutenänderung zulässig - nicht ebendieses Ergebnis ausdrücklich noch vertraglich festgehalten wurde.
Es steht damit fest, dass eine stillschweigende (
Art. 1 Abs. 2 OR
) gegenseitige übereinstimmende Willenserklärung (
Art. 1 Abs. 1 OR
) zwischen dem SBV und den Holzbaufirmen (darunter der B. SA) auf deren Ausscheiden per Ende März 2003 zustande gekommen ist. Fraglich ist einzig, ob diese vertragliche Übereinkunft zulässig ist.
3.5
Die Vorinstanz lehnt die Möglichkeit eines vertraglichen Ausscheidens mit dem Argument ab, es hätte der Statutenänderung vom 26. März 2003 nicht bedurft, wenn das Ausscheiden einer vertraglichen Vereinbarung zugänglich gewesen wäre. Dem kann nicht gefolgt werden:
3.5.1
Art. 11.1 der bis 19. Juni 2003 in Kraft gestandenen (und auf den hier streitigen Austritt anwendbaren) Statuten des SBV vom
BGE 134 III 625 S. 633
2. Juli 1987 lautete: "Der Austritt aus dem SBV ist nur auf Ende des Kalenderjahres zulässig. Die Kündigung muss sechs Monate vorher durch eingeschriebenen Brief an die Geschäftsstelle des SBV erfolgen." Art. 11.2 regelte den Austritt aus einer Sektion oder Fachgruppe. Mit der Statutenänderung vom 26. März 2003 wurde ein neuer Art. 11.3 eingefügt mit dem Wortlaut: "Wegen ihrer neuen Ausrichtung tritt die Fachgruppe Holzbau Schweiz per 31. März 2003 aus dem Schweizerischen Baumeisterverband aus. Mitgliederbetriebe dieser Fachgruppe, welche in diesem Zusammenhang den Austritt aus dem Schweizerischen Baumeisterverband erklären, können dies ohne Einhaltung der Kündigungsfrist gemäss Art. 11.1 Statuten des Schweizerischen Baumeisterverbandes ebenfalls per 31. März 2003 tun." Mit dem erwähnten Urteil des Bundesgerichts vom 8. Juni 2006 wurde diese Ergänzung gerichtlich aufgehoben.
3.5.2
Art. 11.1 der SBV-Statuten, welcher der zwingenden Mindestvorschrift von
Art. 70 Abs. 2 ZGB
entspricht, gibt - analog zur Kündigung eines anderen Dauervertragsverhältnisses - dem Vereinsmitglied das Gestaltungsrecht, mittels einseitiger Willenserklärung ohne Genehmigung oder Zustimmung des Vereins aus diesem auszutreten (
BGE 118 V 264
E. 6b/bb S. 272; BRÜCKNER, Das Personenrecht des ZGB, Zürich 2000, S. 378 N. 1260; EGGER, Zürcher Kommentar, N. 9 zu
Art. 70 ZGB
; PEDRAZZINI/OBERHOLZER, Grundriss des Personenrechts, 4. Aufl., Bern 1993, S. 243; RIEMER, Berner Kommentar, 3. Aufl. 1990, N. 266 zu
Art. 70 ZGB
). Einzig dieser
einseitige
Austritt wird in Art. 11 der Statuten des SBV geregelt. Anstatt durch einseitige Austrittserklärung kann aber die Mitgliedschaft auch durch einvernehmliche vertragliche Regelung zwischen Mitglied und Verein aufgelöst werden (
Art. 1 Abs. 1 OR
), namentlich auch mit dem Ziel, eine statutarische Austrittsordnung zu erleichtern (RIEMER, a.a.O., N. 296 zu
Art. 70 ZGB
). Denn da der Erwerb der Mitgliedschaft durch Vertrag zwischen dem Verein und dem Mitglied zustande kommt (BRÜCKNER, a.a.O., S. 377 N. 1254; HEINI/PORTMANN, Das Schweizerische Vereinsrecht, Schweizerisches Privatrecht, Bd. II/5, 3. Aufl., Basel 2005, S. 106 Rz. 226; PEDRAZZINI/OBERHOLZER, a.a.O., S. 234; RIEMER, a.a.O., N. 42 ff. zu
Art. 70 ZGB
; vgl. Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts K 119/94 vom 5. Januar 1995, E. 1b), ist auch eine Beendigung der Mitgliedschaft durch Vertrag möglich (
BGE 118 V 264
E. 6b/bb S. 272). Eine solche vertragliche Einigung ist aufgrund der Vertragsfreiheit (
Art. 19 OR
) auch dann zulässig, wenn sie in den Statuten nicht
BGE 134 III 625 S. 634
ausdrücklich vorgesehen ist (vgl. auch
Art. 115 OR
; SVR 2002 KV Nr. 2 S. 5, E. 2c/aa, K 171/98). Es verhält sich gleich wie bei einem Dauervertragsverhältnis, welches eine einseitige Kündigung nur unter Einhaltung bestimmter Fristen vorsieht, nichtsdestoweniger aber durch übereinstimmende Willensäusserung der Vertragsparteien jederzeit aufgehoben werden kann, solange dadurch nicht zwingende Bestimmungen des Gesetzes umgangen werden (vgl. etwa zum Arbeitsvertrag:
BGE 119 II 449
E. 2a S. 450;
BGE 118 II 58
E. 2a S. 60; Urteil 4C.230/2005 vom 1. März 2005, E. 2 mit weiteren Hinweisen; PORTMANN, Basler Kommentar, Obligationenrecht, 4. Aufl. 2007, N. 27 ff. zu
Art. 335 OR
; STAEHELIN, Zürcher Kommentar, 3. Aufl. 1996, N. 19 zu
Art. 334 OR
, N. 3 zu
Art. 336c OR
; zur freiwilligen Taggeldversicherung nach KVG: SVR 2002 KV Nr. 2 S. 5, E. 2c/bb, K 171/98).
3.5.3
Der an der Generalversammlung vom 26. März 2003 beschlossene Art. 11.3 der SBV-Statuten ergänzte bzw. änderte das in Art. 11.1 vorgesehene Austrittsrecht. Wie Letzterer bezog sich auch diese Ergänzung einzig auf den
einseitigen
Austritt. Dies ergibt sich schon aus dem klaren Wortlaut der Bestimmung, welche den betroffenen Mitgliedern das Recht einräumt, abweichend von Art. 11.1 der Statuten auszutreten. Die ohnehin bestehende Möglichkeit eines vertraglich vereinbarten Ausscheidens wird durch diese Bestimmung weder begründet noch eingeschränkt. Die Zulässigkeit eines vertraglichen Austritts aus dem als Verein organisierten Verband kann deshalb auch nicht dadurch tangiert werden, dass der Generalversammlungsbeschluss vom 26. März 2003 schliesslich wegen formeller Mängel bei der Beschlussfassung gerichtlich aufgehoben wurde. Dass sich die Beteiligten - wie erwähnt - offenbar der rechtlichen Zulässigkeit einer konsensualen Aufhebung der Mitgliedschaft nicht bewusst waren und daher eine - letztlich in der konkreten Situation unnötige - Statutenänderung initiierten, ändert daran nichts.
3.6
Die Vorinstanz hat sodann erwogen, einer vertraglichen Austrittsvereinbarung würde von vornherein Art. 34.1 der Statuten entgegenstehen, wonach es dem Zentralvorstand untersagt sei, bei der Beschlussfassung auf spartenbezogene Interessen Rücksicht zu nehmen. Auch dem kann nicht gefolgt werden. Die Vorinstanz gibt Art. 34.1 der Statuten unvollständig wieder: Nach dieser Bestimmung haben die Mitglieder des Zentralvorstandes die Gesamtinteressen des Bauhauptgewerbes bzw. der Verbandsmitglieder zu verfolgen und bei der Beschlussfassung nicht in erster Linie auf
BGE 134 III 625 S. 635
regionale oder spartenbezogene Interessen Rücksicht zu nehmen. Daraus folgt umgekehrt, dass regionale oder spartenbezogene Interessen in zweiter Linie durchaus berücksichtigt werden dürfen, zumindest soweit sie den Gesamtinteressen des Gewerbes und der Verbandsmitglieder nicht zuwiderlaufen. Dabei hat der Verein aufgrund seiner Autonomie einen erheblichen Ermessensspielraum in der Gewichtung dieser Interessen. Nach den Akten steht fest, dass der Zentralvorstand zwar den von Holzbau Schweiz eingeschlagenen Weg bedauerte, weil dadurch die anzustrebende starke Position der Arbeitgeberverbände geschwächt werde, zugleich aber zur Kenntnis nahm, dass eine grosse Mehrheit der Mitgliederbetriebe von Holzbau Schweiz die neue Ausrichtung befürwortete; er kam daher zum Schluss, dass der Wille der Fachgruppe Holzbau Schweiz zu respektieren sei. Nebst den allgemeinen verbandspolitischen Überlegungen werden keine konkreten Interessen des Baugewerbes oder der Verbandsmitglieder geltend gemacht, welche dem Austritt von Holzbau Schweiz entgegenstehen. Wenn der Zentralvorstand in dieser Lage dem klaren Willen einer grossen Gruppe seiner Mitglieder Rechnung trug, kann ihm nicht vorgeworfen werden, gegen Art. 34.1 der Statuten verstossen zu haben. Schliesslich wurde auch der Beschluss der Generalversammlung vom 26. März 2003 einzig wegen der Missachtung formeller Vorschriften über die Statutenänderung aufgehoben, nicht deswegen, weil er inhaltlich den Statuten widersprochen hätte.
3.7
Unbegründet ist schliesslich die Auffassung des Beschwerdeführers, eine vertragliche Aufhebung der Mitgliedschaft sei unzulässig, weil die Statuten dem Schutz (auch) des einzelnen Mitglieds dienten. Dieses Anliegen rechtfertigt Bestimmungen, welche das Mitglied gegen einseitige Anordnungen seitens des Vereins schützen, kann aber nicht zum Tragen kommen, wenn das Mitglied selber aus freien Stücken einvernehmlich mit dem Verein auf seine Mitgliedschaft verzichtet. Zudem ist nicht ersichtlich, inwiefern das Ausscheiden auf Ende März 2003 einem Schutzbedürfnis der B. SA widersprochen haben könnte.
3.8
Insgesamt ergibt sich, dass die B. SA per Ende März 2003 durch vertragliche Vereinbarung aus dem SBV ausgeschieden ist. Der erst am 1. Juli 2003 in Kraft getretene GAV FAR war somit für die B. SA nie verbindlich. Damit entfällt von vornherein die Frage, ob der GAV FAR bei einem erst nach seinem Inkrafttreten erfolgten Austritt noch Nachwirkungen hätte. Ein Anspruch des
BGE 134 III 625 S. 636
Beschwerdeführers auf eine Überbrückungsrente nach GAV FAR ist somit zu verneinen.
4.
Der unterliegende Beschwerdeführer trägt die Kosten (
Art. 65 Abs. 4 lit. a und
Art. 66 Abs. 1 BGG
). Die obsiegende Beschwerdegegnerin hat als mit öffentlich-rechtlichen Aufgaben betraute Organisation keinen Anspruch auf Parteientschädigung (
Art. 68 Abs. 3 BGG
; vgl.
BGE 128 V 124
E. 5b S. 133;
BGE 126 V 143
E. 4a S. 150, je mit Hinweisen; SEILER/VON WERDT/GÜNGERICH, Kommentar zum BGG, Bern 2007, N. 25 zu
Art. 68 BGG
). | de |
74253e4a-b041-4075-8dd3-5b0477b827b3 | Sachverhalt
ab Seite 134
BGE 107 II 134 S. 134
A.-
D. erstellte in den Jahren 1972/1973 auf seinem Grundstück GBP-Nr. 621 in Oberägeri terrassenförmig angelegte
BGE 107 II 134 S. 135
Wohnungen. Mit den Bauarbeiten wurde am 5. Juli 1972 begonnen. Unmittelbar nach Beginn der Aushubarbeiten geriet der steile Hang in Bewegung. Es kam zu Rutschungen, die auch die im Eigentum des H. stehende Nachbarparzelle GBP-Nr. 615 in Mitleidenschaft zogen.
Im Jahre 1974 erstellte H. auf seiner Parzelle seinerseits ein Terrassenhaus. Nach Abschluss der Bauarbeiten führte I. im Auftrag des D. zum Preise von Fr. 4'500.-- Anpassungsarbeiten zwischen den beiden Bauwerken aus.
B.-
Am 4. Oktober 1977 reichte H. beim Kantonsgericht des Kantons Zug gegen D. Klage ein mit folgendem Rechtsbegehren:
"Der Beklagte sei zu verpflichten, das ursprüngliche Niveau entlang der Grenze des Grundstückes GBP-Nr. 615 des Klägers im Bethenbühl, Gemeinde Oberägeri, innert nützlicher, vom Gericht anzusetzender Frist wiederherzustellen bzw. wiederherstellen zu lassen, alles unter Kosten- und Entschädigungsfolge zulasten des Beklagten."
Das Kantonsgericht wies die Klage am 28. November 1979 ab. Sein Entscheid wurde auf Berufung des Klägers hin vom Obergericht des Kantons Zug mit Urteil vom 16. Juli 1980 bestätigt.
C.-
Mit der vorliegenden Berufung ans Bundesgericht beantragt der Kläger die Aufhebung des obergerichtlichen Urteils und die Gutheissung der Klage, eventuell die Rückweisung der Sache an die Vorinstanz.
Der Beklagte beantragt die Abweisung der Berufung. Das Bundesgericht heisst die Berufung gut und weist die Sache zu ergänzender Abklärung und neuer Entscheidung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurück.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Nach
Art. 685 Abs. 1 ZGB
darf der Eigentümer eines Grundstücks bei Grabungen und Bauten die nachbarlichen Grundstücke nicht dadurch schädigen, dass er ihr Erdreich in Bewegung bringt oder gefährdet oder vorhandene Vorrichtungen beeinträchtigt. Diese Vorschrift hat der Beklagte verletzt. Nach den Feststellungen der Vorinstanz muss angenommen werden, dass die Hangabrutschung auf dem Grundstück des Klägers mindestens teilweise durch die Aushubarbeiten auf dem Grundstück des Beklagten verursacht wurde. Der Beklagte hat den Kausalzusammenhang zwischen dem Aushub der Baugrube und der Hangabrutschung schon im kantonalen Berufungsverfahren nicht mehr bestritten.
BGE 107 II 134 S. 136
3.
Mit seinen Grabarbeiten hat der Beklagte somit sein Eigentumsrecht überschritten. Nach
Art. 679 ZGB
kann der dadurch geschädigte Kläger auf Beseitigung der Schädigung oder Schutz gegen weiterhin drohenden Schaden sowie auf Schadenersatz klagen. Der Kläger sieht in seinem Begehren, der Beklagte habe den ursprünglichen Zustand entlang der gemeinsamen Grenze wiederherzustellen, in erster Linie eine Klage auf Beseitigung der auf seinem Grundstück eingetretenen Schädigung.
a) Nach der herrschenden Lehre, auf die sich die Vorinstanz stützt, kann indessen der geschädigte Grundeigentümer mit der Beseitigungsklage des
Art. 679 ZGB
nur die Beseitigung des den Schaden verursachenden Zustandes auf dem Ausgangsgrundstück verlangen, nicht aber die Wiederherstellung des früheren Zustandes seines verletzten Eigentums. Der Beseitigungsanspruch hat keine restitutorische Funktion, richtet sich also nicht auf Rückgängigmachung des Erfolges der Einwirkung. Für die Behebung des Erfolges der Einwirkung steht nur die Schadenersatzklage zur Verfügung (so insbesondere STARK, Das Wesen der Haftpflicht des Grundeigentümers nach
Art. 679 ZGB
, S. 171 ff., 178 ff., 203; ders., N. 38 ff. zu
Art. 928 ZGB
; MEIER-HAYOZ, N. 120 zu
Art. 679 ZGB
; vgl. auch HOMBERGER, N. 18, 20 zu
Art. 928 ZGB
; HAAB, N. 18, 20 zu
Art. 679 ZGB
). Diese Auffassung scheint auch der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zugrundezuliegen. So hat das Bundesgericht in
BGE 88 II 267
/268 - allerdings im Zusammenhang mit dem allgemeinen Abwehranspruch des
Art. 641 Abs. 2 ZGB
, der sich aber in dieser Hinsicht nicht vom Beseitigungsanspruch des
Art. 679 ZGB
unterscheidet - ausgeführt, der Beseitigungsanspruch müsse sich gegen die Ursachen der ungerechtfertigten Einwirkung richten, nicht gegen diese selbst; er setze einen sich fortdauernd als Störung auswirkenden Zustand voraus; Ansprüche auf Wiederherstellung und Wiedergutmachung gehörten dem Schadenersatzrecht an (vgl. auch
BGE 66 I 233
).
b) Der Begriff der "Schädigung" in
Art. 679 ZGB
ist freilich zweideutig. Es kann darunter sowohl der Erfolg der Einwirkung auf dem geschädigten Grundstück wie auch die schädigende Handlung oder der schädigende Zustand auf dem Ausgangsgrundstück verstanden werden. Im Vorentwurf zum ZGB war in Art. 679 von einer Klage auf Beseitigung der "Verletzung" die Rede, was eher auf die erste Bedeutung (Erfolg) hinzudeuten scheint. Weshalb der Gesetzgeber schliesslich dem heutigen Text den Vorzug gab, lässt sich den Materialien nicht entnehmen. Auch der
BGE 107 II 134 S. 137
französische Gesetzestext ist nicht eindeutig. Danach kann der Geschädigte den sein Eigentumsrecht überschreitenden Grundeigentümer belangen "pour qu'il remette les choses en l'état". Mit der "remise en l'état" könnte sowohl die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes auf dem geschädigten Grundstück als auch die Instandstellung von Vorrichtungen auf dem Ausgangsgrundstück, welche übermässige Einwirkungen auf das geschädigte Grundstück verursachen, gemeint sein.
Zieht man in Betracht, dass die Hauptfunktion von
Art. 679 ZGB
trotz seiner systematischen Stellung im Gesetz darin besteht, Sanktionen zu den
Art. 684 ZGB
verpönten Immissionen zu bieten (
BGE 88 II 263
; MEIER-HAYOZ, N. 36 zu
Art. 679 ZGB
), so drängt sich die Annahme auf, dass der Gesetzgeber bei der Verwendung der Ausdrücke "Beseitigung der Schädigung" bzw. "remise en l'état" an die Vorrichtungen oder Anlagen gedacht hat, von welchen die Immission ausgehen, und nicht an die Auswirkungen auf dem geschädigten Grundstück. Mit der Beseitigungsklage des
Art. 679 ZGB
soll der Eigentümer des Ausgangsgrundstücks (allenfalls auch der Inhaber beschränkter dinglicher oder obligatorischer Rechte an diesem Grundstück; vgl.
BGE 104 II 19
ff. E. 2) dazu verhalten werden, sein Eigentumsrecht in einer Weise auszuüben, die keine unerlaubten Einwirkungen auf das Nachbargrundstück mehr bewirkt. Die Klage richtet sich also gegen die Art der Bewirtschaftung des Ausgangsgrundstücks (vgl. das Marginale zu
Art. 684 ZGB
; LIVER, N. 215/216 zu
Art. 737 ZGB
), und sie erreicht ihr Ziel, wenn diese in dem Sinne geändert wird, dass eine Überschreitung des Eigentumsrechts nicht mehr besteht. Es müssen daher notwendig Massnahmen auf dem Ausgangsgrundstück getroffen werden, wenn eine andauernde "Schädigung" beseitigt werden soll. Im Immissionsprozess geht es denn auch regelmässig darum, ob die Immissionen durch die Anordnung geeigneter Schutzvorkehren auf dem Ausgangsgrundstück auf ein erträgliches Mass herabgesetzt werden können oder ob der die Immissionen verursachende Betrieb bzw. die immittierende Tätigkeit eingestellt werden muss (vgl. die Beispiele aus der Rechtsprechung bei MEIER-HAYOZ, N. 213 ff. zu
Art. 684 ZGB
). Sollen dagegen die Folgen der übermässigen Immissionen auf dem geschädigten Grundstück beseitigt werden, so kann nur mit der Schadenersatzklage vorgegangen werden. Wollte man auch die Behebung der Auswirkungen der Immissionen der Beseitigungsklage unterstellen, so liesse sich eine klare Unterscheidung zwischen dem (dinglichen)
BGE 107 II 134 S. 138
Beseitigungsanspruch und dem (obligatorischen) Schadenersatzanspruch nicht erzielen. Diese Unterscheidung ist aber, wie gerade der vorliegende Fall zeigt, namentlich für die Frage der Verjährung von Bedeutung.
c) Der Kläger macht demgegenüber geltend, das Bundesgericht habe in
BGE 100 II 307
ff. gestützt auf
Art. 641 Abs. 2 ZGB
die Klage eines Grundeigentümers, auf dessen Grundstück Aushubmaterial deponiert worden war, gutgeheissen und den Beklagten verpflichtet, das Material wegzuführen und den ursprünglichen Zustand wiederherzustellen. Das Abtragen von Erdreich könne nicht anders behandelt werden als das Zuführen von Aushub. Auch im vorliegenden Fall könne daher der Beklagte mit der Beseitigungsklage verpflichtet werden, die andauernde Eigentumsstörung zu beseitigen und den ursprünglichen Zustand wiederherzustellen. Das Ablagern von Aushubmaterial stellt indessen eine unmittelbare Einwirkung auf das geschädigte Grundstück dar. Gegen einen derartigen direkten Eingriff in die Substanz seines Grundstücks kann der Eigentümer gestützt auf den allgemeinen Abwehranspruch des
Art. 641 Abs. 2 ZGB
vorgehen. So kann er kraft seines Eigentums beispielsweise die Beseitigung eines unberechtigten Überbaus, das Kappen von überragenden, sein Eigentum schädigenden Ästen, das Wegführen von eingedrungenem Vieh, den Abbruch von auf seinem Boden für eine Baute auf dem Nachbargrundstück errichteten Bauinstallationen (vgl.
BGE 104 II 166
ff.), den Abtransport von abgelagertem Holz oder die Ausschaffung von Hausbesetzern verlangen. Es liegt auf der Hand, dass dieser Anspruch dinglicher Natur und deshalb unverjährbar ist, würde doch, wenn eine solche direkte Beanspruchung fremden Bodens nach Ablauf eines Jahres nicht mehr rückgängig gemacht, sondern gewissermassen ersessen werden könnte, das Eigentum in seiner Substanz ausgehöhlt. Im vorliegenden Fall hat man es aber entgegen der Ansicht des Klägers lediglich mit einer mittelbaren Einwirkung zu tun. Der Beklagte hat beim Aushub seiner Baugrube das Grundstück des Klägers nicht direkt in Anspruch genommen, was zum vornherein unzulässig gewesen wäre (vgl.
BGE 104 II 166
ff., insbesondere 169/170), sondern die Rutschungen, die das klägerische Grundstück in Mitleidenschaft zogen, bildeten die ungewollte Folge der Bauarbeiten auf seinem Grundstück, zu denen er an sich berechtigt war. Der Kläger hätte mit dem Beseitigungsanspruch die Einstellung der Bauarbeiten oder die Vornahme von Sicherungsmassnahmen, z.B. die Errichtung einer Stützmauer,
BGE 107 II 134 S. 139
verlangen dürfen. Dabei hätten die Schutzvorkehren wie bei den Immissionen des
Art. 684 ZGB
auf dem Grundstück des Beklagten getroffen werden müssen (MEIER-HAYOZ, N. 77a zu Art. 685/686 ZGB). Heute wird auf diesem Grundstück nicht mehr gegraben, und der Hang hat sich stabilisiert. Eine Überschreitung des Grundeigentumsrechts liegt somit nicht mehr vor, und es besteht anders als in den genannten Fällen von unmittelbaren Einwirkungen auf dem klägerischen Grundstück auch kein sich dauernd als Eigentumsstörung auswirkender Zustand, gegen den der Kläger mit der Abwehrklage des
Art. 641 Abs. 2 ZGB
oder mit der Beseitigungsklage des
Art. 679 ZGB
vorgehen könnte (vgl.
BGE 88 II 267
). Zwar haben die Bauarbeiten des Beklagten auf dem Grundstück des Klägers entlang der Grenze eine Niveauänderung verursacht, die dauernden Charakter hat. Diese Beeinträchtigung ist jedoch nur die Folge der heute abgeschlossenen Überschreitung des Eigentumsrechts durch den Beklagten; sie stellt nicht ihrerseits einen direkten Eingriff in das Eigentumsrecht des Klägers dar. Zur Behebung der durch die Grabungen des Beklagten verursachten Schäden auf seinem Grundstück steht dem Kläger nach dem bereits Gesagten nur die Schadenersatzklage zur Verfügung.
Die Vorinstanz hat die Beseitigungsklage daher zu Recht abgewiesen.
4.
Was die Schadenersatzklage anbetrifft, führt die Vorinstanz aus, der Kläger habe ein entsprechendes Begehren nicht gestellt; überdies müsste eine solche Klage "mutmasslich" an der vom Beklagten vorsorglich erhobenen Verjährungseinrede scheitern.
Daran ist soviel richtig, dass der Kläger mit seiner Klage keinen Geldersatz verlangt. Sein Begehren, der Beklagte habe das ursprüngliche Niveau entlang der Grenze zwischen den beiden Grundstücken wiederherzustellen, lässt sich jedoch ohne weiteres als Schadenersatzklage verstehen, nämlich als Klage auf Naturalersatz. Wie sich aus
Art. 43 Abs. 1 OR
ergibt, kommt als Ersatz für den eingetretenen Schaden nicht nur eine Geldleistung in Frage, sondern es sind auch andere Arten des Schadenersatzes denkbar. So hat das Bundesgericht in
BGE 100 II 142
/143 E. 6b beispielsweise den aus
Art. 58 OR
für die Folgen einer Überschwemmung Verantwortlichen verpflichtet, das verwüstete Grundstück auf eigene Kosten zu säubern und instandzustellen (vgl. auch
BGE 99 II 183
E. 3,
BGE 80 II 389
/390 E. 9). Auch im
BGE 107 II 134 S. 140
Rahmen von
Art. 679 ZGB
kann die Leistung von Naturalersatz in der Form der Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes des geschädigten Grundstücks eine durchaus angemessene Art des Schadenersatzes darstellen (STARK, Das Wesen der Haftpflicht des Grundeigentümers nach
Art. 679 ZGB
, S. 175/176; vgl. auch HOMBERGER, N. 20 zu
Art. 928 ZGB
). Sie hat namentlich den Vorteil, dass sie die häufig komplizierte Berechnung des Schadens in Geld überflüssig macht. Anderseits kann es Schadensposten geben, die durch die Naturalrestitution nicht behoben werden.
Da der Richter das Recht von Amtes wegen anzuwenden hat, hätte die Vorinstanz unabhängig vom Rechtsstandpunkt des Klägers prüfen müssen, ob das gestellte Wiederherstellungsbegehren allenfalls unter dem Gesichtspunkt des Schadenersatzes begründet sei (
BGE 107 II 122
E. 2a;
BGE 99 II 76
E. 4, mit Hinweisen). Der Hinweis darauf, dass der Schadenersatzanspruch "mutmasslich" verjährt sei, entband sie nicht von dieser Pflicht. Zwar ist richtig, dass Schadenersatzklagen aus
Art. 679 ZGB
der Verjährung nach
Art. 60 OR
unterliegen (
BGE 81 II 446
,
BGE 68 II 375
). Auch kann der Eintritt der Verjährung entgegen der Auffassung des Klägers unter Berufung auf die Ausführungen des Bundesgerichts in
BGE 81 II 445
ff. E. 3 und 4 nicht zum vornherein verneint werden. In jenem Fall dauerte die übermässige Immission im Zeitpunkt der Klage immer noch an, indem die früher auf dem Ausgangsgrundstück dem Grundwasser zugeführten Giftstoffe weiterhin in das geschädigte Grundstück einsickerten. Demgegenüber war im vorliegenden Fall die Überschreitung des Eigentumsrechts, welche die schädigenden Rutschungen bewirkte, mit der Beendigung der Grabarbeiten auf dem Grundstück des Beklagten abgeschlossen, und die Verjährungsfrist begann schon von diesem Zeitpunkt an zu laufen. Das angefochtene Urteil enthält indessen keine genauen Feststellungen darüber, wann die letzten für die Schädigung des klägerischen Grundstücks kausalen Grabarbeiten auf dem Grundstück des Beklagten vorgenommen worden sind. Die Vorinstanz äussert sich auch nicht über die Frage einer allfälligen Unterbrechung der Verjährung. Gestützt auf blosse Vermutungen durfte sie jedoch den Eintritt der Verjährung nicht als gegeben annehmen.
Da der festgestellte Sachverhalt dem Bundesgericht die Beurteilung des vom Kläger gestellten Schadenersatzbegehrens nicht erlaubt, ist die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen. Diese wird sich vorerst mit der vom Beklagten erhobenen Einrede der Verjährung zu befassen haben. Sollte sich ergeben, dass der
BGE 107 II 134 S. 141
Schadenersatzanspruch nicht verjährt ist, wird sie dessen weitere Voraussetzungen prüfen müssen. Dabei wird sie insbesondere zu den Einwendungen des Beklagten, die Niveauänderung entlang der gemeinsamen Grenze sei auch durch die Bauarbeiten auf dem Grundstück des Klägers verursacht worden und die Parteien hätten sich seinerzeit bezüglich der Anpassungsarbeiten zwischen ihren Liegenschaften verständigt, Stellung zu nehmen haben. | de |
ac405156-5d02-4826-a2f0-af5c9168efbd | Sachverhalt
ab Seite 51
BGE 147 II 49 S. 51
A.
A. (geb. 1981) stammt nach eigenen Angaben aus Mali. Das Bundesamt für Flüchtlinge trat am 1. Februar 2002 auf sein Asylgesuch nicht ein und wies ihn weg. Vom 22. November 2001 bis 4. Februar 2002 befand sich A. in Vorbereitungshaft (2 1⁄2 Monate); vom 5. Februar 2002 bis 5. Mai 2002 sowie vom 20. September 2003 bis 21. April 2004 wurde er in Ausschaffungshaft (10 Monate) gehalten. Ab dem 7. Juni 2004 war A. unbekannten Aufenthalts. Nach eigenen Angaben will er sich von 2007 bis 2017 hauptsächlich im französischen Annemasse in der Nähe von Genf aufgehalten haben. Er soll aber auch in Paris, Hannover und Berlin gewesen sein. A. wurde wegen mehrfachen Betäubungsmitteldelikten, wegen Hausfriedensbruchs und wegen geringfügigen Diebstahls strafrechtlich belangt.
B.
Das Migrationsamt des Kantons Zürich wies A. am 19. September 2019 weg und nahm ihn erneut in Ausschaffungshaft, welche das Zwangsmassnahmengericht des Bezirksgerichts Zürich (nachfolgend: Zwangsmassnahmengericht) am 20. September 2019 prüfte und bis zum 19. Dezember 2019 bestätigte; in der Folge verlängerte es die Ausschaffungshaft bis zum 17. März 2020. Am 14. Januar 2020 nahm das Migrationsamt A. in Durchsetzungshaft, welche das Zwangsmassnahmengericht am 16. April 2020 bestätigte. Die Durchsetzungshaft wurde wiederholt verlängert: Am 7. April 2020 bis zum 14. Juni 2020 und am 9. Juni 2020 bis zum 14. August 2020. Gegen den Verlängerungsentscheid vom 7. April 2020 gelangte A. an das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich, welches seine Beschwerde am 22. Mai 2020 bezüglich der unentgeltlichen Verbeiständung im Verfahren vor dem Zwangsmassnahmengericht guthiess; im Übrigen wies es die Beschwerde ab.
C.
A. beantragt vor Bundesgericht, das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich vom 22. Mai 2020 insoweit aufzuheben, als seine Beschwerde abgewiesen und er in der Durchsetzungshaft belassen worden sei; er sei unverzüglich auf freien Fuss zu setzen; allenfalls sei die Sache zu neuem Entscheid an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten gut, hebt das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich auf und ordnet an, dass A. unverzüglich aus der Haft zu entlassen sei.
BGE 147 II 49 S. 52 Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
1.1
Gegen den kantonal letztinstanzlichen Entscheid über eine Zwangsmassnahme im Ausländerrecht kann die betroffene Person mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht gelangen (Art. 82 lit. a i.V.m.
Art. 86 Abs. 1 lit. d BGG
; vgl. die Urteile 2C_386/2020 vom 9. Juni 2020 E. 1.1; 2C_65/ 2020 vom 18. Februar 2020 E. 1 und 2C_312/2018 vom 11. Mai 2018 E. 1). Wegen des mit der Anordnung ausländerrechtlicher Administrativhaft verbundenen schweren Eingriffs in die persönliche Freiheit kommt dem entsprechenden Freiheitsentzug eigenständige Bedeutung zu; die Haft erscheint nicht als bloss untergeordnete Vollzugsmassnahme zur Wegweisung, weshalb der Ausschlussgrund von
Art. 83 lit. c Ziff. 4 BGG
der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten nicht entgegensteht (
BGE 142 I 135
E. 1.1.3 S. 139 f.;
BGE 135 II 94
E. 5.5 S. 101 f.; Urteil 2C_466/2018 vom 21. Juni 2018 E. 1.1).
1.2
1.2.1
Das Bundesgericht tritt - trotz Haftentlassung oder eines Verlängerungsentscheids, welcher den ursprünglich angefochtenen Haftentscheid ablöst (vgl.
BGE 139 I 206
E. 1.2.1-1.2.3 S. 208 ff.) - auf Beschwerden gegen die Genehmigung der ausländerrechtlichen Festhaltung durch den Haftrichter bzw. den entsprechenden kantonalen Rechtsmittelentscheid ein, wenn der Betroffene rechtsgenügend begründet (vgl.
Art. 42 BGG
) und in vertretbarer Weise ("griefs défendables") die Verletzung einer Garantie der EMRK rügt (vgl. die Urteile 2C_386/2020 vom 9. Juni 2020 E. 1.2.1 und 2C_548/2011 vom 26. Juli 2011 E. 1.3).
1.2.2
Dies ist hier der Fall: Zwar wurde die Durchsetzungshaft des Beschwerdeführers im Streitgegenstand bildenden Haftprüfungsverfahren nur bis zum 14. Juni 2020 genehmigt; dieser Entscheid ist durch einen neuen ersetzt worden, der eine Festhaltung bis zum 14. August 2020 vorsieht. Der Beschwerdeführer macht in vertretbarer Weise geltend, unter Verletzung von
Art. 5 Ziff. 1 lit. f EMRK
in Haft belassen worden zu sein (Absehbarkeit des Vollzugs der Wegweisung; vgl. das Urteil des EGMR
Jusic gegen Schweiz
vom 2. Dezember 2010 [Nr. 4691/06], § 67 ff.). An der Beurteilung der Konventionskonformität seiner Administrativhaft hat er ein fortbestehendes Interesse, ohne dass er erst noch den Haftverlängerungsentscheid anfechten müsste (vgl.
BGE 139 I 206
E. 1.2.1-1.2.3 S. 208 ff.).
BGE 147 II 49 S. 53
1.3
Da neben der Beschwerdelegitimation auch alle weiteren Prozessvoraussetzungen gegeben sind, ist auf die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten einzutreten (vgl.
Art. 42 und
Art. 100 Abs. 1 BGG
).
2.
2.1
Hat eine ausländische Person ihre Pflicht zur Ausreise aus der Schweiz innerhalb der ihr angesetzten Frist nicht erfüllt und kann die rechtskräftige Weg- oder Ausweisung aufgrund ihres persönlichen Verhaltens nicht vollzogen werden, so darf sie in Durchsetzungshaft genommen werden, um der Ausreisepflicht Nachachtung zu verschaffen, sofern die Anordnung der Ausschaffungshaft nicht zulässig ist und keine andere, mildere Massnahme zum Ziel führt (
Art. 78 Abs. 1 AIG
[SR 142.20]; bis zum 31. Dezember 2018 AuG).
2.2
2.2.1
Zweck der Durchsetzungshaft ist es, die ausreisepflichtige Person in jenen Fällen zu einer Verhaltensänderung zu bewegen, in denen nach Ablauf der Ausreisefrist der Vollzug der rechtskräftig gegen sie angeordneten Weg- oder Ausweisung bzw. Landesverweisung - trotz entsprechender behördlicher Bemühungen - ohne ihre Kooperation nicht (mehr) möglich erscheint. Der damit verbundene Freiheitsentzug stützt sich auf
Art. 5 Ziff. 1 lit. f EMRK
(Haft zur Sicherung eines "schwebenden" Ausweisungsverfahrens) und dient in diesem Rahmen der Durchsetzung einer durch das Gesetz vorgeschriebenen Verpflichtung (vgl.
Art. 90 AIG
;
Art. 5 Ziff. 1 lit. b EMRK
;
BGE 140 II 409
E. 2.1 S. 411).
2.2.2
Die Durchsetzungshaft bildet das letzte Mittel, wenn und soweit keine andere Massnahme (mehr) zum Ziel führt, den illegal anwesenden Ausländer auch gegen seinen Willen in seine Heimat verbringen zu können. Sie darf - zusammen mit einer bereits verbüssten Ausschaffungs- oder Vorbereitungshaft - maximal 18 Monate betragen (Art. 78 Abs. 2 i.V.m.
Art. 79 AIG
), muss aber in jedem Fall verhältnismässig sein. Innerhalb dieser Höchstdauer ist jeweils aufgrund der Umstände im Einzelfall zu prüfen, ob die ausländerrechtliche Festhaltung insgesamt (noch) geeignet bzw. erforderlich erscheint und nicht gegen das Übermassverbot verstösst (vgl.
BGE 140 II 409
E. 2.1 S. 411;
BGE 135 II 105
E. 2.2.1 S. 107;
BGE 134 II 201
E. 2 S. 204 ff.;
BGE 134 I 92
E. 2.3 S. 96 ff.).
2.2.3
Die Festhaltung hat, weil unverhältnismässig, dann als unzulässig zu gelten, wenn triftige Gründe für Verzögerungen beim
BGE 147 II 49 S. 54
Vollzug der Wegweisung sprechen oder praktisch feststeht, dass sich dieser im Einzelfall kaum innert nützlicher Frist wird realisieren lassen (
BGE 130 II 56
E. 4.1.3 S. 61). Nur falls keine oder bloss eine höchst unwahrscheinliche, rein theoretische Möglichkeit besteht, die Wegweisung zu vollziehen, ist die Haft zu beenden, nicht indessen bei einer ernsthaften, wenn auch allenfalls (noch) geringen Aussicht hierauf (
BGE 130 II 56
E. 4.1.3 S. 61 mit Hinweisen). Unter Vorbehalt einer Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung durch die betroffene Person ist die Frage nach der Durchführbarkeit des Wegweisungsvollzugs bzw. der Möglichkeit der freiwilligen Rückreise des Betroffenen nicht notwendigerweise im Hinblick auf die maximal mögliche Haftdauer, sondern vielmehr auf einen den gesamten Umständen des konkreten Falls angemessenen Zeitraum hin zu beurteilen (
Art. 78 Abs. 6 lit. a AIG
; vgl.
BGE 130 II 56
E. 4.1.3 S. 61;
BGE 125 II 217
E. 3b/bb S. 223).
3.
3.1
Das Bundesgericht hat im Zusammenhang mit dem Vollzug der Ausschaffung bzw. der Landesverweisung im Hinblick auf die Corona-Pandemie entschieden, dass jeder Einzelfall gestützt auf seine konkreten Umstände zu beurteilen sei (vgl. die Urteile 2C_510/2020 vom 7. Juli 2020 E. 3.2.1 und 2C_518/2020 vom 10. Juli 2020 E. 4.3.1). Dies entspricht der Praxis in der EU: Danach soll aus den vorübergehenden Beschränkungen während der Pandemie nicht automatisch darauf geschlossen werden, dass in allen Fällen keine hinreichende Aussicht auf Abschiebung mehr besteht; die Kommission fordert die Mitgliedstaaten auf, jeden Fall einzeln zu prüfen, um festzustellen, ob noch eine hinreichende Aussicht auf Abschiebung besteht oder nicht (Mitteilung der Kommission, COVID-19: Hinweise zur Umsetzung der einschlägigen EU-Bestimmungen im Bereich der Asyl- und Rückführungsverfahren und zur Neuansiedlung, ABl. C 126 vom 17. April 2020 S. 12 ff., 26).
3.2
Der Vollzug der Wegweisung lässt sich während der Corona-Pandemie nur dann als innert absehbarer Frist möglich und damit durchführbar bezeichnen, wenn dem Haftrichter hierfür hinreichend konkrete Hinweise - insbesondere seitens des SEM - vorliegen; andernfalls fehlt es an der ernsthaften Aussicht auf den Vollzug der Wegweisung bzw. der Möglichkeit der freiwilligen Ausreise nach der Kooperation des Betroffenen mit den Behörden, auf welche die Durchsetzungshaft ausgerichtet ist (vgl. die Urteile 2C_414/2020 vom 12. Juni 2020 E. 3.3.1; 2C_386/2020 vom 9. Juni 2020 E. 4.2.2 und
BGE 147 II 49 S. 55
2C_312/2020 vom 25. Mai 2020 E. 2.3.1). Die bloss
vage
Möglichkeit, dass ein Vollzugshindernis potentiell in absehbarer Zeit entfallen könnte - wie dies etwa bei den Luftangriffen der NATO im früheren Jugoslawien der Fall war -, genügt nicht, um eine Ausschaffungs- bzw. Durchsetzungshaft aufrechtzuerhalten (vgl.
BGE 125 II 217
E. 3b/bb S. 223 f.; Urteil 2C_386/2020 vom 9. Juni 2020 E. 4.2.4).
3.3
Das Bundesgericht ist im Rahmen von
Art. 105 BGG
grundsätzlich an den Sachverhalt im angefochtenen Entscheid gebunden; es stellt deshalb in Fällen wie dem vorliegenden praxisgemäss auf die sachverhaltlichen Elemente im Zeitpunkt des angefochtenen Entscheids ab (vgl. die Urteile 2C_386/2020 vom 9. Juni 2020 E. 4.2.2 und 2C_442/2020 vom 24. Juni 2020 E. 5.3.1). Das Bundesgericht kann echte Noven grundsätzlich nicht berücksichtigen (
Art. 99 Abs. 1 BGG
;
BGE 133 IV 342
E. 2.1 S. 343 f.). Dies gilt indessen nicht, wenn die Umstände sich seit dem angefochtenen Entscheid zugunsten des Betroffenen derart verändert haben, dass der Haftrichter auf ein Haftentlassungsgesuch auch ausserhalb der Sperrfristen hätte eintreten und gestützt auf die neuen Umstände dieses gegebenenfalls gutheissen müssen (vgl.
Art. 80 Abs. 5 AIG
;
BGE 130 II 56
E. 4.2.1 S. 62;
BGE 125 II 217
E. 3b/bb und 3c S. 222 ff.;
BGE 124 II 1
E. 3a S. 5 f.). In diesem Rahmen können die vom Bundesgericht eingeholten Amtsberichte des SEM und die darin enthaltenen Angaben berücksichtigt werden, um die Rechtmässigkeit der Aufrechterhaltung der ausländerrechtlichen Festhaltung zu beurteilen (vgl. die Urteile 2C_1017/ 2012 vom 30. Oktober 2012 E. 2 und 2C_518/2020 vom 10. Juli 2020 E. 4.3.2).
4.
4.1
Der Beschwerdeführer macht geltend, der Vollzug seiner Wegweisung bzw. die Möglichkeit einer freiwilligen Ausreise seien wegen der Reisebeschränkungen im Rahmen der Bekämpfung der Corona-Pandemie technisch nicht (mehr) in einem vernünftigerweise absehbaren Zeitraum möglich und verstosse deshalb gegen
Art. 78 Abs. 6 lit. a AIG
. Diese Bestimmung sieht vor, dass die Durchsetzungshaft zu beenden ist, wenn "eine selbständige und pflichtgemässe Ausreise nicht möglich" erscheint, "obwohl die betroffene Person den behördlich vorgegebenen Mitwirkungspflichten nachgekommen ist".
Art. 78 Abs. 6 lit. a AIG
ist im Lichte von
Art. 5 Ziff. 1 lit. f EMRK
so zu verstehen, dass das Ausschaffungsverfahren "schwebend" sein muss, was nur der Fall ist, wenn der
BGE 147 II 49 S. 56
Vollzug der Wegweisung bzw. die Möglichkeit einer freiwilligen Ausreise als hinreichend absehbar gelten können; hiervon kann nicht (mehr) ausgegangen werden, wenn diesen ein objektives - vom Willen des Betroffenen unabhängiges - technisches Hindernis auf eine den konkreten Umständen des Falles angemessene Dauer hin entgegensteht.
4.2
4.2.1
Die Vorinstanz geht davon aus, dass bei der Durchsetzungshaft zunächst zu prüfen sei, ob der Beschwerdeführer bei der Papierbeschaffung kooperiere; erst danach sei auf die Frage einzugehen, ob die selbständige und pflichtgemässe Ausreise des Betroffenen sich technisch als möglich erweise. Da der Beschwerdeführer im konkreten Fall bei der Papierbeschaffung nicht mit den Behörden zusammengearbeitet habe, obwohl seine Mitwirkung ohne Weiteres möglich gewesen wäre, spiele es bezüglich der Absehbarkeit des Wegweisungsvollzugs keine Rolle, dass er in einer späteren Phase möglicherweise (coronabedingt) nicht ausreisen könnte. Die entsprechende Frage stelle sich erst, wenn der Beschwerdeführer bei der Papierbeschaffung mit den Behörden tatsächlich zusammengearbeitet habe, was hier bisher nicht der Fall gewesen sei.
4.2.2
Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden: Entscheidend ist, ob die Ausreise
"objektiv"
möglich ist. Es liegt keine relevante Unmöglichkeit vor, falls die betroffene Person
freiwillig
ausreisen kann, d.h. diesbezüglich keine technischen Hindernisse bestehen; ebenso verhält es sich, wenn die zwangsweise Ausschaffung ausgeschlossen ist, sich eine freiwillige Ausreise aber technisch als möglich erweist; die Durchsetzungshaft ist mit anderen Worten dann untauglich, wenn sowohl die Ausschaffung als auch die freiwillige Ausreise objektiv unmöglich sind (in diesem Sinn zur Problematik der Ein- und Ausgrenzung:
BGE 144 II 16
ff.; Urteil 2C_323/2020 vom 18. Juni 2020 E. 5.4.3 2. Abschnitt; vgl. auch THOMAS HUGI YAR, EINGRENZUNG BEI FREIWILLIGER AUSREISEMÖGLICHKEIT, DER DIGITALE RECHTSPRECHUNGS-KOMMENTAR [DRSK], 13. FEBRUAR 2018). Eine teleologische und konventionskonforme Auslegung ergibt, dass
Art. 78 Abs. 6 lit. a AIG
in diesem Sinn verstanden werden muss. Im Lichte von
Art. 5 Ziff. 1 lit. f EMRK
ist auch bei der Durchsetzungshaft entscheidend, ob mit dem Wegweisungsvollzug bzw. der freiwilligen Ausreise in absehbarer Zeit gerechnet werden kann oder diesen objektive Hindernisse entgegenstehen;
Art. 78 Abs. 6 lit. a AIG
lässt in diesem Fall eine zweistufige Haftprüfung, wie sie die Vorinstanz
BGE 147 II 49 S. 57
vertritt, nicht zu. Es ist deshalb zu prüfen, ob ein - auf eine im konkreten Fall angemessene Zeitspanne hin - andauerndes technisches Hindernis (Massnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie) der freiwilligen Ausreise entgegensteht.
4.3
Zwar hat das Bundesgericht am 4. Juni 2020 im Urteil 2C_368/ 2020 die Aufrechterhaltung der Durchsetzungshaft eines algerischen Beschwerdeführers geschützt; der entsprechende Fall kann mit dem vorliegenden indessen nicht verglichen werden: Bei seinem Entscheid vom 4. Juni 2020 stellte das Bundesgericht auf den Amtsbericht des Staatssekretariats für Migration ab, wonach die Air Algérie am 14. März 2020 den Flugbetrieb weitgehend eingestellt, inzwischen jedoch wieder öffentlich angekündigt habe, sich auf die Wiederaufnahme der Flugtätigkeit vorzubereiten. Aufgrund der damaligen Entwicklungen und insbesondere der Lockerungen der behördlichen Pandemie-Massnahmen könne - so der Amtsbericht weiter - davon ausgegangen werden, dass die Beeinträchtigung im Flugverkehr "vorübergehender Natur" sei. Die Abklärungen würden fortgesetzt. Das Bundesgericht nahm gestützt hierauf an, dass eine freiwillige Ausreise bzw. Ausschaffung technisch in einem vernünftigen zeitlichen Rahmen als absehbar gelten konnte; dies ist hier nicht der Fall.
5.
5.1
Obwohl der Beschwerdeführer seinen Mitwirkungspflichten - entgegen seinen Behauptungen - nicht nachgekommen ist und alles vorkehrt, um seine Identifikation und Verbringung in seinen Heimatstaat zu erschweren (Erklärung, die Schweiz nicht zu verlassen; Weigerung, mit Sprachspezialisten und der malischen Delegation in seiner Muttersprache zu kommunizieren usw.), kann seine Ausschaffung bzw. "seine selbständige und pflichtgemässe Ausreise" nicht als in absehbarer Zeit möglich gelten. Seine Ausschaffung bzw. die Möglichkeit einer freiwilligen Ausreise scheitert derzeit nicht (allein) an seinem Verhalten, sondern an einer zeitlich (noch) nicht absehbaren, vorübergehenden technischen Unmöglichkeit, nach Mali zurückzukehren. Weder kann der Beschwerdeführer freiwillig in die Heimat reisen, noch können die Behörden ihn zwangsweise dorthin verbringen, weil coronabedingt keine Flüge stattfinden bzw. Ein- oder Ausreisesperren bestehen. Es liegen damit technische Hindernisse vor, welche auch bei einer Kooperation des Beschwerdeführers nicht dazu führen würden, dass er in seine Heimat reisen oder dorthin verbracht werden könnte. Es wird vom Betroffenen mit dem Freiheitsentzug etwas verlangt, was zurzeit aus objektiven Gründen nicht zum bezweckten Ziel führen kann.
BGE 147 II 49 S. 58
5.2
Das Verwaltungsgericht hat bezüglich der Vollziehbarkeit implizit auf die maximal mögliche Dauer der Durchsetzungshaft abgestellt und festgehalten, dass eine freiwillige Rückkehr nach Mali aufgrund des Coronavirus vorübergehend "erschwert" sei. Prognosen über die weltweite Entwicklung der Situation betreffend COVID-19 seien sehr schwierig; ob sich die Lage in der Schweiz und in Mali wieder normalisieren werde und wann wieder Flüge stattfinden könnten, sei ungewiss, dennoch habe der Vollzug der Wegweisung als absehbar zu gelten. Ob dieser technisch möglich sei, spiele bei der Durchsetzungshaft keine entscheidende Rolle (vgl. diesbezüglich aber die vorstehende E. 4.2).
5.3
5.3.1
In seinem Amtsbericht konkretisiert das Staatssekretariat für Migration die Möglichkeit, den Beschwerdeführer in absehbarer Zeit nach Mali verbringen zu können, nur beschränkt. Es weist darauf hin, dass die Schweiz mit Mali kein Rückübernahmeabkommen habe, doch bestehe "seit Jahren" dennoch "eine gute operationelle Zusammenarbeit". Im letzten Jahr hätten acht Personen selbständig nach Mali zurückkehren können; eine zwangsweise Rückführung habe nicht stattgefunden. Diese Ausführungen beziehen sich nicht auf die konkrete Ausschaffungs- bzw. Ausreisemöglichkeit im Rahmen der verschiedenen sanitarischen Beschränkungen im Hinblick auf die COVID-19-Pandemie. Es ist gerichtsnotorisch, dass für den hier relevanten Zeitraum zahlreiche Staaten Einreise- und Ausreisebeschränkungen verfügt haben, um die Verbreitung des Coronavirus (COVID-19) einzudämmen, was zu erheblichen Beeinträchtigungen des internationalen Personenflugverkehrs geführt hat (vgl. das Urteil 2C_323/2020 vom 18. Juni 2020 E. 5.1).
5.3.2
Zur Problematik der Corona-Pandemie und den entsprechenden sanitarischen Massnahmen hält der Bericht fest, dass Mali - wie der Grossteil der afrikanischen Staaten - aufgrund der COVID-19-Pandemie den internationalen Flughafen Bamako Senou am 20. März 2020 für internationale Passagierflüge geschlossen habe. Erste afrikanische Länder (z.B. Äthiopien, Tansania) hätten inzwischen den Flugbetrieb wieder aufgenommen und einzelne Rückreisen ausreisepflichtiger Personen nach Afrika seien bereits erfolgt. Es sei - so das SEM weiter - "davon auszugehen, dass in absehbarer Zeit weitere Länder - so auch Mali - folgen werden". Dies genügt jedoch nicht, um hinreichend konkretisiert davon ausgehen zu können, dass die Ausschaffung bzw. Rückreise nach Mali in einer dem
BGE 147 II 49 S. 59
Einzelfall angemessenen Zeitspanne trotz der Corona-Pandemie möglich sein wird. Es handelt sich dabei um blosse Vermutungen; solche vermögen die Aufrechterhaltung der Haft des Beschwerdeführers nicht zu rechtfertigen (vgl. das Urteil 2C_442/2020 vom 24. Juni 2020 E. 5.3.2). Es finden sich in den Akten keine Hinweise, dass eine Rückreise des Beschwerdeführers nach Mali in absehbarer Zeit erfolgen könnte (vgl. das Urteil 2C_323/2020 vom 18. Juni 2020 E. 5.2). Dem Haftrichter lagen keine hinreichend konkreten Hinweise dafür vor, dass der Vollzug der Ausschaffung bzw. die freiwillige Rückkehr des Beschwerdeführers in absehbarer Frist wieder möglich sein könnte (vgl. die vorstehende E. 3.2).
5.4
5.4.1
Entgegen der Einschätzung der Vorinstanz handelte es sich bei der Absehbarkeit des Vollzugs der Wegweisung zum Zeitpunkt des angefochtenen Entscheids damit um eine bloss theoretische Möglichkeit im Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung (
BGE 130 II 56
E. 4.1.3 S. 61), auch wenn in der Schweiz und in Europa aufgrund der neueren Entwicklungen inzwischen gewisse Öffnungen erfolgt sind, die aber teilweise bereits wieder zurückgenommen werden mussten. Die vage Möglichkeit, dass ein technisches Vollzugshindernis potentiell in absehbarer Zeit entfallen könnte, genügt - wie dargelegt (vgl. vorstehende E. 3.2) - nicht, um eine ausländerrechtlich begründete Festhaltung aufrechtzuerhalten (Urteile 2C_442/ 2020 vom 24. Juni 2020 E. 5.3.3 und 2C_386/2020 vom 9. Juni 2020 E. 4.2.4;
BGE 125 II 217
E. 3b/bb S. 223 f.).
5.4.2
Die Vorinstanz hat in ihrer pflichtgemäss vorzunehmenden Prognose zudem nicht berücksichtigt, dass die Durchsetzungshaft des Beschwerdeführers seit Januar 2020 bereits wiederholt verlängert wurde und er sich zuvor bereits für einige Monate in ausländerrechtlicher Haft befunden hat. Diese ist zwar nicht auf die Maximaldauer von ausländerrechtlich begründeten Freiheitsentzügen von 18 Monaten anzurechnen (
Art. 79 Abs. 2 AIG
), da sich der Beschwerdeführer nach eigenen Angaben dazwischen wiederholt im Ausland aufgehalten hat; dennoch sind sie im Zusammenhang mit der Absehbarkeit des Wegweisungsvollzugs bzw. der Verhältnismässigkeit der Festhaltung des Beschwerdeführers von Bedeutung. Schliesslich macht der Beschwerdeführer geltend, in der Schweiz eine Tochter zu haben, was im Rahmen der persönlichen Verhältnisse durch die kantonalen Instanzen näher zu prüfen bzw. zu berücksichtigen gewesen wäre (vgl.
Art. 80 Abs. 4 AIG
).
BGE 147 II 49 S. 60
5.4.3
Nach dem Dargelegten bestanden im Zeitpunkt des angefochtenen Entscheids keine ernsthaften Aussichten darauf, dass sich der Vollzug der Wegweisung des Beschwerdeführers bzw. seine freiwillige Rückkehr innert einer vernünftigerweise absehbaren Frist technisch realisieren liessen. Die kantonalen Behörden hätten unter Berücksichtigung der konkreten Verhältnisse die Durchsetzungshaft des Beschwerdeführers deshalb nicht verlängern dürfen. Ihr gegenteiliges Vorgehen verletzt das Übermassverbot (vgl. das Urteil 2C_323/ 2020 vom 18. Juni 2020 E. 3.2;
BGE 140 II 409
E. 2.1 S. 411; je mit Hinweisen) sowie
Art. 5 Ziff. 1 lit. f EMRK
und
Art. 78 Abs. 6 lit. a AIG
. | de |
7aad1e34-ba25-455a-b930-a4e11a574a8d | Sachverhalt
ab Seite 292
BGE 136 II 291 S. 292
Am 15. Oktober 2007 ersuchte X. die Eidgenössische Spielbankenkommission (ESBK) darum, gewisse von ihr angebotene Pokerturniere als Geschicklichkeitsspiele zu qualifizieren, was die ESBK am 6. Dezember 2007 tat. Sie stellte in diesem und 23 weiteren Fällen fest, dass die geplanten "Texas Hold'em"-Turniere "unter Vorbehalt anderer rechtlicher, insbesondere kantonalrechtlicher, Bestimmungen und unter Vorbehalt anderer Auflagen" spielbankenrechtlich zulässig seien.
Hiergegen gelangten der Schweizer Casino Verband (SCV) und die Casino Zürichsee AG an das Bundesverwaltungsgericht, welches am 18. März 2008 ihr Gesuch um Erlass vorsorglicher Massnahmen abwies, was das Bundesgericht auf Beschwerde gegen diesen Zwischenentscheid hin am 13. August 2008 als nicht bundesrechtswidrig bezeichnete (Urteil 2C_309/2008). Am 30. Juni 2009 wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde in der Sache selber ab. Es begründete seinen Entscheid im Wesentlichen damit, dass bei mehreren Dutzend gespielten Händen die Geschicklichkeit des Einzelspielers bei den bewilligten "Texas Hold'em"-Turnieren derart an Bedeutung gewinne, "dass die Vorinstanz im Rahmen einer Gesamtwürdigung und des ihr zustehenden Beurteilungsspielraums ohne Verletzung von Bundesrecht" davon habe ausgehen dürfen, es handle sich dabei um ein Geschicklichkeitsspiel, welches nicht in den Geltungsbereich des Spielbankengesetzes falle. Die Turnierformate böten aufgrund ihrer Struktur den Spielern genügend Möglichkeiten, "die Auswirkungen von Kartenzuteilungen mit ungenügendem Erfolgspotential zu umgehen und damit den Glücksfaktor einzudämmen bzw. zu limitieren".
Das Bundesgericht heisst die vom Schweizer Casino Verband hiergegen eingereichte Beschwerde gut, hebt das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts auf und weist das Gesuch von X. ab.
(Zusammenfassung) Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
3.1
Nach
Art. 106 Abs. 1 BV
ist die Gesetzgebung über Glücksspiele und Lotterien Sache des Bundes. Für die Errichtung und den Betrieb einer Spielbank ist eine Konzession erforderlich, bei deren
BGE 136 II 291 S. 293
Erteilung den "Gefahren des Glücksspiels" Rechnung zu tragen ist (
Art. 106 Abs. 2 BV
; vgl. das Urteil 2C_61/2008 vom 28. Juli 2008 E. 1 ["Swissmania II"]). Das Bundesgesetz vom 18. Dezember 1998 über Glücksspiele und Spielbanken (Spielbankengesetz, SBG; SR 935.52) regelt das Glücksspiel um Geld oder andere geldwerte Vorteile (
Art. 1 Abs. 1 SBG
); vorbehalten bleiben die Vorschriften des Bundesgesetzes betreffend die Lotterien und die gewerbsmässigen Wetten (
Art. 1 Abs. 2 SBG
). Das Spielbankengesetz ist der Grunderlass der schweizerischen Glücksspielordnung und lex generalis zum Lotteriegesetz (vgl.
BGE 133 II 68
E. 3). Die Eidgenössische Spielbankenkommission hat die Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften zu überwachen und die zu deren Vollzug erforderlichen Verfügungen zu treffen (
Art. 48 Abs. 1 SBG
). Liegen Verletzungen des Gesetzes oder sonstige Missstände vor, ordnet sie die Massnahmen an, die ihr zur Herstellung des ordnungsgemässen Zustands und zur Beseitigung der Mängel notwendig erscheinen (
Art. 50 Abs. 1 SBG
). Gestützt auf diese - zur einheitlichen Durchsetzung des Bundesrechts weit gefasste - Zuständigkeit ist sie befugt, generell die Unterstellung von Aktivitäten unter das Gesetz zu prüfen und in diesem Sinn ein "Unterstellungsverfahren" durchzuführen. Da sie allgemein darüber wachen muss, dass die "gesetzlichen Vorschriften" eingehalten werden, ist die ihr übertragene Aufsicht nicht auf die Spielbanken beschränkt. Zu ihrem Aufgabenbereich gehört auch die Abklärung der spielbankenrechtlichen Relevanz anderer (Glücks-) Spiele, soweit deren Qualifikation umstritten ist bzw. zu Kontroversen Anlass gibt (Urteile 2A.438/2004 vom 1. Dezember 2004 E. 3.1.1 ["Tactilo/Touchlot"]; 2C_442/2007 vom 19. November 2007 E. 2 ["TropicalShop"]).
3.2
Der Beschwerdeführer macht geltend, die Spielbankenkommission sei nicht berechtigt gewesen, den umstrittenen Qualifikationsentscheid zu treffen, da der Verordnungsgeber für sie verbindlich "Poker" als Glücksspiel bewertet habe; hiervon habe die ESBK nicht abweichen dürfen. Seine Argumentation ist nicht zwingend: Gemäss
Art. 3 Abs. 4 SBG
erlässt der Bundesrat nach Anhören der Kantone Vorschriften über die Abgrenzung zwischen Glücks- und Geschicklichkeitsspielen. Er legt durch Verordnung fest, welche Spiele die Spielbanken anbieten dürfen, wobei er die "international gebräuchlichen Angebote" berücksichtigt (
Art. 4 Abs. 2 SBG
). Gestützt hierauf hat der Bundesrat die Verordnung vom 24. September 2004 über Glücksspiele und Spielbanken (Spielbankenverordnung, VSBG;
BGE 136 II 291 S. 294
SR 935.521) erlassen. Nach deren Art. 46 regelt das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD), welche Arten von Tischspielen die Spielbanken anbieten dürfen; es bestimmt zudem die für die Durchführung von Glücksspielturnieren in Spielbanken geltenden Bedingungen (
Art. 51 VSBG
). Zwar sieht
Art. 21 Abs. 1 der Verordnung des EJPD vom 24. September 2004 über Überwachungssysteme und Glücksspiele (Glücksspielverordnung, GSV; SR 935. 521.21)
vor, dass die Spielbanken "Poker" (lit. g) bzw. "Casino Stud Poker" (lit. h) als "Tischspiele" anbieten dürfen; hieraus kann aber nicht geschlossen werden, dass sämtliche Formen von Poker notwendigerweise als Glücksspiele gelten müssen. Nach
Art. 60 VSBG
kann die Spielbankenkommission, falls Zweifel bestehen, auf Antrag oder von sich aus entscheiden, ob ein nicht automatisiertes Spiel als Geschicklichkeits- oder als Glücksspiel zu qualifizieren ist. Diese Regelung steht auf der gleichen Rechtssatzstufe wie die Delegationsnorm von
Art. 46 VSBG
, wonach das Departement regelt, welche Arten von Tischspielen in den Spielbanken angeboten werden dürfen. Formellgesetzlich stützt sie sich direkt auf
Art. 3 Abs. 4 SBG
, welcher die Abgrenzung von Glücks- und Geschicklichkeitsspielen betrifft, und nicht wie
Art. 46 VSBG
lediglich auf
Art. 4 Abs. 2 SBG
, der als Grundlage dient, das zulässige Spielangebot in Casinos zu bezeichnen.
3.3
Art. 21 Abs. 1 GSV
steht einem Unterstellungsverfahren durch die Spielbankenkommission in Bezug auf gewisse Unterformen der dort genannten Glücksspiele deshalb nicht entgegen. Dies ergibt sich auch aus
Art. 21 Abs. 2 GSV
, der vorsieht, dass die Einführung von Varianten der in Absatz 1 genannten Spiele der Genehmigung der Kommission bedarf, was deren Rolle bei der Abgrenzung von Glücks- und Geschicklichkeitsspielen unterstreicht. Die ESBK ist als mit Fachleuten besetzte Aufsichtsbehörde zuständig, im Rahmen der Gesetzgebung darüber zu befinden, ob und unter welchen Bedingungen ein bestimmtes Spiel als Glücksspiel in den Anwendungsbereich des Spielbankengesetzes oder als Geschicklichkeits- oder Unterhaltungsspiel bzw. -gewerbe in den (subsidiären) Zuständigkeitsbereich der Kantone fällt. Sie ist als Fachbehörde operativ für den Vollzug des Spielbankengesetzes verantwortlich (
Art. 48 ff. SBG
; BBl 1997 III 145, 161 Ziff. 153.5). Der Gesetzgeber hat bewusst darauf verzichtet, die entsprechenden Aufgaben der Verwaltung zu übertragen. Der Grundauftrag der Kommission sei "sehr weit gefasst", wobei ihr die Kompetenz erteilt werde, "die zum
BGE 136 II 291 S. 295
Vollzug des Gesetzes notwendigen Verfügungen zu erlassen". Die Kommission müsse - so der Bundesrat - unabhängig arbeiten können, andernfalls sie in "schwierigen und heiklen Situationen kaum in der Lage sein" werde, "neutral und unabhängig auch unpopuläre Entscheide zu fällen, die für das Durchsetzen des vorliegenden Gesetzes mitunter erforderlich sein werden und die gegebenenfalls regionalwirtschaftliche und andere Interessen tangieren" könnten (vgl. BBl 1997 III 187 Ziff. 24). Die Qualifikation von Poker als in Casinos zulässiges Glücksspiel durch den Verordnungsgeber beschränkt die Vollzugskompetenzen der ESBK somit nicht; sie ist jedoch inhaltlich beim Qualifikationsentscheid selber zu berücksichtigen (vgl. unten E. 5.3).
4.
Glücksspiele sind Spiele, bei denen gegen Leistung eines Einsatzes ein Geldgewinn oder ein anderer geldwerter Vorteil in Aussicht steht, der ganz oder überwiegend vom Zufall abhängt (
Art. 3 Abs. 1 SBG
). Glücksspielautomaten sind Geräte, die ein Glücksspiel anbieten, das im Wesentlichen automatisch abläuft (
Art. 3 Abs. 2 SBG
). Geschicklichkeitsspielautomaten sind Geräte, die ein Geschicklichkeitsspiel anbieten, das im Wesentlichen automatisch abläuft und dessen Gewinn von der Geschicklichkeit des Spielers abhängt (
Art. 3 Abs. 3 SBG
). Das Spielbankengesetz bezweckt einen sicheren und transparenten Spielbetrieb (
Art. 2 Abs. 1 lit. a SBG
). Es will zudem die Kriminalität und die Geldwäscherei in oder durch Spielbanken verhindern (
Art. 2 Abs. 1 lit. b SBG
) und den sozialschädlichen Auswirkungen des Spielbetriebs vorbeugen (
Art. 2 Abs. 1 lit. c SBG
). Gemäss der Botschaft zum Spielbankengesetz geht es darum, "das Glücksspiel um Geld oder andere vermögenswerte Vorteile insgesamt zu erfassen und es - unter Vorbehalt der Vorschriften des Lotteriegesetzes - grundsätzlich auf konzessionierte Spielbanken zu konzentrieren" bzw. "sozial schädliche Auswirkungen des Spielbetriebs nach Möglichkeit zu verhüten; u.a. durch frühzeitige Erfassung gefährdeter Spieler und deren Fernhaltung vom Spielbetrieb sowie durch ein Verbot aufdringlicher Werbung für Spielbanken" (BBl 1997 III 156 f. Ziff. 152). Glücksspiele dürfen deshalb nur in konzessionierten Spielbanken angeboten werden (
Art. 4 Abs. 1 SBG
), womit - so der Bundesrat - das Glücksspiel um Geld oder andere vermögenswerte Vorteile "in die konzessionierten Spielbanken gezwungen" werde. Das gelegentliche Glücksspiel um Geld oder vermögenswerte Vorteile "im Familien- und Freundeskreis" fällt nicht unter das Gesetz (BBl 1997 III 170 Ziff. 22; vgl. auch die Antwort
BGE 136 II 291 S. 296
des Bundesrats auf die im Nationalrat am 3. März 2010 mit 94 gegen 76 Stimmen angenommene Motion Reimann "Entkriminalisierung des privaten Pokerspiels" [8.3060]).
5.
5.1
Die von den Vorinstanzen als überwiegend durch Geschicklichkeit geprägt beurteilten Turniere sehen in verschiedenen Formen "Texas Hold'em (No-Limit)"-Spiele mit mindestens 22 und maximal 77 Spielern vor, wobei kein "Rebuy/Add on" möglich ist ("Freeze out"), d.h. während des Turniers keine neuen Chips gekauft werden können. Für eine Summe von Fr. 110.- bis Fr. 550.- (Buy-In) erhält der einzelne Spieler 1'000 bzw. 2'000 Chips, mit denen er pokert. "Texas Hold'em" wird mit 52 Karten gespielt, wobei es darum geht, mit zwei eigenen (Hole Cards) und fünf nach und nach aufgedeckten gemeinschaftlichen Karten (Board Cards) die beste Hand (Pokerblatt) zu bilden. Vor und während des Aufdeckens der Karten wird jeweils gesetzt: Bei den sog. "Blinds" handelt es sich um Einsätze, welche die ersten beiden Spieler links vom Geber (Dealer) in jedem Fall zahlen müssen, bevor die Karten verteilt werden. Üblicherweise zahlen die Spieler links vom Geber den "Small Blind" und den "Big Blind", wobei der Einsatz des "Small Blinds" in der Regel der Hälfte des Einsatzes des "Big Blinds" entspricht; beide steigen je nach Spiellevel zusehends an. Nachdem die Mindesteinsätze auf dem Tisch liegen, erhalten alle Spieler vom Dealer ihre zwei Karten. Je nachdem, wie die folgenden Spieler das Erfolgspotential ihrer Karten und das Verhalten der Mitspieler einschätzen, können sie entweder aussteigen ("fold"), mitgehen ("call") oder erhöhen ("raise"). Die 1. Setzrunde ("pre-flop betting round") ist beendet, wenn alle Mitspieler mindestens die gleiche Menge Chips gesetzt oder den Ausstieg erklärt haben. Anschliessend werden auf dem Tisch drei Karten offen ausgelegt ("Flop"), worauf eine weitere Setzrunde folgt ("flop betting round"). Der Dealer legt eine vierte Karte offen ("Turn"), gefolgt von einer weiteren Setzrunde ("turn betting round"). Nun wird die letzte und fünfte Gemeinschaftskarte aufgedeckt ("River"), worauf die noch im Spiele stehenden Beteiligten erneut setzen ("river betting round"). Unmittelbar nach dem Ende dieser letzten Setzrunde werden die Karten aufgedeckt und sämtliche gesetzten Chips ("Pot") gehen an den Spieler mit dem besten Blatt von 5 Karten, welches aus den zwei eigenen und den fünf aufgedeckten Karten gebildet werden kann. Ist vor dem "Showdown" nur noch ein Spieler übrig (alle andern haben gepasst:
BGE 136 II 291 S. 297
"gefoldet"), gewinnt dieser den Pot, ohne dass er seine Karten offenlegen muss. Beim Turnierspiel beginnt hierauf der nächste Durchgang, verliert ein Spieler alle seine Chips, scheidet er aus dem Turnier aus. Aus der umgekehrten Reihenfolge des Ausscheidens ergibt sich die Turnierliste. Die Gewinner teilen sich die aus den Buy-Ins gebildete Geldsumme in einem nach der Teilnehmerzahl abgestuften System auf.
5.2
5.2.1
Die Vorinstanzen sind davon ausgegangen, es handle sich dabei um ein Spiel, das nicht ganz oder überwiegend vom Zufall abhänge, sondern weitgehend durch die Geschicklichkeit des Spielers geprägt werde. Diese Einschätzung überzeugt nicht: Die ESBK und das Bundesverwaltungsgericht haben sich bei ihrer Beurteilung auf verschiedene Abgrenzungskriterien gestützt (Gewinnmöglichkeiten bei Blindspiel, Lerneffekt, Unterhaltungswert usw.), welche das Bundesgericht in seiner Praxis zu den automatisierten Spielen entwickelt hat; diese eignen sich indessen nur beschränkt für die Abgrenzung von Tischspielen und tragen dem Sinn und Zweck der Spielbankengesetzgebung in diesem Zusammenhang zu wenig Rechnung. Das Pokern wird im Wesentlichen durch die Verteilung der Karten und das auf nur beschränkten Kenntnissen (eigene und aufgedeckte Karten, allenfalls Bluff) beruhende Setzverhalten der Gegenspieler, d.h. durch kaum kontrollierbare, zufallsabhängige Faktoren bestimmt. Richtig ist, wie dies die Vorinstanzen unterstrichen haben, dass Kenntnisse und Fertigkeiten des Spielers den Ausgang
mit
beeinflussen und dass ein einzelnes Turnier
gesamthaft
als Spiel zu gelten hat, da die geldwerte Leistung zu dessen Beginn bezahlt wird und erst nach Abschluss des Turniers feststeht, wer sich letztlich für einen der Gewinnplätze qualifiziert. Zwar kann ein Spieler mit Taktik, mathematischen Fähigkeiten, einem guten Gedächtnis, Konzentrationsfähigkeit, Lernfähigkeit, schauspielerischem Talent, psychologischem Geschick und einer klugen Risikoeinschätzung das Spiel in einem gewissen Mass zu seinen Gunsten beeinflussen, doch bestehen keine definitiven Daten dazu, in welchem Umfang diese Elemente tatsächlich den für den Spielausgang wesentlichen Zufall überwiegen. Die Abklärungen und Testspiele der ESBK weisen nur darauf hin, dass bei "Texas Hold'em"-Pokerturnieren nicht ausschliesslich Glück im Spiel ist, sondern auch der Eignung und Fähigkeit sowie der Erfahrung der einzelnen Spieler eine gewisse Bedeutung zukommt. Die Testserien der Spielbankenkommission und ihre Hypothesen
BGE 136 II 291 S. 298
vermögen jedoch nicht zu belegen, dass diese Umstände das Zufallselement
überwiegen
.
5.2.2
In Deutschland werden bei einer ähnlichen gesetzlichen Definition wie in der Schweiz (vgl. MARTIN BAHR, Glücks- und Gewinnspielrecht, Berlin 2007, S. 37 ff.) Pokerturniere der vorliegenden Art mehrheitlich als Glücksspiele qualifiziert (vgl. MARK HARLAN, Texas Hold'em für Dummies, 2007, S. 39 f.), da diese generell zufallsbezogen seien: Trotz der dem Pokerspiel eigenen Möglichkeit, den Ausgang des Spiels durch geschicktes Taktieren zu beeinflussen, hänge das Spiel nach wie vor davon ab, ob die zufällig erhaltenen Karten geeignet seien, eine gewinnträchtige Pokerhand zu bilden. Der weitere Spielverlauf werde dadurch bestimmt, dass jeder Mitspieler nur die eigenen und - in der Variante "Texas Hold'em" - die aufgedeckten Gemeinschaftskarten kenne. Dabei handle es sich insgesamt um so wenige Elemente, dass zuverlässige Vorhersagen über die Qualität der Karten der Mitspieler bloss sehr beschränkt möglich seien. Der Reiz des Spiels bestehe darin, aus dem Verhalten der übrigen Beteiligten, insbesondere ihren Einsätzen, Vermutungen über die Qualität ihrer Karten anzustellen, deren Richtigkeit weitere Zufallselemente beinhalte. Der Erfolg eines Bluffs hänge massgeblich von den Reaktionen der Mitspieler und damit ebenfalls vom Zufall ab. Dass mathematische Kenntnisse (Wahrscheinlichkeitsrechnungen), strategisches Geschick und psychologische Fähigkeiten für den Erfolg von Nutzen seien, ändere nichts daran, dass die vorhandenen Zufallselemente die Fähigkeiten und Erfahrungen eines Durchschnittsspielers für den Erfolg überwögen (statt vieler: Beschluss des OVG Lüneburg vom 10. August 2009 im Verfahren 11 [ME 67/09 S. 4]; Beschluss des OVG Berlin-Brandenburg vom 20. April 2009 [1 S 203.08] Rz. 7; Beschluss Oberlandesgericht NRW vom 10. Juni 2008 [4 B 606/08] Rz. 15; abweichend: Urteil des Landgerichts Karlsruhe vom 9. Januar 2009 [Ns 97 14968/07, 18 AK 127/08]). Trotz teilweise kritischer Würdigung dieser Rechtsprechung in der Literatur (HAMBACH/HETTICH/KRUIS, Verabschiedet sich Poker aus dem Glücksspielrecht?, in: Medien und Recht, Internationale Edition, 2/2009 S. 41 ff. mit weiteren Hinweisen; BERND HOLZNAGEL, Poker - Glücks- oder Geschicklichkeitsspiel?, in: MultiMedia und Recht [MMR] 7/2008 S. 439 ff.; die Praxis eher verteidigend: MEYER/HAYER, Poker - Glücksspiel mit Geschicklichkeitsanteil und Suchtpotential, in: Zeitschrift für Wett- und Glücksspielrecht [ZfWG] 2008 S. 153 ff., dort S. 160) hat die ESBK diese Überlegungen durch
BGE 136 II 291 S. 299
ihre nicht wissenschaftlich durchgeführte Testspielreihe nicht zu entkräften vermocht.
5.2.3
Zum gleichen Resultat wie die deutschen Gerichte ist gestützt auf ein Fachgutachten auch der österreichische Verwaltungsgerichtshof gekommen: Die Wahrscheinlichkeit, eine gewünschte bzw. erhoffte Kombination von zwei bzw. fünf Karten zu erhalten, sei enorm klein. Auf der Basis dieser (geringen) Wahrscheinlichkeiten seien die Einschätzungen über die (verdeckten) Karten der Mitspieler vorzunehmen, weshalb bei "Texas Hold'em" der Zufallsfaktor überwiege. Auch wenn ein Spieler allenfalls durch Bluffen selbst bei schlechten Karten ein günstiges Spielergebnis erzielen könne und er seine spieltechnischen Entscheidungen nicht nur von den mathematischen Wahrscheinlichkeiten abhängig mache, welches Blatt seine Mitspieler durch die offen zugeteilten Karten haben könnten, sondern sich auch von deren Verhalten während des Spiels leiten lasse, stehe der Charakter als Glücksspiel doch im Vordergrund. Denn bei der "von der Sachverständigen dargestellten ausgesprochen kleinen Wahrscheinlichkeit hinsichtlich bestimmter Kombinationen entscheide letztlich tatsächlich vorwiegend der Zufall in Form der den Mitspielern zugeteilten Karten über den Ausgang des Spiels" (Urteil vom 8. September 2005 [2000/17/0201], Ziff. 2.3 S. 5 f.). Der Verwaltungsgerichtshof hat diese Praxis jüngst bestätigt (Urteil vom 20. Oktober 2009 [2008/05/0045] S. 2).
5.3
5.3.1
Der Entscheid der Vorinstanzen unterschätzt die Bedeutung von Sinn und Zweck der Spielbankengesetzgebung bei deren Auslegung: Poker bezeichnet traditionellerweise eine Familie von Glücksspielen, die normalerweise mit Pokerkarten des angloamerikanischen Blatts zu 52 Karten gespielt wird. Von diesem klassischen Verständnis ist der Gesetzgeber ausgegangen, als er den Bundesrat beauftragte, bei der Bestimmung der in den Casinos zulässigen Glücksspiele, die diesbezüglich "international gebräuchlichen Angebote zu berücksichtigen" (
Art. 4 Abs. 2 SBG
). Das EJPD hat dies in
Art. 21 GSV
getan, wenn es dort das Pokerspiel als den Spielbanken gestattetes Tischspiel bezeichnete. Dies schliesst für gewisse Spielformen eine andere Einschätzung durch die Spielbankenkommission zwar nicht zwingend aus, doch muss sich diese auf eine sichere Datenbasis stützen können, die es nahelegt, dass mit ihrem entsprechenden (negativen) Qualifikationsentscheid die vom Gesetzgeber mit der bundesrechtlichen Spielbankenregelung bezweckten
BGE 136 II 291 S. 300
Ziele nicht oder zumindest nicht grundlegend in Frage gestellt werden. Nur soweit diese nicht oder nicht wesentlich gefährdet erscheinen, so dass die subsidiären kantonalen Polizeikompetenzen zum Schutz der öffentlichen Interessen genügen, kann - in Abweichung von einer historischen bzw. teleologisch-systematischen - eine den neuen Umständen angepasste geltungszeitliche Auslegung von
Art. 3 Abs. 1 SBG
überhaupt in Betracht fallen.
5.3.2
Aus der bundesrätlichen Botschaft - welche im Parlament diesbezüglich unbestritten blieb - ergibt sich, dass im Rahmen der Bundeskompetenz das Glücksspiel um Geld oder andere vermögenswerte Vorteile "insgesamt" erfasst und auf die konzessionierten Spielbanken "konzentriert" werden sollte. Damit wollte der Gesetzgeber einen sicheren, überwachten Spielbetrieb gewährleisten, die organisierte Kriminalität und die Geldwäscherei im Umfeld von Geldspielen verhindern und sozial schädlichen Auswirkungen des Spielbetriebs nach Möglichkeit vorbeugen. Mit der Übertragung der Kompetenzen einer bestimmten Form von Poker auf die Kantone würden diese Vorgaben praktisch vereitelt und die Kantone verpflichtet, in Abweichung vom SBG eigene fachkundige Bewilligungs- und Überwachungsstrukturen aufzubauen oder das öffentliche Anbieten entsprechender Geldturniere ausserhalb von Casinos ganz zu verbieten. Die durch das Spielbankengesetz im öffentlichen Interesse angestrebte Vereinheitlichung und Bereinigung der Glücksspiellandschaft auf Ebene des Bundes würde dadurch - im schlimmsten Fall - zugunsten von 26 kantonalen Regelungen rückgängig gemacht. Zu Recht weist der Beschwerdeführer darauf hin, dass der Gesetzgeber im Gegensatz hierzu die Rahmenbedingungen des Geldspielmarktes vielmehr gerade so setzen wollte, "dass für alle Beteiligten stabile und berechenbare Verhältnisse entstehen und die Schutzziele des Gesetzes optimal erreicht werden können" (so BBl 1997 III 157 Ziff. 152). Die von der ESBK mit ihrer Praxis vorgenommene Öffnung ist hiermit unvereinbar: Die Einstufung von gewissen Pokerformen als Geschicklichkeitsspiel ohne klare wissenschaftliche Grundlage bzw. ohne einen (neuen) gesetzgeberischen Entscheid führt zu einer unkontrollierten Öffnung des Marktes für private Anbieter von öffentlichen Geldspielen und einer Zunahme der Spielanreize ausserhalb des kontrollierten und bundesrechtlich regulierten Rahmens.
5.3.3
Richtig ist, dass sich die Frage, wann der gegen Leistung eines Einsatzes in Aussicht gestellte Geldgewinn oder andere
BGE 136 II 291 S. 301
geldwerte Vorteil ganz oder überwiegend vom Zufall und wann in hinreichendem Masse von der Geschicklichkeit eines Spielers abhängt, nicht aufgrund eines einzigen Kriteriums entscheiden lässt und die Einschätzung auf einer Gesamtwürdigung beruhen muss. Eine scharfe Trennung zwischen Glücks- und Geschicklichkeitsspiel ist meist nicht möglich, da der Ausgang eines Spiels bzw. der Entscheid über den Geldgewinn regelmässig von verschiedenen, durch den Spieler in unterschiedlichem Masse beeinflussbaren Faktoren abhängt (
BGE 131 II 680
E. 5.2.1 "Gemischte Spiele"). Im vorliegenden Zusammenhang haben die Vorinstanzen in Anlehnung an die Kriterien zur Abgrenzung von Spielautomaten zwar zahlreiche Aspekte geprüft, indessen gerade das gesetzlich vorgegebene Hauptkriterium zu wenig gewichtet: Nach
Art. 60 Abs. 2 VSBG
soll die Kommission bei ihrem Entscheid über die Natur des nicht automatisierten Spiels darauf abstellen, "ob sich ein Spiel zum Glücksspiel eignet oder leicht zum Glücksspiel verwenden lässt". Dies ist im Lichte der Schutzzwecke des Spielbankengesetzes beim öffentlichen Anbieten von "Texas Hold'em"-Turnieren der Fall, auch wenn bei der Turnierform ohne "Rebuy" der Geschicklichkeit eine grössere Bedeutung zukommen mag als bei den "Cash Games". In der Literatur wird aufgrund allgemeinpsychologischer Phänomene wie "Kontrollillusion" und "flexibler Attribution von Gewinn- und Verlusterlebnissen" in Verbindung mit der Detailanalyse des Spielablaufs angenommen, dass Poker auch in der Turnierform als ein Glücksspiel (mit Geschicklichkeitsanteilen) anzusehen sei; die verfügbaren Befunde wiesen zudem darauf hin, dass vom Pokerspiel grundsätzlich erhebliche Suchtgefahren ausgingen. Auch wenn das Suchtpotential von öffentlich zugänglichen Pokerturnieren mit Einsatz- und Gewinnbeschränkungen für sich genommen als "gering" eingestuft werden könne, führe es doch gewisse Zielgruppen "unter dem Deckmantel eines harmlosen Freizeitvergnügens" an das (unkontrollierte) Pokerspiel heran, weshalb die "Erkenntnisse für die Notwendigkeit einer transparenten Regulierung des Pokermarktes" sprächen (so MEYER/ HAYER, a.a.O., S. 160). Mit dem Entscheid der ESBK wird ein transparent regulierter Pokermarkt vereitelt, ohne dass hierfür ein hinreichender sachlicher Grund spräche.
5.3.4
Entgegen der Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts kann ein solcher nicht im "Grundsatz der Eigenverantwortlichkeit" und dem Argument gesehen werden, dass nicht alle Spiele, die sozialschädliche Auswirkungen haben könnten, automatisch als
BGE 136 II 291 S. 302
Glücksspiele qualifiziert werden dürften: Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung sind bei jeder Auslegung von grundlegender Bedeutung und müssen bei den offenen Formulierungen zur Abgrenzung von Glücks- und Geschicklichkeitsspielen vorab berücksichtigt werden - dies gilt umso mehr, wenn wie hier eine Form eines international als Glücksspiel bekannten Tischspiels aus der Bundesaufsicht entlassen werden soll, wobei mangels effizienter Kontrollmöglichkeiten eine relativ grosse Gefahr besteht, dass in leichter Abweichung von dem von der ESBK vorgegebenen Spielrahmen ausserhalb von Casinos im Glücksspielbereich gepokert wird. Die Begründung des Bundesverwaltungsgerichts überzeugt auch insofern nicht, als es darauf hinweist, dass die ESBK den Aspekten des Sozialschutzes durch "strenge technische Kriterien" Rechnung getragen habe. Die entsprechenden Vorgaben sind ohne Fachstrukturen durch die Kantone nicht sinnvoll kontrollierbar, was dafür spricht, nicht einzelne Spielformen eines Glücksspiels ohne Not aus dem bundesgesetzlichen Schutzdispositiv zu lösen und dessen Wirksamkeit durch nur schwer praktikable Abgrenzungskriterien zu belasten. Letztlich zweifelt auch die Vorinstanz an der Richtigkeit ihres Entscheids, wenn sie ausführt, dass Turnierformate der vorliegenden Art mit Buy-Ins bis zu Fr. 500.- unter dem Aspekt des Sozialschutzes, um den es gehe, "nicht als alarmierend" erschienen, dies aber anders sein könnte, "wenn die Pokerturnierveranstalter Spiele mehrmals pro Woche anböten", was inzwischen - auch mit Blick auf die Anzahl der bereits ergangenen Qualifikationsverfügungen - der Fall ist. Die Argumentation übersieht zudem, dass der Sozialschutz nur eines der vom Gesetzgeber angestrebten Ziele war; das Glücksspiel soll unter fairen, kontrollierten und überprüfbaren Bedingungen (Manipulation von Karten, Täuschungen, Kriminalitätsbekämpfung usw.) betrieben und die Geldwäscherei bekämpft werden. Wenig überzeugend erscheint der angefochtene Entscheid auch insofern, als er ausdrücklich vorsieht, dass die Vorinstanz ihre Checkliste im Hinblick auf künftige Qualifikationsentscheide überarbeiten und ihre Praxis gegebenenfalls regelmässig überprüfen müsse; dies führt notwendigerweise zu Rechtsungleichheiten und Rechtsunsicherheiten, die durch den Erlass des Spielbankengesetzes gerade verhindert werden sollten. Der Verweis auf Jassturniere, die ebenfalls als Glücksspiele gelten müssten, weil bei der Kartenzuteilung "eine gewisse Glückskomponente" bestehe, geht insofern an der Sache vorbei, als die Geschicklichkeit das Glück überwiegen muss, d.h. nicht jede
BGE 136 II 291 S. 303
Zufallskomponente ein Spiel automatisch zum Glücksspiel macht, und bei der Bezeichnung der Glücksspiele auch auf das begriffliche Vorverständnis des Gesetzgebers zurückgegriffen werden darf. Nicht öffentliche Pokerturniere von "Texas Hold'em" um Geld oder eine geldwerte Leistung im Freundes- oder Familienkreis sind ebenso zulässig wie entsprechende Jassturniere; nur im Rahmen von Casinos kann jedoch gewerblich bzw. öffentlich gepokert werden.
6.
6.1
Die Beschwerde ist somit gutzuheissen, der angefochtene Entscheid, weil bundesrechtswidrig, aufzuheben und das von der Beschwerdegegnerin an die ESBK gerichtete Gesuch abzuweisen. Wie das Bundesgericht bereits in seinem Urteil vom 13. August 2008 festgestellt hat, haben alle Organisatoren von "Texas Hold'em"-Pokerturnieren diese auf "eigenes Risiko" hin lanciert. Sollten sich gestützt darauf, dass das Bundesverwaltungsgericht keine vorsorglichen Massnahmen getroffen und die ESBK weitere mit dem vorliegenden Urteil unvereinbare Feststellungsverfügungen erlassen hat, bereits gewisse öffentliche Spielstrukturen herausgebildet haben (professionelle Organisation von Turnieren, Gründung von Gesellschaften, Investitionen usw.), müssen diese - wie damals als Konsequenz einer allfälligen Gutheissung der Beschwerde in Aussicht gestellt - rückgängig gemacht werden (Urteil 2C_309/2008 vom 13. August 2008 E. 5.3.4). | de |
2b451895-1e55-4886-a9af-d79535e75a3e | Sachverhalt
ab Seite 329
BGE 139 II 328 S. 329
A.
A.a
Am 2. Februar 2010 eröffnete das Sekretariat der Wettbewerbskommission (WEKO) eine Untersuchung gemäss
Art. 27 des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 1995 über Kartelle und andere Wettbewerbsbeschränkungen (Kartellgesetz, KG; SR 251)
gegen die Aktiengesellschaft Hallenstadion Zürich (nachfolgend: AGH) und die Ticketcorner AG betreffend den Vertrieb von Tickets im Hallenstadion Zürich.
A.b
Der Gegenstand der Untersuchung lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die AGH sieht in ihren Allgemeinen
BGE 139 II 328 S. 330
Geschäftsbedingungen (AGB; Stand: 2011) vor, dass Veranstalter verpflichtet sind, der AGH ein Kontingent von mindestens 50 Prozent der Tickets aus sämtlichen Kategorien zu Standardkonditionen in Konsignation zur Verfügung zu stellen. Ticketing-Partner der AGH ist die Ticketcorner AG. Die von ihnen getroffene Kooperationsvereinbarung sieht vor, dass mindestens 50 Prozent aller Tickets für Veranstaltungen im Hallenstadion durch die Ticketcorner AG vertrieben werden. Diese 50 %-Klauseln in den AGB und der Kooperationsvereinbarung wirken sich nach den Erkenntnissen im Untersuchungsverfahren wie 100 %-Klauseln aus. Das bedeutet, dass Veranstalter zwar die Möglichkeit hätten, mehrere Ticketvertriebsunternehmen mit dem Ticketvertrieb für Veranstaltungen im Hallenstadion zu betrauen, davon jedoch regelmässig absehen.
A.c
Im Untersuchungsverfahren räumte das Sekretariat der WEKO der Starticket AG, der Ticketino AG und der ticketportal AG Parteistellung nach
Art. 6 des Bundesgesetzes vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren (Verwaltungsverfahrensgesetz, VwVG; SR 172.021)
ein.
B.
Mit Verfügung vom 14. November 2011 stellte die WEKO die Untersuchung ein. Dagegen erhoben die Starticket AG, die Ticketino AG und die ticketportal AG Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht. Dieses trat mit Urteil vom 19. September 2012 mangels Beschwerdebefugnis nicht auf die Beschwerde ein.
C.
Vor Bundesgericht beantragen die Starticket AG, die Ticketino AG und die ticketportal AG, das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. September 2012 aufzuheben und die Vorinstanz anzuweisen, auf die Beschwerde vom 23. Januar 2012 einzutreten und die materiellen Rügen zu behandeln, eventualiter die Vorinstanz anzuweisen, das Verfahren zur Neubeurteilung an die WEKO zurückzuweisen. (...)
In teilweiser Gutheissung der Beschwerde hebt das Bundesgericht den angefochtenen Entscheid insoweit auf und weist die Sache zu neuer Entscheidung an das Bundesverwaltungsgericht zurück, als der Starticket AG (Beschwerdeführerin 1) und der ticketportal AG (Beschwerdeführerin 3) die Beschwerdebefugnis abgesprochen worden ist.
(Auszug) Erwägungen
BGE 139 II 328 S. 331
Aus den Erwägungen:
2.
2.1
Die Vorinstanz hat die Beschwerdebefugnis anhand von
Art. 48 VwVG
geprüft. Wo Wettbewerbsbeschränkungen strittig seien, könne eine Beschwerdebefugnis des Konkurrenten nur bejaht werden, wenn zusätzlich zur Konkurrenzsituation eine erhebliche Behinderung der wirtschaftlichen Position durch die wettbewerbsbeschränkende Massnahme hinzutrete. Aus der (Einstellungs-)Verfügung der WEKO ergebe sich, dass die Beschwerdeführerinnen nicht erheblich im Wettbewerb unter den Ticketleistungsanbietern behindert seien, auch wenn sie durch das Auftreten der Ticketcorner AG möglicherweise einen wirtschaftlichen Nachteil erleiden würden. Die durch die 50 %-Klauseln eingeräumte privilegierte Stellung der Ticketcorner AG führe bei den Beschwerdeführerinnen nicht zu einem erheblichen Nachteil, der eine besondere, nahe Beziehung der Beschwerdeführerinnen zur Streitsache schaffen würde. Das Kartellrecht als solches vermittle die erforderliche Beziehungsnähe nicht, da es den freien Wettbewerb an sich, nicht aber die einzelnen Konkurrenten voreinander schütze. Die Beschwerdebefugnis sei daher zu verneinen.
2.2
Die Beschwerdeführerinnen rügen eine bundesrechtswidrige Aberkennung der Beschwerdebefugnis. Dabei habe die Vorinstanz den Sachverhalt offensichtlich falsch festgestellt, wenn sie die erhebliche Behinderung im Wettbewerb mit der Begründung verneine, dass etliche Veranstalter mit zwei verschiedenen Ticketanbietern zusammenarbeiten würden. Die Beschwerdeführerinnen seien in ihrem durch das Kartellgesetz geschützten Anspruch auf Teilnahme am Wettbewerb beeinträchtigt. Eine besondere Nähe zum Streitgegenstand ergebe sich dadurch, dass dieser Anspruch der Beschwerdeführerinnen bzw. Konkurrentinnen durch wettbewerbsbeschränkende Praktiken verletzt werde. Entscheidend sei, dass die Beschwerdeführerinnen durch diese Praktiken vom Wettbewerb ausgeschlossen seien bzw. faktisch nicht in den Markt eintreten könnten. Zu Unrecht setze sich die Vorinstanz darüber hinweg, dass bereits die WEKO den Beschwerdeführerinnen Parteistellung zuerkannt habe. Zudem vermische die Vorinstanz (materielle) Kriterien der kartellrechtlichen Zulässigkeit mit den (formellen) Kriterien der Beschwerdebefugnis. Schliesslich habe die Vorinstanz verkannt, dass die Schlussfolgerungen der WEKO betreffend Marktabgrenzung und
BGE 139 II 328 S. 332
Marktanteilen unzutreffend bzw. unvollständig seien. Bereits die WEKO habe eine falsche Eingrenzung der relevanten Märkte vorgenommen.
2.3
Die Beschwerdegegnerinnen wenden ein, es gehe vorliegend allein darum, ob die Beschwerdeführerinnen eine deutlich spürbare Verschlechterung ihrer Wettbewerbsposition und damit einen deutlich spürbaren wirtschaftlichen Nachteil erleiden würden. Zu Recht habe die Vorinstanz dies verneint. Es gelinge den Beschwerdeführerinnen nicht, eine konkrete, deutlich spürbare Behinderung der wirtschaftlichen Position, d.h. einen kausalen Umsatzrückgang, nachzuweisen. Nicht entscheidend sei, ob die Beschwerdeführerinnen im Verfahren vor der WEKO als Parteien eingestuft worden seien, zumal das Sekretariat der WEKO diese Frage nur oberflächlich geprüft habe. Soweit die Beschwerdeführerinnen ihre privaten Interessen durchsetzen wollen, stehe ihnen der Zivilrechtsweg offen (
Art. 12 ff. KG
). Die weiteren von den Beschwerdeführerinnen erhobenen Sachverhalts- und materiell-rechtlichen Rügen seien für die Eintretensfrage nicht wesentlich.
3.
3.1
Auf die kartellverwaltungsrechtlichen Verfahren sind die Bestimmungen des Verwaltungsverfahrensgesetzes anwendbar, soweit das Kartellgesetz nicht davon abweicht (
Art. 39 KG
;
BGE 137 II 199
E. 6.4 S. 218). Das Kartellgesetz enthält keine Bestimmung (mehr) zum Beschwerdeverfahren (vgl. aArt. 44 KG [AS 1996 558]) und regelt namentlich die Beschwerdebefugnis nicht ausdrücklich. Es gilt daher für das Verfahren vor der Vorinstanz grundsätzlich die allgemeine Ordnung des
Art. 48 VwVG
(vgl.
Art. 37 VGG
[SR 173.32]; Botschaft vom 23. November 1994 zu einem Bundesgesetz über Kartelle und andere Wettbewerbsbeschränkungen [nachfolgend: Botschaft Kartellgesetz], BBl 1995 I 468, 617 Ziff. 256.6; VINCENT MARTENET, in: Commentaire romand, Droit de la concurrence, 2. Aufl. 2013, N. 132 zu
Art. 39 KG
; PETER HÄNNI, in: Basler Kommentar, Kartellgesetz, 2010, N. 19 ff. zu Nach
Art. 43 KG
; PAUL RICHLI, Kartellverwaltungsverfahren, in: Kartellrecht, SIWR Bd. V/2, 2000, S. 417 ff., 506 ff.).
3.2
Gemäss
Art. 48 Abs. 1 VwVG
ist zur Beschwerde berechtigt, wer vor der Vorinstanz am Verfahren teilgenommen oder keine Möglichkeit zur Teilnahme erhalten hat, durch die angefochtene Verfügung besonders berührt ist und ein schutzwürdiges Interesse an
BGE 139 II 328 S. 333
deren Aufhebung oder Änderung hat. Nach
Art. 48 Abs. 2 VwVG
sind ferner jene Personen, Organisationen und Behörden zur Beschwerde berechtigt, denen ein anderes Bundesgesetz dieses Recht einräumt. Eine Konstellation im Sinne von
Art. 48 Abs. 2 VwVG
besteht vorliegend nicht. Die Beschwerdebefugnis beurteilt sich somit nach
Art. 48 Abs. 1 VwVG
, der
Art. 89 Abs. 1 BGG
entspricht und in Anlehnung an diesen auszulegen ist (
BGE 139 II 279
E. 2.2; Urteile 2C_94/2012 vom 3. Juli 2012 E. 2.1; 9C_823/2011 vom 23. März 2012 E. 1.3).
3.3
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts (Urteil 2C_485/2010 vom 3. Juli 2012 E. 1.2.4, nicht publ. in:
BGE 138 I 378
, mit Hinweis auf
BGE 127 II 264
E. 2c S. 269;
BGE 125 I 7
E. 3d S. 9) sind Konkurrenten nicht schon aufgrund der blossen Befürchtung, einer verstärkten Konkurrenz ausgesetzt zu sein, beschwerdebefugt; diese Art des Berührtseins liegt vielmehr im Prinzip des freien Wettbewerbs. Erforderlich ist eine schutzwürdige besondere Beziehungsnähe, die sich aus der einschlägigen gesetzlichen Ordnung ergibt. So kann ein schutzwürdiges Interesse für Konkurrenten in Wirtschaftszweigen vorliegen, in welchen sie durch wirtschaftspolitische oder sonstige spezielle Regelungen in eine solche besondere Beziehungsnähe untereinander versetzt werden (Urteil 2C_694/2009 vom 20. Mai 2010 E. 1.1, nicht publ. in:
BGE 136 II 291
; vgl. auch
BGE 135 II 243
E. 1.2 S. 246 f.; MOOR/POLTIER, Droit administratif, Bd. II, 3. Aufl. 2011, S. 740). Ferner ist ein Konkurrent beschwerdebefugt, soweit er geltend macht, andere Konkurrenten würden privilegiert behandelt. Hingegen kann das blosse allgemeine Interesse der Konkurrenten, dass die für alle geltenden Vorschriften gegenüber den anderen Wirtschaftsteilnehmern korrekt angewendet werden, keine Beschwerdebefugnis begründen (
BGE 125 I 7
E. 3g/bb S. 11 f.;
BGE 123 II 376
E. 4b/bb S. 380 f.), und zwar auch nicht zugunsten der Konkurrenten, welche befürchten, infolge einer angeblich rechtswidrigen Zulassung neuer Produkte einen Umsatzrückgang zu erleiden (
BGE 123 II 376
E. 5b S. 382 ff.; Urteil 2C_348/2011 vom 22. August 2011 E. 2.3). Konkurrenten sind sodann nicht beschwerdebefugt, wenn sie nicht eine Dritten zugestandene Begünstigung rügen, sondern im Gegenteil verhindern wollen, dass - ohne Vorliegen einer "Schutznorm" im genannten Sinne - Dritten das zugestanden wird, was ihnen auch zusteht (
BGE 131 I 198
E. 2.6 S. 203 ff.).
3.4
Das Bundesgericht hatte bisher nicht zu entscheiden, ob die Kartellgesetzgebung die Konkurrenten untereinander in eine besondere
BGE 139 II 328 S. 334
Beziehungsnähe versetzt. Allerdings hat das Bundesgericht mit Bezug auf die Konkurrentenbeschwerde im Bereich des Versicherungswesens darauf hingewiesen, dass die Interessen der Konkurrenten an einem wirksamen Wettbewerb über das Wettbewerbsrecht und insbesondere die Kartellgesetzgebung geschützt werden (
BGE 138 I 378
E. 9.4 S. 401; Urteil 2C_94/2012 vom 3. Juli 2012 E. 2.10). Im Rahmen einer verfassungskonformen Auslegung des
Art. 48 VwVG
ist zu berücksichtigen, dass die Konkurrentenbeschwerde im Bereich der Kartellgesetzgebung dazu beiträgt, die wirtschaftliche Handlungsfreiheit der Konkurrenten (Art. 27 i.V.m.
Art. 35 Abs. 3 BV
) und damit wirksamen Wettbewerb zu gewährleisten (
Art. 96 BV
). Während sich Konkurrenten gegen staatliche Wettbewerbsverzerrungen unter Anrufung des Grundsatzes der Gleichbehandlung der Konkurrenten zur Wehr setzen können (vgl.
BGE 138 I 378
E. 6.1 S. 385;
BGE 136 I 1
E. 4.4 S. 16 f. mit Hinweisen), gewährleistet das Kartellgesetz den wirksamen Wettbewerb zwischen Marktteilnehmern. Das spiegelt sich im Regelungszweck der Kartellgesetzgebung wider, die den Wettbewerb als Institution wie auch die Persönlichkeit der einzelnen Wettbewerbsteilnehmer schützt (
BGE 139 I 72
E. 10.1.2 und 10.4.2 S. 103 f. und 108 f.;
BGE 129 II 18
E. 5.2.1 S. 24,
BGE 129 II 497
E. 6.4.2 S. 538). Spricht ansonsten das Prinzip des freien Wettbewerbs und seine verfassungsrechtliche Anerkennung gegen die besondere Beziehungsnähe unter den Konkurrenten, verhält es sich im Bereich des Wettbewerbsrechts gerade anders: Die Konkurrenten setzen sich - wenn auch in eigenem, "egoistischem" Interesse - für die Gewährleistung wirksamen Wettbewerbs ein.
3.5
Diese rechtliche Ausgangslage bekräftigt das Vorliegen eines prozessrechtlichen Rechtsschutzinteresses, auf das es bei der Beschwerdebefugnis nach
Art. 48 VwVG
ankommt (
BGE 135 II 172
E. 2.1 S. 174;
BGE 133 I 185
E. 4.1 S. 192;
BGE 123 II 376
E. 4c S. 381;
BGE 121 I 267
E. 3c S. 270; vgl. FRITZ GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl. 1983, S. 152; MOSER/BEUSCH/KNEUBÜHLER, Prozessieren vor dem Bundesverwaltungsgericht, 2008, Rz. 2.70). Das Kartellgesetz als Ordnung zur Gewährleistung eines wirksamen Wettbewerbs versetzt die Konkurrenten in eine besondere, beachtenswerte, nahe Beziehung zueinander. Sie sind von einer unzulässigen Wettbewerbsbeschränkung direkt und unmittelbar betroffen und haben an deren Beseitigung ein praktisches und schutzwürdiges Interesse. Nicht abschliessend zu beantworten ist an dieser Stelle, inwiefern dies auch für andere Marktteilnehmer (insb. Abnehmer und Lieferanten) gilt,
BGE 139 II 328 S. 335
da die Beschwerdeführerinnen unstrittig in einem aktuellen Konkurrenzverhältnis zur Ticketcorner AG stehen.
4.
4.1
Bei der Umschreibung der Beschwerdebefugnis nach
Art. 48 VwVG
sind die Wechselwirkungen zwischen dem Verwaltungsverfahrensgesetz und den kartellrechtlichen Verfahrensvorschriften zu berücksichtigen: Die allgemeinen Regeln des VwVG sind kartellrechtskonform und die Sonderregeln des Kartellgesetzes VwVG-konform auszulegen (vgl.
Art. 4 VwVG
und
Art. 39 KG
; STEFAN BILGER, in: Basler Kommentar, Kartellgesetz, 2010, N. 16 zu Vor
Art. 39-44 KG
; vgl.
BGE 139 II 279
E. 2.3;
BGE 135 II 172
E. 2.3.2 S. 178,
BGE 135 II 60
E. 3.1.3 S. 69). Dabei sind nach der Systematik des Verwaltungsverfahrensgesetzes Parteistellung (
Art. 6 VwVG
) und Beschwerdebefugnis (
Art. 48 VwVG
) aufeinander abgestimmt (
BGE 139 II 279
E. 2.2;
BGE 131 II 587
E. 5.2 S. 592).
Art. 6 VwVG
umschreibt den Parteibegriff offen und knüpft über den Verweis auf die Beschwerdebefugnis nach
Art. 48 VwVG
an das Rechtsschutzinteresse an. Zu den Parteien zählen damit neben materiellen Verfügungsadressaten auch Dritte, die in einem besonders engen, spezifischen Verhältnis zum Verfügungsgegenstand stehen und deren Situation durch den Ausgang des Verfahrens in relevanter Weise beeinflusst werden kann (
BGE 139 II 279
E. 2.2; Urteil 2C_762/2010 vom 2. Februar 2011 E. 4.1).
4.2
Daraus folgt, dass über den Kreis der beschwerdebefugten Konkurrenten (
Art. 48 VwVG
) mittelbar auch die Parteien (
Art. 6 VwVG
) im Kartellverwaltungsverfahren umschrieben werden. Es bestehen damit Berührungspunkte zu
Art. 43 KG
, der die Beteiligung Dritter am kartellrechtlichen Untersuchungsverfahren (
Art. 27 ff. KG
) ausdrücklich regelt. Am Verfahren können sich nach
Art. 43 Abs. 1 lit. a KG
unter anderem Personen beteiligen, die aufgrund der Wettbewerbsbeschränkung in der Aufnahme oder in der Ausübung des Wettbewerbs behindert sind. Dazu zählen die aktuellen Konkurrenten, die sich auf dem Markt bewegen, auf dem sich die Wettbewerbsbeschränkung auswirkt (BILGER, a.a.O., N. 12 zu
Art. 43 KG
; PHILIPPE BORENS, Die Rechtsstellung Dritter im Kartellverwaltungsverfahren der Europäischen Gemeinschaft und der Schweiz, 2000, S. 213). Die Beteiligung Dritter liegt dabei nicht nur in deren Interesse, sondern trägt auch Wesentliches zur Klärung des rechtserheblichen Sachverhalts bei und erhöht damit die Qualität der Entscheide. Daneben dient die Ordnung des
Art. 43 KG
einem effizienten
BGE 139 II 328 S. 336
Verfahren. Dies zeigt sich besonders in der abschliessenden Umschreibung des Kreises der Beteiligungsberechtigten, dem Anmeldeerfordernis für die Beteiligung (
Art. 43 Abs. 1 KG
i.V.m.
Art. 28 Abs. 2 KG
) sowie der Möglichkeit, eine gemeinsame Vertretung zu verlangen und die Beteiligungsrechte auf eine Anhörung zu beschränken (
Art. 43 Abs. 2 KG
).
Art. 43 KG
stimmt demnach das Interesse der unter Umständen zahlreichen Dritten an der Mitwirkung auf die Erfordernisse eines rechtmässigen und effizienten Verfahrens ab (vgl. BORENS, a.a.O., S. 107 ff.; VON BÜREN/MARBACH/DUCREY, Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht, 3. Aufl. 2008, Rz. 1707 ff.; RICHLI, a.a.O., S. 495 f.).
4.3
Hingegen äussert sich
Art. 43 KG
nach zutreffender Auffassung nicht dazu, ob den nach
Art. 43 Abs. 1 KG
beteiligungsberechtigten Dritten auch Parteistellung im Untersuchungsverfahren nach
Art. 27 ff. KG
zukommt. Vielmehr richtet sich diese Verfahrensfrage nach
Art. 6 VwVG
. So setzt
Art. 43 KG
die Unterscheidung zwischen beteiligungsberechtigten Dritten und Parteistellung voraus, indem
Art. 43 Abs. 2 KG
die Beschränkung der Beteiligung auf eine Anhörung nur zulässt, soweit Dritten keine Parteistellung zukommt. Diese Unterscheidung geht denn auch ausdrücklich aus den Materialien hervor (Botschaft Kartellgesetz, BBl 1995 I 468, 616 Ziff. 256.5) und hat sich in der jüngeren Lehre durchgesetzt (z.B. BILGER, a.a.O., N. 21 ff. zu
Art. 43 KG
; BORENS, a.a.O., S. 215 ff.; CHRISTIAN BOVET, Les tiers devant les Commissions fédérales des banques, de la concurrence et de la communication, in: Les tiers dans la procédure administrative, 2004, S. 145 ff., 156; BENOÎT MERKT, in: Commentaire romand, Droit de la concurrence, 2. Aufl. 2013, N. 8 ff. und 19 zu
Art. 43 KG
; RICHLI, a.a.O., S. 495 ff.; anders JÜRG BORER, Wettbewerbsrecht, Bd. I, 3. Aufl. 2011, N. 6 zu
Art. 43 KG
).
4.4
Die in
Art. 43 KG
angelegte Unterscheidung zwischen beteiligungsberechtigten Dritten mit und ohne Parteistellung hat bei der Auslegung der VwVG-Normen, namentlich von
Art. 6 und 48 VwVG
, einzufliessen. Der Kreis der nach
Art. 43 Abs. 1 KG
beteiligungsberechtigten Dritten kann - je nach den Umständen - einen beachtlichen Umfang annehmen. Wollte man ihnen ohne Weiteres ein Rechtsschutzinteresse nach
Art. 6 und 48 VwVG
zusprechen, würde die über
Art. 43 KG
angestrebte Abstimmung der Beteiligungsrechte auf die Bedürfnisse eines raschen und korrekten Verfahrens zu einem guten Stück unterlaufen. Wird dagegen zwischen beteiligungsberechtigten Dritten mit und ohne Parteistellung
BGE 139 II 328 S. 337
unterschieden, kann der Kreis der beteiligungsberechtigten Dritten nach
Art. 43 Abs. 1 KG
relativ weit gefasst werden (BORENS, a.a.O., S. 213; RICHLI, a.a.O., S. 498). Das trägt zur Rechtsverwirklichung bei, ohne ein effizientes Verfahren auch bei einer Vielzahl von Beteiligten zu verunmöglichen (vgl.
Art. 43 Abs. 2 KG
) und das Beschwerderecht in Richtung einer unerwünschten Popularbeschwerde zu öffnen. Hinzu kommt, dass das kartellrechtliche Verwaltungsverfahren primär der Durchsetzung öffentlicher Interessen dient, während für die Durchsetzung vorrangig privater Interessen der Zivilrechtsweg nach
Art. 12 ff. KG
offensteht (
BGE 131 II 497
E. 5.5 S. 514;
BGE 130 II 521
E. 2.9 S. 529,
BGE 130 II 149
E. 2.4 S. 156; Urteil 2A.161/2006 vom 12. Oktober 2006 E. 3.2). Angesichts dieser gesetzlich vorgesehenen Gabelung des Rechtsschutzes ist zu vermeiden, dass das Verwaltungsverfahren zu stark auf private Interessen ausgerichtet wird.
4.5
Aus den genannten Gründen ist einem Konkurrenten ungeachtet seiner Beteiligung am Untersuchungsverfahren nach
Art. 43 Abs. 1 KG
nicht ohne Weiteres die Parteistellung (
Art. 6 VwVG
) und die Beschwerdebefugnis (
Art. 48 VwVG
) einzuräumen, sondern nur dann, wenn er einen
deutlich spürbaren wirtschaftlichen Nachteil
erleidet (im Ergebnis ebenso STEFAN BILGER, Das Verwaltungsverfahren zur Untersuchung von Wettbewerbsbeschränkungen [nachfolgend: Verwaltungsverfahren], 2002, S. 214 ff., 224 ff.; BORENS, a.a.O., S. 209 f.; jeweils mit Hinweis auf einen Entscheid der Rekurskommission für Wettbewerbsfragen [REKO/WEF] vom 25. April 1997, in: Recht und Politik des Wettbewerbs [RPW] 2/1997 S. 243 ff.). Ein deutlich spürbarer wirtschaftlicher Nachteil setzt eine konkrete, individuelle Betroffenheit voraus und liegt vor, wenn sich die beanstandete Abrede oder Verhaltensweise in wesentlichem Ausmass nachteilig auf den Konkurrenten auswirkt, namentlich indem er eine Umsatzeinbusse erleidet. Eine besondere Schwere ist dabei nicht vorausgesetzt. Hingegen hat der beschwerdeführende Konkurrent im Rahmen seiner Mitwirkungs- und Begründungspflicht darzulegen, dass er einen deutlich spürbaren wirtschaftlichen Nachteil erleidet, soweit dies nicht klar aus den Akten ersichtlich ist (
Art. 13 VwVG
und
Art. 52 Abs. 1 VwVG
;
BGE 120 Ib 431
E. 1 S. 433 mit Hinweis).
4.6
Über das Vorliegen eines wirtschaftlichen Nachteils im umschriebenen Sinne hinaus kann jedoch entgegen der Vorinstanz keine weitere Schranke für die Beschwerdebefugnis gesetzt werden. So kann sie nicht erst dann bejaht werden, wenn der wirksame Wettbewerb nicht mehr funktioniert (so aber BILGER, Verwaltungsverfahren,
BGE 139 II 328 S. 338
a.a.O., S. 215; RICHLI, a.a.O., S. 509). Damit würde die materiell-rechtliche Beurteilung auf der Stufe der Beschwerdebefugnis vorweggenommen, mit der Folge, dass der Rechtsschutz von Konkurrenten weitgehend ausgeschlossen wäre, sofern die WEKO eine Einstellungsverfügung getroffen und damit das Vorhandensein von wirksamem Wettbewerb bejaht hat. Einen solchen Ausschluss der Beschwerdebefugnis und damit der gerichtlichen Kontrolle der Tätigkeit der Wettbewerbsbehörden hat der Gesetzgeber jedoch bei der Untersuchung von Wettbewerbsbeschränkungen - im Unterschied zur Prüfung von Unternehmenszusammenschlüssen (
Art. 43 Abs. 4 KG
;
BGE 131 II 497
E. 5 S. 508 ff.) - gerade nicht vorgesehen. Es muss daher für die Beschwerdebefugnis genügen, dass sich die Abrede oder Verhaltensweise in wesentlichem Ausmass nachteilig auf den Konkurrenten auswirkt.
5.
5.1
Vorliegend hat die Vorinstanz ausgeführt, "dass trotz der 50 %-AGB-Klausel etliche Veranstalter - z.B. aus Gründen der besseren Verfügbarkeit von Tickets im Ausland oder aus örtlichen Gründen - mit zwei verschiedenen Ticketanbietern zusammenarbeiten". Zu Recht wenden die Beschwerdeführerinnen ein, dass diese Ausführungen mit Bezug auf die Veranstaltungen im Hallenstadion klar aktenwidrig sind. Die WEKO hat in ihrer Verfügung festgestellt, "dass sich die 50 %-AGB-Klausel jedenfalls in den allermeisten Fällen wie eine 100 %-ige Klausel auswirkt. Die Veranstalter hätten zwar rechtlich die Möglichkeit, mehrere Ticketvertriebsunternehmen mit dem Ticketvertrieb zu betrauen, faktisch sehen sie jedoch von einer Nutzung dieser Möglichkeit regelmässig ab." Inwiefern von dieser Sachverhaltsfeststellung abzuweichen ist, begründet die Vorinstanz nicht, sondern verweist gerade auf die Ausführungen der WEKO. Es ist daher auf die Erkenntnisse des Untersuchungsverfahrens abzustellen (
Art. 105 Abs. 2 BGG
).
5.2
Die Beschwerdeführerinnen 1 und 3 haben bereits im Verfahren vor der WEKO anhand konkreter Veranstaltungen dargelegt, dass sie aufgrund der beanstandeten Abrede bzw. Verhaltensweise (50 %-Klauseln) deutlich spürbare wirtschaftliche Nachteile in Form von Umsatzeinbussen erleiden. Unter Verweis darauf hat die WEKO den Beschwerdeführerinnen 1 und 3 Parteistellung zuerkannt. Damit ist auch die Beschwerdebefugnis der Beschwerdeführerinnen 1 und 3 aufgrund der Akten erstellt und zu bejahen. Dagegen hat die Beschwerdeführerin 2 zu keinem Zeitpunkt ihre Beschwerdebefugnis
BGE 139 II 328 S. 339
näher dargelegt. Die WEKO bejahte die Parteistellung im Sinne einer "dynamischen Betrachtungsweise", da die 50 %-AGB-Klausel verhindere, dass die Beschwerdeführerin 2 überhaupt erst Kunden gewinnen könne, die ihr den Ticketvertrieb für im Hallenstadion stattfindende Anlässe übertragen würden. Darin liegt jedoch nichts anderes als ein Hinweis auf die allgemeine Wirkung der 50 %-Klauseln, ohne dass ersichtlich ist, ob die Beschwerdeführerin 2 einen konkreten, individuellen wirtschaftlichen Nachteil erleidet. Dies ist aufgrund der Akten nicht klar erstellt und wird von der Beschwerdeführerin 2 nicht dargelegt. Namentlich konnte sie den erlittenen wirtschaftlichen Nachteil nicht beziffern. Weder vor der Vorinstanz noch im bundesgerichtlichen Verfahren hat die Beschwerdeführerin 2 hierzu Näheres ausgeführt. Die Vorinstanz hat daher die Beschwerdebefugnis der Beschwerdeführerin 2 im Ergebnis zu Recht verneint. | de |
2e709b1a-dbd7-45bd-bf33-bf421fa45336 | 211.423.4 1 / 14 Pfandbriefgesetz (PfG)1 vom 25. Juni 1930 (Stand am 1. Januar 2023) Die Bundesversammlung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, gestützt auf Artikel 64 Absatz 2 der Bundesverfassung2, nach Einsicht in eine Botschaft des Bundesrates vom 14. Dezember 19253, beschliesst: Abschnitt I: Die Pfandbriefzentralen Art. 1 1 Die Pfandbriefzentralen haben den Zweck, dem Grundeigentümer langfristige Grundpfanddarlehen zu möglichst gleichbleibendem und billigem Zinsfusse zu vermitteln. 2 Das Recht zur Ausgabe von Pfandbriefen steht zwei Anstalten zu, nämlich je einer Zentrale der Kantonalbanken und der übrigen Kredit- anstalten. Es bleibt den beiden Pfandbriefzentralen vorbehalten, sich zu vereinigen. Art. 2 1 Zur Ausübung des Rechtes der Pfandbriefausgabe ist die Ermächti- gung des Bundesrates nötig. 2 Um die Ermächtigung zu erhalten, muss die Zentrale als Aktienge- sellschaft oder Genossenschaft errichtet sein, mindestens fünf Mit- glieder zählen, über ein einbezahltes Grund- oder Stammkapital von mindestens 5 Millionen Franken verfügen und ihre Statuten vom Bun- desrate genehmigen lassen. Art. 34 BS 2 747 1 Fassung des Tit. gemäss Ziff. I des BG vom 19. März 1982, in Kraft seit 1. Jan. 1983 (AS 1982 1876; BBl 1981 III 197). 2 [BS 1 3] 3 BBl 1925 III 527 4 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 5. Okt. 1967, in Kraft seit 15. Febr. 1968 (AS 1968 209; BBl 1967 I 625). 211.423.4 I. Aufgabe und Ausgaberecht II. Ermächtigung III. Zentrale der Kantonalbanken Ergänzungs- und Ausführungserlasse zum Zivilgesetzbuch 2 / 14 211.423.4 Das Recht, Mitglied der Pfandbriefzentrale der Kantonalbanken zu sein, hat jede Kantonalbank im Sinne von Artikel 3 Absatz 4 des Bun- desgesetzes vom 8. November 19345 über die Banken und Sparkas- sen. Art. 4 1 Das Recht, Mitglied der Pfandbriefzentrale der übrigen Banken zu sein, hat jede Kreditanstalt, die ihren Hauptsitz in der Schweiz hat und deren Aktiven nach der letzten, entsprechend den Vorschriften des Bundesrates erstellten und veröffentlichten Bilanz zu mehr als 60 vom Hundert der Bilanzsumme aus Forderungen bestehen, die im inländi- schen Bodenkreditgeschäft erworben worden sind. 2 Als im inländischen Bodenkreditgeschäft erworbene Forderungen gelten inländische Grundpfandforderungen und inländische Pfand- briefe, ferner durch Faustpfand gesicherte Darlehen mit festen Schuld- summen und festen Verfallzeiten oder Kündigungsfristen von mindes- tens drei Monaten, sofern das Pfand ausschliesslich aus inländischen Grundpfandforderungen und Pfandbriefen besteht. 3 Es steht der Pfandbriefzentrale frei, andere Kreditanstalten, sofern sie ihre Hauptniederlassung in der Schweiz haben, als Mitglieder auf- zunehmen. 4 Die Aufnahmebedingungen werden im übrigen durch die Statuten der Zentrale geregelt. Art. 56 Der Geschäftskreis der Pfandbriefzentralen umfasst: 1. die Ausgabe von Pfandbriefen; 2. die Anlage des Erlöses aus der Pfandbriefausgabe a. in Darlehen nach den Artikeln 11 und 12; b. bis zu höchstens einem Zehntel in Gülten; 3.7 die Anlage des Eigen- und Fremdkapitals in grundpfändlich gesicherten Forderungen bis zu zwei Dritteln des Verkehrs-, bei Gülten des Ertragswertes des im Inland gelegenen Grund- pfandes, in bei der Nationalbank repofähigen Effekten und in Schuldverschreibungen inländischer Schuldner, die an einem repräsentativen Markt gehandelt werden, in Sicht- und Zeit- gelder bei ihren Mitgliedern und andern inländischen Banken 5 SR 952.0 6 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 5. Okt. 1967, in Kraft seit 15. Febr. 1968 (AS 1968 209; BBl 1967 I 625). 7 Fassung gemäss Anhang Ziff. 6 des Finanzmarktaufsichtsgesetzes vom 22. Juni 2007, in Kraft seit 1. Jan. 2009 (AS 2008 5207; BBl 2006 2829). IV. Zentrale der übrigen Kredit- anstalten V. Geschäfts- kreis Pfandbriefgesetz 3 / 14 211.423.4 sowie in Grundeigentum für die Unterbringung der eigenen Geschäftsräume; 4. andere kurzfristige Bankgeschäfte nur insoweit, als die Aus- gabe der Pfandbriefe und die Gewährung der Darlehen es er- fordern. Art. 6 1 Die Pfandbriefzentralen sind von den direkten Steuern des Bundes, der Kantone und Gemeinden befreit; die Befreiung erstreckt sich nicht auf die direkten Steuern der Kantone und Gemeinden auf dem Grund- eigentum. 2 Die Darlehen, die von den Pfandbriefzentralen nach den Artikeln 11 und 12 gewährt werden, und die Zinsen solcher Darlehen unterliegen keiner eidgenössischen Stempelsteuer. Abschnitt II: Die Ausgabe von Pfandbriefen und die Gewährung von Darlehen Art. 78 1 Pfandbriefe können in Form von Wertpapieren, Globalurkunden o- der Wertrechten ausgegeben werden. Diese Pfandbriefe lauten auf den Namen oder auf den Inhaber. 2 Pfandbriefe können auch in Form von schriftlichen Darlehensverträ- gen ausgegeben werden. 3 Werden Pfandbriefe auf den Namen ausgegeben, so führt die Pfand- briefzentrale ein Buch, in welches die Eigentümer und Nutzniesser mit Namen und Adresse eingetragen werden. Das Buch ist nicht öf- fentlich. 4 Die Eintragung in das Buch setzt einen Ausweis über den Erwerb des Pfandbriefes zu Eigentum oder die Begründung einer Nutznies- sung voraus. 5 Im Verhältnis zur Pfandbriefzentrale gilt als berechtigt, wer im Buch eingetragen ist. Art. 89 8 Fassung gemäss Anhang Ziff. 2 des Bucheffektengesetz vom 3. Okt. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 3577; BBl 2006 9315). 9 Fassung gemäss Anhang Ziff. 2 des Bucheffektengesetz vom 3. Okt. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 3577; BBl 2006 9315). VI. Steuerfrei- heit I. Pfandbriefe a. Form b. Inhalt Ergänzungs- und Ausführungserlasse zum Zivilgesetzbuch 4 / 14 211.423.4 Der Bundesrat kann Vorschriften über den Inhalt von Pfandbriefen erlassen. Art. 910 Die verantwortlichen Organe bescheinigen vor der Ausgabe von Pfandbriefen, dass die gesetzliche Deckung vorhanden ist. Art. 1011 Die Pfandbriefzentralen dürfen Pfandbriefe nur in solcher Höhe aus- geben, dass der Betrag aller bilanzmässigen Schuldverpflichtungen, einschliesslich der Pfandbriefe, das Fünfzigfache des Eigenkapitals nicht übersteigt. Die Vollziehungsverordnung umschreibt den Begriff des Eigenkapitals. Art. 11 1 Die Pfandbriefzentralen gewähren ihren Mitgliedern aus dem Erlöse der Pfandbriefausgabe Darlehen mit Deckung gemäss Artikel 19. 2 Sie dürfen auch andern Kreditanstalten Darlehen mit Deckung ge- mäss Artikel 26 gewähren. Art. 12 1 Die Fälligkeit der Darlehen muss übereinstimmen mit der Fälligkeit derjenigen Pfandbriefe, aus deren Erlös die Darlehen gewährt wurden. 2 Diese Darlehen können vorzeitig zurückbezahlt werden unter der Bedingung, dass die schuldnerische Anstalt der Pfandbriefzentrale an Zahlungsstatt im entsprechenden Betrag Pfandbriefe derselben Gat- tung abliefert wie diejenigen, aus deren Erlös die Darlehen seinerzeit gewährt wurden, und dass sie gleichzeitig der Pfandbriefzentrale den darauf entfallenden, noch nicht getilgten Rest der Ausgabekosten ver- gütet. Art. 13 Die Mitglieder und andern Kreditanstalten, denen die Pfandbriefzent- ralen Darlehen gewähren, sind verpflichtet, die Vorteile der Pfand- briefausgabe möglichst ihren Grundpfandschuldnern zukommen zu lassen. 10 Fassung gemäss Anhang Ziff. 2 des Bucheffektengesetz vom 3. Okt. 2008, in Kraft seit 1. Jan. 2010 (AS 2009 3577; BBl 2006 9315). 11 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 5. Okt. 1967, in Kraft seit 15. Febr. 1968 (AS 1968 209; BBl 1967 I 625). c. Bescheinigung der gesetzlichen Deckung d. Höhe der Aus- gabe II. Darlehen a. Bedingungen b. Fälligkeit und vorzeitige Rück- zahlung III. Verpflich- tung gegenüber den Grundpfand- schuldnern Pfandbriefgesetz 5 / 14 211.423.4 Abschnitt III: Deckung der Pfandbriefe und Darlehen Art. 1412 Die Pfandbriefe und die darauf ausstehenden Zinsen müssen bei den Zentralen jederzeit durch Darlehen nach den Artikeln 11 und 12 und für den in Artikel 5 Ziffer 2 vorbehaltenen Teil durch Gülten, die von den Zentralen aufbewahrt und verwaltet werden, gedeckt sein. Art. 15 Ist der Zinsertrag der Deckung kleiner als der Zinsertrag der Pfand- briefe, so ist die Deckung entsprechend zu vergrössern. Art. 16 1 Die Pfandbriefzentralen haben die bei ihnen liegende Deckung der Pfandbriefe in ein Pfandregister einzutragen. 2 Die Einzelheiten dieser Eintragung ordnet der Bundesrat. Art. 17 1 Die Zentralen haben die in ihrem Pfandregister eingetragene De- ckung von den übrigen Vermögenswerten getrennt aufzubewahren. 2 Sie sind verpflichtet, im Interesse der Pfandbriefgläubiger, alle An- sprüche aus dieser Deckung auf eigenen Namen geltend zu machen. Art. 18 Die Pfandbriefe und die darauf ausstehenden Zinsen geniessen ein Pfandrecht an der im Pfandregister der Pfandbriefzentralen eingetra- genen Deckung, ohne dass ein besonderer Verpfändungsvertrag und die Übergabe der Deckung an die Pfandbriefgläubiger oder deren Ver- treter erforderlich wären. Art. 19 1 Die Darlehen der Pfandbriefzentralen an ihre Mitglieder und die da- rauf ausstehenden Zinsen müssen jederzeit durch Grundpfand- oder Faustpfandforderungen der Mitglieder an ihre Schuldner gedeckt sein, die von den Mitgliedern verwahrt und verwaltet werden. 2 Die Grundpfänder dieser Forderungen müssen in der Schweiz gele- gen sein, die Faustpfänder in inländischen Grundpfandforderungen o- der Pfandbriefen bestehen. 12 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 5. Okt. 1967, in Kraft seit 15. Febr. 1968 (AS 1968 209; BBl 1967 I 625). I. Deckung der Pfandbriefe bei den Zentralen a. Im allgemeinen b. Vermehrung der Deckung c. Pfandregister der Zentralen d. Verwaltung der Deckung e. Pfandrecht der Pfandbriefe II. Deckung der Darlehen der Mitglieder bei diesen selbst a. Im allgemeinen Ergänzungs- und Ausführungserlasse zum Zivilgesetzbuch 6 / 14 211.423.4 Art. 20 Ist der Zinsertrag der bei einem Mitgliede vorhandenen Deckung klei- ner als der Zinsertrag der diesem Mitgliede von der Pfandbriefzentrale gewährten Darlehen, so ist die Deckung entsprechend zu vergrössern. Art. 21 1 Die Mitglieder haben die bei ihnen liegende Deckung ihrer Darle- hensbezüge in ein Pfandregister einzutragen. 2 Die Einzelheiten dieser Eintragung ordnet der Bundesrat. Art. 22 1 Die Mitglieder haben die in ihren Pfandregistern eingetragene De- ckung ihrer Darlehen von den übrigen Vermögenswerten getrennt auf- zubewahren. 2 Sie sind verpflichtet, im Interesse ihrer Zentrale, alle Ansprüche aus dieser Deckung auf eigenen Namen geltend zu machen. Art. 2313 Die Darlehen der Pfandbriefzentralen und die darauf ausstehenden Zinsen geniessen ein Pfandrecht an der im Pfandregister der Mitglie- der eingetragenen Deckung, ohne dass ein besonderer Verpfändungs- vertrag und die Übergabe der Deckung an die Pfandbriefzentralen o- der deren Vertreter oder eine Eintragung in das Grundbuch erforderlich wären. Art. 24 1 Das Mitglied der Pfandbriefzentrale hat ihr über die Verwaltung der bei ihm liegenden Deckung alljährlich auf einen bestimmten Tag und ausserdem, so oft sie es verlangt, Rechnung abzulegen. 2 Für diese Verwaltung und Rechnungsstellung bezieht das Mitglied keine Entschädigung. Art. 25 1 Ist die vorgeschriebene Deckung nicht vollständig vorhanden und lässt sich der Mangel nicht sofort beheben, so ist die Deckung durch an der Börse zugelassene Schuldverschreibungen des Bundes, der Kantone oder Gemeinden oder durch Geld zu ergänzen. Die Schuld- verschreibungen dürfen dabei höchstens zu 95 vom Hundert des Ta- geskurses bewertet werden. 13 Fassung gemäss Anhang Ziff. 1 des BG vom 18. März 2011 (Sicherung der Einlagen), in Kraft seit 1. Sept. 2011 (AS 2011 3919; BBl 2010 3993). b. Vermehrung der Deckung c. Pfandregister der Mitglieder d. Verwaltung der Deckung e. Pfandrecht der Darlehen f. Rechnungs- stellung III. Ergänzung der Deckung Pfandbriefgesetz 7 / 14 211.423.4 2 Die Artikel 14–23 gelten auch für die Ergänzung der Deckung. Art. 26 1 Kreditanstalten, die nicht Mitglieder einer Pfandbriefzentrale sind, aber Darlehen beziehen wollen, müssen der Pfandbriefzentrale als Pfandbriefdeckung geeignet befundene Grundpfandforderungen und Ergänzungswerte, und zwar im Betrage von mindestens 105 vom Hundert der Darlehen nach den Artikeln 899–901 des Schweizeri- schen Zivilgesetzbuches14 verpfänden. 2 Die Pfandbriefzentrale hat die ihr abgelieferten Deckungswerte in ihr Pfandregister einzutragen. Abschnitt IV: Die Befriedigung aus dem Pfande Art. 27 Für Pfandbriefforderungen der Inhaber gegenüber den Zentralen und für Darlehensforderungen der Zentralen gegenüber solchen Mitglie- dern, die Aktiengesellschaften oder Genossenschaften sind, kann nur Betreibung auf Konkurs angehoben werden. Vorbehalten ist der Schutz der Pfandbrief- und Darlehensgläubiger nach Artikel 42. Art. 2815 Art. 2916 Am Pfandrecht nehmen alle Pfandbriefe einer Zentrale ohne Rück- sicht auf die Reihenfolge ihrer Ausgabe im gleichen Range teil. Art. 30 Die Vorschriften über die Gläubigergemeinschaft bei Anleihensobli- gationen sind auf die Pfandbriefgläubiger anzuwenden. Dabei bilden alle diejenigen Gläubiger, deren Forderungen gleiche Zins- und Rück- zahlungsbedingungen aufweisen, je eine Gemeinschaft. 14 SR 210 15 Aufgehoben durch Anhang Ziff. 5 des BG vom 16. Dez. 1994, mit Wirkung seit 1. Jan. 1997 (AS 1995 1227; BBl 1991 III 1). 16 Fassung gemäss Anhang Ziff. 5 des BG vom 16. Dez. 1994, in Kraft seit 1. Jan. 1997 (AS 1995 1227; BBl 1991 III 1). IV. Darlehen an Nichtmitglieder I. Betreibungsart II. … III. Rangordnung IV. Gläubigerge- meinschaft Ergänzungs- und Ausführungserlasse zum Zivilgesetzbuch 8 / 14 211.423.4 Art. 31 Hat eine Pfandbriefzentrale ein Darlehen nach Artikel 26 gewährt, so kann sie, wenn der Schuldner seine Verpflichtungen nicht pünktlich erfüllt und die Mahnung erfolglos geblieben ist, die verpfändeten Ver- mögenswerte bestmöglichst versilbern und sich aus dem Erlöse be- zahlt machen. Abschnitt V: Die Schätzung und Belehnung der Grundpfänder Art. 32 1 Die Pfandbriefzentralen haben, unter Berücksichtigung der kantona- len amtlichen Schätzungen, über die möglichst zuverlässige Ermitt- lung des Wertes der für die Deckung pfandrechtlich haftenden Grund- stücke Vorschriften nach Massgabe der folgenden Bestimmungen zu erlassen. Diese Vorschriften unterliegen der Genehmigung des Bun- desrates. 2 Die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht (FINMA) kann die Neu- schätzung der Grundstücke verlangen, wenn sich der Geldwert oder die sonstigen allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnisse erheblich än- dern.17 Art. 33 1 Bei der Schätzung des Verkehrswertes eines Grundstückes dürfen nur seine dauernden Eigenschaften berücksichtigt werden. 2 Dient das Grundstück überwiegend landwirtschaftlichen oder forst- wirtschaftlichen Zwecken, so ist die Schätzung nach dem durch- schnittlichen Ertrage anzustreben. Art. 34 Unter Berücksichtigung von vorgehenden Pfandrechten und pfand- versicherten Zinsen kommen als Pfandbrief- oder Darlehensdeckung in Betracht: 1. die auf Grundstücken mit überwiegend landwirtschaftlicher o- der forstwirtschaftlicher Nutzung haftenden Grundpfandfor- derungen bis zu höchstens fünf Sechsteln des Ertragswertes, sofern eine solche Schätzung vorliegt, keinesfalls aber zu mehr als zwei Dritteln des Verkehrswertes; 17 Fassung gemäss Anhang Ziff. 6 des Finanzmarktaufsichtsgesetzes vom 22. Juni 2007, in Kraft seit 1. Jan. 2009 (AS 2008 5207; BBl 2006 2829). V. Befriedigung aus Pfändern von Nichtmitgliedern I. Schätzungs- vorschriften II. Schätzungs- grundlagen III. Belehnungs- grenzen a. Höchstansätze Pfandbriefgesetz 9 / 14 211.423.4 2. die auf andern Grundstücken haftenden Grundpfandforderun- gen bis zu höchstens zwei Dritteln des Verkehrswertes. Art. 35 Für Bauland, industrielle Anlagen und andere, nach der Art des Ertra- ges ähnliche Grundstücke setzen die nach Artikel 32 zu erlassenden Vorschriften entsprechend niedrigere Belehnungsgrenzen und schüt- zende Bestimmungen gegen eine Entwertung der Pfänder fest. Art. 36 Forderungen mit Pfandrechten an Grundstücken, deren Ausbeutung ihren Wert aufzehrt, wie insbesondere solche an Gruben und Stein- brüchen, sind von der Verwendung als Pfandbrief- oder Darlehensde- ckung ausgeschlossen. Abschnitt VI: Die Überwachung und der Entzug der Ermächtigung Art. 37 Der Bundesrat ist befugt, in den Verwaltungsrat oder Vorstand jeder Pfandbriefzentrale einen Vertreter der Grundpfandschuldner als Mit- glied zu ernennen. Art. 38 Der Bundesrat bestimmt, in welcher Form die jährlichen Bilanzen und Gewinn- und Verlustrechnungen sowie die Zwischenbilanzen der Pfandbriefzentralen aufzustellen und zu veröffentlichen sind, welche Einzelangaben sie enthalten und über welche Einzelerscheinungen des Geschäftsbetriebes im Geschäftsberichte erläuternde Aufschlüsse er- teilt werden müssen. Art. 38a18 18 Eingefügt durch Anhang Ziff. 6 des Finanzmarktaufsichtsgesetzes vom 22. Juni 2007 (AS 2008 5207; BBl 2006 2829). Fassung gemäss Anhang Ziff. 3 des BG vom 20. Juni 2014 (Bündelung der Aufsicht über Revisionsunternehmen und Prüfgesellschaf- ten), in Kraft seit 1. Jan. 2015 (AS 2014 4073; BBl 2013 6857). b. Tiefere Ansätze c. Ausschluss I. Vertreter der Grundpfand- schuldner II. Bilanzvor- schriften III. Prüfung der Pfandbrief- zentralen Ergänzungs- und Ausführungserlasse zum Zivilgesetzbuch 10 / 14 211.423.4 1 Die Pfandbriefzentralen haben eine von der Eidgenössischen Revi- sionsaufsichtsbehörde nach Artikel 9a Absatz 1 des Revisionsauf- sichtsgesetzes vom 16. Dezember 200519 zugelassene Prüfgesell- schaft mit einer Prüfung nach Artikel 24 des Finanzmarktaufsichtsgesetzes vom 22. Juni 200720 zu beauftragen. 2 Die Pfandbriefzentralen müssen ihre Jahresrechnung und gegebe- nenfalls ihre Konzernrechnung von einem staatlich beaufsichtigten Revisionsunternehmen nach den Grundsätzen der ordentlichen Revi- sion des Obligationenrechts21 prüfen lassen. Art. 38b22 1 Die Prüfgesellschaften der Mitglieder der Pfandbriefzentralen prü- fen im Rahmen der jährlichen Arbeiten das Pfandregister und die Dar- lehensdeckung. 2 Sie erstatten den Pfandbriefzentralen und den von ihnen beauftrag- ten Prüfgesellschaften über diese Prüfungen Bericht. Art. 3923 Die Artikel 33–35 und 37 des Finanzmarktaufsichtsgesetzes vom 22. Juni 200724 finden keine Anwendung. Art. 4025 1 Wenn eine Pfandbriefzentrale oder ein Mitglied, das einer Pfand- briefzentrale Darlehen schuldet, gesetzliche Vorschriften, namentlich Eigenmittelvorschriften, verletzt oder das Vertrauen in sie ernsthaft beeinträchtigt ist, kann die FINMA einen Untersuchungsbeauftragten einsetzen und die Aushändigung der Deckungswerte anordnen. 2 Die FINMA kann den Untersuchungsbeauftragten mit der Prüfung und Verwaltung der Deckung auf Kosten der Pfandbriefzentrale oder des Mitglieds beauftragen. 19 SR 221.302 20 SR 956.1 21 SR 220 22 Eingefügt durch Anhang Ziff. 6 des Finanzmarktaufsichtsgesetzes vom 22. Juni 2007, in Kraft seit 1. Jan. 2009 (AS 2008 5207; BBl 2006 2829). 23 Fassung gemäss Anhang Ziff. 6 des Finanzmarktaufsichtsgesetzes vom 22. Juni 2007, in Kraft seit 1. Jan. 2009 (AS 2008 5207; BBl 2006 2829). 24 SR SR 956.1 25 Fassung gemäss Anhang Ziff. 1 des BG vom 17. Dez. 2021 (Insolvenz und Einlagensi- cherung), in Kraft seit 1. Jan. 2023 (AS 2022 732; BBl 2020 6359). IV. Prüfung bei den Mitgliedern V. Aufsicht VI. Prüfung und Verwaltung der Deckung Pfandbriefgesetz 11 / 14 211.423.4 Art. 40a26 1 Wird über ein Mitglied der Konkurs eröffnet, so ordnet die FINMA die Separierung der Darlehen und der Deckung, einschliesslich der eingehenden Zinsen und Rückzahlungen, an. Die Darlehen werden durch die Konkurseröffnung nicht fällig. 2 Die FINMA setzt zur Verwaltung der Darlehen und der Deckung einen Beauftragten ein. Dieser trifft alle Massnahmen, die erforderlich sind, um die vollständige und fristgerechte Erfüllung der Pflichten aus den Darlehen, einschliesslich Zins- und Rückzahlungen, zu gewähr- leisten. 3 Die FINMA kann die ganze oder teilweise Übertragung von Darle- hen und der Deckung genehmigen. 4 Nach der Rückzahlung oder Übertragung der Darlehen hat der Be- auftragte darüber abzurechnen, wie weit die Deckung beansprucht wurde. Art. 4127 Widersetzt sich eine Pfandbriefzentrale wiederholt den von der Auf- sichtsbehörde angeordneten Massnahmen, so kann die FINMA29 dem Bundesrat beantragen, ihr die Ermächtigung zur Pfandbriefausgabe zu entziehen. Art. 4230 Die Artikel 25–37g des Bankengesetzes vom 8. November 193431 gel- ten sinngemäss. Art. 4332 26 Eingefügt durch Anhang Ziff. 1 des BG vom 17. Dez. 2021 (Insolvenz und Einlagensi- cherung), in Kraft seit 1. Jan. 2023 (AS 2022 732; BBl 2020 6359). 27 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 19. März 1982, in Kraft seit 1. Jan. 1983 (AS 1982 1876; BBl 1981 III 197). 28 Fassung gemäss Anhang Ziff. 6 des Finanzmarktaufsichtsgesetzes vom 22. Juni 2007, in Kraft seit 1. Jan. 2009 (AS 2008 5207; BBl 2006 2829). 29 Ausdruck gemäss Anhang Ziff. 6 des Finanzmarktaufsichtsgesetzes vom 22. Juni 2007, in Kraft seit 1. Jan. 2009 (AS 2008 5207; BBl 2006 2829). Diese Änd. ist im ganzen Er- lass berücksichtigt. 30 Fassung gemäss Anhang Ziff. 1 des BG vom 18. März 2011 (Sicherung der Einlagen), in Kraft seit 1. Sept. 2011 (AS 2011 3919; BBl 2010 3993). 31 SR 952.0 32 Aufgehoben durch Anhang Ziff. 6 des Finanzmarktaufsichtsgesetzes vom 22. Juni 2007, mit Wirkung seit 1. Jan. 2009 (AS 2008 5207; BBl 2006 2829). VIa. Separierung von Darlehen und Deckung VII. Entzug der Ermächtigung28 VIII. Anwen- dung der Bestim- mun- gen über die Bankinsolvenz Ergänzungs- und Ausführungserlasse zum Zivilgesetzbuch 12 / 14 211.423.4 Abschnitt VII: Verantwortlichkeits- und Strafbestimmungen Art. 44 Wer diesem Gesetze oder der Vollziehungsverordnung zuwiderhan- delt, haftet den Pfandbrief- oder Darlehensgläubigern für den daraus entstandenen Schaden. Art. 4533 1. Wer als Pfandbriefe bezeichnete Schuldverschreibungen aus- gibt, ohne dazu die Ermächtigung zu haben, wer Pfandbriefe ausgibt oder Darlehen bezieht, trotzdem er weiss, dass deren Deckung unvollständig ist oder fehlt, wird, sofern nicht nach dem Schweizerischen Strafgesetzbuch eine schwerere Strafe verwirkt ist, mit Busse bis zu 50 000 Franken bestraft.34 2. Handelt der Täter fahrlässig, so ist die Strafe Busse bis zu 30 000 Franken. Art. 4635 1 Wer vorsätzlich oder fahrlässig a. Pfandbriefe in einer Höhe ausgibt, die den nach Artikel 10 zu- lässigen Betrag übersteigt; b. den Vorschriften über die Führung des Pfandregisters, die ge- trennte Aufbewahrung der Deckung oder über die Aufstellung der Bilanz und Gewinn- und Verlustrechnung nicht nach- kommt oder c. die ordnungsgemässe Durchführung einer Buchprüfung oder andern amtlichen Kontrolle erschwert, behindert oder verun- möglicht, wird mit Ordnungsbusse bis zu 5000 Franken bestraft. 2 Bei einer Widerhandlung im Sinne von Absatz 1 Buchstabe c bleibt die Strafverfolgung nach Artikel 285 des Schweizerischen Strafge- setzbuches36 vorbehalten. 33 Fassung gemäss Ziff. 3 des Anhangs zum VStrR, in Kraft seit 1. Jan. 1975 (AS 1974 1857; BBl 1971 I 993). 34 Fassung gemäss Art. 333 des Strafgesetzbuches (SR 311.0) in der Fassung des BG vom 13. Dez. 2002, in Kraft seit 1. Jan. 2007 (AS 2006 3459; BBl 1999 1979). 35 Fassung gemäss Ziff. 3 des Anhangs zum VStrR, in Kraft seit 1. Jan. 1975 (AS 1974 1857; BBl 1971 I 993). 36 SR 311.0 I. Zivilrechtliche Haftung II. Straftatbe- stände a. Übertretungen b. Ordnungswid- rigkeiten Pfandbriefgesetz 13 / 14 211.423.4 Art. 4737 Art. 48–4938 Abschnitt VIII: Übergangs- und Schlussbestimmungen Art. 5039 Art. 51 Von diesem Gesetz werden nicht berührt die vor seinem Inkrafttreten auf Grund kantonalen Rechts ausgegebenen Pfandbriefe. Art. 52 1 Der Bundesrat bestimmt den Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Ge- setzes. 2 Mit dem Inkrafttreten dieses Gesetzes sind die Artikel 916–918 des Schweizerischen Zivilgesetzbuches40 aufgehoben. …41 Datum des Inkrafttretens: 1. Februar 193142 37 Aufgehoben durch Anhang Ziff. 6 des Finanzmarktaufsichtsgesetzes vom 22. Juni 2007, mit Wirkung seit 1. Jan. 2009 (AS 2008 5207; BBl 2006 2829). 38 Aufgehoben durch Ziff. 3 des Anhangs zum VStrR, mit Wirkung seit 1. Jan. 1975 (AS 1974 1857; BBl 1971 I 993). 39 Aufgehoben durch Anhang Ziff. 5 des BG vom 16. Dez. 1994, mit Wirkung seit 1. Jan. 1997 (AS 1995 1227; BBl 1991 III 1). 40 SR 210 41 Zweiter Satz aufgehoben durch Ziff. I des BG vom 5. Okt. 1967, mit Wirkung seit 15. Febr. 1968 (AS 1968 209; BBl 1967 I 625). 42 BRB vom 23. Jan. 1931 (AS 47 120). I. … II. Pfandbriefe kantonalen Rechtes III. Inkrafttreten Ergänzungs- und Ausführungserlasse zum Zivilgesetzbuch 14 / 14 211.423.4 Abschnitt I: Die Pfandbriefzentralen Art. 1 I. Aufgabe und Ausgaberecht Art. 2 II. Ermächtigung Art. 3 III. Zentrale der Kantonalbanken Art. 4 IV. Zentrale der übrigen Kreditanstalten Art. 5 V. Geschäftskreis Art. 6 VI. Steuerfreiheit Abschnitt II: Die Ausgabe von Pfandbriefen und die Gewährung von Darlehen Art. 7 I. Pfandbriefe a. Form Art. 8 b. Inhalt Art. 9 c. Bescheinigung der gesetzlichen Deckung Art. 10 d. Höhe der Ausgabe Art. 11 II. Darlehen a. Bedingungen Art. 12 b. Fälligkeit und vorzeitige Rückzahlung Art. 13 III. Verpflichtung gegenüber den Grundpfandschuldnern Abschnitt III: Deckung der Pfandbriefe und Darlehen Art. 14 I. Deckung der Pfandbriefe bei den Zentralen a. Im allgemeinen Art. 15 b. Vermehrung der Deckung Art. 16 c. Pfandregister der Zentralen Art. 17 d. Verwaltung der Deckung Art. 18 e. Pfandrecht der Pfandbriefe Art. 19 II. Deckung der Darlehen der Mitglieder bei diesen selbst a. Im allgemeinen Art. 20 b. Vermehrung der Deckung Art. 21 c. Pfandregister der Mitglieder Art. 22 d. Verwaltung der Deckung Art. 23 e. Pfandrecht der Darlehen Art. 24 f. Rechnungsstellung Art. 25 III. Ergänzung der Deckung Art. 26 IV. Darlehen an Nichtmitglieder Abschnitt IV: Die Befriedigung aus dem Pfande Art. 27 I. Betreibungsart Art. 28 II. … Art. 29 III. Rangordnung Art. 30 IV. Gläubigergemeinschaft Art. 31 V. Befriedigung aus Pfändern von Nichtmitgliedern Abschnitt V: Die Schätzung und Belehnung der Grundpfänder Art. 32 I. Schätzungsvorschriften Art. 33 II. Schätzungsgrundlagen Art. 34 III. Belehnungsgrenzen a. Höchstansätze Art. 35 b. Tiefere Ansätze Art. 36 c. Ausschluss Abschnitt VI: Die Überwachung und der Entzug der Ermächtigung Art. 37 I. Vertreter der Grundpfandschuldner Art. 38 II. Bilanzvorschriften Art. 38a III. Prüfung der Pfandbriefzentralen Art. 38b IV. Prüfung bei den Mitgliedern Art. 39 V. Aufsicht Art. 40 VI. Prüfung und Verwaltung der Deckung Art. 40a VIa. Separierung von Darlehen und Deckung Art. 41 VII. Entzug der Ermächtigung Art. 42 VIII. Anwendung der Bestimmun- gen über die Bankinsolvenz Art. 43 Abschnitt VII: Verantwortlichkeits- und Strafbestimmungen Art. 44 I. Zivilrechtliche Haftung Art. 45 II. Straftatbestände a. Übertretungen Art. 46 b. Ordnungswidrigkeiten Art. 47 Art. 48–49 Abschnitt VIII: Übergangs- und Schlussbestimmungen Art. 50 I. … Art. 51 II. Pfandbriefe kantonalen Rechtes Art. 52 III. Inkrafttreten | de |
a5b64676-e5f0-4180-b864-2341803a27fa | Sachverhalt
ab Seite 451
BGE 93 I 450 S. 451
A.-
Nach § 53 des auf den vorliegenden Fall noch zur Anwendung gelangenden thurgauischen Gesetzes über die Staats- und Gemeindesteuern vom 5. September 1950 (aStG) sind Kapitalgewinne steuerpflichtiges Einkommen. Als Kapitalgewinn gilt die bei der Veräusserung eines Vermögensobjektes erzielte Differenz zwischen dem Anlagewert und dem Verkaufserlös; der Anlagewert setzt sich zusammen aus den Anschaffungskosten und den wertvermehrenden Aufwendungen (§ 54 aStG). Nach § 39 Abs. 2 der Vollziehungsverordnung zu diesem Gesetz (VVaStG) gilt bei unentgeltlichem Erwerb (Erbgang, Schenkung) der Verkehrswert im Zeitpunkte des Erwerbs als Erwerbspreis. Die Gewinnsteuerpflicht ist bei beweglichem Vermögen auf zehn Jahre befristet (§ 55 aStG). Die Steuerberechnung ist in § 57 aStG geregelt. Danach wird auf Kapitalgewinnen eine volle Jahressteuer zu jenem Satz erhoben, der sich aus § 35 Ziff. 1 ergibt. Realisierte Kapitalverluste können nur mit den im gleichen Steuerjahr erzielten Kapitalgewinnen verrechnet werden (§ 58 aStG).
BGE 93 I 450 S. 452
B.-
Der Beschwerdeführer erwarb im Herbst 1952 durch Erbgang 11 nichtkotierte Namensaktien im Nominalbetrag von je Fr. 5'000.-- der Firma Y. AG. Im Juni 1959 verkaufte er sie zum Preise von Fr. 11'000.-- pro Stück, zusammen also für Fr. 121'000.--. Die Steuerbehörde nahm an, der Beschwerdeführer habe bei diesem Verkauf einen Kapitalgewinn erzielt und eröffnete daher ein Veranlagungsverfahren mit Bezug auf die Kapitalgewinnsteuer. Der Beschwerdeführer bestritt, einen Kapitalgewinn erzielt zu haben, da der Verkehrswert dieser Aktien im Zeitpunkte des Erwerbes (1952) mindestens so hoch gewesen sei wie der Verkaufserlös im Jahre 1959. Mit Einspracheentscheid der Steuerkommission Arbon vom 18. Juni 1964 wurde der steuerbare Kapitalgewinn auf Fr. 28'600.-- festgesetzt. Die kantonale Steuerrekurs-Kommission (StRK) wies die vom Pflichtigen dagegen erhobene Beschwerde am 24. Oktober 1966 ab und bestätigte den Einspracheentscheid.
C.-
X ficht den Entscheid der StRK mit staatsrechtlicher Beschwerde wegen Verletzung von
Art. 4 BV
an und beantragt, ihn aufzuheben. Die StRK und der Regierungsrat des Kantons Thurgau schliessen auf Abweisung der Beschwerde. In der Replik hält der Beschwerdeführer an seinem Beschwerdeantrag fest. Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Staatsrechtliche Beschwerden wegen Verletzung von
Art. 4 BV
sind erst gegen letztinstanzliche Endentscheide zulässig, gegen letztinstanzliche Zwischenentscheide nur, wenn sie für den Betroffenen einen nicht wiedergutzumachenden Nachteil zur Folge haben (
Art. 87 OG
).
Während die ursprüngliche Veranlagung vom 10. August 1962 ausser der Festsetzung des steuerbaren Kapitalgewinnes auf Fr. 44'000.-- auch die Berechnung der geschuldeten Steuer enthielt, beschränkt sich der Einspracheentscheid vom 18. Juni 1964 darauf, den steuerbaren Kapitalgewinn auf Fr. 28'600.-- herabzusetzen, ohne die dafür geschuldete Steuer zu berechnen. Die StRK hat sich im angefochtenen Entscheid vom 24. Oktober 1966 ebenfalls darauf beschränkt, die Frage zu überprüfen, ob und einen wie hohen Kapitalgewinn der Beschwerdeführer aus dem Verkauf der Aktien erzielt habe, ohne die geschuldete Steuer festzusetzen. Der angefochtene Entscheid schliesst mithin
BGE 93 I 450 S. 453
das Steuerveranlagungsverfahren nicht ab; die Veranlagungsbehörde wird vielmehr auf Grund des von der Rechtsmittelinstanz bestätigten Kapitalgewinnes die geschuldete Steuer nach Massgabe der oben unter lit. A erwähnten gesetzlichen Vorschriften noch zu berechnen haben. Diese Berechnung ist keine blosse Vollzugshandlung mit Bezug auf den angefochtenen Entscheid, denn dieser setzt bloss den steuerbaren Kapitalgewinn fest, auf Grund dessen die Steuerberechnung erst noch vorzunehmen ist (nicht veröffentlichte Urteile vom 5. Mai 1965 i.S. Genossenschaft Hotel zur Post in Liq. S. 3/4 und vom 9. Juni 1966 i.S. Rickli S. 3/4). Im Rahmen des Steuerveranlagungsverfahrens stellt der angefochtene letztinstanzliche Entscheid der StRK mithin keinen Endentscheid, sondern lediglich einen Zwischenentscheid dar, gegen den nach
Art. 87 OG
die staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von
Art. 4 BV
nur dann zulässig ist, wenn er für den Beschwerdeführer einen nicht wiedergutzumachenden Nachteil zur Folge hat.
2.
Diese Voraussetzung trifft indes nicht zu. Der Beschwerdeführer kann den Entscheid der StRK noch im Anschluss an die Festsetzung der geschuldeten Steuer mit staatsrechtlicher Beschwerde wegen Verletzung von
Art. 4 BV
anfechten. Die dadurch bewirkte Verlängerung des Verfahrens stellt nach ständiger Rechtsprechung keinen nicht wiedergutzumachenden Nachteil im Sinne von
Art. 87 OG
dar (
BGE 87 I 372
Erw. 2 mit Verweisungen;
BGE 89 I 362
).
Es liesse sich einwenden, das Nichteintreten auf eine derartige Willkürbeschwerde führe zu einem formalistischen Leerlauf, weil der Beschwerdeführer vor erneuter Anrufung des Bundesgerichts abermals an die kantonale Rechtsmittelinstanz gelangen müsse, obschon diese über die gleiche Frage bereits befunden habe. Der Einwand wäre indessen unbegründet. Nach der Rechtsprechung wird vom Erfordernis der Erschöpfung des kantonalen Instanzenzuges abgesehen, wenn die angefochtene Verfügung auf einem Entscheid der kantonalen Rechtsmittelinstanz beruht und von dieser dergestalt zum voraus gebilligt worden ist, so dass sich die Ergreifung eines weiteren kantonalen Rechtsmittels als zwecklos und als leere Formalität erweisen würde (
BGE 86 I 39
mit Verweisungen,
BGE 89 I 362
/3). Wenn daher der Beschwerdeführer die Veranlagung der geschuldeten Steuer nur mit Bezug auf die von der StRK bereits festgestellten Steuerfaktoren anfechten will, so braucht er die
BGE 93 I 450 S. 454
kantonalen Rechtsmittel nicht noch einmal zu erschöpfen, sondern kann unmittelbar staatsrechtliche Beschwerde erheben (
BGE 86 I 39
/40,
BGE 89 I 362
/3). Will er dagegen auch oder nur die auf Grund des Entscheides der StRK vorgenommene Steuerberechnung anfechten, dann muss er insoweit ohnehin zuerst den kantonalen Instanzenzug durchlaufen, bevor er staatsrechtliche Beschwerde erheben kann. Vom Standpunkt der Prozessökonomie aus hat diese Rechtsprechung den Vorteil, dass alle Beanstandungen des Beschwerdeführers mit Bezug auf die kantonale Steuerveranlagung dem Bundesgericht mit einer einzigen statt mit zwei getrennten staatsrechtlichen Beschwerden unterbreitet werden können.
Diese Auffassung entspricht einer gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichts bei staatsrechtlichen Beschwerden wegen Verletzung von
Art. 4 BV
in Steuersachen (
BGE 89 I 362
/3; nicht publizierte Entscheide vom 5. Mai 1965 i.S. Genossenschaft Hotel zur Post in Liq., 9. Juni 1966 i.S. Rickli und 20. Juni 1967 i.S. Nowo-Immobilien AG). Aus den oben genannten Gründen besteht kein Anlass, von dieser Rechtsprechung abzuweichen, zumal sie vom Beschwerdeführer, der von Beruf Rechtsanwalt ist, mit keinem Wort in Zweifel gezogen wird.
Auf die Beschwerde ist daher nicht einzutreten. | de |
9cf6b7ee-0b8f-4dd2-b516-ed89c9e5b03a | Sachverhalt
ab Seite 365
BGE 102 Ib 365 S. 365
Z. wurde am 4. Februar 1973 auf dem Flughafen Zürich-Kloten verhaftet, weil er in den beiden Doppelböden seines Reisekoffers vier Kilogramm konzentriertes, flüssiges Cannabisharz aus dem nahen Osten mitführte und diese Ware nicht zur Zollbehandlung angemeldet hatte. Die Zollkreisdirektion II leitete gegen ihn eine Untersuchung ein, die am 26. Juni 1973 mit der Aufnahme eines Strafprotokolls endete, worin der Betrag des umgangenen Zolles und der umgangenen Warenumsatzsteuern festgehalten wurde. Z. unterzeichnete das Protokoll unter Vorbehalt einer Beschwerde an die Oberzolldirektion (OZD) betreffend Festsetzung der Warenumsatzsteuern. Am 17. Juli 1973 wandte sich Z. mit einem als "Beschwerde"
BGE 102 Ib 365 S. 366
bezeichneten Schreiben an die OZD. Diese nahm dazu in einem am 23. Oktober 1973 an Z. adressierten Brief Stellung. Sie legte dar, weshalb die Steuerforderung berechtigt sei und forderte Z. auf, sofern es "sein Wille sein sollte, gegen die Steuerfestsetzung Beschwerde zu erheben und einen förmlichen Beschwerdeentscheid zu erhalten", ihr dies innert 10 Tagen mitzuteilen. Z. liess die Frist unbenützt ablaufen. Die OZD schloss aus seinem Schweigen, dass er auf eine Beschwerde gegen die Abgabenfestsetzungen verzichtet habe und diese rechtskräftig geworden sei. Das Eidg. Finanz- und Zolldepartement erliess daraufhin die Strafverfügung. Z. erhob dagegen Einsprache und verlangte gerichtliche Beurteilung. Bezirksgericht und Obergericht bestätigten in der Folge die Strafverfügung. Am 20. März 1975, d.h. am Tag, da das Obergericht sein Urteil in der Strafsache Z. fällte, erkundigte sich der Rechtsvertreter von Z. bei der OZD nach dem ausstehenden Entscheid über die von Z. bei ihr am 17. Oktober 1973 eingereichte Beschwerde. Die OZD erklärte mit Schreiben vom 4. April 1975, nachdem die Strafsache vor den ordentlichen Gerichten anhängig und damit der Kognition der Zollverwaltung entzogen sei, könne sie auf die Abgabenfestsetzung im Strafprotokoll nicht mehr zurückkommen. Die Eidg. Zollrekurskommission, an die Z. daraufhin gelangte, trat auf die Beschwerde nicht ein mit der Begründung, die Feststellung des Obergerichts, wonach eine rechtskräftige, den Richter bindende Steuerfestsetzung vorliege, sei endgültig und nicht mehr anfechtbar; mit dem Übergang des Strafverfahrens an den Richter sei die Frage nach der rechtskräftigen Abgabenfestsetzung vom Richter zu entscheiden. Gegen diesen Entscheid erhebt Z. Verwaltungsgerichtsbeschwerde, die das Bundesgericht abweist, mit folgenden Erwägungen
Erwägungen:
1.
Z. hat im Verfahren vor der Zollrekurskommission verlangt, die OZD sei zu verhalten, die Beschwerde, die er am 17. Juli 1973 bei ihr eingereicht habe, zu behandeln. Die Zollrekurskommission ist auf die Beschwerde nicht eingetreten mit der Begründung, es sei gerichtlich festgestellt worden, dass die Abgabenfestsetzung durch die Zollkreisdirektion rechtskräftig sei. Mit einem derartigen Entscheid ist sie auf
BGE 102 Ib 365 S. 367
das bei ihr eingelegte Rechtsmittel materiell eingetreten. Sie durfte die Beschwerde daher nicht durch einen Nichteintretensbeschluss erledigen. Zur Behandlung einer Rechtsverzögerungs- oder Rechtsverweigerungsbeschwerde gegen die OZD war die Zollrekurskommission zuständig und sie behauptet nicht, dass die Beschwerde an formellen Mängeln leide. Ob die OZD zu Recht oder Unrecht auf das Begehren des Beschwerdeführers nicht eingetreten ist und ob der dafür vorgebrachte Grund rechtsgenüglich war, gehört zur materiellen Beurteilung der Sache und beschlägt nicht eine Eintretensvoraussetzung. Da die Zollrekurskommission in der Entscheidbegründung materiell tatsächlich auf die Beschwerde eingetreten ist, kann davon ausgegangen werden, sie habe die Beschwerde abgewiesen. Damit entfällt der Vorwurf der Rechtsverweigerung und der Verletzung des rechtlichen Gehörs.
2.
Auf den 1. Juli 1975 ist das Bundesgesetz vom 22. März 1974 über das Verwaltungsstrafrecht (VStrR) in Kraft getreten. Es hob u.a. die Art. 90-100 des Zollgesetzes vom 1. Oktober 1925 (ZG) auf, ebenso die Absätze 1 und 3 von
Art. 101 ZG
, welche die Zollzahlung betreffen.
Art. 101 Abs. 3 ZG
hatte bestimmt, dass vorgängig der administrativen Strafverfügung wegen Bannbruchs die Festsetzung des geschuldeten Betrages durch die Zollbehörde stattfinde. Hiegegen konnte Beschwerde geführt werden; der rechtskräftig gewordene Zollansatz hatte als Grundlage für die administrative und, im Weiterzugsfall, die richterliche Strafbemessung zu dienen. Das Strafverfahren wickelte sich nach den Regeln der Art. 293ff. BStP ab. Dabei bildete der umgangene Zollbetrag die Grundlage für die Strafzumessung und musste daher grundsätzlich vorweg, d.h. vor Erlass der Strafverfügung, ermittelt werden. Das gleiche galt hinsichtlich der Umgehung der Warenumsatzsteuer (
Art. 52 Abs. 1 WUStB
).
Art. 101 Abs. 3 ZG
ist ersetzt worden durch Art. 73 Abs. 1 und 77 Abs. 4 VStrR.
Art. 106 VStrR
schreibt aber vor, dass Strafverfahren, in denen die Strafverfügung der Verwaltung nach Art. 293 oder
Art. 324 BStP
vor dem Inkrafttreten der neuen Vorschriften ergangen ist, nach bisherigem Recht fortgesetzt werden. Die administrative Strafverfügung gegen Z. ist am 28. November erlassen und am 11. Dezember 1973 eröffnet worden. Das Strafverfahren ist daher nach altem Verfahrensrecht fortzusetzen. Das bedingt, dass auch die Bestimmungen
BGE 102 Ib 365 S. 368
des bisherigen Rechts in bezug auf die Zollfestsetzung bzw. Festsetzung der geschuldeten Warenumsatzsteuern und das gegenseitige Verhältnis zwischen dem Verfahren betreffend Festsetzung der Abgaben und dem Zollstrafverfahren beachtet werden müssen.
3.
Im alten und hier an sich anwendbaren Recht unterscheidet
Art. 101 ZG
deutlich zwischen dem Verfahren zur Festsetzung des geschuldeten Abgabebetrages und der administrativen und richterlichen Strafbemessung (
BGE 88 IV 91
E. 2a). Die Abgabenfestsetzung durch die zuständige Zollbehörde geht der administrativen Strafverfügung und einem allfälligen gerichtlichen Verfahren zur Festsetzung der Strafe für den Bannbruch voraus, wobei der rechtskräftig gewordene Abgabebetrag als Grundlage für die administrative und die richterliche Strafbemessung zu dienen hat.
Art. 305 Abs. 1 BStP
bestimmte ferner, das Strafverfahren sei durch die Gerichte einzustellen, bis das Verwaltungsgericht - und dazu gehört auch die Zollrekurskommission (
BGE 88 IV 94
E. 3) - über die Leistungspflicht entschieden habe, wenn diese bei ihm angefochten worden sei. Art. 124 der Vollziehungsverordnung zum ZG vom 10. Juli 1926 gestattete nämlich, die Strafverfügung auch zu erlassen, wenn gegen die Zollfestsetzung Beschwerde erhoben worden war, so dass es vorkommen konnte, dass über die Abgabenfestsetzung noch nicht rechtskräftig entschieden und dennoch das Strafverfahren bei den Gerichten anhängig war (vgl. auch
Art. 299 BStP
). Die Verordnungsvorschrift wurde im Zuge des Erlasses des VStrR aufgehoben und ersetzt.
Auch nach neuem Recht ist die Zuständigkeit nicht wesentlich anders geordnet; das Verfahren zur Festsetzung des geschuldeten Abgabebetrages und das Strafverfahren sind voneinander getrennt. Ein Antrag, die Gerichte im Strafverfahren vorfrageweise auch über die Rechtsbeständigkeit der Abgabenforderung entscheiden zu lassen, blieb in den parlamentarischen Verhandlungen in der Minderheit (Amtl. Bull. 1973 N I 492). Eine Änderung trat nur in dem Sinne ein, dass den Gerichten bei offensichtlicher Unrichtigkeit der Abgabenfestsetzung die Möglichkeit eingeräumt wird, die Akten an die Verwaltungsbehörden zurückzuweisen, offenbar in der Meinung, diese hätten aufgrund des gerichtlichen Urteils in dessen Sinn neu zu verfügen. Hat jedoch ein Verwaltungsgericht die
BGE 102 Ib 365 S. 369
geschuldete Abgabe festgesetzt, muss der Strafrichter die rechtskräftig festgesetzte Abgabe seiner Strafzumessung zugrundelegen.
Aufgrund dieser Ordnung ergibt sich, dass die Zuständigkeit zur Festsetzung der Abgabe nicht einfach an die Gerichte übergeht, wenn diese im Strafverfahren die Strafe nach Massgabe des umgangenen Abgabebetrages festzusetzen haben. Nach wie vor bleiben die Verwaltungs- bzw. die Verwaltungsrechtspflegebehörden dafür zuständig.
4.
Im hier zu beurteilenden Zusammenhang handelt es sich nicht um die Festsetzung des Abgabenbetrages, sondern um die Frage, ob dieser (hier durch das Strafprotokoll vom 26. Juni 1973) rechtskräftig ermittelt worden sei. Die Frage, ob die geschuldeten Abgaben rechtskräftig festgesetzt sind, ist für den Strafrichter verfahrensrechtlich von Bedeutung. Falls die Rechtskraft nicht eingetreten ist, hat er seinen Entscheid bis zur rechtskräftigen Erledigung durch die zuständigen Behörden auszusetzen. Der Strafrichter hat also vorweg darüber zu befinden, ob der Zoll (allenfalls die Warenumsatzsteuer) rechtskräftig festgesetzt worden ist oder nicht. Der Entscheid darüber betrifft jedoch für ihn nur eine Vorfrage; es handelt sich allenfalls um einen Zwischenentscheid, der für das Verfahren der Abgabenermittlung keine Bedeutung hat. Zur vorfrageweisen Beurteilung von Rechtsfragen, deren Beantwortung an sich in die Zuständigkeit einer andern Behörde fällt, ist nach schweizerischer Auffassung der Richter berechtigt, wenn ihm diese Befugnis nicht - wie gerade in bezug auf die Abgabenfestsetzung - ausdrücklich entzogen ist (
BGE 98 Ia 120
; GRISEL, Droit administratif suisse, S. 93; IMBODEN-RHINOW, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, 5. Aufl., Nr. 142 I). Die vorfrageweise Entscheidung schafft jedoch nicht Recht in der Hauptsache (
BGE 88 I 9 | de |
6819939c-44e6-4776-89b3-c952504f7fa9 | Sachverhalt
ab Seite 187
BGE 141 V 186 S. 187
A.
Mit Verfügung vom 30. April 2013 bzw. Einspracheentscheid vom 19. August 2013 setzte die Ausgleichskasse des Kantons Basel-Landschaft die von A. als Nichterwerbstätiger für die Beitragsperiode von 1. Januar bis 31. Dezember 2010 zu entrichtenden AHV/IV/EO-Beiträge auf Fr. 7'906.40 (inkl. Verwaltungskosten) fest, wobei sie der Beitragsberechnung ein massgebendes Vermögen (halbiert und gerundet) von Fr. 3'150'000.- (Reinvermögen am Stichtag 31. Dezember 2010 von Fr. 3'002'271.-, kapitalisiertes Renteneinkommen von Fr. 3'331'700.- [Fr. 166'585.- x 20]) zugrunde legte.
B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde, mit welcher A. beantragte, seine Beiträge seien auf der Grundlage eines massgebenden Vermögens von Fr. 2'850'000.- (statt Fr. 3'150'000.-) festzusetzen, wies das Kantonsgericht Basel-Landschaft mit Entscheid vom 19. Juni 2014 ab.
C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A. die Aufhebung des angefochtenen Entscheids und erneuert sein vorinstanzliches Rechtsbegehren.
Während die Beschwerdegegnerin auf Abweisung der Beschwerde schliesst, trägt das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) insoweit auf Abweisung der Beschwerde an, als diese sich gegen die Kapitalisierung der Überbrückungsrente richtet.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Nichterwerbstätige bezahlen je nach ihren sozialen Verhältnissen einen Beitrag von bis zu Fr. 10'300.- pro Jahr (Art. 10 Abs. 1 erster Satz AHVG;
Art. 3 Abs. 1
bis
IVG
; Art. 27 Abs. 2 vierter Satz EOG [SR 834.1]; je in der hier anwendbaren, bis 31. Dezember2011 gültig gewesenen Fassung). Über die Beitragsbemessung hat der Bundesrat gestützt auf Abs. 3 von
Art. 10 AHVG
nähere Vorschriften erlassen: Die Beiträge der Nichterwerbstätigen, welche - wie vorliegend - mehr als den jährlichen Mindestbeitrag zu entrichten haben, werden aufgrund des Vermögens und Renteneinkommens nach der in Abs. 1 von
Art. 28 AHVV
(SR 831.101) enthaltenen Tabelle berechnet, wobei das jährliche Renteneinkommen mit 20 multipliziert wird. Verfügt ein Nichterwerbstätiger gleichzeitig über Vermögen
BGE 141 V 186 S. 188
und Renteneinkommen, so wird der mit 20 multiplizierte jährliche Rentenbetrag zum Vermögen hinzugerechnet (Abs. 2). Für die Berechnung des Beitrages ist das Vermögen einschliesslich des mit 20 multiplizierten jährlichen Rentenbetrages auf die nächsten 50'000 Franken abzurunden (Abs. 3). Ist eine verheiratete Person als Nichterwerbstätige beitragspflichtig, so bemessen sich ihre Beiträge aufgrund der Hälfte des ehelichen Vermögens und Renteneinkommens (Abs. 4).
3.
Im Streit liegt die Höhe des massgebenden Vermögens und hierbei einzig die Festsetzung des kapitalisierten Renteneinkommens.
3.1
Zum einen rügt der Beschwerdeführer die Kapitalisierung der ihm von 1. Januar 2008 bis Ende Januar 2013 (Erreichen des ordentlichen AHV-Rentenalters) ausgerichteten Überbrückungsrente seiner Pensionskasse von jährlich Fr. 26'520.-. Er stellt zwar die in ZAK 1988 S. 169 wiedergegebene Rechtsprechung (Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts H 258/86 vom 12. August 1987 betreffend eine von der beruflichen Vorsorgeeinrichtung bis zum AHV-Rentenalter ausgerichtete "AHV-Vorauszahlung"), wonach solche Leistungen als Renteneinkommen zu qualifizieren sind, explizit nicht in Frage. Hingegen hält er die Multiplikation der Überbrückungsrente mit dem Faktor 20 - welcher im Falle von lebenslänglichen Renten zwar sachgerecht sei, nicht jedoch im Falle temporärer Renten - für willkürlich und mit dem "Prinzip der Äquivalenz der Rente und des dafür angerechneten Vermögenswerts" nicht vereinbar. Auch moniert er, der Maximalwert der Überbrückungsrente hätte von den Spezialisten der Ausgleichskasse ohne Weiteres festgestellt werden können.
Wie der Beschwerdeführer zu Recht anerkennt, ist die von der beruflichen Vorsorgeeinrichtung bis zum Erreichen des ordentlichen AHV-Rentenalters erbrachte Überbrückungsrente praxisgemäss als massgebendes Renteneinkommen zu qualifizieren (Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts H 117/89 vom 12. Oktober 1989 E. 3 mit Hinweisen). Damit im Widerspruch steht indes sein Vorbringen, die Überbrückungsrente sei gleich zu behandeln wie eine temporäre Leibrente, deren Vermögenswert bezifferbar ist, denn in einem solchen Fall läge gerade
kein
Renteneinkommen im Sinne der Rechtsprechung vor (Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts H 160/05 vom 2. Februar 2006 E. 4.1 mit Hinweisen; vgl. auch Rz. 2089 neuntes Lemma e contrario der Wegleitung des BSV über die Beiträge der Selbständigerwerbenden und Nichterwerbstätigen [WSN] in der AHV, IV und EO in der ab 1. Januar 2013 gültigen Fassung). Bei
BGE 141 V 186 S. 189
Renteneinkommen erübrigt sich die vom Beschwerdeführer anbegehrte, genaue Berechnung des Maximalwerts jedoch von vornherein: Wie das BSV in seiner Stellungnahme zutreffend darlegt, ermöglicht die Regelung von
Art. 28 AHVV
der Massenverwaltung ein pauschales, durchführungstechnisch einfach zu bewältigendes Verfahren, bei welchem auf eine versicherungsmathematisch korrekte Umrechnung von Rentenleistungen in Vermögen verzichtet wird. Das Bundesgericht hat diese Regelung in ständiger Rechtsprechung als verfassungs- und gesetzeskonform erachtet (
BGE 127 V 65
E. 3a S. 67;
BGE 125 V 230
E. 3a S. 233 f.;
BGE 120 V 163
E. 2 i.f. S. 166;
BGE 105 V 241
E. 2 S. 243; Urteil H 29/06 vom 6. Februar 2007 E. 5.2, in: SVR 2007 AHV Nr. 16 S. 45). Auch hat es sich bereits mit dem vom Beschwerdeführer erhobenen Einwand, die Kapitalisierung könne nur bei einer lebenslänglichen Rente und nicht bei einer Zeitrente vorgenommen werden, auseinandergesetzt und diesen verworfen (
BGE 120 V 163
E. 4c S. 169). Auf diese Rechtsprechung kann verwiesen werden, ohne dass näher zu prüfen wäre, ob der Beschwerdeführer hinsichtlich der geltend gemachten Grundrechtsverletzung den Anforderungen der qualifizierten Rügepflicht gemäss
Art. 106 Abs. 2 BGG
genügt.
3.2
3.2.1
Zum anderen macht der Beschwerdeführer sinngemäss geltend, Beschwerdegegnerin und Vorinstanz hätten
Art. 10 Abs. 1 AHVG
i.V.m.
Art. 28 Abs. 1 AHVV
verletzt, indem sie davon ausgegangen seien, er habe im Jahr 2010 ein Renteneinkommen von Fr. 102'054.- statt Fr. 94'370.- erzielt. Bei dem die Differenz ausmachenden Betrag von Fr. 7'684.- handle es sich um eine
einmalige
Auszahlung freier Stiftungsmittel, welche - da es sich nicht um eine wiederkehrende Leistung handle - nicht als Renteneinkommen zu qualifizieren sei. Vielmehr habe diese Leistung das massgebende Vermögen erhöht und sei dadurch bei der Beitragsbemessung erfasst worden.
Dagegen verweisen Vorinstanz und Beschwerdegegnerin auf die ständige Rechtsprechung des Bundesgerichts, wonach der Begriff des Renteneinkommens im weitesten Sinne zu verstehen ist (
BGE 125 V 230
E. 3b S. 234;
BGE 120 V 163
E. 4a S. 167; Urteil 9C_117/2014 vom 28. Juli 2014 E. 3.2; je mit Hinweisen). Entscheidend sei daher nicht, ob die Leistungen mehr oder weniger die Merkmale einer Rente aufwiesen, sondern ob die Leistungen zum Unterhalt der versicherten Person beitrügen, d.h. ob es sich um
BGE 141 V 186 S. 190
Einkommensbestandteile handle, welche die sozialen Verhältnisse der nichterwerbstätigen Person beeinflussten. Dies sei hier der Fall, womit die Qualifikation als Renteneinkommen nicht zu beanstanden sei.
3.2.2
Vorinstanz und Beschwerdegegnerin ist insoweit beizupflichten, als die Rechtsprechung im Kontext der Beitragsbemessung der Nichterwerbstätigen mehr als die Einkünfte, die gemeinhin als "Renteneinkommen" bezeichnet werden, unter diesen Begriff subsumiert. Nichtsdestotrotz muss es sich bei den Einkünften, wenn auch im weitesten Sinne (vgl. E. 3.2.1 Abs. 2 hievor), um Renteneinkommen handeln. Bereits der Begriff der Rente bzw. derjenige des Einkommens geht von einer
Regelmässigkeit
(und nicht von einer Einmaligkeit) der Leistung aus (vgl. Duden, Das Bedeutungswörterbuch, Bd. 10, 4. Aufl. 2010, S. 307 und 761). In diesem Sinne sind nach der Lehre sämtliche
wiederkehrenden
Leistungen (revenus
périodiques
), die die sozialen Verhältnisse des Nichterwerbstätigen beeinflussen und die weder durch eine Erwerbstätigkeit erzielt werden, noch einen Vermögensertrag darstellen, Renteneinkommen (FRANZISKA GROB, Die Beiträge der Nichterwerbstätigen in der AHV, in: AHV-Beitragsrecht, Schaffhauser/Kieser [Hrsg.], 2011, S. 85; GROB/KLEINLOGEL, Die Beiträge der Nichterwerbstätigen in der AHV, der IV und der EO, Soziale Sicherheit [CHSS] 2/2008 S. 117; PIERRE-YVES GREBER, in: Commentaire des articles 1 à 16 de la loi fédérale sur l'assurance-vieillesse et survivants [LAVS], N. 27 zu
Art. 10 AHVG
; MICHEL VALTERIO, Droit de l'assurance-veillesse et survivants [AVS] et de l'assurance-invalidité [AI], 2011, S. 159 Rz. 517). Dass es sich beim Renteneinkommen um wiederkehrende Leistungen handeln muss, hält die WSN in Rz. 2087 ausdrücklich fest. Nichts anderes ergibt sich aus Rz. 2088 WSN, wonach auch unregelmässig (aber damit ebenfalls: mehr als einmalig) erbrachte Leistungen zum Renteneinkommen zählen. Im Einklang damit hat die Rechtsprechung u.a. Renten, Taggelder, den Mietwert einer unentgeltlich zur Verfügung gestellten Wohnung, regelmässig erbrachte Zuwendungen von Dritten und andere periodische Leistungen als Renteneinkommen qualifiziert (vgl. UELI KIESER, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Sozialversicherungsrecht, Alters- und Hinterlassenenversicherung, 3. Aufl. 2012, N. 32 zu
Art. 10 AHVG
; VALTERIO, a.a.O., S. 159 Rz. 518; vgl. auch Rz. 2089 WSN). Lehre und Rechtsprechung gehen davon aus, dass durch die in
Art. 28 Abs. 2 AHVV
vorgesehene Umrechnung des Renteneinkommens ein Vermögen berechnet werden soll, das einen jährlichen Ertrag in
BGE 141 V 186 S. 191
der Höhe des Renteneinkommens abwirft, dass also ein fiktiv hinter der Rente stehendes Deckungskapital zu ermitteln ist (GROB, a.a.O., S. 91 mit Hinweis auf
BGE 120 V 163
E. 4c S. 168 und HANSPETER KÄSER, Unterstellung und Beitragswesen in der obligatorischen AHV, 1996, S. 235).
Vorliegend ist unbestritten und aktenmässig erstellt (vgl. Rentenmeldung der Pensionskasse B. vom 25. Oktober 2010), dass die fragliche Leistung - es handelt sich um eine Barauszahlung freier Mittel aufgrund der Fusion der Ergänzungskasse der B. und der Pensionskasse der B. - in der Höhe von Fr. 7'684.-
einmalig
erfolgte. Dies schliesst nach dem hievor Dargelegten - namentlich wäre es bei einer einmaligen Leistung sinnwidrig, ein (fiktiv) dahinter stehendes Deckungskapital zu ermitteln (vgl. E. 3.2.2 erster Abs. i.f.) - die Qualifikation als Renteneinkommen aus. Daran ändert im Übrigen der Umstand nichts, dass die Steuerverwaltung Basel-Landschaft in der Veranlagungsverfügung vom 21. Februar 2013 - auch was den fraglichen Betrag betrifft - von Renteneinkommen ausgegangen ist: Der Begriff des Renteneinkommens gemäss
Art. 28 AHVV
ist unabhängig vom Begriff der Rente oder des Einkommens im Sinne des Steuerrechts (Urteile des Eidg. Versicherungsgerichts H 233/01 vom 4. Februar 2002 E. 2d; H 186/91 vom 2. Juni 1992 E. 4c mit Hinweisen; vgl. auch Rz. 2092 und 2108 WSN).
3.2.3
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde insoweit begründet, als der Betrag von Fr. 7'684.- nicht als Renteneinkommen zu qualifizieren ist. Der vorinstanzliche Entscheid und der Einspracheentscheid vom 19. August 2013 sind aufzuheben und die Sache ist an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen, damit sie im Sinne der Erwägungen über die Beiträge für das Jahr 2010 neu verfüge. | de |
d211659d-1604-4b54-b2d8-9094f7befe61 | Sachverhalt
ab Seite 93
BGE 128 I 92 S. 93
Der Regierungsrat des Kantons Zürich regelte mit Verordnung vom 8. Januar 1992 über die Berufe der Gesundheitspflege die Bewilligungsvoraussetzungen für die selbstständige Ausübung der Psychotherapie, wobei namentlich ein Psychologiestudium unter Einschluss der Psychopathologie, drei Jahre Berufsarbeit und zusätzlich 200 Stunden Selbsterfahrung, 200 Stunden Theorie und 200 Stunden Supervision verlangt wurden. Mit Urteil vom 3. Dezember 1993 hob das Bundesgericht die fragliche Verordnungsbestimmung auf, weil eine derartige Neuordnung, welche ausnahmslos einen Hochschulabschluss in Psychologie verlange, zumindest in ihren Grundzügen der Verankerung in einem formellen Gesetz bedürfe.
Am 21. August 2000 beschloss der Kantonsrat des Kantons Zürich folgende Änderung des Zürcher Gesundheitsgesetzes vom 4. November 1962:
§ 22. Die Bewilligung zur selbstständigen nichtärztlichen psychotherapeutischen Berufstätigkeit wird an Gesuchstellende erteilt, die sich ausweisen über:
a) ein abgeschlossenes Psychologiestudium einschliesslich Psychopathologie an einer schweizerischen Hochschule,
b) eine integrale Spezialausbildung in mindestens einer anerkannten, bei der Behandlung von psychischen und psychosomatischen Krankheiten und Störungen bewährten Psychotherapiemethode, die Theorie, Selbsterfahrung und Supervision in der entsprechenden Richtung umfasst, sowie c) eine mindestens zweijährige klinische psychotherapeutische Tätigkeit in unselbstständiger Stellung an einer anerkannten Institution unter psychiatrischer oder psychotherapeutischer Leitung oder in einer anerkannten psychotherapeutischen Fachpraxis.
BGE 128 I 92 S. 94
Eine vom Regierungsrat in ausgewogener Zusammensetzung gewählte Fachkommission überprüft insbesondere:
a) die nach Absatz 1 lit. b absolvierten integralen Spezialausbildungen,
b) die Qualitätsanforderungen der Institutionen und Praxen nach Absatz 1
lit. c.
In § 22a wurden ferner die Anforderungen an die Ausbildenden festgelegt und in § 22b der Tätigkeitsbereich der Psychotherapeuten umschrieben (selbstständige Feststellung von psychischen und psychosomatischen Krankheiten und Störungen sowie deren Behandlung mit psychotherapeutischen Methoden unter Ausschluss der Medikamentenabgabe). Übergangsrechtlich wurde als Art. II des Beschlusses schliesslich Folgendes bestimmt:
Die Bewilligung zur selbstständigen nichtärztlichen psychotherapeutischen Berufstätigkeit wird an Gesuchstellende erteilt, die vor dem 31. Dezember 1994 ihre selbstständige psychotherapeutische Tätigkeit im Kanton Zürich aufgenommen haben, diese seither grundsätzlich ununterbrochen ausüben und über eine ausreichende Ausbildung verfügen. Die Ausbildung gilt als ausreichend, wenn entweder die Zulassungsvoraussetzung der Erstausbildung gemäss § 22 Absatz 1 lit. a oder jene der Spezialausbildung gemäss § 22 Absatz 1 lit. b erfüllt wird, wobei von einer integralen Ausrichtung der Spezialausbildung abgesehen wird.
Das Recht auf Zulassung nach dieser Bestimmung verwirkt, wenn nicht innert sechs Monaten seit ihrem Inkrafttreten ein entsprechendes Gesuch gestellt worden ist.
Am 15. Dezember 2000 erhoben der Schweizer Psychotherapeuten Verband, der Schweizer Verein für Gestalttherapie und Integrative Therapie, die Schweizer CHARTA für Psychotherapie, das C.G. Jung-Institut Zürich sowie A., B., C., D. und E. staatsrechtliche Beschwerde an das Bundesgericht. Sie beantragten, § 22 lit. a des Gesundheitsgesetzes des Kantons Zürich in der Fassung vom 21. August 2000 und die damit zusammenhängende übergangsrechtliche Bestimmung in Art. II aufzuheben, eventuell nur die übergangsrechtliche Bestimmung aufzuheben. Sie machten geltend, das Erfordernis eines abgeschlossenen Psychologiestudiums sei mit der Wirtschaftsfreiheit (
Art. 27 BV
) unvereinbar und verstosse gegen das Rechtsgleichheitsgebot (
Art. 8 BV
).
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit darauf einzutreten ist. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
a) Nach
Art. 27 Abs. 1 BV
ist die Wirtschaftsfreiheit gewährleistet. Sie umfasst insbesondere die freie Wahl des Berufes sowie
BGE 128 I 92 S. 95
den freien Zugang zu einer privatwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit und deren freie Ausübung (
Art. 27 Abs. 2 BV
). Unter dem Schutz von
Art. 27 BV
steht somit auch die gewerbsmässige Tätigkeit als selbstständiger Psychotherapeut.
Wie andere Grundrechte kann die Wirtschaftsfreiheit auf gesetzlicher Grundlage (
Art. 36 Abs. 1 BV
) im öffentlichen Interesse (
Art. 36 Abs. 2 BV
) und unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismässigkeit (
Art. 36 Abs. 3 BV
) eingeschränkt werden. Nach der vom Kanton Zürich im Gesundheitsgesetz getroffenen Regelung wird für die selbstständige Ausübung der psychotherapeutischen Berufstätigkeit ein abgeschlossenes Psychologiestudium einschliesslich Psychopathologie, eine integrale Spezialausbildung in mindestens einer anerkannten Psychotherapiemethode und eine mindestens zweijährige klinische psychotherapeutische Tätigkeit in unselbstständiger Stellung verlangt. Die gesetzliche Grundlage kann nicht in Frage stehen. Sie wurde mit der angefochtenen Regelung auf der Stufe des formellen Gesetzes gerade geschaffen. Die Beschwerdeführer bestreiten auch nicht, dass die getroffene Regelung im öffentlichen Interesse liegt. Sie machen einzig geltend, das Erfordernis eines abgeschlossenen Psychologiestudiums einschliesslich Psychopathologie sei unverhältnismässig. Es müsse jedes andere Hochschulstudium, und zwar nicht nur in Pädagogik, Anthropologie, Philosophie oder Theologie (Beschwerdeführerin 8), sondern auch in Informatik (Beschwerdeführer 5), Musik (Beschwerdeführerin 9), Architektur oder Chemie als ausreichend angesehen werden; selbst eine Erstausbildung als Lehrerin (Beschwerdeführerin 6) oder als Krankenschwester (Beschwerdeführerin 7) sei genügend.
b) Das verfassungsmässige Gebot der Verhältnismässigkeit verlangt, dass staatliche Hoheitsakte für das Erreichen eines im übergeordneten öffentlichen Interesse liegenden Zieles geeignet, notwendig und für den Betroffenen zumutbar sein müssen (
BGE 126 I 112
E. 5b S. 119 f.;
BGE 124 I 40
E. 3e S. 44;
BGE 118 Ia 427
E. 7a S. 439). Erforderlich ist eine vernünftige Zweck-Mittel-Relation (
BGE 127 IV 154
E. 4c S. 161).
Die vom Kanton Zürich getroffene Regelung beruht auf drei Säulen, dem Hochschulstudium in Psychologie einschliesslich Psychopathologie, der Psychotherapieausbildung und der praktischen Tätigkeit. Die Beschwerdeführer erachten ein Hochschulstudium in Psychologie für nicht notwendig und wollen dieses Erfordernis gestrichen wissen. Es ist nun allerdings klar, dass die selbstständige psychotherapeutische Tätigkeit, die zur selbstständigen Feststellung
BGE 128 I 92 S. 96
von psychischen und psychosomatischen Krankheiten und Störungen sowie zu deren Behandlung mit psychotherapeutischen Methoden berechtigt (§ 22b des Gesundheitsgesetzes), eine sichere Diagnostik und zuverlässige Kenntnisse der eigenen fachlichen Grenzen voraussetzt, wozu ein fundiertes Wissen in Psychologie und Psychopathologie unerlässlich ist. Es kann daher verfassungsrechtlich nicht beanstandet werden, wenn eine Grundausbildung in Psychologie unter Einschluss der Psychopathologie verlangt wird (vgl. schon das unter anderem den Beschwerdeführer 1 betreffende Urteil des Bundesgerichts 2P.72/1992 vom 3. Dezember 1993, E. 5b; dieses Ergebnis ist in
BGE 125 I 335
E. 3b S. 338 zusammengefasst dargestellt). Fragen kann sich nur, ob verfassungsrechtlich eine inhaltliche Aequivalenzklausel geboten ist im Sinne der Möglichkeit des Nachweises einer dem Hochschulabschluss (in Psychologie) vergleichbaren wissenschaftlichen Ausbildung im psychologischen Fachbereich (offen gelassen im genannten Urteil vom 3. Dezember 1993, E. 5b am Ende). Keine weitergehende allfällige Relativierung des Erfordernisses des Psychologiestudiums ergibt sich aus der in der Beschwerdeschrift wiedergegebenen Textstelle aus dem Gutachten von Peter Saladin und Jörg Paul Müller vom 4. Februar 1977 zur basel-städtischen Regelung.
c) Was die Forderung nach einer derartigen Aequivalenzklausel betrifft, ist zunächst davon auszugehen, dass Absolventen anderer Universitätsabschlüsse Psychologie als Zusatzstudium unter erleichterten Bedingungen studieren können, wobei namentlich Nebenfächer entfallen und keine Lizentiatsarbeit verfasst werden muss. Für den Zürcher Gesetzgeber stand beim Erfordernis eines Psychologiestudiums im Vordergrund, dass damit eine breite Grundausbildung sichergestellt ist, die darüber hinaus, obwohl sechs Fachrichtungen angeboten werden, nicht schon einer bestimmten Therapieform verpflichtet ist, wie dies bei der nachfolgenden Spezialausbildung zutrifft. Würde auf ein Psychologiestudium verzichtet, so müsste sich der angehende Therapeut schon für eine bestimmte Schule und Therapieform entscheiden, bevor er über die erforderlichen wissenschaftlichen Grundlagen verfügt. Es liegt auch nahe, dass ohne diese breite Grundausbildung die Gefahr besteht, dass der Therapeut durch seine Therapiemethode allzu sehr geprägt ist. Qualifizierte Psychotherapie aber setzt die Fähigkeit voraus zu entscheiden, welche Methode bei welchen Krankheitsbildern am wirksamsten eingesetzt werden kann, erfordert somit eben die erwähnte breite Grundausbildung. Auch die Bemerkungen in der
BGE 128 I 92 S. 97
Beschwerdeergänzung hiezu vermögen die Überzeugung nicht zu erschüttern, dass das Psychologiestudium gerade in dieser Hinsicht besser auf die Therapietätigkeit vorbereitet als irgend ein anderes Hochschulstudium.
Ins Leere stösst der Hinweis der Beschwerdeführer, dass in keinem Kanton der Abschluss eines Psychologiestudiums zur Erlangung der Berufsausübungsbewilligung ausreiche. Zu betrachten ist die Zulassungsregelung in ihrer Gesamtheit. Der Zürcher Gesetzgeber hat mit dem Erfordernis eines Hochschulstudiums in Psychologie einschliesslich Psychopathologie, der nachfolgenden Psychotherapieausbildung und der praktischen Tätigkeit eine konsistente Regelung getroffen, die einen wirksamen Gesundheitsschutz gewährleistet, ohne dass sich sagen liesse, die Anforderungen wären unnötig streng oder unzumutbar hoch. Zwar liesse sich durchaus auch in Betracht ziehen, als Erstausbildung einen Hochschulabschluss geisteswissenschaftlicher Art, wie Philosophie, Pädagogik oder Theologie genügen zu lassen. Die durch das Psychologiestudium vermittelten Grundlagen wären diesfalls in einer Zusatzausbildung separat oder im Rahmen der Zweitausbildung zu erwerben. Ein derartiger Studienaufbau könnte für sich in Anspruch nehmen, dass der Zugang zur Psychotherapie breiter wäre, was sich für die angehenden Psychotherapeuten aufgrund des unterschiedlichen Erfahrungshorizonts befruchtend auswirken könnte. Ebenso wenig aber wie es Sache des Bundesgerichts ist, im Hinblick auf die Anforderungen an die Berufsausbildung bzw. an den Fähigkeitsnachweis für die Berufsausübung medizinische Streitfragen zu entscheiden (vgl.
BGE 125 I 335
E. 3c S. 342), hat das Bundesgericht vorliegend die Frage der Zweckmässigkeit der vom Gesetzgeber aufgestellten Kriterien betreffend die Ausbildungsanforderungen zu beurteilen. Den kantonalen Behörden kommt jedenfalls bei der Festlegung der Anforderungen an die Erteilung eines Fähigkeitsausweises ein weiter Gestaltungsspielraum zu (vgl.
BGE 113 Ia 286
E. 4a S. 289), der nur überschritten ist, wenn unnötige oder übertriebene Erfordernisse aufgestellt werden, was sich hier aber nicht sagen lässt, weil das Psychologiestudium als Erstausbildung eine unmittelbare und insoweit bessere Grundlage für die Spezialausbildung bildet als dies für andere geisteswissenschaftliche Studien zutrifft. Insofern kommt dem Umstand, dass andere Kantone andere Lösungen kennen, für sich allein keine massgebende Bedeutung zu (vgl.
BGE 125 I 276
E. 3d S. 278, 335 E. 2d S. 338 f.). Im gleichen Sinn ist schon aus diesem Grunde auch unerheblich die in
BGE 128 I 92 S. 98
der Beschwerdeergänzung aufgeführte Liste der Publikationen von praktisch tätigen Psychotherapeuten, welche Hochschulabschlüsse verschiedenster Disziplinen aufweisen.
Unter der Voraussetzung, dass eine befriedigende Übergangsregelung geschaffen wird (dazu E. 4), lässt sich somit nicht sagen, das Bestehen auf einem Psychologiestudium sei unverhältnismässig.
3.
Die Beschwerdeführer berufen sich auf die derogatorische Kraft (Grundsatz des Vorrangs) des Bundesrechts (
Art. 49 BV
) und das Rechtsgleichheitsgebot, wobei sie sich auf das Bundesgesetz vom 6. Oktober 1995 über den Binnenmarkt (Binnenmarktgesetz, BGBM; SR 943.02) beziehen und geltend machen, dieses verpflichte die Kantone, Psychotherapeuten, welche in einem anderen Kanton die Berufsausübungsbewilligung erhalten haben, ebenfalls zuzulassen; weil in anderen Kantonen ein Psychologiestudium nicht verlangt werde, verstosse die Zürcher Regelung gegen
Art. 49 BV
und - wenn ausserkantonale Fähigkeitsausweise ohne Psychologiestudium anerkannt würden - auch gegen das Rechtsgleichheitsgebot, weil im Kanton Zürich wohnhafte Psychotherapeuten diesfalls gegenüber kantonsfremden benachteiligt wären.
Diese Argumentation der Beschwerdeführer verkennt Tragweite und Struktur des Binnenmarktgesetzes, das sich auf den interkantonalen Waren- und Dienstleistungsverkehr bezieht und das sog. Cassis-de-Dijon-Prinzip verankert sowie bezüglich kantonaler Fähigkeitsausweise unter gewissen Einschränkungen vorschreibt, dass sie in der ganzen Schweiz Geltung haben. Daraus folgt aber nicht, dass die Kantone ihre jeweiligen Anforderungen demjenigen Kanton anpassen müssten, der die geringsten Anforderungen stellt (dazu umfassend
BGE 125 I 276
E. 4b-f S. 279-282; nebst anderen auch
BGE 125 I 322
E. 2c S. 325 f.). Ob einem Psychotherapeuten, der in einem anderen Kanton zur selbstständigen Berufsausübung zugelassen ist, gestützt auf das Binnenmarktgesetz eine Zulassung auch im Kanton Zürich erteilt werden müsste, braucht denn auch nicht im Zürcher Gesetz selber geregelt zu werden, und die Möglichkeit einer solchen Zulassung bedeutete nicht, dass der kantonale Gesetzgeber die Anforderungen für die ursprünglich vom Kanton Zürich zu erteilenden Bewilligungen herabsetzen müsste.
4.
Die Beschwerdeführer beanstanden auch die Übergangsregelung.
Nach der Rechtsprechung kann es verfassungsrechtlich geboten sein, eine Übergangsregelung zu erlassen, was das Bundesgericht in erster Linie unter Beachtung des Grundsatzes rechtsgleicher
BGE 128 I 92 S. 99
Behandlung, des Verhältnismässigkeitsprinzips und des Willkürverbots (
BGE 123 II 385
E. 9 S. 395 f.;
BGE 114 Ib 17
E. 6b S. 25;
BGE 106 Ia 254
E. 3c/4a S. 260;
BGE 104 Ib 205
E. 5b S. 216) sowie des Vertrauensschutzes (Urteil 2P.276/1995 vom 3. April 1996, in: Pra 86/1997 Nr. 1 S. 1, E. 4b) beurteilt. Im Übrigen ist die Ausgestaltung einer angemessenen Übergangsregelung allerdings dem Gesetzgeber anheimgestellt, dem hierbei ein weiter Spielraum des Ermessens zusteht (
BGE 106 Ia 254
E. 4a S. 260; Urteile des Bundesgerichts 2P.436/1997 vom 5. Februar 1999, veröffentlicht in: ZBl 101/2000 S. 383, E. 2c; 2P.298/1998 vom 2. Juli 1999, veröffentlicht in: ZBl 102/2001 S. 319, E. 4c, und 2P.276/1995 vom 3. April 1996, veröffentlicht in: Pra 86/1997 Nr. 1 S. 1, E. 4b, mit Hinweisen).
Die getroffene Übergangsregelung ermöglicht die erleichterte Bewilligung für diejenigen Psychotherapeuten, die schon lange (d.h. länger als seit 31. Dezember 1994) als solche tätig sind. Sie müssen nur die Zulassungsvoraussetzungen entweder der Erst- oder aber der Spezialausbildung erfüllen. Diese Regelung trägt einerseits den Erfordernissen des Gesundheitsschutzes Rechnung und ist andererseits für die Psychotherapeuten, welche schon längere Zeit als solche tätig sind, nicht zu einschneidend. Die Beschwerdeführer beanstanden das Stichdatum des 31. Dezember 1994 mit der Begründung, damals habe noch nicht abgesehen werden können, dass als Erstausbildung ein Psychologiestudium verlangt werde. Es liegt in der Natur der Sache, dass vor Verabschiedung eines Gesetzes dessen Inhalt noch nicht mit Sicherheit feststehen kann. Die Situation im Kanton Zürich war dadurch geprägt, dass die selbstständige psychotherapeutische Tätigkeit auf Ärzte beschränkt war, was das kantonale Verwaltungsgericht am 21. August 1991 als mit der Handels- und Gewerbefreiheit unvereinbar erachtete. Die daraufhin getroffene Regelung der selbstständigen psychotherapeutischen Tätigkeit auf Verordnungsstufe ist vom Bundesgericht mangels Grundlage im formellen Gesetz am 3. Dezember 1993 aufgehoben worden. In diesem Urteil hat das Bundesgericht überdies eine Übergangsregelung für erforderlich erachtet, weil in der Vergangenheit die psychotherapeutische Tätigkeit faktisch auch Nichtärzten gestattet gewesen sei. Wer allerdings später die selbstständige psychotherapeutische Tätigkeit aufnahm, musste wissen, dass der Kanton Zürich eine Regelung zu erlassen gewillt war. Er musste auch damit rechnen, dass ein Psychologiestudium Voraussetzung sein könnte, zumal der Regierungsrat ein solches in der aufgehobenen Verordnung vorschreiben wollte. Wer ohne diese Vorbildung noch eine
BGE 128 I 92 S. 100
selbstständige psychotherapeutische Tätigkeit aufnahm, konnte bei diesen zeitlichen Abläufen nicht wirklich darauf vertrauen, dass er nach Erlass des Gesetzes dieser Anforderung nicht gerecht werden müsste. Die getroffene Regelung kann daher verfassungsrechtlich nicht beanstandet werden. | de |
37666cdd-6b65-49ee-bbcf-a6e9ad14562e | Sachverhalt
ab Seite 438
BGE 117 IV 437 S. 438
In der Nacht vom 31. Oktober auf den 1. November 1986 sägte H. gemeinsam mit einer weiteren Person in Reconvilier einen Fahnenmast um und nahm die daran gehisste Bernerflagge mit. Die Flagge verbrannte er später. In der Nacht vom 12. auf den 13. Oktober 1986 zerstörte eine Täterschaft von mindestens vier Personen die "Justitia" auf dem Gerechtigkeitsbrunnen in Bern. H. wird vorgeworfen, einer der Täter zu sein.
Das Obergericht des Kantons Bern verurteilte H. am 2. Juli 1990 wegen einfacher und qualifizierter Sachbeschädigung zu 22 Monaten Zuchthaus sowie zur Bezahlung von Fr. 199'963.-- zuzüglich Zins von 5% seit 13. Oktober 1986 an die Einwohnergemeinde Bern.
H. erhebt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an das Obergericht zurückzuweisen. Das Obergericht hat auf Gegenbemerkungen verzichtet. Der Generalprokurator des Kantons Bern und die Einwohnergemeinde der Stadt Bern beantragen Abweisung der Beschwerde. Der Groupe Sangliers hat keine Vernehmlassung eingereicht. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
a) Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von
Art. 28 StGB
. Das Recht zum Strafantrag sei persönlich und unübertragbar. Sei der Verletzte eine juristische Person, so sei die interne Organisation massgeblich für die Strafantragsberechtigung. Die Vorinstanz verletze
Art. 28 StGB
, wenn sie annehme, es spiele keine Rolle, ob der Verletzte ein Verein oder eine einfache Gesellschaft sei. Denn entgegen der Auffassung der Vorinstanz hänge gerade davon ab, wer gültig Antrag stellen könne.
b) Einfache Sachbeschädigung gemäss
Art. 145 Abs. 1 StGB
wird nur auf Antrag verfolgt. Antragsberechtigt ist nach einer Auffassung nur der Eigentümer der beschädigten Sache, da
BGE 117 IV 437 S. 439
Art. 145 ausschliesslich das Eigentum schütze und nur der Eigentümer als der Träger des unmittelbar geschützten Rechtsgutes anzusehen sei (STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil I, 3. Aufl., S. 222 f. N 13; REHBERG, Strafrecht III, 5. Aufl., S. 113). Das Bundesgericht hat angenommen, antragsberechtigt sei überdies der Mieter respektive jeder Berechtigte, der die Sache nicht mehr gebrauchen kann (
BGE 74 IV 6
; zustimmend SCHWANDER, Das schweizerische Strafgesetzbuch, N 555; LOGOZ, Commentaire du Code pénal suisse,
Art. 145 N 3
a; NOLL, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil, S. 166; SCHUBARTH, Kommentar zum schweizerischen Strafrecht,
Art. 145 N 34
).
An dieser Rechtsprechung ist festzuhalten. Denn der Eigentümer ist häufig durch die Sachbeschädigung nicht oder weniger betroffen, wenn ihm der Sachwert gegebenenfalls von einer Versicherung ersetzt wird und wenn er selbst am unmittelbaren Gebrauchswert kein Interesse hat. Demgegenüber können der Mieter und andere Berechtigte unmittelbar auf den Gebrauchswert der Sache angewiesen und deshalb von deren Ausfall stärker betroffen sein, als wenn sie nur den entsprechenden Sachwert verloren hätten (SCHUBARTH, a.a.O.). Überdies entspricht es den Reformbestrebungen, Sachbeschädigung und damit eine entsprechende Antragsberechtigung schon dann anzunehmen, wenn an der Sache ein fremdes Gebrauchs- oder Nutzungsrecht besteht (vgl. Botschaft über die Änderung des Strafgesetzbuches vom 24. April 1991, BBl 1991 II 1013 sowie Art. 144 Abs. 1 des Entwurfes, a.a.O. 1122).
c) Der Groupe Sangliers war nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz (
Art. 277bis Abs. 1 BStP
) Inhaber der Verfügungsgewalt über Fahnenmast und Flagge. Damit war er Berechtigter im oben umschriebenen Sinne und deshalb strafantragsberechtigt. Ob er ein Verein oder eine einfache Gesellschaft sei, durfte die Vorinstanz ohne Verletzung von Bundesrecht offenlassen. Aufgrund der obergerichtlichen Annahme war V. Präsident des Groupe Sangliers. Als Vereinspräsident stand ihm die Vertretungsmacht und damit das Strafantragsrecht zu, da weder ein entgegenstehender Handelsregistereintrag noch eine derartige individuelle Mitteilung aktenkundig ist (RIEMER, Berner Kommentar, N 67 ff. zu
Art. 69 ZGB
). Als einfacher Gesellschafter konnte er als Verletzter Strafantrag stellen (REHBERG, Der Strafantrag, ZStR 85/1969 S. 259). Der Hinweis des Beschwerdeführers auf
BGE 99 IV 1
geht an der Sache vorbei, weil dort die Strafantragsberechtigung eines Handlungsbevollmächtigten eines kaufmännischen
BGE 117 IV 437 S. 440
Unternehmens in einer Ehrverletzungssache und somit ein nicht vergleichbarer Fall zu beurteilen war. Deshalb bedurfte es vorliegend auch keiner nachträglichen Bestätigung des Strafantrags durch den Groupe Sangliers.
2.
Die einfache Sachbeschädigung gemäss
Art. 145 Abs. 1 StGB
ist mit Gefängnis bis zu drei Jahren oder Busse bedroht, qualifizierte Sachbeschädigung gemäss Abs. 2 demgegenüber mit Zuchthaus von einem bis zu fünf Jahren. Die Qualifikation ist gegeben, wenn der Täter aus gemeiner Gesinnung einen grossen Schaden verursacht hat.
a) Das Tatbestandsmerkmal des grossen Schadens ist vorliegend unstrittig erfüllt. Die Vorinstanz geht von einem Schaden von rund Fr. 200'000.-- aus; auch der Beschwerdeführer anerkennt einen Schaden von mindestens Fr. 82'000.--. Die Qualifikation ist somit in objektiver Hinsicht zu bejahen.
b) aa) Bei der Auslegung des Tatbestandsmerkmals der gemeinen Gesinnung ist der Rechtsfolge Rechnung zu tragen (
BGE 106 IV 25
), weshalb das Merkmal eng auszulegen ist (
BGE 104 IV 247
). Das Bundesgericht hat gerade in seiner jüngeren Rechtsprechung betont, dass Qualifikationen restriktiv auszulegen sind, wenn sie zu einer erhöhten Mindeststrafe führen (
BGE 116 IV 316
E. aa, 329 E. 3a, 337 E. 3b;
BGE 117 IV 22
; vgl. auch
BGE 117 IV 161
E. a). Dabei ist zu beachten, dass vorliegend für den Grundtatbestand nur Gefängnis bis zu drei Jahren ausgesprochen werden kann; die Qualifikation ist also schärfer als etwa diejenige des gewerbsmässigen Betrugs.
Die Rechtsprechung hat eine gemeine Gesinnung verneint bei der Zerstörung einer Radaranlage zur Verhinderung von Bestrafung und Führerausweisentzug (
BGE 106 IV 24
), dagegen bejaht bei terroristischen Anschlägen (
BGE 104 IV 238
; kritisch dazu STRATENWERTH, a.a.O., S. 223 N 15). In
BGE 104 IV 248
wurde die gemeine Gesinnung angenommen mit der Begründung, der Täter habe die unkontrollierbare und unberechenbare Wirkung der Sprengstoffexplosion gekannt und daher einen sehr grossen Schaden und die Gefahr für Leib und Leben unbeteiligter arg- und wehrloser Menschen in Kauf genommen. Er habe sich bei diesem heimtückischen und hinterhältigen Vorgehen gegen die abgelehnte Gesellschaft offenkundig letztlich von Hass- und Rachegefühlen leiten lassen. Diese seien nach den Umständen nicht entschuldbar gewesen und daher besonders verwerflich oder gemein im Sinne des Gesetzes. Die Gefühle hätten nicht bloss der momentanen
BGE 117 IV 437 S. 441
Stimmungslage, sondern einer dauernden Einstellung entsprochen, welche die Täter immer wieder zu neuen Attentaten getrieben habe.
bb) Mit der Vorinstanz ist davon auszugehen, bei der Zerstörung der "Justitia" handle es sich um einen skrupellosen Vandalenakt. Zwar wurden dabei - im Gegensatz zum Geschehen in
BGE 104 IV 238
- keine unbeteiligten Personen gefährdet.
Art. 145 StGB
zählt aber zu den strafbaren Handlungen gegen das Vermögen. Deshalb kann das Tatbestandsmerkmal der gemeinen Gesinnung nicht allein mit dem Argument verneint werden, Menschen seien nicht in Gefahr gewesen. Vorliegend ist von Bedeutung, dass es sich beim Gerechtigkeitsbrunnen von Bern nicht bloss um ein Denkmal mit grossem symbolischem Wert, sondern auch um ein einmaliges, historisch äusserst wertvolles Kunstwerk handelt. Wer aber ohne Rücksicht auf kulturelle Werte und die Wertschätzung in der Bevölkerung gezielt ein derartiges Kunstwerk zerstört, der handelt aus gemeiner Gesinnung im Sinne von
Art. 145 Abs. 2 StGB
. Deshalb verletzt die vorinstanzliche Annahme der qualifizierten Sachbeschädigung Bundesrecht nicht. Die Nichtigkeitsbeschwerde erweist sich insoweit als unbegründet. | de |