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85d067d7-e9f4-46aa-a39a-6a889ac12b90 | Sachverhalt
ab Seite 283
BGE 93 II 282 S. 283
A.-
Hans Ernst betreibt in Räumen, die er von Frau Elisabeth Nussbaum im Jahre 1959 mit fester Vertragsdauer bis zum 30. Juni 1975 mietete, eine Konditorei mit Tea-Room.
Mit Schreiben vom 22. Juli 1966, das Ernst am folgenden Tage zuging, stellte die Vermieterin fest, dass er bei der Einrichtung des Tea-Rooms im Jahre 1959 ohne ihr Wissen die Entlüftungsanlage an die Heizung angeschlossen habe, und verlangte deswegen von ihm für die verflossene Mietzeit einen zusätzlichen Heizungskostenbeitrag von Fr. 6000.--; für die Bezahlung dieses Betrages setzte sie ihm eine Frist von 30 Tagen an, mit der Androhung, dass bei deren Nichteinhaltung der Mietvertrag aufgelöst sei.
Ernst beauftragte am 18. August 1966 die Filiale einer schweizerischen Grossbank, den Betrag von Fr. 6000.-- auf das Postcheckkonto der Vermieterin zu überweisen. Die Bank nahm diese Überweisung jedoch erst am 29. August 1966 vor.
Da die Zahlung bis zum Ablauf der Frist, d.h. bis zum 22. August 1966, nicht eingegangen war, stellte die Vermieterin mit Schreiben vom 26. August an den Mieter fest, dass das Mietverhältnis androhungsgemäss aufgelöst sei.
B.-
Auf Begehren der Vermieterin befahl der Einzelrichter im summarischen Verfahren beim Bezirksgericht Zürich dem Mieter mit Verfügung vom 21. September 1966, die Mieträumlichkeiten unverzüglich zu räumen und sie der Vermieterin ordnungsgemäss zu übergeben.
Das Obergericht des Kantons Zürich, II. Zivilkammer, wies den von Ernst gegen diese Verfügung erhobenen Rekurs am 31. Januar 1967 ab, gewährte ihm aber 14 Tage Frist für die Räumung der Mietsache.
Ernst reichte gegen diesen Entscheid Nichtigkeitsbeschwerde ein. Das Kassationsgericht des Kantons Zürich kam zum Schlusse, die Frage, ob der Vermieterin die Berufung auf die Säumnisfolgen auf Grund des
Art. 2 ZGB
zu versagen sei, könne nicht als liquid im Sinne des § 292 Ziff. 1 zürch. ZPO
BGE 93 II 282 S. 284
gelten, sondern bedürfe einer eingehenden Prüfung im ordentlichen Verfahren; es fehle somit an einer Voraussetzung für das summarische Verfahren. Das habe das Obergericht verkannt und dadurch den Nichtigkeitsgrund des
§ 344 Ziff. 9 ZPO
(Widerspruch mit einer klaren gesetzlichen Bestimmung) geschaffen. In Anwendung dieser Vorschrift hiess das Kassationsgericht daher am 24. April 1967 die Nichtigkeitsbeschwerde gut, schützte im Sinne einer neuen Sachentscheidung (
§ 349 ZPO
) den Rekurs des Beschwerdeführers gegen die Ausweisungsverfügung des Einzelrichters vom 21. September 1966 und hob diese auf.
C.-
Mit der vorliegenden Berufung beantragt Frau Nussbaum dem Bundesgericht, den Entscheid des Kassationsgerichts aufzuheben, die kantonale Nichtigkeitsbeschwerde abzuweisen und Ernst unter Androhung von Zwangsvollstreckung und Ordnungsbusse die unverzügliche Räumung und Übergabe der Mietsache zu befehlen; eventuell sei das Kassationsgericht anzuweisen, auf die Nichtigkeitsbeschwerde nicht einzutreten.
Ernst beantragt, auf die Berufung nicht einzutreten, eventuell sie abzuweisen. Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Die Nichtigkeitsbeschwerde gemäss § 344 ff. zürch. ZPO hemmt die Rechtskraft und Vollziehbarkeit der angefochtenen Entscheidung nicht (
§ 348 Abs. 2 ZPO
), noch hat sie Devolutiveffekt (
§ 349 ZPO
). Sie ist somit gemäss ständiger Rechtsprechung nicht ein ordentliches Rechtsmittel im Sinne von
Art. 48 Abs. 1 OG
(
BGE 39 II 156
oben,
BGE 63 II 327
ff.,
BGE 71 II 184
f.,
BGE 78 II 189
,
BGE 85 II 285
). Soweit das Kassationsgericht den Nichtigkeitsgrund von
§ 344 Ziff. 9 ZPO
bejaht hat, kann daher sein Entscheid von vorneherein mit der Berufung nicht angefochten werden. Abgesehen hievon wäre es eine mit der Berufung nicht überprüfbare Frage des kantonalen Prozessrechts, ob das Kassationsgericht den erwähnten Nichtigkeitsgrund zu Recht oder zu Unrecht als gegeben betrachtet habe.
Nun hat aber das Kassationsgericht von der ihm durch
§ 349 ZPO
eingeräumten Befugnis Gebrauch gemacht, nach der Aufhebung des nichtig erklärten Entscheides selber ein neues Sachurteil zu fällen. Gegen diesen Entscheid ist kein ordentliches kantonales Rechtsmittel zulässig. Insoweit steht daher
Art. 48 Abs. 1 OG
der Berufung nicht im Wege (BIRCHMEIER,
BGE 93 II 282 S. 285
Bundesrechtspflege, S. 170, zweitletzter Absatz am Ende).
2.
Art. 48 Abs. 1 OG
lässt die Berufung jedoch nur zu gegen Endentscheide. Ein solcher liegt nur vor, wenn der kantonale Richter den streitigen Anspruch materiell beurteilt oder dessen Beurteilung aus einem Grunde abgelehnt hat, der die Geltendmachung des gleichen Anspruchs endgültig ausschliesst (
BGE 84 II 230
, 398 und dort erwähnte Entscheide;
BGE 86 II 123
.
BGE 88 II 59
Erw. 2).
Diese weitere Voraussetzung erfüllt der angefochtene Sachentscheid des Kassationsgerichts nicht. Dieses hat das Ausweisungsbegehren der Vermieterin abgewiesen, weil der Streit mangels Liquidität des Ausweisungsanspruches nicht im summarischen Verfahren entschieden werden könne, sondern im ordentlichen Verfahren auszutragen sei. Der Ausweisungsanspruch ist also nicht endgültig verneint worden. Die Berufungsklägerin hat vielmehr die Möglichkeit, ihn in einem andern Verfahren erneut geltend zu machen. Auf die vorliegende Berufung kann daher nicht eingetreten werden.
3.
Die Berufung ist übrigens auch noch aus einem weiteren Grunde nicht zulässig.
Das Kassationsgericht hat die Zulässigkeit des Befehlsverfahrens nur deshalb verneint, weil der Anspruch auf Ausweisung des Berufungsbeklagten nicht im Sinne von
§ 292 Ziff. 1 ZPO
liquid sei. Ob das zutrifft, ist eine Frage des kantonalen Prozessrechtes, die gemäss
Art. 43 Abs. 1 und
Art. 55 Abs. 1 lit. c OG
nicht Gegenstand der Berufung sein kann. Dass der Anspruch, den die Berufungsklägerin geltend macht, aus
Art. 265 OR
, also aus einer Bestimmung des Bundesrechts, abgeleitet wird, und das Kassationsgericht geprüft hat, ob ihm möglicherweise
Art. 2 ZGB
, also wiederum Bundesrecht, im Wege stehe, ändert nichts. Wie klar dieser Anspruch im vorliegenden Falle sei, war nur eine Vorfrage. Der kantonale Richter verstösst aber nicht schon dann gegen Bundesrecht, wenn er bei der Anwendung kantonalen Rechts eine bundesrechtliche Vorfrage unrichtig beurteilt. Bundesrecht ist in einem solchen Falle nur verletzt, wenn ihm das kantonale Recht von Bundesrechts wegen Rechnung tragen muss (
BGE 80 II 183
,
BGE 84 II 132
,
BGE 85 II 363
f. Erw. 2). Diese Voraussetzung trifft hier nicht zu. Das Bundesrecht verlangt nicht, das kantonale Recht müsse für die Durchsetzung klarer Rechtsansprüche, insbesondere solcher aus
Art. 265 OR
, ein summarisches Verfahren zur
BGE 93 II 282 S. 286
Verfügung stellen. Es überlässt es dem kantonalen Recht, ob es in solchen Fällen das ordentliche oder ein summarisches Verfahren vorsehen will. Die gleiche Überlegung liegt auch
BGE 88 II 59
zugrunde, der ebenfalls einen Streit aus
Art. 265 OR
betraf, und ebenso wurde in
BGE 83 II 143
Erw. 2 für den Fall der Besitzesschutzklage entschieden.
4.
Aus den in Erw. 3 dargelegten Gründen kann sich die Berufung auch nicht auf den von der Berufungsklägerin subsidiär angerufenen
Art. 50 OG
stützen; denn auch mit der Berufung gegen selbständige Vor- und Zwischenentscheide kann nur die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden.
Im vorliegenden Falle wären übrigens die Voraussetzungen des
Art. 50 OG
offensichtlich nicht erfüllt. Diese Bestimmung trifft nur zu, wenn der kantonale Richter bloss einzelne der ihm unterbreiteten Fragen eidgenössischen Rechts beurteilt, die übrigen dagegen vorläufig offen lässt. Sie will dem Bundesgericht ermöglichen, die vorweg behandelten Fragen auf Berufung hin seinerseits vorweg zu beurteilen, wenn dadurch sofort ein Endentscheid herbeigeführt und ein bedeutender Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren erspart werden kann. Das Kassationsgericht hat jedoch nicht die Beurteilung einzelner Fragen vorweggenommen, sondern einen Entscheid gefällt, der das eingeleitete Befehlsverfahren abschliesst. Dieses müsste also bei Abweisung der Berufung nicht über weitere Fragen fortgesetzt werden. Das Eintreten auf die Berufung und deren Gutheissung hätte somit nicht eine Abkürzung dieses Verfahrens zur Folge. Was die Berufungsklägerin vermeiden will, ist die Einleitung eines neuen Verfahrens: Sie will im Berufungsverfahren entscheiden lassen, ob ihr im summarischen Verfahren geltend gemachter Anspruch vom angerufenen Richter beurteilt und geschützt werden müsse, oder ob sie ihn nur im ordentlichen Verfahren allenfalls durchsetzen könne. | de |
5df1bc2d-29d1-4bb8-92fa-1b04b9452253 | Sachverhalt
ab Seite 229
BGE 86 I 229 S. 229
A.-
G. ist Eigentümer eines rund 3 ha messenden Grundstücks. Mit Vertrag vom 27. April 1954 räumte er einer Unternehmung eine Dienstbarkeit ein, wonach sie berechtigt ist, das Kies- und Sandvorkommen auszubeuten, das sich dort unter der Humusschicht befindet. Die Unternehmung hat das abgebaute Gebiet fortlaufend auf ihre Kosten wieder aufzufüllen und mit einer Humusdecke zu versehen. Als "Entschädigung" hat sie dem Eigentümer alljährlich Zahlungen zu leisten, die nach dem abgebauten Raum bemessen werden (Fr. 1.20 je m3). Das Ausbeutungsrecht
BGE 86 I 229 S. 230
begann am 1. Mai 1954; es dauert unbestimmte Zeit. Der Vertrag ist erstmals auf Ende 1974 kündbar. In den Jahren 1955 und 1956 beutete die Unternehmung eine Fläche von 90 a aus.
Bei der Veranlagung des G. für die Wehrsteuer der 9. Periode wurden die Vergütungen, die er von der Unternehmung für die Berechnungsjahre 1955 und 1956 erhalten hatte, als Einkommen aus unbeweglichem Vermögen im Sinne von Art. 21 Abs. 1 lit. b WStB erfasst. Die kantonale Rekurskommission stellte für die beiden Jahre unter diesem Titel einen "Rohertrag" von Fr. 75'241.-- in Rechnung. Hievon zog sie Fr. 9000.-- (Fr. 1.- je m2 abgebauter Fläche) ab in Erwägung, dass der Wert des Grundstücks sich infolge der Kies- und Sandgewinnung während der Berechnungsperiode in diesem Umfange vermindert habe. Unter Berücksichtigung des so ermittelten "Reinertrages" des Grundstücks setzte sie das steuerbare Einkommen auf Fr. 42'000.-- fest.
B.-
Gegen diesen Entscheid erhebt G. Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, das steuerbare Einkommen sei auf Fr. 9000.-- herabzusetzen.
Er macht geltend, die Beträge, die er von der Unternehmung bezieht, fielen nicht in die Berechnung der Wehrsteuer für Einkommen. Es handle sich nicht um einen Ertrag unbeweglichen Vermögens im Sinne von Art. 21 Abs. 1 lit. b WStB, sondern um eine Gegenleistung für die Veräusserung eines Teils der Substanz des Grundstücks. Ein dabei erzielter Gewinn könnte nur als Kapital- oder Grundstückgewinn gemäss Art. 21 Abs. 1 lit. d oder allenfalls als Wertvermehrung nach lit. f daselbst erfasst werden, jedoch bloss dann, wenn er im Betrieb eines zur Führung kaufmännischer Bücher verpflichteten Unternehmens entstanden wäre. Diese Voraussetzung treffe beim Beschwerdeführer nicht zu. - Wollte man, der Betrachtungsweise der Rekurskommission folgend, der Wertverminderung Rechnung tragen, so könnte man, entgegen der Auffassung dieser Behörde, nicht lediglich einen Anteil
BGE 86 I 229 S. 231
am Erwerbspreis abziehen. Vielmehr müssten Fr. 15.- bis Fr. 20.- je m2 für effektiven Wertverlust und ferner ein Anteil an den Unkosten (Vertrags-, Grundbuch-, Geometerkosten usw.) in Rechnung gestellt werden.
C.-
Die kantonale Rekurskommission und die eidg. Steuerverwaltung schliessen auf Abweisung der Beschwerde.
D.-
Im Instruktionsverfahren vor Bundesgericht ist ein Architekt als Sachverständiger beigezogen worden. Eine Delegation des Gerichts hat mit ihm in Anwesenheit des Beschwerdeführers und der Behördevertreter einen Augenschein vorgenommen. Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Nach Art. 21 WStB unterliegen der Einkommenssteuer grundsätzlich die gesamten Einkünfte des Steuerpflichtigen aus Erwerbstätigkeit, Vermögensertrag oder anderen Einnahmequellen. Die sogenannte Quelle ist gedacht als das Mittel, das dem Steuerpflichtigen Einnahmen zuführt, die als Erträgnisse dem bisherigen Besitze gegenübergestellt werden. Der Rohertrag der Quelle wird gekürzt um gewisse mit der Einkommenserzielung verbundene Aufwendungen (Gewinnungskosten usw., Art. 22 WStB). Veränderungen der Quelle dagegen sind bei Steuern auf Quellenerträgnissen in der Regel unbeachtlich. Der Wehrsteuerbeschluss sieht nur für buchführungspflichtige Betriebe eine abweichende Ordnung vor (Art. 21 Abs. 1 lit. d und f, Art. 22 Abs. 1 lit. b und c); danach werden Vermögensvermehrungen und -verminderungen (Kapitalgewinne und -verluste) berücksichtigt, die unter Umständen nicht oder nicht ausschliesslich den Ertrag der Einkommensquelle als solchen betreffen (
BGE 72 I 39
/40). Für den Beschwerdeführer, der nicht buchführungspflichtig ist, gilt jedoch diese Sonderregelung nicht. Er unterliegt der allgemeinen, nur die Quellenerträgnisse erfassenden Ordnung der Wehrsteuer für Einkommen.
2.
Die Rekurskommission betrachtet die Vergütungen,
BGE 86 I 229 S. 232
die der Beschwerdeführer auf Grund des Dienstbarkeitsvertrages vom 27. April 1954 erhalten hat, als (rohen) Ertrag unbeweglichen Vermögens im Sinne von Art. 21 Abs. 1 lit. b WStB. Dagegen erblickt der Beschwerdeführer darin eine Entschädigung für die Veräusserung eines Teils der Substanz seines Grundstückes. Wäre ihm zuzustimmen, so hätten die Vergütungen den Charakter eines Kaufpreises. Es könnte dann nicht von einem Ertrag einer Quelle im Sinne des Art. 21 WStB gesprochen werden. Der bei der Teilveräusserung allenfalls erzielte Gewinn wäre als Kapitalgewinn gemäss Art. 21 Abs. 1 lit. d WStB zu charakterisieren und könnte beim nicht buchführungspflichtigen Beschwerdeführer nicht als Einkommen erfasst werden.
Unter Art. 21 Abs. 1 lit. b WStB fällt "jedes Einkommen aus unbeweglichem Vermögen, gleichgültig, ob es durch Vermietung oder Verpachtung oder durch Eigengebrauch erzielt wird". Die Bestimmung erfasst einerseits den Ertrag, den der Eigentümer dadurch aus dem Grundstück zieht, dass er es unmittelbar für sich selbst gebraucht oder nutzt, und anderseits das Entgelt, das ihm ein anderer für die Überlassung des Gebrauchs oder der Nutzung zu entrichten hat, sei es kraft Miete oder Pacht, sei es eines ähnlichen Verhältnisses (Nutzniessung usw., vgl. Art. 21 Abs. 1 lit. c WStB, betreffend Einkommen aus beweglichem Vermögen). Es ist anerkannt, dass Gegenstand einer Pacht oder eines sonstigen Nutzungsverhältnisses auch die Gewinnung von Bodenbestandteilen (Mineralien) in einem Bergwerk, einem Steinbruch, einer Kiesgrube usw. sein kann (
Art. 771 ZGB
; OSER/SCHÖNENBERGER, N. 3, 5 und 9 zu
Art. 275 OR
). Dementsprechend lässt sich der Standpunkt vertreten, dass die Ausbeutung von Bodenschätzen dem Eigentümer, der sie selbst vornimmt oder einem anderen gegen Entgelt gestattet, ein Einkommen im Sinne von Art. 21 Abs. 1 lit. b WStB einträgt (vgl. den im Archiv für schweiz. Abgaberecht, Bd. 14 S. 479, wiedergegebenen Entscheid der Rekurskommission
BGE 86 I 229 S. 233
des Kantons Luzern vom 3. Mai 1946, betreffend Torfgewinnung). Das deutsche Einkommensteuergesetz vom 21. Dezember 1954, das die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung ebenfalls erfasst (§ 2 Abs. 3 Ziff. 6), erwähnt denn auch als Beispiel solchen Einkommens ausdrücklich die Einkünfte aus der Verpachtung eines Mineralgewinnungsrechtes (§ 21 Abs. 1 Ziff. 1). Da indessen die Ausbeutung von Bodenbestandteilen notwendigerweise die Substanz des Grundstücks angreift, ist zweifelhaft, ob angenommen werden kann, dass sie dem Eigentümer Quellenerträgnisse im Sinne des Art. 21 WStB verschafft. Am ehesten liesse sich diese Annahme noch in Fällen rechtfertigen, wo sozusagen unerschöpfliche Bodenschätze abgebaut werden. Sie ist aber zum mindesten dann fragwürdig, wenn das Mineralvorkommen durch die Ausbeutung in kurzer Zeit erschöpft wird. Wo der Eigentümer einem anderen gestattet, ein solches Vorkommen (z.B. ein Kies- und Sandlager) binnen kurzem vollständig abzubauen, wird unter Umständen eher ein Kauf als eine Pacht (oder ein ihr ähnliches Verhältnis) vorliegen (vgl. OSER/SCHÖNENBERGER, N. 9 zu
Art. 275 OR
). Auf jeden Fall können Vergütungen, die der Eigentümer von dem zur Mineralgewinnung Berechtigten erhält, insoweit nicht als Quellenerträgnisse im Sinne des Art. 21 WStB betrachtet werden, als sie eine Wertverminderung ausgleichen sollen, die das Grundstück infolge der Ausbeutung über den Verlust des Wertes der abgebauten Substanz hinaus erfährt.
3.
Der offenbar im Jahre 1955 begonnene Abbau des Kies- und Sandvorkommens im Grundstück des Beschwerdeführers ist bisher rasch fortgeschritten. Von der rund 300 a messenden Fläche der Parzelle waren Ende 1956 bereits 90 a und am 1. Juni 1960 260 a ausgebeutet. Bei gleichbleibendem Fortschreiten dürfte der Abbau des Kieses und Sandes im Jahre 1961 oder 1962 und die Wiederauffüllung der Grube einige Jahre später beendet sein, wie der Experte feststellt. Ob unter solchen Umständen von einem Ertragseinkommen im Sinne des Wehrsteuerbeschlusses
BGE 86 I 229 S. 234
die Rede sein könnte, ist ungewiss. Die Frage kann jedoch im vorliegenden Fall offen gelassen werden.
Das ausgebeutete Grundstück liegt in einer Gegend, die seit einigen Jahren mehr und mehr überbaut wird. Es ist ausgesprochenes Bauland. Sein Wert als Bauland wird aber nach den Feststellungen des Experten durch den Abbau des Kies- und Sandlagers erheblich vermindert, weil eine Überbauung der wieder aufgefüllten Grube eine kostspielige zusätzliche Fundation (Pfählung) voraussetzt. Der Experte beziffert den Wertverlust, der aus diesem Grunde während der Berechnungsperiode 1955/56 eingetreten ist, auf Fr. 165'000.--. Diese Schätzung erscheint als zuverlässig und wird von den Parteien auch nicht beanstandet; sie darf der Beurteilung zugrunde gelegt werden.
Wie angenommen werden muss, sind die Zahlungen, welche dem Beschwerdeführer nach dem Dienstbarkeitsvertrage zu leisten sind, mit als Ausgleich für die Wertverminderung gedacht, die das Grundstück als Bauland infolge der vorübergehenden Ausbeutung erleidet. Die Vergütungen von insgesamt Fr. 75'241.--, die der Beschwerdeführer für die Jahre 1955 und 1956 vom Vertragspartner bezogen hat, sind daher als (teilweiser) Ersatz für den Wertverlust von Fr. 165'000.-- zu betrachten, den der Experte für diese Jahre berechnet. Sie können somit nach dem in Erwägung 2 hiervor Ausgeführten nicht, auch nicht zu einem Teil, als (reiner) Vermögensertrag im Sinne des Wehrsteuerbeschlusses in die Berechnung der Wehrsteuer vom Einkommen einbezogen werden. Die Beschwerde erweist sich im vollen Umfange als begründet. | de |
7f34b543-41bf-47fd-afca-5723a464a427 | Sachverhalt
ab Seite 286
BGE 100 II 285 S. 286
A.-
Ruth Keller war in früherer Ehe mit Hans Emil Herzog verheiratet. Mit Urteil vom 5. Juni 1973 hatte das Bezirksgericht Zürich diese Ehe geschieden und die daraus hervorgegangenen Kinder Peter Hans, geb. am 28. März 1963, und Robert Ernst, geb. am 14. Juni 1966, unter die elterliche Gewalt der Mutter gestellt. Seit dem 17. August 1973 ist Ruth Keller mit Siegfried Keller verheiratet. Seither gibt sie den Namen der Kinder mit "Keller" an. Auf ihr Gesuch hin werden die Kinder auch in der Schule mit diesem Namen genannt.
B.-
Hans Emil Herzog stellte am 20. November 1973 beim Einzelrichter im summarischen Verfahren des Bezirkes Bülach das Begehren, es sei Ruth Keller unter Androhung von Ordnungsbusse und Überweisung an den Strafrichter im Unterlassungsfall zu befehlen, die beiden Kinder ausschliesslich unter dem Namen "Herzog" zu erziehen. Mit Verfügung vom 19. Dezember 1973 wurde das Begehren wegen Illiquidität abgewiesen. Das Obergericht des Kantons Zürich hiess einen vom Kläger gegen diese Verfügung eingereichten Rekurs teilweise gut und befahl der Beklagten mit Beschluss vom 28. März 1974 unter Androhung von Ordnungsbusse im Widerhandlungsfall, den Familiennamen der Kinder Peter Hans und Robert Ernst "im Sinne der Erwägungen Ziff. 4" mit "Herzog" anzugeben.
C.-
Hiegegen reichte die Beklagte sowohl Nichtigkeitsbeschwerde an das Kassationsgericht des Kantons Zürich als auch Berufung an das Bundesgericht ein, diese mit dem Antrag, das Begehren des Klägers sei in Aufhebung des angefochtenen
BGE 100 II 285 S. 287
Entscheids abzuweisen. Mit Beschluss vom 25. Juni 1974 wies das Kassationsgericht die Nichtigkeitsbeschwerde ab, soweit es darauf eintrat.
Eine Berufungsantwort wurde nicht eingeholt.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Gemäss
Art. 48 Abs. 1 OG
ist die Berufung in der Regel erst gegen Endentscheide zulässig. Ein solcher Entscheid liegt nach der Rechtsprechung nur vor, wenn der kantonale Richter den streitigen Anspruch materiell beurteilt oder dessen Beurteilung aus einem Grunde abgelehnt hat, der endgültig verbietet,. dass der gleiche Anspruch zwischen den gleichen Parteien nochmals geltend gemacht wird (
BGE 98 II 154
/155 mit Hinweisen).
Der angefochtene Entscheid erging in Anwendung von § 292 Ziff. 1 der zürcherischen Zivilprozessordnung (ZPO). Nach dieser Bestimmung ist "zur schnellen Handhabung klaren Rechts bei nicht streitigen oder sofort herstellbaren tatsächlichen Verhältnissen" das Befehlsverfahren zulässig. Dabei handelt es sich um eine Unterart des summarischen Verfahrens. Gemäss
§ 105 ZPO
sind Verfügungen im summarischen Verfahren, mit denen über einen Anspruch entschieden worden ist, nur für ein späteres summarisches Verfahren massgebend. Der Richter im ordentlichen Verfahren ist daran nicht gebunden (STRÄULI/HAUSER, N. 1 zu
§ 105 ZPO
; GULDENER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 2. Aufl., S. 483 ff., insbesondere 486). Eine im summarischen Verfahren beurteilte Sache kann daher dem ordentlichen Richter neuerdings zum Entscheid unterbreitet werden (so ausdrücklich STRÄULI/HAUSER, a.a.O.). GULDENER hat daraus gefolgert, dass die Entscheidung im summarischen Verfahren nur vorläufigen Charakter trage und zu einer Art einstweiliger Verfügung werde, bleibe doch der Entscheid des ordentlichen Richters vorbehalten (a.a.O. S. 486).
Mit Rücksicht auf diese beschränkte Rechtskraft der im zürcherischen Befehlsverfahren ergangenen Entscheidungen hat das Bundesgericht deren Berufungsfähigkeit früher verneint (
BGE 81 II 85
). Bereits in
BGE 82 II 562
/563 Erw. 3 wurde indessen die Berufung gegen Entscheide des zürcherischen Obergerichtes gemäss
§ 292 Ziff. 1 ZPO
als zulässig
BGE 100 II 285 S. 288
erklärt, sofern es sich dabei nicht um vorläufige Massnahmen handle, gegenüber welchen die Durchführung eines ordentlichen Verfahrens vorbehalten bleibe (vgl. auch
BGE 84 II 78
ff. Erw. 1b). In
BGE 90 II 463
Erw. 1 wird der endgültige Charakter solcher Entscheide unter Hinweis auf
BGE 82 II 562
wiederum bejaht, sofern darin kein Vorbehalt des ordentlichen Verfahrens enthalten sei. In
BGE 94 II 108
Erw. 1b spricht das Bundesgericht bereits von einer ständigen Rechtsprechung, wonach Entscheide im zürcherischen Befehlsverfahren, durch die ein Befehlsbegehren über einen vom Bundeszivilrecht beherrschten Anspruch in Anwendung von
§ 292 Ziff. 1 ZPO
geschützt worden sei, als berufungsfähige Endentscheide anerkannt würden. Der endgültige Charakter der Entscheidung wird vom Bundesgericht indessen nach wie vor verneint, wenn ein Begehren im Befehlsverfahren nicht gutgeheissen, sondern abgewiesen wird; denn in diesem Falle stehe es dem Kläger frei, seinen Anspruch im ordentlichen Verfahren erneut geltend zu machen (
BGE 93 II 285
Erw. 2; nicht veröffentlichtes Urteil des Bundesgerichts vom 6. Oktober 1972 in Sachen Schweizerische Treuhandgesellschaft gegen Fides Treuhand-Vereinigung).
Diese neuere Rechtsprechung entspricht bei strenger Betrachtungsweise der Definition des Endentscheids nicht. Denn nicht nur die ein Befehlsbegehren abweisende, sondern auch die gutheissende Entscheidung lässt die spätere Anrufung des ordentlichen Richters offen, erwächst also insofern nicht in materielle Rechtskraft (HASLER, SJZ 1972 S. 132; GULDENER, a.a.O. S. 486). Auch in diesem Falle ist demnach über den streitigen Anspruch nicht endgültig entschieden. An der bisherigen Praxis ist indessen - schon aus Gründen der Rechtssicherheit - festzuhalten. Der Begriff des Endentscheids im Sinne von
Art. 48 OG
wurde in der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichts auch in anderer Hinsicht extensiv ausgelegt. So wurde in
BGE 98 II 154
ff. das eine Klage wegen Rechtshängigkeit zurückweisende Urteil als Endentscheid betrachtet, obwohl der Kläger durch ein solches Urteil oft nur vorübergehend an der Geltendmachung seines Anspruchs gehindert wird. Es liegt in der Linie dieser Rechtsprechung, einem Beklagten, der im zürcherischen Befehlsverfahren letztinstanzlich zu einem bestimmten Verhalten verpflichtet worden ist, den Weg der Berufung ans Bundesgericht zu öffnen.
BGE 100 II 285 S. 289
Auch wenn ihm die Möglichkeit vorbehalten bleibt, die gleiche Frage später dem ordentlichen Richter zum Entscheid zu unterbreiten, so wird die ihm auferlegte Verpflichtung in der Regel doch während längerer Zeit ihre Wirkungen entfalten; sie kann sogar Gegenstand von Vollstreckungsmassnahmen bilden. So muss sich der im Befehlsverfahren aus seiner Wohnung ausgewiesene Mieter gefallen lassen, ausgeschafft zu werden, auch wenn er die Möglichkeit behält, beim ordentlichen Richter auf Rückerstattung der Wohnung oder auf Schadenersatz zu klagen (GULDENER, a.a.O. S. 486). Mit Rücksicht auf diese Auswirkungen der ein Befehlsbegehren gutheissenden Entscheidung lässt es sich verantworten, die Berufungsfähigkeit solcher Entscheide jedenfalls dann zu bejahen, wenn diese nicht zwangsläufig zu einem ordentlichen Verfahren Anlass geben (wie dies bei den vorsorglichen Massnahmen der Fall ist), sondern in der Regel für längere Zeit oder sogar endgültig Recht schaffen.
Auf die Berufung ist daher einzutreten. Dabei beschränkt sich die Kognition des Bundesgerichts selbstverständlich auf die Prüfung der richtigen Anwendung des Bundesrechts und erstreckt sich nicht auch auf die Frage der Liquidität im Sinne von
§ 292 Ziff. 1 ZPO
(vgl. dazu HASLER, SJZ 1972 S. 383 in fine).
2.
In materieller Hinsicht erweist sich die Berufung ohne Zweifel als unbegründet. Nach Rechtsprechung und Lehre hat der geschiedene Mann ein schützenswertes Interesse daran, dass seine unter die elterliche Gewalt der Mutter gestellten unmündigen Kinder keinen andern Namen als den seinen führen, dies jedenfalls solange, als die zuständige Behörde nicht aus wichtigen Gründen eine Namensänderung bewilligt hat (
BGE 97 I 621
/622 Erw. 3,
BGE 76 II 339
/340 und 342 Erw. 2; EGGER, N. 14 zu
Art. 29 ZGB
; HEGNAUER, N. 11 zu
Art. 270 ZGB
). Das Gegenteil kann entgegen den Ausführungen in der Berufungsschrift nicht etwa daraus abgeleitet werden, dass einem solchen Mann kein Recht darauf zusteht, die Namensänderung der Kinder gemäss
Art. 30 Abs. 3 ZGB
gerichtlich anzufechten. Das ist vielmehr eine Folge der gesetzlichen Ordnung, die ein Klagerecht nur gegen die Anmassung, nicht aber zur Verhinderung der Preisgabe des Namens gewährt (
BGE 76 II 341
). Ob die Interessen der Kinder, den Namen ihres Vaters aufgeben und einen andern Familiennamen
BGE 100 II 285 S. 290
annehmen zu können, überwiegen, hat nicht der Richter zu entscheiden, sondern die gemäss
Art. 30 Abs. 1 ZGB
zuständige Heimatbehörde. Dem Entscheid dieser Behörde darf nicht vorgegriffen werden. Das wäre jedoch der Fall, wenn sich das Gericht auf eine Interessenabwägung einliesse. Vorbehalten werden mag eine rechtsmissbräuchliche Geltendmachung des Rechts auf Führung des väterlichen Familiennamens. Die Vorinstanz hat indessen das Vorliegen eines Rechtsmissbrauchs verneint, und in der Berufungsschrift wird nichts vorgetragen, was zu einer andern Beurteilung Anlass gäbe. Verweisungen auf andere Rechtsschriften sind nach konstanter Praxis unbeachtlich (
BGE 97 II 163
Erw. 1,
BGE 92 II 67
,
BGE 89 II 414
). | de |
5dd17f3c-7807-4b61-9ade-6349995ee7a9 | Sachverhalt
ab Seite 225
BGE 145 III 225 S. 225
Die sich in Liquidation befindende H. GmbH (Beklagte 1) mit Sitz in Zug bezweckte die Führung einer Generalunternehmung, den
BGE 145 III 225 S. 226
Handel mit sowie den Kauf und Verkauf von Immobilien und Beteiligungen. G.G. (Beklagte 2, Beschwerdegegnerin) ist die Frau des am 21. Oktober 2006 verstorbenen H.G., der bis November 2006 als Geschäftsführer der Beklagten 1 mit Einzelunterschrift im Handelsregister eingetragen war.
Im Jahr 2001 schlossen A.A. und B.A. (Kläger und Beschwerdeführer 1 und 2), C.C. und D.C. (Kläger und Beschwerdeführer 3 und 4) sowie E.E. und F.E. (Kläger und Beschwerdeführer 5 und 6) mit der Beklagten 1 je einen "Generalunternehmer-Werkvertrag". Die Beklagte 1, deren Projektleiter H.G. war, übernahm die Verpflichtung, an der Strasse U. 50, 52 bzw. 54 in Küsnacht/ZH je ein Einfamilienhaus zum Preis von Fr. 1,81 Mio, Fr. 1,71 Mio. bzw. Fr. 1,797 Mio bis zum 1. September 2002 zu erstellen.
Infolge von heftigen Regenfällen vom 7. bis 9. August 2007 kam es zu einem Wassereinbruch in den drei Häusern der Kläger. Nachdem die Kläger bei der Beklagten 1 schriftlich Mängelrüge erhoben und sie erfolglos zu deren Behebung sowie zum Schutz vor allfälligen weiteren Schadensfällen aufgefordert hatten, liessen sie im Sinne einer Ersatzvornahme ein Hochwasserschutzkonzept realisieren.
Am 30. August 2012 verkauften die Kläger 3 und 4 ihre Liegenschaft an der Strasse U. 52 an Dritte. Dabei erzielten sie einen Kaufpreis von Fr. 3,2 Mio.
Mit Klage vom 23. März 2009 beantragten die Kläger beim Kantonsgericht Zug, die Beklagten seien solidarisch zu verpflichten, ihnen Fr. 1'959'861.85 nebst Zins zu bezahlen, unter Vorbehalt der Erhöhung bzw. Herabsetzung dieses Betrages nach Durchführung des Beweisverfahrens.
Nachdem das Verfahren auf die Frage der Haftung der Beklagten beschränkt worden war, stellte das Kantonsgericht Zug mit Vorentscheid vom 8. November 2013 fest, dass die Beklagte 1 den Klägern die Kosten für verschiedene Nachbesserungsarbeiten an den drei streitbetroffenen Liegenschaften zu ersetzen habe. Überdies wurde festgestellt, dass die Beklagten 1 und 2 dem Grunde nach für verschiedene Arten von Schäden, insbesondere auch für den merkantilen Minderwert, der Kläger haften.
Mit Urteil vom 16. Dezember 2014 wies das Obergericht des Kantons Zug die gegen diesen Vorentscheid erhobene Berufung der Beklagten 2 - mit Ausnahme des Kostenpunktes - sowie die von den Klägern erhobene Anschlussberufung ab.
BGE 145 III 225 S. 227
An der Hauptverhandlung vom 27. Februar 2017 änderten die Kläger ihr Rechtsbegehren und beantragten, die Beklagte 1 sei zu verpflichten, den Klägern Fr. 1'419'322.05 nebst Zins zu bezahlen und ihr seien sämtliche Kosten aller drei gerichtlichen Gutachten aufzuerlegen. Die Beklagte 2 sei zu verpflichten, den Klägern Fr. 1'097'810.- nebst Zins zu bezahlen, und ihr seien die Kosten für das gerichtliche Gutachten des Sachverständigen I. aufzuerlegen.
Mit Entscheid vom 24. April 2017 verurteilte das Kantonsgericht Zug die Beklagte 1 zur Zahlung von Fr. 329'547.25 nebst Zins an die Kläger. Daneben wurden die Beklagten 1 und 2 unter solidarischer Haftbarkeit verpflichtet, den Klägern den Betrag von Fr. 44'402.85 (vorprozessuale Anwaltskosten und Selbstbehalt Gebäudeversicherung) nebst Zins zu zahlen.
Gegen diesen Entscheid erhoben die Kläger am 26. Mai 2017 Berufung beim Obergericht des Kantons Zug. Sie beantragten, es seien die Beklagten 1 und 2 unter solidarischer Haftbarkeit zu verpflichten, ihnen - zusätzlich zu dem mit Entscheid des Kantonsgerichts vom 24. April 2017 zugesprochenen Betrag - Fr. 1'040'000.- nebst Zins zu 5 % seit dem 1. Februar 2009 als Schaden aus merkantilem Minderwert zu bezahlen.
Mit Urteil vom 29. Mai 2018 wies das Obergericht die Berufung hinsichtlich der Beklagten 2 ab, soweit darauf einzutreten war. Hinsichtlich der Beklagten 1 wurde das Verfahren infolge Konkurseröffnung sistiert.
Mit Beschwerde in Zivilsachen beantragen die Kläger, das Urteil des Obergerichts des Kantons Zug vom 29. Mai 2018 sei aufzuheben und es sei die Sache zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz, eventualiter an die Erstinstanz, zurückzuweisen. Eventualiter sei das Urteil des Obergerichts des Kantons Zug vom 29. Mai 2018 aufzuheben und es sei die Beschwerdegegnerin zu verpflichten, den Beschwerdeführern zusätzlich zu dem erstinstanzlich zugesprochenen Betrag den Betrag von Fr. 1'040'000.- nebst Zins zu 5 % seit dem 1. Februar 2009 zu bezahlen. Zusätzlich sei die Sache zur Neuverlegung der Prozesskosten der kantonalen Verfahren an die Vorinstanz, eventualiter an die Erstinstanz, zurückzuweisen.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
(Zusammenfassung)
BGE 145 III 225 S. 228 Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Da sich das Bundesgericht über die Anerkennung eines merkantilen Minderwerts bei Immobilien als ersatzfähigen Schaden noch nie konkret geäussert hat, sind zunächst allgemeine rechtliche Fragen in Zusammenhang mit dieser Schadensart zu prüfen.
3.1
Unter dem merkantilen Minderwert versteht man die durch ein schädigendes Ereignis verursachte Minderung des Verkehrswertes einer Sache, die unabhängig von deren technischen bzw. funktionellen Beeinträchtigung eintritt. Dieser merkantile Minderwert orientiert sich am subjektiven Empfinden potenzieller Käufer, wobei der Grund, weshalb der Markt mit einem nicht technisch begründeten Preisabschlag reagiert, ohne Belang ist. Während diese Wertminderung sich regelmässig - etwa bei einer beschädigten Sache - mit dem Verdacht verborgener Mängel trotz technisch einwandfreier Instandsetzung der Sache erklären lässt, sind auch andere wertmindernde Faktoren rein psychologischer Art denkbar. Ob der merkantile Minderwert als Mangelfolgeschaden zu qualifizieren oder dem Bereich der Minderung zuzuordnen ist, ist in der Lehre umstritten (vgl. zu diesem Meinungsstreit HERIBERT TRACHSEL, Der merkantile Minderwert im Werkvertrags-, Grundstückkauf- und Nachbarrecht, BR 2017 S. 336 f., 337 ff.).
In der Schweiz wird ein merkantiler Minderwert bei Motorfahrzeugen anerkannt. In
BGE 64 II 137
bejahte das Bundesgericht das Vorliegen eines ersatzfähigen Minderwerts eines Autos in Höhe von Fr. 400.- infolge einer schweren Unfallbeschädigung, dies obwohl nach Vornahme der Reparatur technisch kein Nachteil mehr vorhanden war. In
BGE 84 II 158
führte das Bundesgericht aus, es sei notorisch, dass sich ein Unfall mit Reparaturkosten von Fr. 900.- negativ auf den Verkehrswert des Autos auswirkt, dies auch nach einwandfreier Reparatur der sichtbaren Schäden ("C'est le cas même si les dégâts apparents ont été parfaitement réparés"). Im zuerst zitierten Entscheid erwog das Bundesgericht, dieser Schaden bestehe unabhängig davon, ob der Geschädigte das Auto behalte oder verkaufe. Massgebend für die Berechnung des Schadens sei der Tauschwert, d.h. die Summe, für welche der Eigentümer die Sache hätte verkaufen können (
BGE 64 II 137
E. 3c). Dies bestätigte das Bundesgericht in einer allgemeinen Erwägung in einem neueren nicht publizierten Urteil, in welchem es um die schadensrechtlichen Folgen eines Brands bei der Errichtung eines Panoramarestaurants ging.
BGE 145 III 225 S. 229
Es erwog, dass ein merkantiler Minderwert prinzipiell bei allen Sachen eintreten könne, für die aufgrund ihrer Eigenart die Möglichkeit erhöhter Schadenanfälligkeit typisch sei, bei denen also die Befürchtung verborgener Schäden oder Mängel für den weiteren Gebrauch der Sache von Bedeutung ist. Ob dies im konkreten Fall zutreffe, wurde offengelassen, da dem Beschwerdeführer der Schadensnachweis nicht gelang (Urteil 4A_113/2017 vom 6. September 2017 E. 4.3.1 und 4.3.3.1).
3.2
3.2.1
In der Lehre wird einhellig darauf hingewiesen, dass der merkantile Minderwert infolge Zeitablaufs abnimmt (MATTHIAS ZÖLLER, Der merkantile Minderwert: technische und rechtliche Widersprüche, in: Aachener Bausachverständigentage 2018, S. 137; ERIK THEES, Zur Versachlichung der Ermittlung der Höhe eines (bautechnisch irrationalen) merkantilen Minderwertes, in: Aachener Bausachverständigentage 2018, S. 165 f.; ALFRED KOLLER, Schweizerisches Obligationenrecht Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 2017, RZ. 49.12; REINER BRUMME, Merkantiler Minderwert bei Baumängeln und Grundstücksmängeln - Schlichtungs- und Schiedsordnung SOBau, Grundstücksmarkt und Grundstückswert [GuG] 5/2015 S. 276; ROBERTO, Schadensrecht, 1997, S. 163; ROLAND VOGEL, Merkantiler Minderwert: am Beispiel eines Altbau-Mietshauses (Rendite-Objekt), GuG 3/1997 S. 154 f.; vgl. auch TRACHSEL, a.a.O., S. 336 f., der immerhin erwähnt, dies treffe bei selbstständigen Bauwerken weniger zu als bei beweglichen Werken). Auch in der reichhaltigen diesbezüglichen deutschen Rechtsprechung wird davon ausgegangen, dass der im merkantilen Minderwert liegende Schaden, falls er nicht inzwischen durch eine konkrete Auswirkung des Minderwerts auf den Vermögensstand des Eigentümers festgelegt worden ist, immer geringer wird, bis er schliesslich verschwindet (vgl. z.B. Urteil des deutschen Bundesgerichtshofes VI ZR 82/57 vom 29. April 1958, Rz. 15). Dies lässt sich damit erklären, dass das Misstrauen des Marktes mit der Zeit abnimmt bzw. das schadenstiftende Ereignis langsam vergessen geht, bis es bei der Bewertung gar keine Rolle mehr spielt. Bei Immobilien wird davon ausgegangen, dass der merkantile Minderwert nach höchstens 15 Jahren ganz verschwindet (WOLFGANG KLEIBER, Verkehrswertermittlung von Grundstücken, 8. Aufl. 2016, Rz. 573; VOGEL, a.a.O., S. 159).
3.2.2
Dass ein merkantiler Minderwert nach allgemeiner Auffassung mit der Zeit abnimmt, bis er in überschaubarer Zeit bei der
BGE 145 III 225 S. 230
Bewertung gar keine Rolle mehr spielt, findet in Rechtsprechung und Lehre bei der Festlegung des für die Bestimmung eines solchen Schadens relevanten Zeitpunktes kaum Beachtung.
Das Bundesgericht hat darauf hingewiesen, dass der Geschädigte, der neben dem Ersatz der Reparaturkosten auch einen Schaden aus merkantilem Minderwert geltend macht, für dessen Bestimmung nicht auf den Zeitpunkt des schädigenden Ereignisses abstellen kann. Da im Zeitpunkt des schädigenden Ereignisses die Reparatur noch nicht erfolgt ist, kann ein allfälliger trotz Reparatur bestehender merkantiler Minderwert noch gar nicht eintreten. Daraus wurde abgeleitet, es sei vielmehr auf die Situation abzustellen, wie sie sich im Zeitpunkt des Abschlusses der Reparatur präsentiert (Urteil 4A_113/2017 vom 6. September 2017 E. 4.4). Dies entspricht der in Deutschland herrschenden Auffassung. Nach ständiger Rechtsprechung des deutschen Bundesgerichtshofes wird für die Bemessung des merkantilen Minderwerts der Zeitpunkt der beendeten Instandsetzung der beschädigten Sache als massgebend erachtet (vgl. Urteile des deutschen Bundesgerichtshofes VI ZR 72/65 vom 2. Dezember 1966, Rz. 11; III ZR 186/79 vom 2. April 1981, Rz. 10, mit Hinweisen). Nach der Rechtsprechung des österreichischen Obersten Gerichtshofs hat der Schädiger dem Geschädigten die Differenz zwischen dem Zeitwert des Fahrzeugs zum Zeitpunkt des Unfalls und dem Zeitwert im reparierten Zustand nach dem Unfall zu ersetzen (vgl. Urteil des österreichischen obersten Gerichtshofes 2 Ob 73/89 vom 20. Juni 1989). In der Lehre wird teilweise davon ausgegangen, es sei grundsätzlich auf den Zeitpunkt des schädigenden Ereignisses (vgl. MIHAI VUIA, Der merkantile Minderwert als Teil des Vermögensschadens, Neue Juristische Wochenschrift [NJW] 2012 S. 3060) bzw. nach der Wahl des Geschädigten entweder auf den Schädigungs- oder den Urteilszeitpunkt abzustellen (KIESER/LANDOLT, Unfall - Haftung - Versicherung, 2011, S. 631 Rz. 1821).
3.3
In einem Entscheid aus dem Jahre 1958, bei welchem es um einen beschädigten Personenkraftwagen ging, erwog der deutsche Bundesgerichtshof, dass die Besonderheit des merkantilen Minderwertes, stetig abzunehmen und in verhältnismässig kurzer Zeit ganz zu verschwinden, nicht unberücksichtigt bleiben könne. Nur wenn der merkantile Minderwert als ein bleibender Schaden der Höhe nach festgelegt sei, etwa weil die geschädigte Person die Sache verkaufte oder ausreichende Anhaltspunkte für einen bleibenden - unveränderlichen - Schaden vorhanden seien, könne der Haftpflichtige zum
BGE 145 III 225 S. 231
Ersatz dieses Schadens verurteilt werden. Sonst müsse sich der Geschädigte einstweilen mit der blossen Feststellung begnügen, dass der Schädiger verpflichtet ist, ihm den Minderwert des Fahrzeuges zu ersetzen (Urteil des deutschen Bundesgerichtshofes VI ZR 82/57 vom 29. April 1958, Rz. 15-17). Diese Rechtsprechung änderte der Bundesgerichtshof mit dem wenige Jahre später ergangenen Urteil VI ZR 238/60, bei welchem es wiederum um ein beschädigtes Fahrzeug ging. Dabei erwog der Gerichtshof, dass der Umstand, dass die Wertminderung bei weiterem Gebrauch des Wagens im Laufe der Zeit geringer werde und überhaupt keine Bedeutung mehr habe, wenn der Wagen schliesslich zum Fahren ungeeignet werde, keine Besonderheit des merkantilen Minderwertes sei, sondern in gleicher Weise bei Wertminderungen zutreffe, die auf Schönheitsmängeln oder technischen Fehlern beruhen. Dass eine auf einer Sachbeschädigung beruhende Minderbewertung mit der Zeit an Bedeutung verliere, führe nicht dazu, dass der Schädiger dem betroffenen Eigentümer keinen Ersatz zu leisten brauche, wenn dieser sich dazu entschliesse, die weniger wertvolle Sache weiter zu benutzen. Der Eigentümer, der sich entschliesse, den Wagen weiter zu gebrauchen, müsse sich mit der Benutzung eines Wagens begnügen, dessen Wert nach der allgemeinen Verkehrsauffassung geringer sei als der eines unfallfreien Wagens. Die Minderbewertung trage der Tatsache Rechnung, dass erheblich geschädigte und dann reparierte Wagen im Allgemeinen eine grössere Schadensanfälligkeit aufweisen würden, ohne dass der Zusammenhang neuer Schäden mit dem Unfall oder einer unzureichenden Reparatur im Einzelfall nachweisbar zu sein brauche. Daher sei die Erstattungsfähigkeit des merkantilen Minderwertes unabhängig davon anzuerkennen, ob im konkreten Fall - etwa aufgrund eines Verkaufs - ein bleibender unveränderlicher Schaden festgelegt werden könne. Mit Verweis auf
BGE 64 II 137
erwog der Gerichtshof, dass dies der in der Schweiz geltenden Lösung entspreche (Urteil des deutschen Bundesgerichtshofes VI ZR 238/60 vom 3. Oktober 1961, E. 1a). Diese Grundsätze wendet der Bundesgerichtshof auch auf Immobilien an (vgl. Urteile des deutschen Bundesgerichtshofes III ZR 186/79 vom 2. April 1981, Rz. 8; VII ZR 173/66 vom 24. Februar 1969, Rz. 50; VII ZR 146/60 vom 5. Oktober 1961, Rz. 24; vgl. auch die Übersicht der deutschen Rechtsprechung bei JÜRGEN ULRICH, Der "merkantile Minderwert" bei deutschen Immobilien: Standard oder Axiom, gar Chimäre, bloss ein Irrtum?, in: Aachener Bausachverständigentage 2018, S. 144 ff., sowie bei BRUMME, a.a.O., S. 274 ff.).
BGE 145 III 225 S. 232
Nach der Rechtsprechung des österreichischen obersten Gerichtshofes ist der Ersatz des merkantilen Minderwertes eines Fahrzeuges unabhängig von dessen Verkauf zu ersetzen (vgl. Urteil des österreichischen Obersten Gerichtshofes 2 Ob 232/71 vom 13. April 1972). Auch wenn seines Erachtens grundsätzlich kein ernsthaftes Hindernis bestehe, die in Zusammenhang mit dem merkantilen Minderwert beschädigter Kraftfahrzeuge entwickelten Grundsätze auch auf Immobilien anzuwenden (Urteile des österreichischen Obersten Gerichtshofes 10 Ob 113/98k vom 9. Juni 1998; 5 Ob 47/98t vom 10. März 1998), bejaht der Oberste Gerichtshof die Ersatzfähigkeit eines
vorübergehenden
Schadens aus merkantilem Minderwert bei einer Liegenschaft nur dann, wenn dieser sich in einem konkreten Verwertungs- bzw. Nutzungsfall in einem Vermögensnachteil niederschlägt. Als vorübergehend wurde etwa der Minderwert einer Liegenschaft erachtet, der auf der Gefahr möglicher Setzungen des Erdreiches beruht, wenn festgestellt wird, dass solche Schäden lediglich bis zu acht Jahren nach der Bauführung auftreten können (Urteil des österreichischen Obersten Gerichtshofes 5 Ob 762/80 vom 20. Januar 1981 in: Juristische Blätter [JB] 1981 S. 534, zusammengefasst in Urteil10 Ob 113/98k vom 9. Juni 1998).
4.
4.1
4.1.1
Nach ständiger Rechtsprechung gilt als Schaden die ungewollte Verminderung des Reinvermögens. Der Schaden entspricht - gemäss der in der Schweiz herrschenden Differenztheorie - der Differenz zwischen dem gegenwärtigen Vermögensstand und dem (hypothetischen) Stand, den das Vermögen ohne das schädigende Ereignis hätte. Er kann in einer Vermehrung der Passiven, einer Verminderung der Aktiven oder in entgangenem Gewinn bestehen (
BGE 132 III 359
E. 4,
BGE 131 III 564
E. 6.2). Das im Haftpflichtrecht als allgemeines Prinzip anerkannte Bereicherungsverbot schliesst es aus, dem Geschädigten eine Entschädigung zuzugestehen, die den durch das schädigende Ereignis erlittenen Schaden übersteigt (
BGE 132 III 321
E. 2.2;
BGE 131 III 12
E. 7.1,
BGE 131 III 360
E. 6.1;
BGE 129 III 135
E. 2.2).
4.1.2
Der Zeitablauf kann im Rahmen der Schadensermittlung verschiedentlich von Bedeutung sein. Bei der Frage des im Schadenersatzrecht relevanten Zeitpunktes (bzw. der relevanten Zeitpunkte) sind zwei Aspekte auseinanderzuhalten. Einerseits stellt sich die - verfahrensrechtliche - Frage des Zeitpunktes der Vornahme der Schadensberechnung durch das Gericht. Dabei geht es um den Zeitpunkt, zu dem das Gericht die der Schadensermittlung zugrunde liegenden
BGE 145 III 225 S. 233
Tatsachenelemente berücksichtigt. Andererseits stellt sich die - materiellrechtliche - Frage des für die Schadensermittlung massgebenden Zeitpunkts, bei welcher es um die Bestimmung der für die Ermittlung des Schadens massgebenden zeitlichen Kriterien geht (vgl. zum Ganzen BENOÎT CHAPPUIS, Le moment du dommage, 2007, S. 93 ff.).
4.1.2.1
Die erste, prozessrechtliche Frage bereitet keine besonderen Schwierigkeiten, geht es doch bei ihr um die für die Ermittlung des prozessrechtlich massgebenden Sachverhalts zu berücksichtigenden Tatsachen. Damit eng verbunden ist die von Rechtsprechung und Lehre eingehend behandelte Frage der Bestimmung des Prozessstadiums, bis zu dem neue Tatsachen und Beweismittel eingebracht werden dürfen, mithin des sogenannten Aktenschlusses. Massgebend für die Vornahme der Schadensberechnung ist der Zeitpunkt, bis zu dem die letzte kantonale Instanz noch neue Tatsachen berücksichtigen kann (
BGE 125 III 14
E. 2c;
BGE 99 II 214
E. 3b).
4.1.2.2
Eine differenzierte Herangehensweise erfordert die schwierigere materiellrechtliche Frage des für die Schadensermittlung massgebenden Zeitpunktes. Dabei geht es im Wesentlichen um den massgebenden Zeitpunkt für die Ermittlung der beiden Vermögensstände, die im Sinne der Differenztheorie zu vergleichen sind (ROBERTO, a.a.O., S. 16).
Wie bereits ausgeführt, erfordert die Ermittlung des Schadens nach der herrschenden Differenztheorie einen Vergleich zwischen dem
gegenwärtigen
Vermögensstand und dem (hypothetischen) Stand, den das Vermögen ohne das schädigende Ereignis hätte. Das auf
BGE 64 II 137
zurückgehende Abstellen auf das "gegenwärtige" Vermögen (zum Ursprung der Schadensdefinition und deren Entwicklung in der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, vgl. CHAPPUIS, a.a.O., S. 78 ff.) bedeutet nach Rechtsprechung und Lehre, dass der Vergleich zwischen der tatsächlichen und der hypothetischen Vermögenslage grundsätzlich zum Urteilszeitpunkt zu erfolgen hat (
BGE 122 III 53
E. 4c;
BGE 99 II 214
E. 3b;
BGE 81 II 38
E. 4;
77 II 152
S. 153; Urteile 6B_515/2008 vom 19. November 2008 E. 5.4.3; 4C.260/2003 vom 6. Februar 2004 E. 6.2.1; REY/WILDHABER, Ausservertragliches Haftpflichtrecht, 5. Aufl. 2018, S. 47 Rz. 254; FRANZ WERRO, La responsabilité civile, 3. Aufl. 2017, S. 301 Rz. 1046; ROLAND BREHM, in: Berner Kommentar, 4. Aufl. 2013, N. 7 zu
Art. 42 OR
; HONSELL/ISENRING/KESSLER, Schweizerisches Haftpflichtrecht, 5. Aufl. 2013, S. 94 Rz. 22; FELLMANN/KOTTMANN, Schweizerisches
BGE 145 III 225 S. 234
Haftpflichtrecht, Bd. I, 2012, S. 466 Rz. 1379 f.; CHAPPUIS, a.a.O., S. 73 ff. Rz. 153 ff.; CHRISTOPH MÜLLER, La perte d'une chance, 2002, S. 250 Rz. 359; ROBERTO, a.a.O., S. 16). Dabei ist präzisierend beizufügen, dass - auch wenn auf den Urteilszeitpunkt abgestellt werden soll - in Kauf zu nehmen ist, dass der massgebende Zeitpunkt nicht in allen Fällen
genau
der Urteilstag sein kann. Dies hängt im Wesentlichen damit zusammen, dass gegebenenfalls - etwa mangels entsprechender Angaben der Parteien oder diesbezüglich nicht aufschlussreiche Beweismittel - keine Informationen über die Schadensentwicklung bis zum definitionsgemäss unvorhersehbaren Urteilstag vorhanden sind. Es ist zu beachten, dass das Gericht in der Regel nicht unmittelbar nach dem Aktenschluss seinen Entscheid fällt. Dazu kommt, dass die konkrete Schadensberechnung aus praktischen Gründen nicht immer am genauen Urteilstag erfolgt, was insbesondere bei komplexen Haftpflichtfällen zutreffen dürfte. Je nach Konstellation kann es folglich angebracht sein, einen anderen - dem Urteilstag jedoch möglichst naheliegenden - Zeitpunkt für die Ermittlung des Schadens heranzuziehen (CHAPPUIS, a.a.O., S. 76 Rz. 158).
Der Grundsatz des Abstellens auf den Urteilstag gilt in der bundesgerichtlichen Rechtsprechung nicht uneingeschränkt. Für die Berechnung des Versorgerschadens wird etwa der Zeitpunkt des Todes des Versorgers als massgebend erachtet, wobei auch Tatsachen, die sich nach dem Tod ereignet haben, durchaus berücksichtigt werden dürfen (
BGE 124 III 222
E. 4c;
BGE 119 II 361
E. 5b;
BGE 99 II 207
E. 6;
BGE 97 II 123
E. 6; kritisch: HONSELL/ISENRING/KESSLER, a.a.O., S. 94 f. Rz. 22). Beim Haushaltsschaden entspricht der im Rahmen der Schätzung des Wertes der im Haushalt geleisteten Arbeit zu berücksichtigende Lohn dem einer Haushaltshilfe bzw. Haushalters zum Zeitpunkt des Todes zuzüglich eines Aufschlages, welcher der Qualität der Arbeit des Geschädigten Rechnung trägt (
BGE 131 III 360
E. 8.3;
BGE 129 II 145
E. 3.2.1; je mit Hinweisen). Dabei ist der kantonale Richter befugt, den für die Berechnung des Schadens massgeblichen Stundenansatz etwas zu erhöhen, um zukünftigen Lohnerhöhungen Rechnung zu tragen (
BGE 132 III 321
E. 3.7.1;
BGE 131 III 360
E. 8.3; je mit Hinweisen). Im Rahmen der Berechnung des Schadenersatzanspruches des Agenten infolge fristloser Entlassung werden - zur Vermeidung einer einseitigen Benachteiligung des Entlassenen - nach der Vertragsauflösung unerwartet tatsächlich eingetretene Marktveränderungen nicht berücksichtigt (
BGE 125 III 14
E. 2c). Bei Zerstörung, Beschädigung oder Verlust einer Sache, die naturgemäss mit der Zeit
BGE 145 III 225 S. 235
bzw. Nutzung an Wert verliert (z.B. ein Konsumgut), ist grundsätzlich der Anschaffungspreis einer neuen Sache zu leisten, abzüglich der durch Gebrauch und Abnützung bereits vor der
Schädigung
(und nicht vor dem Urteilstag) erlittenen Werteinbusse (Urteil 4C.343/2001 vom 13. Februar 2002 E. 2b; WERRO, a.a.O., S. 301 Rz. 1046; BREHM, a.a.O., N. 26 zu
Art. 42 OR
; vgl. auch OFTINGER/STARK, Schweizerisches Haftpflichtrecht, Bd. I, 5. Aufl. 1995, S. 374 Rz. 380, wonach bei Wertveränderungen einer zerstörten, verlorenen oder beschädigten Sache zwischen der Schädigung und dem Urteil auf den für den Geschädigten günstigeren Zeitpunkt abzustellen sei). Bei Schadenersatz wegen unmöglich gewordener Rückgabe von hinterlegten Aktien hat nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung der Hinterleger die Wahl zwischen dem Zeitpunkt der Fälligkeit der Rückforderung und dem Zeitpunkt des letzten kantonalen Urteils (
BGE 109 II 474
E. 3).
Auch in der Lehre wird hervorgehoben, es lasse sich nicht rechtfertigen, für die Ermittlung des Schadens allgemein auf den Zeitpunkt des Urteils abzustellen. Dabei wird darauf hingewiesen, dass der Urteilszeitpunkt sowohl von Zufälligkeiten als auch von prozessualen Taktiken der Parteien abhänge (ROBERTO, a.a.O., S. 16; CHAPPUIS, a.a.O., S. 412 Rz. 895). CHAPPUIS, der für die Schadensbemessung grundsätzlich den Zeitpunkt des Eintritts der schädigenden Wirkungen als massgebend erachtet, steht dennoch einem schematischen Ansatz kritisch gegenüber. Aufgrund der Vielfalt der haftungsbegründenden Tatbestände und deren Auswirkungen in zeitlicher Hinsicht, sei vielmehr wünschenswert, dass der Richter bei der Bestimmung der für die Ermittlung des Schadens massgebenden zeitlichen Kriterien vermehrt von seinem Ermessenspielraum Gebrauch mache (CHAPPUIS, a.a.O., zusammenfassend S. 421 ff. Rz. 912 ff.).
4.1.3
Das beurteilende Gericht verfügt nicht immer bereits zum Zeitpunkt des Urteils über sämtliche Elemente zur Bemessung des Schadens. Dies trifft insbesondere zu, wenn die Schadensentwicklung im Urteilszeitpunkt noch nicht abgeschlossen ist. In diesem Fall werden regelmässig einerseits der bereits entstandene Schaden ermittelt, andererseits der künftige Schaden aufgrund einer Prognose so konkret wie möglich bestimmt (Urteil 4A_127/2011 vom 12. Juli 2011 E. 5). Dies gilt auch, wenn der Schadenumfang von künftigen Ereignissen abhängt und zum Urteilszeitpunkt noch nicht mit Sicherheit ermittelt werden kann. Dass die zukünftige Weiterentwicklung des Schadens definitionsgemäss unsicher ist, führt folglich nicht etwa zum Aufschub des Urteils. Vielmehr wird die Streitsache auf der Basis
BGE 145 III 225 S. 236
einer Prognose der zukünftigen Entwicklung nach der allgemeinen Lebenserfahrung endgültig erledigt (
BGE 95 II 255
E. 6; FELLMANN/KOTTMANN, a.a.O., S. 464 Rz. 1372; CHAPPUIS, a.a.O., S. 151 ff. Rz. 317 ff.; OFTINGER/STARK, a.a.O., S. 250 Rz. 9).
Art. 42 Abs. 2 OR
, wonach der nicht ziffernmässig nachweisbare Schaden nach Ermessen des Richters mit Rücksicht auf den gewöhnlichen Lauf der Dinge und auf die vom Geschädigten getroffenen Massnahmen abzuschätzen ist, bezieht sich nicht nur auf den bereits eingetretenen Schaden, sondern auch auf Nachteile, die der Geschädigte voraussichtlich noch erleiden wird (
BGE 114 II 253
E. 2a). Der Praktikabilität der Rechtsordnung wird in diesem Zusammenhang mehr Gewicht beigemessen als der genauen Richtigkeit des zugesprochenen Schadenersatzes (OFTINGER/STARK, a.a.O., S. 250 Rz. 9). Bei der Schätzung des künftigen Erwerbsausfalls des Geschädigten werden etwa die zu erwartenden künftigen Reallohnsteigerungen mitberücksichtigt (
BGE 131 III 360
E. 5.1;
BGE 116 II 295
E. 3a).
4.1.4
Die Frage der rechtlichen Behandlung von sich mit der Zeit ändernden Schäden wird insbesondere in Zusammenhang mit Sachen diskutiert, die Wertveränderungen ausgesetzt sind. Das trifft etwa bei Sachen zu, die naturgemäss mit der Zeit bzw. Nutzung an Wert verlieren (z.B. Konsumgüter), wie auch bei Sachen, deren Wert schwankt, ohne dass die Wertentwicklung mit Sicherheit vorausgesagt werden kann (z.B. Wertpapiere). Von Rechtsprechung und Lehre weniger beleuchtet sind Schäden, die sich nicht wegen zeitbedingter Veränderungen des Wertes einer Sache, sondern ihrer Natur nach, im Zeitablauf verändern. Dazu gehört der Schaden aus merkantilem Minderwert. Dabei ist zu bemerken, dass der vorübergehende Charakter dieser Schadensart nicht darauf beruhen muss, dass die beschädigte Sache im Zeitablauf an Wert einbüsst, bis sie schliesslich zum Gebrauch ungeeignet ist, womit die merkantile Wertminderung ebenfalls unbedeutend wird (so das Urteil des deutschen Bundesgerichtshofes VI ZR 238/60 vom 3. Oktober 1961). Diese Überlegung bezieht sich nur auf die oben erwähnten Sachen, die mit der Zeit an Wert verlieren. Angesprochen wird hier vielmehr der Umstand, dass das Misstrauen des Marktes mit der Zeit abnimmt bzw. das schadenstiftende Ereignis langsam vergessen geht, bis es bei der Bewertung gar keine Rolle mehr spielt (s. oben E. 3.2.1).
Die Berücksichtigung von zukünftigen Entwicklungen im Rahmen der Schadensermittlung betrifft nicht nur zum Urteilszeitpunkt noch nicht entstandene Schadensposten, sondern auch Schäden, die
BGE 145 III 225 S. 237
voraussehbaren Änderungen ausgesetzt sind. Dazu gehört der Schaden aus merkantilem Minderwert. Es ist nicht einzusehen, weshalb der Umstand, dass ein solcher Schaden nach allgemeiner Auffassung stets kleiner wird, bis er in verhältnismässig kurzer Zeit ganz verschwindet, unberücksichtigt bleiben sollte. Die antizipierte Entwicklung dieser Schadensart sollte vielmehr vom Gericht beachtet werden. Dies entspricht den dargestellten Grundsätzen des schweizerischen Schadensrechts und führt - im Gegensatz zum starren Abstellen auf einen allgemeinen Zeitpunkt für die Bestimmung des Schadens - zu einem sachgerechten Ergebnis.
4.2
4.2.1
Nach dem Gesagten kann ein merkantiler Minderwert grundsätzlich bei allen Sachen eintreten, bei denen der Markt infolge eines schädigenden Ereignisses mit einem weder technisch noch funktionell begründeten Preisabschlag reagiert. Unter welchen Voraussetzungen ein solcher merkantiler Minderwert ersatzfähig ist, kann nicht allgemein festgehalten werden, sondern erfordert eine differenzierte Betrachtung je nach Art der betroffenen Sache.
4.2.2
Bei Motorfahrzeugen kann grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass ein erlittener Schaden aus merkantilem Minderwert regelmässig eine bleibende Vermögensverminderung darstellt.
Im Gegensatz zu Immobilien beruht die Veränderung des Schadens aus merkantilem Minderwert bei Autos im Zeitablauf nicht primär darauf, dass das Vertrauen des Marktes in die Sache mit der Zeit wieder zunimmt bzw. das schadenstiftende Ereignis vergessen geht. Dass die Bedeutung des merkantilen Minderwertes für die Bewertung eines Fahrzeuges mit der Zeit abnimmt, ist vielmehr in erster Linie darauf zurückzuführen, dass das Fahrzeug im Zeitablauf an Wert einbüsst, bis es schliesslich zum Gebrauch ungeeignet ist, weshalb die merkantile Wertminderung ebenfalls unbedeutend wird (vgl. oben E. 4.1.4). Dies hängt also nicht mit der
Natur
des merkantilen Minderwertes zusammen, sind doch die allermeisten Konsumgüter einer derartigen zeitbedingten Wertverminderung ausgesetzt. Aus Sicht des Eigentümers ist der infolge eines Autounfalls allenfalls entstehende Schaden aus merkantilem Minderwert vielmehr
bleibend
, verfügt er doch nach dem Unfall über ein Fahrzeug, das von den Marktteilnehmern grundsätzlich als minderwertiger Unfallwagen betrachtet wird. Es entspricht der allgemeinen Lebenserfahrung, dass ein Unfallwagen in der Regel einen tieferen Wiederverkaufswert besitzt als ein unfallfreies Auto, was nicht zuletzt aus der bundesgerichtlichen
BGE 145 III 225 S. 238
Kasuistik zu den Offenlegungspflichten des Verkäufers beim Verkauf eines Unfallwagens ersichtlich ist (vgl. z.B.
BGE 96 IV 145
). Die allermeisten Grundsätze zum merkantilen Minderwert wurden in der ausländischen Rechtsprechung auch in Zusammenhang mit Unfallautos entwickelt. In der Lehre wird teilweise in Zusammenhang mit dem Schaden aus merkantilem Minderwert sogar nur von Motorfahrzeugen gesprochen (vgl. OFTINGER/STARK, a.a.O., S. 369 f. Rz. 370). Damit ist aber nicht gesagt, dass ein merkantiler Minderwert bei jedem reparierten Unfallauto vorliegt. Es darf insbesondere nicht ausser Acht bleiben, dass bei Instandsetzung gegebenenfalls abgenutzte Bauteile durch neue ersetzt werden, weshalb bei neueren Fahrzeugen ein merkantiler Minderwert tendenziell eher zu rechtfertigen ist (vgl. dazu ZÖLLER, a.a.O., S. 134 f., wonach ein merkantiler Minderwert bei einem Fahrzeugalter von 5-7 Jahren gegen null tendiert). Ob eine merkantile Wertminderung vorliegt, ist vielmehr in jedem konkreten Fall zu prüfen, wobei insbesondere das Alter des Fahrzeuges und die Art der erfolgten Reparaturen zu berücksichtigen sind.
Folglich ist an der langjährigen bundesgerichtlichen Rechtsprechung zum Ersatz eines Schadens aus merkantilem Minderwert bei Fahrzeugen (
BGE 64 II 137
;
84 II 158
), wonach eine abstrakte Schadensberechnung zulässig sein sollte, festzuhalten.
4.2.3
Ein allfälliger merkantiler Minderwert vermindert sich bei Immobilien nicht parallel zum Minderwert, den die Sache ohnehin durch Zeitablauf erfährt. Wie dargelegt hängt der Umstand, dass ein allfälliger Schaden aus merkantilem Minderwert bei Immobilien mit der Zeit abnimmt, vielmehr mit dessen Natur zusammen. Nach allgemeiner Verkehrsauffassung wird eine Immobilie infolge eines schadenstiftenden Ereignisses nicht langfristig als minderwertig angesehen. Es besteht aus Sicht des Eigentümers kein bleibender, sondern allenfalls ein bloss vorübergehender Schaden, der nach höchstens 15 Jahren bei der Immobilienbewertung bedeutungslos wird.
Im Vergleich zu Motorfahrzeugen sind Immobilien langlebige Wirtschaftsgüter, die nur mit einem hohen Aufwand verkauft werden können. Für den Erwerb einer Immobilie und deren Bewertung durch den Markt sind zudem eine Vielzahl von Faktoren - wie z.B. Lage und Ausbaustandard - von Bedeutung. Weiter sind Immobilien besonders wertvolle Güter, die für den Eigentümer und dessen Angehörigen bzw. - bei Geschäftsimmobilien - für das Geschäft eine besondere Bedeutung haben. Deshalb dürfte ein allfälliger merkantiler
BGE 145 III 225 S. 239
Minderwert bei der Entscheidung, über eine Immobilie zu verfügen, gewöhnlich nur eine untergeordnete Rolle spielen. Das in der Lehre gegen das Erfordernis einer konkreten Schadensberechnung anzutreffende Argument, der Geschädigte würde andernfalls vor die Wahl gestellt werden, entweder sofort zu verkaufen oder auf den Ersatz zu verzichten (kritisch dazu: ROBERTO, a.a.O., S. 164), lässt sich folglich kaum auf Immobilien übertragen (vgl. dazu ZÖLLER, a.a.O., S. 140).
Der vorübergehenden Natur eines Schadens aus merkantilem Minderwert wird bei Immobilien am besten dadurch Rechnung getragen, dass der Ersatz eines solchen Schadens auf den Fall zu beschränken ist, dass eine konkrete Vermögensverminderung nachgewiesen wird. Dies entspricht der in der Lehre teilweise vertretenen Auffassung, wonach bei einem Schaden aus merkantilem Minderwert grundsätzlich nur eine konkrete Schadensberechnung zulässig sei (KOLLER, a.a.O., S. 857 Rz. 49.13). Ein konkreter - im Reinvermögen des Geschädigten bleibender - Schaden kann in erster Linie dadurch entstehen, dass die Immobilie verkauft wird: Weist der Geschädigte nach, dass er wegen einer durch ein schädigendes Ereignis verursachten Minderung des Verkehrswertes der Immobilie bei deren Verkauf einen geringeren Erlös erzielt hat, schuldet ihm der Schädiger den Ersatz dieses Schadens, auch wenn diese Minderung unabhängig von der technischen bzw. funktionellen Beeinträchtigung der Sache eintritt. Neben dem Verkauf der Sache kann aber ein konkreter bleibender Schaden auch bei anderen Gelegenheiten vorkommen, bei denen es auf eine Bewertung der Immobilie ankommt, wie etwa bei einer Enteignung oder Zwangsverwertung.
Folglich ist für den Ersatz eines merkantilen Minderwertes bei Immobilien nur eine
konkrete Schadensberechnung
zulässig. Soweit sich aus dem Urteil 4A_113/2017 vom 6. September 2017, bei welchem die Ersatzfähigkeit eines allfälligen Schadens aus merkantilem Minderwert nicht materiell geprüft werden musste, etwas anderes ergeben sollte, kann daran nicht festgehalten werden.
5.
5.1
Vorliegend verlangen die Beschwerdeführer Fr. 1'040'000.- allein unter dem Titel des merkantilen Minderwertes. Auch wenn die Vorinstanzen auf die Schätzungen des Gutachters nicht abstellten, kann nicht ausser Acht bleiben, dass die vom Gutachter ermittelten Werte von, je nach Zeitpunkt, 6 bzw. 12 % des hypothetischen Verkehrswertes der Liegenschaften im Lichte der reichhaltigen deutschen
BGE 145 III 225 S. 240
Kasuistik nicht stossend sind (vgl. dazu BRUMME, a.a.O., S. 276 ff.). In der Lehre wird davon ausgegangen, dass der merkantile Minderwert bei Immobilien die Mängelbeseitigungskosten erreichen oder sogar übertreffen kann (TRACHSEL, a.a.O., S. 333). Es wäre stossend, dem Geschädigten einen solchen beträchtlichen Ersatz für einen Schaden zuzusprechen, von dem aufgrund seiner Eigenart anzunehmen ist, dass er in absehbarer Zeit nicht mehr bestehen wird. Ein solcher abstrakter Ersatz würde einer ungerechtfertigten Bereicherung des Geschädigten gleichkommen. Nach den vorstehenden Ausführungen ist ein allfälliger Schaden vielmehr nur ersatzfähig, wenn er sich im konkreten Fall als ein bleibender unveränderlicher Schaden im Reinvermögen des Geschädigten auswirkt.
5.2
Die Beschwerdeführer 1, 2, 5 und 6 haben keine Dispositionen über ihre Liegenschaften getroffen und können auch nicht aus anderen Gründen einen bleibenden unveränderlichen Schaden in ihrem Reinvermögen nachweisen. Nach dem Gesagten haben sie folglich keinen Anspruch auf den Ersatz eines allfälligen merkantilen Minderwertes.
Da die Beschwerdeführer 3 und 4 hingegen ihrerseits das an der Strasse U. 52 gelegene Grundstück seit dem schadenstiftenden Ereignis verkauft haben, kommt eine konkrete Schadensberechnung im Sinne der obigen Ausführungen grundsätzlich in Frage. Inwiefern ihnen ein Schaden aus merkantilem Minderwert entstanden sein soll, wird jedoch von ihnen nicht dargetan. Gemäss den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz wurde das Grundstück am 30. August 2012 für Fr. 3'200'000.- an Dritte verkauft, die unbestrittenermassen über den Wassereinbruch sowie dessen Behebung informiert worden sind. Gemäss der Schätzung des Gutachters, auf dessen Berechnungen sich die Beschwerdeführer für die Geltendmachung ihrer Forderung stützen, betrug der Verkehrswert der unbelastet gedachten Liegenschaft am 24. Oktober 2016 Fr. 3'000'000.-. Angesichts dessen ist, wie die Vorinstanz zutreffend ausführt, kein Schaden ersichtlich.
5.3
Angesichts der vorstehenden Ausführungen sind die von den Beschwerdeführern in Zusammenhang mit dem beantragten Ersatz eines angeblichen Schadens aus merkantilem Minderwert erhobenen Rügen nicht mehr zu behandeln. | de |
7486e1a0-459c-4ce1-ada1-bc38a7803ad5 | Sachverhalt
ab Seite 323
BGE 112 Ib 322 S. 323
A.-
Der am 18. September 1963 geborene A. Y. wurde wegen akuter Suizidgefahr am 4. Mai 1982 in die Kantonale Psychiatrische Klinik Liestal eingewiesen. Am Abend des 2. November 1982 konnte er aus der Klinik entweichen und Selbstmord begehen, indem er sich unter einen Zug warf. Seine Eltern halten die Anstaltsleitung für verantwortlich.
B.-
Am 14. März 1985 erhoben die Eltern des Verstorbenen beim Bundesgericht gegen den Kanton Basel-Landschaft Klage. Sie beantragen, den Beklagten zur Zahlung von Fr. 10'904.-- Schadenersatz und je Fr. 12'000.-- Genugtuung zu verpflichten, beides mit 5% Zins seit 2. November 1982. Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen, eventuell Schadenersatz und Genugtuung angemessen zu reduzieren. In Replik und Duplik halten die Parteien an ihren Anträgen fest.
C.-
Am 30. Mai 1986 fand in Liestal die Vorbereitungsverhandlung statt. Dabei wurden die Klinik besichtigt und Auskunftspersonen befragt, namentlich Chefarzt Dr. P. Mit Verfügung vom 7. August 1986 schloss der Instruktionsrichter das Vorbereitungsverfahren. Die Parteien verzichteten auf Parteivorträge an der Hauptverhandlung.
Den Klägern ist mit Beschluss vom 14. Dezember 1984 ein unentgeltlicher Rechtsbeistand, nicht aber eine weitergehende unentgeltliche Rechtspflege bewilligt worden.
BGE 112 Ib 322 S. 324 Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
a) Die Zuständigkeit des Bundesgerichts ist anerkannt und gegeben (
Art. 42 OG
).
b) Die Kantonale Psychiatrische Klinik Liestal ist eine unselbständige öffentlichrechtliche Anstalt des Kantons Basel-Landschaft (§§ 3 und 7 des kantonalen Spitalgesetzes vom 24. Juni 1976). Die Haftung des Beklagten richtet sich entsprechend nach kantonalem öffentlichem Recht (
Art. 61 OR
,
Art. 59 ZGB
;
BGE 111 II 151
E. 3). Nach § 29 Abs. 1 der Kantonsverfassung vom 4. April 1892 sind die Behörden, Beamten und Angestellten des Staats für die Amtsführung verantwortlich. Aus dieser Verantwortlichkeit herrührende Zivilansprüche können unmittelbar gegen den Staat geltend gemacht werden, wobei diesem der Rückgriff gegen die Fehlbaren vorbehalten bleibt. Gemäss § 29 Abs. 3 KV bestimmt das Nähere das Verantwortlichkeitsgesetz. Ein neues Gesetz ist in der Folge nicht erlassen worden, indes das "Gesetz für Verantwortlichkeit der Behörden und Beamten" vom 25. November 1851 nicht aufgehoben worden. Dessen Bestimmungen sind daher durch § 29 KV zu ergänzen, wie das auch die kantonale, auf ein Urteil des Obergerichts vom 7. Mai 1918 zurückgehende Praxis annimmt (vgl. die Entscheide in BJM 1958, S. 352, E. 2 u. S. 360, E. 3).
Nach § 24 des Verantwortlichkeitsgesetzes setzt die Zivilklage gegen Behörden, Beamte und Angestellte wegen Amtshandlungen oder Unterlassungen einen aus der Verletzung der Amtspflichten erwachsenen Schaden voraus. Aus dem Hinweis auf die Verletzung der Amtspflichten leiten Rechtsprechung und Lehre ab, es handle sich dabei um eine Verschuldenshaftung (BJM 1958, S. 351, E. 2 u. S. 360, E. 4; GRISEL, Traité de droit administratif, Bd. II, S. 820; vgl. auch ZEHNTNER, Die Haftung des Staates für seine Funktionäre nach der Gesetzgebung der schweizerischen Kantone, Diss. Zürich 1952, S. 73). Nach § 25 des Verantwortlichkeitsgesetzes hat sodann der Staat für den aus einer Amtshandlung oder Unterlassung entstandenen Schaden, "ohne dass dabei eine Pflichtverletzung begangen wurde", einzustehen, wenn nicht besondere Gesetze etwas anderes verfügen. Die kantonale Praxis erblickte darin zunächst eine Rechtsgrundlage für eine Kausalhaftung des Staats, mithin für eine Ersatzpflicht bei bloss rechtswidrigen, nicht notwendigerweise auch schuldhaften Handlungen oder Unterlassungen eines Beamten (vgl. die Urteile in BJM 1958, S. 356 ff.). In
BGE 112 Ib 322 S. 325
einem Urteil vom 7. März 1961 (abgedruckt in IMBODEN/RHINOW, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, Bd. II, Nr. 107, teilweise publiziert auch in BJM 1961, S. 160 ff.) hat das Obergericht diese Auslegung in Frage gestellt und demgegenüber angenommen, die Bestimmung bilde die Rechtsgrundlage für die staatliche Schadenersatzpflicht bei rechtmässigen Staatseingriffen, soweit diese Einzelne schwer und unzumutbar schädigen (vgl. auch GRISEL a.a.O., S. 824 f.; KÄMPFER, Schwerpunkte des solothurnischen Staatshaftungsrechtes, in Festschrift 500 Jahre Solothurn im Bund, 1981, S. 296 mit N. 25). Ausschlaggebend scheint ihm dabei, dass es rechtswidrige Amtshandlungen, bei denen keine Pflichtverletzungen begangen worden sind, wie das der Gesetzestext verlangt, nicht gebe (BJM 1961, S. 161). Demgegenüber hat die frühere Praxis hervorgehoben, dass der Staat nach dem Wortlaut der Bestimmung auch für rechtmässige Unterlassungen haften würde, worunter man sich schwerlich etwas vorstellen könne (vgl. BJM 1958, S. 361). Beide Auffassungen berufen sich demnach auf den Gesetzestext. Das bestätigt zunächst, dass dieser verschieden ausgelegt werden kann. Im übrigen sieht die Bestimmung grundsätzlich eine Staatshaftung vor und ist die Haftung inhaltlich im Vergleich zu § 24 erweitert, indem auf das Erfordernis einer Amtspflichtverletzung ausdrücklich verzichtet wird. Auch wenn weder eine Kausalhaftung noch eine Entschädigungspflicht für rechtmässig zugefügten Schaden in die Entstehungszeit der Norm passen (BJM 1958, S. 352, E. 3, S. 361; ZEHNTNER, a.a.O., S. 74 f.), ändert das somit nichts daran, dass die Bestimmung über eine Verschuldenshaftung hinausgeht. Die Staatshaftung hat sich sodann in den 25 Jahren seit dem erwähnten Entscheid des Obergerichts beträchtlich entwickelt; die Kausalhaftung wie - in bestimmten Grenzfällen - die Ersatzpflicht für rechtmässig verursachten Schaden entsprechen inzwischen gefestigter Betrachtungsweise (KÄMPFER, a.a.O., S. 290 u. 296; GRISEL, a.a.O., S. 787 ff.; GYGI, Verwaltungsrecht, Eine Einführung (1986), S. 248 f., 255 f.; vgl. auch Bericht der Expertenkommission für die Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung, S. 28 zu Art. 6 Abs. 1 und 2 des Verfassungsentwurfs). Die Bedenken, die sich früher auch der zeitgemässen Auslegung entgegenstellten, sind durch diese Entwicklung hinfällig geworden. Es steht deshalb heute nichts entgegen, § 25 des Verantwortlichkeitsgesetzes als Rechtsgrundlage sowohl für die Kausalhaftung wie für die Schadenersatzpflicht bei rechtmässigen Staatseingriffen zu betrachten. Wie
BGE 112 Ib 322 S. 326
letztere allenfalls einzugrenzen ist, kann dahingestellt bleiben, da es im vorliegenden Fall nur um die Kausalhaftung geht. Mit Bezug auf diese wird die dargelegte zeitgemässe Auslegung noch dadurch bestärkt, dass der Beklagte selber davon ausgeht, für eine allfällige Unterlassung bestehe eine Kausalhaftung des Kantons.
2.
Die Kläger erblicken in der ungenügenden Überwachung des Patienten bzw. in der ungenügenden Sicherung der geschlossenen Abteilung eine pflichtwidrige Unterlassung.
Der Beklagte hält dem entgegen, oberstes Ziel ärztlichen Wirkens sei der Behandlungserfolg durch eine zweckmässige Therapie. Deshalb beruhe das vom Kantonsparlament am 17. Oktober 1983 sanktionierte Psychiatriekonzept auch für suizidale Patienten auf der Erkenntnis, dass sichernde, freiheitsbeschränkende Massnahmen sich auf die Dauer antitherapeutisch auswirkten und dass das Sicherheitsregime auf die Dauer zu lockern sei, wenn man überhaupt den therapeutischen Zugang zum Patienten behalten wolle. Heute komme der absoluten Sicherheit nicht erste Priorität zu und sei daher der Begriff der genügenden Überwachung neu zu definieren.
Auch die Kläger anerkennen die Bedeutung der Therapie zur Überwindung der Suizidalität, doch müsse in akuten Krisensituationen die unmittelbar wirksame Prävention Priorität haben. Damit wird zu Recht das Psychiatriekonzept 1983 nicht als solches in Zweifel gezogen. Anderseits bestreitet auch der Beklagte nicht, dass in Krisensituationen Sicherungsmassnahmen zu treffen sind. Die Einweisung in die geschlossene Abteilung der Klinik sollte denn auch einen Suizid nach Möglichkeit verhindern, solange die Therapie nicht zur Behebung der Suizidgefahr geführt hatte. Da das nicht gelungen war, fragt es sich, ob die getroffenen Massnahmen ausreichten. Dabei ist der Einfluss auf den Therapieverlauf mitzuberücksichtigen, wobei in diesem Zielkonflikt dem verantwortlichen Klinikpersonal ein erheblicher Ermessensspielraum zuzugestehen ist.
3.
Vom psychischen Gesundheitszustand des Patienten im massgeblichen Zeitpunkt hingen die zu treffenden Massnahmen ab. Dabei ist der Sachverhalt als solcher unbestritten; er ergibt sich aus den Unterlagen der Klinik, die in der Klageschrift unwidersprochen zitiert sind, sowie aus dem Bericht des Chefarztes Dr. P. an die Winterthur-Versicherungen.
a) Es ist anerkannt, dass bei A. Y. eine latente Suizidgefahr bestanden hat und dass er auch in der Klinik, so namentlich im Juli
BGE 112 Ib 322 S. 327
1982, verschiedene Selbstmordversuche unternommen hatte, die in zwei Fällen zu ernsthaften Verletzungen geführt hatten; die Krankengeschichte enthält denn auch mehrfach ärztliche Hinweise auf starke Suizidalität. Nach Darstellung des Beklagten war der Zustand des Patienten nicht stabil und zu keiner Zeit das konkrete Ausmass der Gefährdung feststellbar oder voraussehbar. Die Situation erlaubte immerhin am 18. Oktober 1982, A. Y. aus der Intensivpflegestation (Wachsaal) in ein Einzelzimmer der gleichen geschlossenen Abteilung zu verlegen; wegen Spannungszuständen musste er aber am 24., 26. und 28. Oktober 1982 kurzfristig wieder in den Wachsaal verbracht werden.
b) Am 2. November 1982, anlässlich der Medikamentenabgabe, äusserte A. Y. den Wunsch, die Abteilung zu verlassen. Der Pfleger verlangte von ihm darauf das Versprechen, keine Dummheiten zu machen. Da der Patient erklärte, ein solches Versprechen nicht geben zu können, wurde er wieder in sein Zimmer geschickt. Der Beklagte anerkennt, dass damals in Verbindung mit dem Verhalten am Vortag Krisenzeichen registriert wurden, welche als neuer Suizidschub hätten gedeutet werden können. Er bestreitet jedoch eine so hochgradige Suizidgefährdung, dass mit dem eingetretenen Ablauf hätte gerechnet werden müssen. Angesichts der unklaren Suizidalität entschied der zuständige Pfleger sich für ein vorzeitiges Schliessen der Abteilungstüre (gegen aussen) als einzige zusätzliche Massnahme. Die Türe des Einzelzimmers wird aus therapeutischen Gründen nicht abgeschlossen.
4.
Nach Ansicht der Kläger genügte das Abschliessen der Abteilungstüre unter den gegebenen Umständen nicht, um ein Entweichen und den anschliessenden Selbstmord zu verhindern.
a) Die Kläger meinen, ihr Sohn hätte damals im Wachsaal untergebracht und überwacht werden sollen. Der Beklagte rechtfertigt den Verzicht auf diese äusserste Massnahme mit dem Hinweis auf die Menschenwürde des Patienten und auf das erwähnte Psychiatriekonzept. Bei früheren Verlegungen in den Wachsaal sei der Patient jeweils auf die Stufe eines völlig hilflosen Kleinkindes zurückgeworfen worden; nachdem er selbst versucht habe, sich aus dem behüteten Milieu des Wachsaals zu lösen, habe man diesen bescheidenen Teilerfolg der sorgsam abgestimmten Therapie nicht preisgeben wollen. Diese Begründung überzeugt nicht ohne weiteres, nachdem A. Y. wenige Tage vorher dreimal kurzfristig in den Wachsaal verbracht worden war. Richtig ist dagegen, dass es sich bei diesem Entscheid um eine therapeutisch heikle Frage handelte,
BGE 112 Ib 322 S. 328
deren Beantwortung wohl im Ermessensbereich der verantwortlichen Betreuer gelegen hat. Es fragt sich daher, ob entgegen der Ansicht des Beklagten nicht eine andere, geeignetere Möglichkeit bestanden hätte, den tragischen Ablauf zu verhindern.
b) Es ist anerkannt, dass A. Y. aus der geschlossenen Abteilung entweichen konnte, indem er den Personenlift benützte. Während der danebenliegende Bettenlift nur mit einem Schlüssel bedient werden kann, ist der Personenlift zwar von der Abteilung her ebenfalls nur mit Schlüssel zugänglich, kann aber auf allen Geschossen von innen her ohne weiteres geöffnet werden. Das erlaubt sowohl Besuchern wie Patienten den Zugang auch zur geschlossenen Abteilung. A. Y. muss das Eintreffen eines solchen Liftbenützers ausgenützt haben und dann mit dem Lift in die Eingangshalle gefahren sein. Die Problematik dieser Einrichtung war in der Klinik bekannt; doch wurde von einer Änderung abgesehen, um den Besucherzutritt nicht zu erschweren. Diese Überlegung ist verständlich, jedoch fragt es sich, ob dem bekannten Risiko nicht durch personelle Massnahmen hätte Rechnung getragen werden müssen.
c) Der Beklagte führt das Geschehen auf ein unglückliches und unvorhersehbares Zusammentreffen mehrerer Umstände zurück: Der Korridor mit dem Lifteingang sei vom Zimmer des beaufsichtigenden Pflegers überblickbar. Das Stationszimmer sei in jenem Zeitpunkt allerdings unbesetzt gewesen, weil der Pfleger unvorhergesehen für kurze Zeit weggerufen worden sei. Es sei höchst zufällig, dass gerade in diesem Augenblick jemand die Lifttüre von innen geöffnet habe, und gänzlich unvorhergesehen, dass A. Y. ausgerechnet dann vor der Lifttüre gestanden sei, da er aufgefallen wäre, wenn er sich länger im Korridor aufgehalten hätte. Angesichts dieses schicksalhaften Zusammentreffens fehle es auch am adäquaten Kausalzusammenhang der Unterlassung mit dem entstandenen Schaden.
Diese Darstellung trifft im entscheidenden Punkt nicht zu. Anlässlich des Augenscheins hat sich nämlich ergeben, dass das Stationsbüro keineswegs ständig besetzt ist; in der kritischen Zeit um 20 Uhr ist der Pfleger, der hier Dienst hat, für 15-30 Minuten in der Abteilung unterwegs, um die Medikamente zu verteilen. Der andere Pfleger befindet sich im Wachsaal. Ein Patient braucht deshalb nicht besonders raffiniert vorzugehen, um zu entweichen. Es ist auch nicht entscheidend, wie gross die Wahrscheinlichkeit von Besuchern um oder unmittelbar nach 20 Uhr ist; es kann sich
BGE 112 Ib 322 S. 329
auch um Patienten handeln, die aus dem Ausgang zurückkommen oder aus Versehen das falsche Geschoss wählen. Jedenfalls handelt es sich um einen Ablauf, der nicht derart ausserhalb des gewöhnlichen Laufs der Dinge und der allgemeinen Lebenserfahrung liegt, dass deswegen der adäquate Kausalzusammenhang unterbrochen wäre.
Der Augenschein hat ergeben, dass es nicht einer ständigen Besetzung des Stationszimmers bedarf, um eine solche Entweichung zu verhindern. Es zeigte sich nämlich, dass der Lift in die Eingangshalle der Klinik führt, die bis 21.30 Uhr geöffnet ist, in der aber nach 20 Uhr die Eingangsloge nicht mehr besetzt ist und daher jede Kontrolle fehlt. Das überrascht bei einer Klinik mit 300 Patienten.
d) Es ergibt sich somit, dass zwar die am Abend des 2. November 1982 konkret getroffenen Anordnungen weder einem Beamten der Klinik zum Verschulden gereichen noch als objektiv pflichtwidrig und damit widerrechtlich zu betrachten sind. Dass A. Y. gleichwohl hat entweichen können, ist auf die Liftanlage zurückzuführen, bei der in Kenntnis der Problematik aus verständlichen Gründen auf konstruktive Abhilfe verzichtet worden ist. Angesichts des bekannten Risikos hätte aber in personeller Hinsicht Gewähr dafür geboten werden müssen, dass die Sicherheit einer geschlossenen Abteilung nicht auf diesem Weg unterlaufen werden konnte. Das wäre ohne weiteres möglich gewesen, sei es in der Abteilung durch Sicherstellung der ständigen Besetzung des Stationszimmers, sei es durch Kontrolle der Eingangshalle bis zur Schliessung der Eingangstüre. Der damit verbundene personelle Aufwand erscheint für eine Klinik mit einem Pflegpersonal von 120-130 Personen als zumutbar.
Der Beklagte hat deshalb aufgrund von § 25 des Verantwortlichkeitsgesetzes für den Schaden der Kläger aufzukommen; die Klage ist daher im Grundsatz gutzuheissen.
5.
Als Schadenersatz fordern die Kläger ausschliesslich Ersatz der Bestattungskosten einschliesslich Leichentransport nach Jugoslawien im Gesamtbetrag von Fr. 10'904.--. Der Beklagte bestreitet diese Schadenspositionen nicht, lehnt jedoch eine Ersatzpflicht ganz oder teilweise ab.
a) Der Beklagte macht geltend, es seien von diesem Betrag die weggefallenen Aufwendungen namentlich aus Erziehung und Unterhalt sowie die durch den Tod bewirkten Erbschaften, Versicherungsleistungen und dergleichen in Abzug zu bringen. Die Kläger
BGE 112 Ib 322 S. 330
wollen eine Anrechnung ersparter Unterhalts- und Erziehungsaufwendungen nur im Zusammenhang mit einem Versorgerschaden gelten lassen, nicht jedoch bei Bestattungskosten; die Unterhaltspflicht gegenüber ihrem bereits 19jährigen Sohn wäre nach ihrer Meinung ohnehin bald entfallen. Eine Erbschaft oder Versicherungsleistungen sei ihnen nicht zugefallen. Dass letzteres zutrifft, hat der Beklagte in der Duplik stillschweigend anerkannt. Dagegen hält er an der Berücksichtigung eingesparter Unterhaltsleistungen fest, weil diese wegen der Krankheit des Sohnes von den Klägern weit über seine Volljährigkeit hinaus hätten erbracht werden müssen.
Lehre und Rechtsprechung bejahen bei der Schadensermittlung die Vorteilsanrechnung, soweit die Vorteile mit dem schädigenden Ereignis in einem inneren Zusammenhang stehen, ähnlich der adäquaten Kausalität (OFTINGER, Haftpflichtrecht, Bd. I, S. 180 ff., VON TUHR/PETER, Allgemeiner Teil OR, Bd. I, S. 101 ff., DESCHENAUX/TERCIER, La responsabilité civile, 2. Aufl., S. 220;
BGE 85 IV 107
,
BGE 71 II 89
f.). Freilich genügt das nicht ohne weiteres (VON TUHR/PETER, S. 103); vielmehr stellt sich auch ein Wertungsproblem (OFTINGER, S. 180). Im übrigen haben Lehre und Rechtsprechung jeweils weniger grundsätzliche als vielmehr dem Einzelfall entsprechende Lösungen gesucht. Dabei ist anerkannt, dass Eltern oder Ehegatten, die einen Versorgerschaden geltend machen, sich die wegen des Todes ersparten Aufwendungen anrechnen lassen müssen (
BGE 108 II 437
E. 2b,
BGE 95 II 416
f. E. 1b teils auch für Erbanfall; OFTINGER, S. 183, MERZ, Obligationenrecht, Allg. Teil, in Schweiz. Privatrecht, Bd. VI/1, S. 208 ff.).
Das lässt sich nicht in gleichem Mass auf den Fall übertragen, in welchem kein Versorgerschaden, sondern nur Ersatz der Bestattungskosten geltend gemacht wird. Zwar wäre für sie wie für einen eingesparten Unterhalt der adäquate Zusammenhang mit dem Todesfall zu bejahen. Wenn aber im Sinn einer Wertung auch gewisse Billigkeitsüberlegungen einbezogen werden dürfen, gestatten diese von der Anrechnung eines allfällig eingesparten Unterhalts abzusehen, wenn nur die Bestattungskosten im Streit liegen. Dafür sprechen auch praktische Gründe, würde damit doch eine an sich liquide Forderung zum Anlass schwieriger Abklärungen und Schätzungen. Das liegt namentlich auch nicht im Sinn eines Staatshaftungsgesetzes, selbst wenn die zivilrechtlichen Regeln des Schadenersatzrechts in diesem Bereich ergänzend herangezogen werden können (
BGE 107 Ib 162
E. 2 mit Hinweis). Es kann
BGE 112 Ib 322 S. 331
deshalb offengelassen werden, ob und in welchem Ausmass die Kläger durch den Tod ihres Sohnes von Unterhaltslasten befreit worden sind.
b) Nach Ansicht des Beklagten drängt sich eine Herabsetzung oder gar Aufhebung der Ersatzpflicht auch unter dem Gesichtspunkt eines Selbstverschuldens des Verstorbenen auf; trotz Depressionen und labilem Gemütszustand sei dieser zur massgeblichen Zeit keineswegs urteilsunfähig gewesen. Weil er den Tod absichtlich herbeigeführt habe, wäre es unbillig, den schuldlos haftenden Beklagten den ganzen Schaden tragen zu lassen. Die Kläger nehmen demgegenüber an, ihr Sohn sei, als er sich unter den Zug geworfen habe, voll urteilsunfähig gewesen; auch wenn das nicht bei jedem Selbstmord gelten müsse, sei dieser vorliegend eindeutig auf eine krankheitsbedingte Willensbildung zurückzuführen.
Nach ärztlicher Diagnose litt A. Y. an einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis, bzw. an einer Schizophrenie mit vornehmlich katatonem Gepräge. Wie stark dieser Krankheitszustand im entscheidenen Zeitpunkt die Urteilsfähigkeit des Patienten beeinträchtigt hat, braucht nicht entschieden zu werden. Er wurde wegen seiner Neigung zur Selbsttötung in die Klinik eingewiesen; er sollte wie früher dargelegt nach Möglichkeit geheilt, aber auch vor einem Selbstmord bewahrt werden. Dass die Klinik in letzterer Hinsicht versagt hat, schliesst es auf jeden Fall aus, ein rechtlich relevantes Selbstverschulden von A. Y. anzunehmen.
c) Die Klage erweist sich daher hinsichtlich der Schadenersatzforderung als begründet; der Zinsanspruch ist unbestritten.
6.
Obschon das Verantwortlichkeitsgesetz einen Genugtuungsanspruch nicht erwähnt, machen die Kläger einen solchen in Höhe von je Fr. 12'000.-- geltend. Wenn das Gesetz "von der Zivilklage auf Schadenersatz" spreche, werde damit generell auf das zivilrechtliche Haftpflichtrecht und damit auch auf
Art. 47 OR
verwiesen. Der Verlust ihres einzigen Sohnes treffe die Kläger schwer, zumal sie gehofft hätten, dass er die Entwicklungskrise überwinde und wieder gesund werde. Dass dem Klinikpersonal kein grobes Verschulden vorzuwerfen sei, werde mit den beantragten Beträgen berücksichtigt. Der Beklagte lehnt dagegen jede Genugtuungszahlung ab, weil eine solche im Gesetz nicht vorgesehen sei und auch der Verschuldenslage nicht entspreche.
Das Gesetz sieht nur den Ersatz des Schadens vor (§§ 24 und 25). Eine kantonale Rechtsprechung zu dieser Frage besteht offenbar
BGE 112 Ib 322 S. 332
nicht; doch ist vergleichsweise auf dieser Grundlage auch schon Genugtuung geleistet worden. Die Kläger machen geltend, in der Entstehungszeit des Gesetzes von 1851, also vor dem Obligationenrecht von 1881, habe der Begriff des Schadenersatzes auch den immateriellen Schaden umfasst (OSER/SCHÖNENBERGER, N. 1 zu
Art. 61 OR
), und in diesem Sinn sei auch Artikel 7 des eidgenössischen Verantwortlichkeitsgesetzes vom 9. Dezember 1850 verstanden worden (BS 1, 462; O.K. KAUFMANN, Die Verantwortlichkeit des Beamten und die Schadenersatzpflicht des Staates in Bund und Kantonen, ZSR 72/1953, S. 344a, vgl. auch
BGE 34 II 621
E. 5). Wieweit darauf noch heute zurückzugreifen wäre, kann offenbleiben, entspricht es doch auch heutiger Anschauung, im Zweifel in die Schadenersatzpflicht den Ersatz immateriellen Schadens durch Genugtuung einzubeziehen (OFTINGER, a.a.O., S. 287, STARK, Ausservertragliches Haftpflichtrecht, Skriptum, N. 179).
Auch wenn danach einem Genugtuungsanspruch nicht entgegenstehen muss, dass das Gesetz nur von Schadenersatz spricht, ist zu berücksichtigen, dass nach neueren gesetzlichen Regelungen Genugtuung selbst bei Tötung oder Körperverletzung nur unter besonderen Voraussetzungen geschuldet ist. Der Anspruch wird von besonderen Umständen (
Art. 47 OR
), teils auch vom Verschulden des Beamten abhängig gemacht (vgl. Art. 6 des eidgenössischen Verantwortlichkeitsgesetzes vom 14. März 1958 [VG] und aus dem kantonalen Recht die gesetzlichen Bestimmungen insbesondere in den Kantonen Waadt, Zürich, Schwyz, Zug, Solothurn, Thurgau und Wallis [dazu die Hinweise bei GRISEL, Traité de droit administratif, Bd. II, S. 281 ff.]; s. auch
BGE 93 I 593
E. 5 zur Auslegung von
Art. 27 MO
in der damaligen Fassung unter Einbezug von
Art. 6 Abs. 1 VG
). Dass nur besondere - nicht aber unbedingt verschuldete - Umstände Genugtuungsleistungen des Staats rechtfertigen, wird auch in der neuesten Lehre betont (GRISEL, a.a.O., S. 788).
Von einem eigentlichen Verschulden des Klinikpersonals kann vorliegend nicht gesprochen werden. Was die Verantwortlichkeit des Beklagten rechtfertigt, ist vielmehr ein organisatorischer Mangel, der nicht schwer wiegt, weil er nur in besonderen Ausnahmesituationen Folgen haben kann. Das ruft jedenfalls nicht nach einer Genugtuung. Auf Seiten der Kläger ist zu berücksichtigen, dass der Verlust ihres einzigen Sohnes sie sicher schwer trifft, doppelt schwer der Selbstmord. Dieser ist indes auf die kranke Persönlichkeit des Verstorbenen zurückzuführen und kann nicht
BGE 112 Ib 322 S. 333
dem Beklagten angelastet werden. Dessen Verantwortlichkeit beruht darauf, dass in der Klinik nicht alles vorgekehrt worden ist, um eine solche Tragödie zu verhindern. Das ändert nichts daran, dass das Klinikpersonal sich - der gestellten Aufgabe gemäss - während den Monaten seines Aufenthalts um den Patienten bemühte, letztlich leider ohne Erfolg. Ob in seinem Fall überhaupt Heilungschancen bestanden hätten, die auch von den Klägern nur auf 15 bis 25% geschätzt werden, braucht dabei nicht entschieden zu werden. Ein Genugtuungsanspruch ist unter den gegebenen Umständen zu verneinen.
7.
Die Klage erweist sich deshalb nur im Teilbetrag von Fr. 10'904.-- nebst 5% Zins seit 2. November 1982 als begründet, im übrigen als unbegründet. Die Kläger beantragen, den Beklagten gleichwohl voll kosten- und entschädigungspflichtig zu erklären, weil dieser eine von ihnen vor Klageerhebung vorgeschlagene vergleichsweise Erledigung auf der Basis allein der Schadenersatzforderung abgelehnt habe. Das trifft zu und ruft der Frage, ob der Beklagte mit diesem Verhalten nicht unnötige Kosten verursacht habe (Art. 156 Abs. 6 und 159 Abs. 5 OG in Verbindung mit
Art. 69 Abs. 1 BZP
; vgl. auch GULDENER, Schweiz. Zivilprozessrecht, 3. Aufl., S. 406 mit Hinweisen). Auch wenn nicht so weit gegangen wird, ist zu beachten, dass der Beklagte eine vergleichsweise Erledigung noch anlässlich der Vorbereitungsverhandlung namentlich deshalb abgelehnt hat, weil er an einer grundsätzlichen Beurteilung durch das Bundesgericht interessiert ist; das kann kostenmässig ebenfalls zu seinen Ungunsten berücksichtigt werden (vgl.
BGE 92 I 323
E. 6). Entscheidend ist jedoch, dass die Kläger unter den gegebenen Umständen sich in guten Treuen auch zur Erhebung des Genugtuungsanspruchs veranlasst sehen durften, was im Sinn der Art. 156 Abs. 3 und 159 Abs. 3 OG eine volle Kosten- und Entschädigungspflicht des Beklagten rechtfertigt. | de |
09cd6ad8-7897-4828-9142-5caaeddaa423 | Sachverhalt
ab Seite 282
BGE 145 III 281 S. 282
A.
Die Eheleute B. (nachfolgend: Mieterin 1, Beschwerdegegnerin) und C. (nachfolgend: Mieter 2, nicht Partei des vorliegenden Verfahrens) erbauten im Jahr 2006 in U. ein Zweifamilienhaus. Sie begründeten Stockwerkeigentum an einer der beiden Stockwerkeigentumswohnungen und bewohnten diese Einheit in der Folge gemeinsam. Im Jahr 2008 verkauften sie die Stockwerkeigentumseinheit an E., den Vater von Mieter 2. Dieser vermietete ihnen die Einheit am 14. Januar 2009, worauf sie diese weiterhin bewohnten.
Ende 2013 trennte sich das Ehepaar B.-C. In der gerichtlich genehmigten Eheschutzvereinbarung vom 10. September 2014 wurde der obere Teil des Mietobjekts der Mieterin 1 zur alleinigen Benützung zugeteilt. Beide Eheleute (sowohl die Mieterin 1 als auch der Mieter 2) blieben Parteien des Mietvertrags.
Am 6. Juni 2015 verstarb E. und dessen Ehefrau, A. (nachfolgend: Vermieterin, Beschwerdeführerin), wurde als Alleineigentümerin der Stockwerkeinheit im Grundbuch eingetragen.
Mit separaten Schreiben vom 22. Oktober 2015 an die Mieterin 1 und den Mieter 2 kündigte die Vermieterin das Mietverhältnis mit den Mietern per 31. Januar 2016.
B.
Mit Eingabe vom 8. April 2016 erhob die Mieterin 1 Klage beim Mietgericht des Bezirksgerichts Meilen. Der Mieter 2 ging soweit bekannt nicht gegen die Kündigung vor. Mit Urteil vom 16. Februar 2018 stellte das Mietgericht die Missbräuchlichkeit der Kündigung fest.
Mit Entscheid vom 20. September 2018 wies das Obergericht des Kantons Zürich die von der Vermieterin erhobene Berufung ab. Wie bereits das Mietgericht hielt auch das Obergericht fest, der Mieterin 1 könne nicht zur Last gelegt werden, sie habe den Mieter 2 nicht in den Prozess zur Anfechtung der Kündigung miteinbezogen. Die Mieterin 1 sei daher zur Anfechtung der Kündigung allein (ohne Einbezug des Mieters 2) aktivlegitimiert.
BGE 145 III 281 S. 283
C.
Mit Beschwerde in Zivilsachen beantragt die Vermieterin dem Bundesgericht, es sei das Urteil des Obergerichts aufzuheben und die Klage abzuweisen. Die Beschwerdegegnerin beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
(Zusammenfassung) Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
(...)
3.4
Die Beschwerdeführerin ist der Ansicht, der Entscheid der Vorinstanz verstosse gegen die neuere Rechtsprechung des Bundesgerichts. Dieses habe sich in
BGE 140 III 598
mit der Frage ausführlich und vollständig auseinandergesetzt, ob und wie Mitmieter gemeinsam handeln müssten, um die Aufhebung einer Kündigung in Anwendung von
Art. 271 und
Art. 271a OR
zu verlangen. Das in
BGE 140 III 598
Gesagte - nämlich dass der Kläger auf der Gegenseite nebst dem Vermieter auch den oder die anfechtungsunwilligen Mitmieter einklagen müsse, ansonsten ihm die Aktivlegitimation abgesprochen werde (vgl. nicht publ. E. 3.1) - gelte auch in Bezug auf Familienwohnungen. Die Anfechtung der Kündigung entscheide auch bei der gemeinsamen Miete einer Familienwohnung über den Bestand oder Nichtbestand eines Rechtsverhältnisses und stelle daher eine Gestaltungsklage (
Art. 87 ZPO
) dar. Die Vorinstanz sei unzulässigerweise von der in
BGE 140 III 598
etablierten Praxis abgewichen.
3.4.1
Das Bundesgericht hat in
BGE 140 III 598
einleitend festgehalten, die Frage, ob Mitmieter zur Anfechtung einer Kündigung im Sinne von
Art. 271 und
Art. 271a OR
gemeinsam handeln müssten, werde in der Lehre kontrovers diskutiert und sei vom Bundesgericht noch nicht entschieden worden. Es hielt sodann mit Verweis auf
BGE 118 II 168
fest, betreffe der Mietvertrag eine eheliche Wohnung, könne jeder Ehegatte die Kündigung selbständig anfechten. Dies ergebe sich schon aus
Art. 273a Abs. 1 OR
, der die Aktivlegitimation zur Anfechtung sogar dem Ehegatten zugestehe, der selbst nicht Mieter sei (
BGE 140 III 598
E. 3.1 S. 598 f.; vgl. auch
BGE 136 III 431
E. 3.1 S. 433). Auf
BGE 118 II 168
musste das Bundesgericht sodann nicht weiter eingehen, da es sich bei der streitgegenständlichen Wohnung gerade nicht um eine Familienwohnung handelte.
BGE 145 III 281 S. 284
3.4.2
Es ist somit zu prüfen, ob vor dem Hintergrund der in
BGE 140 III 598
etablierten Praxis an
BGE 118 II 168
festgehalten werden soll.
Nach konstanter Praxis muss sich eine Praxisänderung auf ernsthafte, sachliche Gründe stützen können, die - vor allem im Hinblick auf das Gebot der Rechtssicherheit - umso gewichtiger sein müssen, je länger die als falsch oder nicht mehr zeitgemäss erkannte Rechtsanwendung für zutreffend erachtet worden ist. Eine Praxisänderung lässt sich grundsätzlich nur begründen, wenn die neue Lösung besserer Erkenntnis der ratio legis, veränderten äusseren Verhältnissen oder gewandelten Rechtsanschauungen entspricht, andernfalls ist die bisherige Praxis beizubehalten (
BGE 135 III 66
E. 10 S. 79;
BGE 132 III 770
E. 4 S. 777).
Ein erheblicher Teil der Lehre geht - meist unter ausdrücklichem Hinweis auf
BGE 118 II 168
- davon aus,
Art. 273a OR
sei analog anzuwenden, wenn beide Ehegatten Mieter der Familienwohnung seien (ROGER WEBER, in: Basler Kommentar, Obligationenrecht, Bd. I, 6. Aufl. 2015, N. 2a zu Art. 273 und N. 4 zu
Art. 273a OR
; JÖRG SCHMID, Die gemeinsame Miete - Ausgewählte Fragen, AJP 2016 S. 31 ff., 36 f.; CAROLINE MEYER, Zur Sachlegitimation der Parteien im Mietprozess, MietRecht Aktuell [MRA] 2010 S. 47 ff., 54; NICOLAS FUCHS, Die Kündigungsanfechtung bei Familienwohnungen - Aspekte der Prozessstandschaft, BJM 2017 S. 11 ff., 30; THOMAS KOLLER, Die mietrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichts im Jahr 2014, ZBJV 152/2016 S. 1 ff., 48; INGRID JENT-SØRENSEN, Die Verfahrensrechte der Ehegatten bezüglich der Familienwohnung gemäss
Art. 169 ZGB
,
Art. 273a OR
und Art. 153 nSchKG, Mitteilungen aus dem Institut für zivilgerichtliches Verfahren in Zürich, 1996, S. 5 ff., 18; ANITA THANEI, in: Mietrecht für die Praxis, 9. Aufl. 2016, S. 679 bei Fn. 57). Andere Lehrmeinungen halten hingegen dafür, wenn beide Ehegatten Mieter der Familienwohnung seien, sei der anfechtungsunwillige Ehegatte gemäss
BGE 140 III 598
auf der Passivseite mit dem Vermieter ins Recht zu ziehen (CORDULA LÖTSCHER, Die Prozessstandschaft im schweizerischen Zivilprozess, 2016, S. 466 Rz. 1099 f.; ZINON KOUMBARAKIS, Urteil des Bundesgerichts 4A_689/2016 vom 28. August 2017, Legitimation Kündigungsanfechtung, MRA 2018 S. 70 ff., 76; notwendige Streitgenossenschaft bejahend auch: PETER HIGI, Zürcher Kommentar, 4. Aufl. 1998, N. 17 zu
Art. 273a OR
).
BGE 145 III 281 S. 285
In
BGE 140 III 598
hat das Bundesgericht dem Spannungsfeld zwischen den Anforderungen an eine notwendige Streitgenossenschaft und dem Sozialschutzgedanken im Mietrecht Rechnung getragen, indem es dem Mieter bei gemeinschaftlicher Miete - obwohl eine notwendige Streitgenossenschaft besteht - gestattete, selbstständig die Kündigung anzufechten, sofern er diejenigen Mitmieter, welche die Kündigung nicht anfechten wollen, zusammen mit dem Vermieter auf der Passivseite in den Prozess einbezieht (vgl. nicht publ. E. 3.1). Es ist somit bei gemeinsamer Miete jedem Mieter möglich, eine Kündigung anzufechten, selbst wenn sich der oder die Mitmieter der Kündigung nicht widersetzen wollen. Er hat diesfalls einfach die Mitmieter auf der Passivseite ins Verfahren einzubeziehen. Diese Möglichkeit besteht auch in Bezug auf die Kündigungsanfechtung bei gemeinsamer Miete einer Familienwohnung. Die Situation ist daher verschieden von derjenigen, in der nur ein Ehepartner den Mietvertrag für die Familienwohnung unterzeichnet hat. In der letzteren Situation könnte derjenige, der nicht Vertragspartei ist, ohne die Bestimmung von
Art. 273a OR
auch keine Rechte aus dem Mietvertrag geltend machen (LUKAS POLIVKA, in: Das Schweizerische Mietrecht, 4. Aufl. 2018, N. 3 zu
Art. 273a OR
). Dies hätte zur Folge, dass derjenige, der den Mietvertrag für die Familienwohnung unterzeichnet hat, die Rechte daran durch Unterlassung der Kündigungsanfechtung eigenmächtig preisgeben könnte (vgl. WEBER, a.a.O., N. 1 zu
Art. 273a OR
mit Hinweisen). Sinn und Zweck von
Art. 273a OR
ist es, den nicht mietenden Ehegatten gegen solche Handlungen, mit denen einseitig auf die gemeinsame Familienwohnung verzichtet wird, zu schützen (
BGE 136 III 431
E. 3.3 S. 435). Diesen durch
Art. 273a OR
dem nicht mietenden Ehegatten gewährten Schutz bedarf der mitmietende Ehegatte - wie dargelegt - gar nicht (vgl. in diesem Sinne auch FUCHS, a.a.O., S. 11, 12 f.).
Vor diesem Hintergrund kann an der analogen Anwendung von
Art. 273a OR
bei gemeinsamer Miete der Familienwohnung gemäss
BGE 118 II 168
nicht festgehalten werden. Vielmehr ist auch in diesem Fall der Ehepartner und Mitmieter, der die Kündigung nicht anfechten will, gemäss
BGE 140 III 598
auf der Passivseite ins Verfahren miteinzubeziehen. | de |
1a29388e-5987-45ba-bb0f-4659b5fbb362 | Sachverhalt
ab Seite 113
BGE 136 III 113 S. 113
A.
Die 1937 geborene B. arbeitete nach der Schule an wechselnden Orten als Hilfskraft. Später wurde sie Mutter von zwei ausserehelichen Kindern, die zur Adoption freigegeben wurden. Im Jahr 1965 heiratete sie den Landwirt I., wenige Wochen vor der Geburt des
BGE 136 III 113 S. 114
gemeinsamen Sohnes J., der 1975 fremdplatziert werden musste. Der Ehemann starb 1971 und hinterliess ein ansehnliches Vermögen, insbesondere mehrere Grundstücke in der Gemeinde Y. Die im Jahr 1974 mit K., einem Knecht im Landwirtschaftsbetrieb von I., eingegangene Ehe wurde 1977 wieder geschieden. Ein Jahr später heiratete B. erneut. Das Ehepaar lebte bis Mai 1998 im Engadin, anschliessend im Kanton Tessin.
Im Zusammenhang mit kleineren Vermögensdelikten wurde B. 1961 erstmals begutachtet. Die Diagnose der Ärzte lautete auf eine haltlose und willensschwache, infantile und primitiv intelligente Person. 1975 erfolgten Klinikeinweisungen wegen Suizid- und Verwahrlosungsgefahr, wobei die Gutachter eine hysterische Psychopathie mit Verwahrlosungstendenzen feststellten; ausserdem bestehe erheblicher Verdacht auf eine Polytoxikomanie, vor allem mit Schmerz- und Schlaftabletten. Im Rahmen einer weiteren Strafuntersuchung ergab ein neues Gutachten, dass B. als haltlose, hysterische Psychopathin einzustufen sei, welche ausgesprochen triebhaft handle sowie geltungssüchtig und lügenhaft sei. Wegen zunehmender sozialer und körperlicher Verwahrlosung wurde 1987 ein weiterer Anstaltsaufenthalt notwendig. Die begutachtenden Ärzte diagnostizierten eine hysterische Psychopathie mit Geltungssucht, Haltlosigkeit und Triebhaftigkeit sowie eine durch Medikamentenmissbrauch bedingte Polytoxikomanie. Die Patientin sei zwar durchaus in der Lage, die Angelegenheiten des täglichen Lebens zu überblicken; für weiterreichende Entscheidungen fehle ihr aber die geordnete Denk- und Handlungsweise. Bestätigt wurden diese Untersuchungsergebnisse durch ein Gutachten im Tessin aus dem Jahr 2004.
B.
Im Jahr 1973 entzog die Vormundschaftsbehörde B. gestützt auf
Art. 386 Abs. 2 ZGB
die Handlungsfähigkeit. 1975 wurde die Massnahme bestätigt und L. als Vertreter eingesetzt. Im Jahr 1978 ersetzte die Vormundschaftsbehörde die Massnahme durch eine Verwaltungsbeiratschaft im Sinn von
Art. 395 Abs. 2 ZGB
mit L. als Beirat. Ab 1984 wurde die Beiratschaft durch die Vormundschaftsbehörde geführt. 1985 wurde B. gestützt auf
Art. 372 ZGB
entmündigt und M. als Amtsvormund eingesetzt. Mangels liquider Mittel wurde 1986 im Einverständnis mit der Vormundschaftsbehörde und dem Bezirksgerichtsausschuss ein Grundstück verkauft. Der nach der Schuldtilgung verbleibende Betrag wurde mündelsicher angelegt.
BGE 136 III 113 S. 115
Ab Januar 1995 wurde A. zunehmend für B. und ihren Ehemann tätig, dies gestützt auf deren umfassend gehaltene Vollmachten. Im Februar 1996 liess B. durch A. bei der Vormundschaftsbehörde die Aufhebung der Vormundschaft beantragen. Nach Verhandlungen wandelte die Vormundschaftsbehörde die Vormundschaft mit Beschluss vom 2. Oktober 1996 in eine kombinierte Mitwirkungs- und Verwaltungsbeiratschaft um, unter Einsetzung von A. zum Beirat mit Wirkung ab 1. Dezember 1996. Dieser machte sowohl gegenüber der Vormundschaftsbehörde als auch gegenüber B. und deren Ehemann geltend, dass sämtliche Bemühungen nach dem Anwaltstarif zu entschädigen seien.
C.
Als Anwalt und Beirat von B. wollte A. im Rahmen eines Überbauungsprojektes erreichen, dass die Parzellen Nr. 1 und 2 in eine Bauzone überführt würden, um sie und die beiden ebenfalls B. gehörenden Grundstücke Nr. 3 und 4 zur Realisierung einer Überbauung veräussern zu können. Mit den Projektierungsarbeiten wurde die N. AG betraut, an welcher A. finanziell beteiligt und deren Verwaltungsratspräsident er war.
Wegen der Gefahr von Interessenkollisionen stellte die Vormundschaftsbehörde B. mit Beschluss vom 29. Oktober 2001 für alle Geschäfte im Zusammenhang mit den Parzellen Nr. 1 und 2 einen Beistand ad hoc zur Seite. Die hiergegen gerichtete Beschwerde der durch einen Büropartner von A. vertretenen B. wies der Bezirksgerichtsausschuss Maloja mit Urteil vom 27. März 2002 ab. Im gleichen Entscheid wurde A. seines Amtes als Beirat enthoben.
Während des Rechtsmittelverfahrens bezüglich Amtsenthebung veräusserte B. am 14. Juni 2002 unter Mitwirkung von A. ihre beiden Parzellen Nr. 3 und 4 an die Kollektivgesellschaft O. Die Vormundschaftsbehörde und der Bezirksgerichtsausschuss stimmten diesem Geschäft zu. In Bezug auf die Parzellen Nr. 1 und 2 kam es unter Mitwirkung von A. gleichentags zur Unterzeichnung eines Vorvertrages auf Abschluss von Kaufverträgen mit Begründung von limitierten Kaufrechten. Dieses Geschäft wurde durch die vormundschaftlichen Organe nicht bestätigt. Deshalb wurde der Vorvertrag am 24. Januar 2003, nunmehr unter Mitwirkung des Beistandes ad hoc, durch einen neuen ersetzt, wiederum auf Abschluss eines Kaufvertrages mit Einräumung von Kaufrechten und Vorkaufsrechten. Die Vormundschaftsbehörde und der Bezirksgerichtsausschuss genehmigten dieses Geschäft am 9. April 2003 bzw. 6. Mai 2003.
BGE 136 III 113 S. 116
Die Teilrevision der Ortsplanung wurde an den Gemeindeversammlungen vom 18. Dezember 2000 und vom 9. Dezember 2002 gutgeheissen. In der Folge kam es zusätzlich zum bereits erwähnten Vorvertrag zum Abschluss verschiedener, für die Einleitung des regierungsrätlichen Genehmigungsverfahrens notwendiger Vereinbarungen, teils zwischen den betroffenen Grundeigentümern selbst, teils zwischen einzelnen von ihnen und der Gemeinde Y. Am 5. Juni 2003 wurden die durch die Teilrevision der Ortsplanung geänderten Pläne an die Kantonsregierung weitergeleitet, welche sie mit Beschluss vom 14. Januar 2004 genehmigte. Damit wurde der Weg frei für die Veräusserung von zu Bauland gewordenem Grundbesitz von B.
D.
In der Zeit, in welcher A. als Beirat von B. tätig war, verringerte sich deren Wertschriftenvermögen von ursprünglich Fr. 650'000.- Ende November 1996 auf Franken Null Ende Oktober 2001. Nach der endgültigen Abweisung der gegen die Amtsenthebung eingelegten Rechtsmittel Ende Dezember 2002 widerrief B. die ihm erteilten Vollmachten. An seiner Stelle ernannte sie am 16. Januar 2003 P. zu ihrem Vertreter. Zu diesem Zeitpunkt verfügten B. und ihr Ehemann lediglich noch über ein monatliches Renteneinkommen von Fr. 5'500.- bis Fr. 6'000.-. Bei Bewertung der Parzellen Nr. 1 und 2 zu Nichtbaulandpreisen bestanden per 31. Dezember 2002 Schulden in der Höhe von Fr. 357'490.05.
E.
Am 17. März 2004 klagte B. gegen A. aus vormundschaftlicher Verantwortlichkeit auf Zahlung von Fr. 500'000.- nebst Zins zu 5 % seit 17. März 2004. Sie vertrat die Meinung, dass das Wertschriftenvermögen im Zeitpunkt der Beendigung der Beiratschaft noch in diesem Betrag hätte vorhanden sein sollen; dass das ganze Vermögen verbraucht worden sei, müsse ihrem ehemaligen Beirat angelastet werden. Nach ihrem Tod am 11. Juli 2004 traten die Erben in den Prozess ein.
Mit Urteilen vom 28. August 2007 und 22. September 2008 verurteilten sowohl das Bezirksgericht Surselva als auch das Kantonsgericht von Graubünden A. zur Zahlung von Fr. 500'000.- nebst Zins an die in den Prozess eingetretenen Erben von B.
F.
Gegen das Urteil des Kantonsgerichts hat A. am 15. Mai 2009 eine Beschwerde in Zivilsachen erhoben, im Wesentlichen mit den Begehren um dessen Aufhebung und Klageabweisung, eventualiter um Festlegung des Schadens nach Ermessen des Bundesgerichts.
BGE 136 III 113 S. 117
In ihrer Vernehmlassung vom 17. August 2009 haben die Beschwerdegegner auf Beschwerdeabweisung geschlossen. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
(Zusammenfassung) Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Die Haftung des Beirates richtet sich nach den Bestimmungen über diejenige des Vormundes (Art. 367 Abs. 3 i.V.m.
Art. 426 ZGB
;
BGE 85 II 464
E. 1 S. 467) und kennt die üblichen Haftungsvoraussetzungen, nämlich Schaden, adäquater Kausalzusammenhang, Widerrechtlichkeit sowie Verschulden (
Art. 426 ZGB
; HANS AEPLI, Die Verantwortlichkeit der vormundschaftlichen Organe [...], 1979, S. 22).
3.1
Als der Beschwerdeführer am 1. Dezember 1996 das Amt als Beirat antrat, verfügte B. über ein Wertschriftenvermögen von Fr. 650'000.- (Festgeldanlage von Fr. 100'000.- und Kassenobligationen von Fr. 550'000.-). Bereits Ende 2001 war dieses Kapital vollständig aufgebraucht. Das Kantonsgericht stellte fest, dass das Vermögen anfänglich einen jährlichen Ertrag von Fr. 35'000.- abwarf. Sodann verfügte das Ehepaar über ein Renteneinkommen von Fr. 65'000.- pro Jahr. Das Kantonsgericht erwog, dass der Beirat vor diesem Hintergrund einen jährlichen Vermögensverzehr von Fr. 25'000.- hätte zulassen dürfen, um eine den Umständen entsprechende Lebensführung zu ermöglichen, jedoch ein darüber hinausgehender Vermögensverzehr mit Hinblick auf die Altersvorsorge bzw. Pflegebedürftigkeit von B. nicht statthaft war. Im Übrigen befand es, der Beirat habe nicht auf die Umzonung der Grundstücke und einen damit verbundenen Vermögenszuwachs spekulieren dürfen, und für die Schadensberechnung könne auch nicht einfach die damalige mit der heutigen Vermögenslage verglichen werden, weil zwischen dem Verzehr des Anlagevermögens und dem Wertzuwachs der Grundstücke infolge Umzonung zu Bauland kein Konnex bestehe. Ausgehend von diesen Erwägungen bestimmte es den Schaden auf Fr. 500'000.- (Fr. 650'000.- abzüglich den als zulässig erachteten Vermögensverzehr von Fr. 25'000.- pro Jahr bis zur rechtskräftigen Amtsenthebung).
3.1.1
Der Beschwerdeführer macht in erster Linie geltend, im Zeitpunkt der Amtsenthebung sei das Vermögen von B. erheblich grösser gewesen als bei der Amtsübernahme; er habe es folglich vermehrt und könne nicht haftbar sein.
BGE 136 III 113 S. 118
Das in diesem Zusammenhang gemachte Vorbringen der Surrogation scheitert bereits daran, dass die Grundstücke nicht aus dem Wertschriftenvermögen erworben wurden, sondern diese B. ab initio bzw. parallel zu den Wertschriften gehörten.
Desgleichen geht das Argument der Vorteilsanrechnung an der Sache vorbei, besteht doch zwischen der Vermögenszunahme infolge Überführung der Grundstücke in die Bauzone und der Vermögensabnahme durch Verbrauch des Wertschriftenkapitals kein innerer Zusammenhang, d.h. es fehlt an der für die Vorteilsanrechnung notwendigen Konnexität: Unabhängig vom Wert der Grundstücke wäre das heutige Gesamtvermögen ohne Verzehr dieses Kapitals um Fr. 500'000.- grösser, und massgeblich ist entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers nicht die Differenz zwischen dem Vermögensstand bei Amtsantritt und Amtsenthebung, sondern die Differenz zwischen dem Vermögensstand mit und ohne den als unzulässig erachteten Kapitalverzehr.
3.1.2
Soweit der Beschwerdeführer vorbringt, ein Teil des verbrauchten Kapitals sei in die Baulandentwicklung geflossen und habe insofern zu einer Vermögenssteigerung beigetragen, handelt es sich um eine neue und damit unzulässige Behauptung, zumal nicht erst der angefochtene Entscheid dazu Anlass gegeben hat (
Art. 99 Abs. 1 BGG
; vgl. auch nicht publ. E. 2.2). Massgeblich ist für das bundesgerichtliche Verfahren somit die kantonale Sachverhaltsfeststellung, dass das gesamte Wertschriftenvermögen - wie vom Beschwerdeführer denn auch ursprünglich vorgebracht - für einen gehobenen Lebensstandard von B. und ihrem Ehemann verbraucht worden und kein Konnex zwischen Kapitalverzehr und Wertsteigerung der Grundstücke gegeben sei (
Art. 105 Abs. 1 BGG
).
3.1.3
Wenn der Beschwerdeführer schliesslich geltend macht, das Kantonsgericht habe
Art. 43 OR
verletzt, weil es bei der Schadensfestsetzung die Verschuldensfrage nicht geprüft habe, so ist auf die nachfolgende E. 3.4 zu verweisen, wonach das Verschulden des Beschwerdeführers schwer wiegt.
Im Übrigen gebieten auch Recht und Billigkeit nicht, einen geringeren Schaden anzunehmen: Es trifft zwar zu, dass den Erben von B. nunmehr ein ansehnliches Vermögen zugefallen ist; dieses ist aber ausschliesslich auf die Umzonung zurückzuführen, die nach dem Gesagten in keinem Zusammenhang mit dem Kapitalverzehr steht. B. selbst hat denn auch bis zu ihrem Tod nie von diesem
BGE 136 III 113 S. 119
Vermögenszuwachs profitiert, sondern vielmehr den vollumfänglichen Kapitalverzehr zu tragen gehabt. Im Übrigen ist der Beschwerdeführer, was im Zusammenhang mit der von ihm angerufenen Billigkeitsmaxime ebenfalls zu berücksichtigen wäre, nicht etwa in einem altruistischen Sinn für B. tätig geworden; vielmehr hat er das Mandat geradezu an sich gezogen, um im Zusammenhang mit seinen über die von ihm präsidierte N. AG abgewickelten Überbauungsplänen eigennützige Ziele verfolgen zu können, und er hat der Vormundschaftsbehörde gegenüber auch dezidiert geltend gemacht, dass alle beiratschaftlichen Leistungen zum Anwaltstarif abzugelten seien. Vor diesem Hintergrund kann von einer "aufopfernden Tätigkeit", wie der Beschwerdeführer dies geltend macht, keine Rede sein, und lässt sich dem Kantonsgericht auch keine Verletzung von
Art. 43 OR
vorwerfen, wenn es nicht von schadensausschliessenden oder jedenfalls schadensmildernden Umständen ausgegangen ist.
3.2
Der vorstehend beschriebene Schaden ist ein reiner Vermögensschaden. Somit ist kein absolutes Rechtsgut verletzt und die Widerrechtlichkeit nur gegeben, wenn der Beschwerdeführer mit seinem Verhalten gegen den Schutzzweck bestimmter Normen verstossen bzw. die aus einer Garantenstellung fliessenden Handlungspflichten verletzt hat (
BGE 115 II 15
E. 3c S. 20).
3.2.1
B. stand unter einer sog. kombinierten Beiratschaft, bei welcher dem Beirat sowohl die Mitwirkung zu bestimmten Geschäften im Sinn von
Art. 395 Abs. 1 ZGB
als auch die Verwaltung des Mündelvermögens gemäss
Art. 395 Abs. 2 ZGB
obliegt. Die Verwaltungsbeiratschaft hat eine Beschränkung der Handlungsfähigkeit der verbeirateten Person zur Folge. Nicht anders als bei einer bevormundeten Person ist dem Verbeirateten der Bereich der Vermögensverwaltung gänzlich entzogen (LANGENEGGER, in: Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch, Bd. I, 3. Aufl 2006, N. 14 und 17 zu
Art. 395 ZGB
; BRIGITTE BACHMANN, Die Beiratschaft [
Art. 395 ZGB
] de lege lata und de lege ferenda, 1990, S. 120). Diesbezüglich hat der Beirat gemäss Art. 395 Abs. 2 i.V.m.
Art. 413 Abs. 1 ZGB
die Pflicht zur sorgfältigen Verwaltung des Mündelvermögens. Im Vordergrund steht dabei die Erhaltung oder sogar die Mehrung der Substanz (ALBERT GULER, in: Basler Kommentar, a.a.O., N. 3 zu
Art. 413 ZGB
; CHRISTOPH CAVIEZEL, Die Vermögensverwaltung durch den Vormund, 1988, S. 202). Geschütztes Rechtsgut ist hier mithin das Vermögen (
BGE 115 II 15
E. 4a S. 20). Dessen Erhalt oder gar Äufnung ist freilich kein Selbstzweck; vielmehr ist das Gesamtinteresse des Verbeirateten
BGE 136 III 113 S. 120
bestmöglichst zu wahren und das Vermögen den konkreten Verhältnissen angepasst zu verwalten (CAVIEZEL, a.a.O., S. 216). Das bedeutet, dass der Beirat die Ausgaben für den Verbeirateten so planen muss, dass nach vorsichtiger Schätzung dessen Lebensführung gegen das Lebensende hin keine Beeinträchtigung zu erleiden braucht (CAVIEZEL, a.a.O., S. 222). Zu diesem Zweck ist das Vermögen, soweit es nicht für notwendige oder weitere den konkreten Vermögensverhältnissen angepasste Ausgaben verwendet wird, mündelsicher anzulegen; der Beirat hat sich dabei jeglicher spekulativer Anlagen oder Geschäfte zu enthalten (
BGE 52 II 319
E. 2 S. 321; GULER, a.a.O., N. 5 zu
Art. 413 ZGB
).
3.2.2
An der soeben dargestellten Rechtslage scheitert die Behauptung des Beschwerdeführers, das Mündelwohl habe es geboten, für B. ein grösstmögliches Mass an Wohlergehen und somit eine gehobene Lebensführung zu ermöglichen. Gerade die Unfähigkeit, vernünftig, d.h. den konkreten Verhältnissen angepasst mit Geld umzugehen, wozu insbesondere auch die Absicherung der im Alter üblicherweise anfallenden Kosten gehört, ist der massgebende Anlass für die Errichtung einer Verwaltungsbeiratschaft. Aus diesem Grund sind insbesondere auch die Literaturhinweise auf die Vermögensverwaltung bei Unmündigen, welche der Beschwerdeführer auf den vorliegenden Fall übertragen haben möchte, nicht einschlägig: Bei Kindern und jungen Erwachsenen steht die (unter Umständen kostenintensive) Ausbildung und nicht die Absicherung von Pflegekosten im Alter im Vordergrund.
3.2.3
Im genannten Zusammenhang macht der Beschwerdeführer im Übrigen geltend, als Beirat habe ihm ein grosses Ermessen zugestanden. In dieses dürfe nicht eingegriffen werden und nur ein eigentlicher Ermessensmissbrauch würde Widerrechtlichkeit begründen.
Mit dieser Argumentation überspielt der Beschwerdeführer den Kernvorwurf des Kantonsgerichts, er habe überhaupt keine Vorkehrungen getroffen. Hat sich aber der Beirat gar nicht erst um die Vermögensverwaltung gekümmert und insbesondere auch keine bewussten Entscheide getroffen, wie viel an Vermögen pro Jahr oder welche Beträge für einzelne Ereignisse zu verbrauchen sei, sondern hat er den innert wenigen Jahren erfolgten vollständigen Kapitalverzehr tatenlos gewähren lassen, so hat er seine Amtspflichten nicht im Ansatz wahrgenommen (so bereits das im vorliegenden Fall ergangene Urteil 5P.320/2002 vom 16. Oktober 2002 E. 2.3; vgl. sodann das bei
BGE 136 III 113 S. 121
CAVIEZEL, a.a.O., S. 247, zitierte Urteil) und hat auch gar nicht erst eine Ermessensbetätigung stattgefunden.
3.2.4
Daran ändert auch der Hinweis auf die infolge Einzonung bei den Grundstücken eingetretene Wertvermehrung nichts. Nach dem Gesagten stellen spekulative Geschäfte - mit der Umzonung konnte nach den Feststellungen des Kantonsgerichts nicht gerechnet werden - eine Amtspflichtverletzung dar (vgl. E. 3.2.1). Das Kapitalvermögen war bei der ersten Gemeindeabstimmung weitestgehend und noch vor der zweiten Abstimmung vollständig aufgezehrt. Im Übrigen hat das Kantonsgericht für das Bundesgericht verbindlich festgehalten, dass die Überbaubarkeit selbst in diesem Zeitpunkt keineswegs sicher war, weil zwischen den Eigentümern im Zusammenhang mit Freihaltezonen komplizierte Verträge abzuschliessen waren, die angesichts der unterschiedlichen Interessen der einzelnen Eigentümer jederzeit hätten scheitern können und erst im Frühling 2003 erfolgreich zustande kamen. Das Kantonsgericht zog daraus den zutreffenden Schluss, dass die zulässige Lebenshaltung von B. erst ab diesem Zeitpunkt bzw. ab der Genehmigung der Umzonung durch den Regierungsrat den neuen Verhältnissen hätte angepasst werden dürfen.
Entgegen der sinngemässen Darstellung des Beschwerdeführers fällt die Amtspflichtverletzung auch nicht im Nachhinein dadurch weg, dass die Spekulation am Ende aufgegangen ist. Die Handlungen bzw. Unterlassungen bleiben rechtswidrig. Einzig könnte es diesfalls an einem Schaden im Sinn einer Vermögensdifferenz fehlen, soweit zwischen Entreicherung und Bereicherung ein ursächlicher Zusammenhang bestünde, wie es sich gegebenenfalls in dem vom Beschwerdeführer erwähnten Beispiel der (nicht mündelsicheren) Anlage des Vermögens in Aktien verhalten kann. Vorliegend bestand indes zwischen dem Kapitalverzehr und dem Vermögenszuwachs auf den Grundstücken, wie bereits mehrfach festgehalten, kein Konnex.
3.2.5
Ebenso wenig verfängt die im gleichen Zusammenhang gemachte Aussage des Beschwerdeführers, seine Amtspflicht habe sich einzig darauf beschränkt, dass B. nicht armengenössig werde, wofür aber angesichts des Renteneinkommens keine Gefahr bestanden habe:
Würde diese Argumentation zutreffen, dürfte bei Personen mit gesichertem Renteneinkommen unabhängig von einem konkreten
BGE 136 III 113 S. 122
Schwächezustand und Schutzbedürfnis von vornherein nie eine vormundschaftliche Massnahme verhängt werden. Ausschlaggebend ist aber ohnehin, dass die Berechtigung der vorliegend verfügten kombinierten Beiratschaft, gegen die sich der Beschwerdeführer mit seinen Ausführungen materiell wendet, gar nicht Thema des Haftungsprozesses ist: Die Massnahme, gegen welche die üblichen Rechtsmittel offen standen, ist rechtskräftig angeordnet worden und der Beschwerdeführer hat das vormundschaftliche Amt angenommen; damit ist er in alle damit verbundenen Rechte und Pflichten eingetreten. Die wesentlichste Pflicht im Rahmen der Verwaltungsbeiratschaft ist nach dem Gesagten aber gerade die Vermögensfürsorge, und der Beirat kann sich dieser Kernpflicht selbstredend nicht entziehen, indem er dem vollständigen Kapitalverzehr tatenlos zusieht mit dem Hinweis, der Verbeiratete verfüge ja noch über eine existenzsichernde Rente.
3.2.6
Soweit der Beschwerdeführer schliesslich sinngemäss vorbringt, B. habe eine luxuriöse Lebensführung gewünscht, ist ihm entgegenzuhalten, dass dem Verbeirateten bei der Verwaltungsbeiratschaft die Handlungsfähigkeit mit Bezug auf die Vermögenssubstanz ex lege entzogen ist (E. 3.2.1), weshalb die Einwilligung des Verletzten als Rechtfertigungsgrund entfällt. Aus dem gleichen Grund kann es auch nicht als treuwidrig angesehen werden, wenn B. nach Verbrauch des Vermögens ihren Beirat eingeklagt hat mit der Begründung, dieser hätte den Vermögensverzehr nicht zulassen dürfen.
3.3
Mit seinem Gewährenlassen hat der Beschwerdeführer die ihm nach der Amtsübernahme obliegende Pflicht zur sorgfältigen Vermögensverwaltung (Art. 395 Abs. 2 i.V.m.
Art. 413 Abs. 1 ZGB
) sowie die damit verbundenen Garantenstellung (
BGE 115 II 15
E. 3c S. 20) verletzt und damit den eingetretenen Vermögensschaden adäquat kausal verursacht.
3.4
Bereits im Urteil 5P.320/2002 E. 2.3, hat das Bundesgericht festgestellt, dass der Beschwerdeführer seine Amtspflicht schlichtweg nicht wahrgenommen hat. Ihm lag einzig an der Einzonung der Grundstücke mit Blick auf die geplante Überbauung, woran er ein persönliches finanzielles Interesse hatte. Hingegen liess er B. und deren Ehemann mit Bezug auf das Wertschriftenvermögen unbekümmert um seine Amtspflichten freie Hand, obwohl er von der Vormundschaftsbehörde mit der Vorgeschichte vertraut und
BGE 136 III 113 S. 123
ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht wurde, dass die Schwierigkeiten vor allem darin lägen, die Ausgaben von B. in einem vertretbaren Verhältnis zu ihren Einkünften zu halten, und er mit Schreiben der Vormundschaftsbehörde vom 23. Oktober 1998 wegen Zulassen eines übermässigen Vermögensverzehrs zu einer verantwortungsvollen Vermögensverwaltung angehalten wurde. Der Beschwerdeführer nahm folglich in Kauf, dass das Vermögen zufolge seiner Untätigkeit in kurzer Zeit aufgebraucht und für bevorstehende Alterslasten kein Kapital mehr vorhanden sein würde; insofern hat er seine Amtspflichten geradezu eventualvorsätzlich vernachlässigt. Jedenfalls aber hat er durch sein tatenloses Zusehen die elementarsten bzw. ureigensten sich aus dem Amt der kombinierten Beiratschaft ergebenen Schutz- und Fürsorgepflichten in grobfahrlässiger Weise nicht wahrgenommen. Das Verschulden wiegt insgesamt schwer. | de |
66bb51e6-6854-42be-bfa0-828e6b08e569 | Sachverhalt
ab Seite 50
BGE 129 II 49 S. 50
X., geboren 1992, ist der Sohn von Y. Dieser wurde am 22. Januar 1997 ermordet.
Am 8. Januar 1999 ersuchte X. die Direktion der Justiz und des Innern des Kantons Zürich, Kantonale Opferhilfestelle, um Entschädigung und Genugtuung.
Mit Verfügung vom 14. Juni 2001 hiess die Kantonale Opferhilfestelle das Gesuch um Genugtuung im Umfang von Fr. 30'000.- gut. Das Gesuch um Entschädigung wies sie ab.
Gegen die Abweisung des Gesuchs um Entschädigung erhob X. Beschwerde beim Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich. Dieses wies die Beschwerde mit Urteil vom 30. Januar 2002 ab.
X. führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Sozialversicherungsgerichtes und die Verfügung der Kantonalen Opferhilfestelle im Entschädigungspunkt seien aufzuheben; der Beschwerdegegner sei zu verpflichten, dem Beschwerdeführer eine Entschädigung von Fr. 54'540.- nebst Zins zu 5% seit dem 22. Januar 1997 zu bezahlen.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde, soweit es darauf eintritt, teilweise gut. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Hilfe nach dem Bundesgesetz vom 4. Oktober 1991 über die Hilfe an Opfer von Straftaten (Opferhilfegesetz, OHG; SR 312.5) erhält jede Person, die durch eine Straftat in ihrer körperlichen, sexuellen oder psychischen Integrität unmittelbar beeinträchtigt worden ist (Opfer), unabhängig davon, ob der Täter ermittelt worden ist und ob er sich schuldhaft verhalten hat (
Art. 2 Abs. 1 OHG
). Die Kinder des Opfers werden diesem gleichgestellt unter anderem bei der Geltendmachung von Entschädigung und Genugtuung nach
Art. 11-17 OHG
, soweit ihnen Zivilansprüche gegenüber dem Täter zustehen (
Art. 2 Abs. 2 lit. c OHG
).
Gemäss
Art. 45 Abs. 3 OR
haben Personen, die durch die Tötung ihren Versorger verloren haben, Anspruch auf Schadenersatz. Ziel
BGE 129 II 49 S. 51
dieser Bestimmung ist es, die Einkommensverhältnisse, wie sie sich ohne den Tod des Versorgers gestaltet hätten, annähernd zu erhalten, damit die anspruchsberechtigten Hinterlassenen ihre Lebensführung nicht wesentlich zu ändern brauchen (
BGE 112 II 87
E. 2b;
BGE 108 II 434
E. 2a und
BGE 102 II 90
E. 2b, je mit Hinweisen). Es ist die hypothetische Vermögenslage einer Person ohne den vorzeitigen Tod ihres Versorgers festzustellen und mit jener nach dem schädigenden Ereignis zu vergleichen (
BGE 101 II 257
E. 1a).
Der Versorgerschaden fällt unter den Schadensbegriff von
Art. 12 Abs. 1 und
Art. 13 OHG
(
BGE 126 II 237
; Urteil des Bundesgerichts 1A.163/2000 vom 8. November 2000, E. 2d; GOMM/STEIN/ZEHNTNER, Kommentar zum Opferhilfegesetz, Bern 1995,
Art. 13 OHG
N. 4).
3.
3.1
Die Ehe der Eltern des Beschwerdeführers wurde mit Urteil des Bezirksgerichts Zürich vom 23. November 1995 für die Dauer von zwei Jahren getrennt. Der Beschwerdeführer wurde unter die Obhut der Mutter gestellt. Der Vater wurde verpflichtet, für den Beschwerdeführer monatliche Unterhaltsbeiträge von Fr. 450.- zu bezahlen, rückwirkend ab 1. Oktober 1995.
Die Vorinstanz nimmt an, der Beschwerdeführer habe den über die zweijährige Trennungszeit hinausgehenden Versorgerschaden ungenügend substantiiert. Soweit die geforderte Entschädigung die Zeit nach November 1997 betreffe, sei die Beschwerde deshalb abzuweisen.
Die Vorinstanz fügt dem bei, der Beschwerdeführer hätte auch bei genügender Substantiierung nicht in jedem Fall Anspruch auf vollständigen Ersatz durch die Opferhilfe gehabt. Denn die Entschädigung nach dem Opferhilfegesetz sei mit der nach dem Obligationenrecht nur gleichzusetzen, soweit damit die in den Monaten nach der Straftat entstandenen und mit dieser in adäquatem Kausalzusammenhang stehenden Schwierigkeiten abgedeckt würden.
Die Vorinstanz legt sodann dar, der Vater sei der Unterhaltspflicht nur teilweise nachgekommen. Die Alimentenzahlungen von Fr. 450.- hätten vom Gemeinwesen bevorschusst werden müssen. Vom Vater habe auf dem Regressweg lediglich ein Betrag von gut Fr. 100.- pro Monat erhältlich gemacht werden können. Für den Versorgerschaden sei dieser letztere Betrag massgebend, nicht die Alimentenbevorschussung von Fr. 450.- pro Monat. Da die dem Beschwerdeführer seit dem Tod des Vaters zukommende Halbwaisenrente von Fr. 295.- pro Monat über dem Betrag von gut Fr. 100.- liege, sei dem Beschwerdeführer kein Versorgerschaden entstanden.
BGE 129 II 49 S. 52
3.2
Der Beschwerdeführer macht geltend, sämtliche diese Erwägungen verletzten Bundesrecht.
4.
4.1
Gemäss
Art. 16 OHG
, der sich im Abschnitt des Opferhilfegesetzes über die Entschädigung und Genugtuung befindet, sehen die Kantone ein einfaches, rasches und kostenloses Verfahren vor (Abs. 1). Die Behörde stellt den Sachverhalt von Amtes wegen fest (Abs. 2).
Art. 16 Abs. 1 und 2 OHG
sollen es dem Opfer ermöglichen, rasch und auf unbürokratische Weise einen Entschädigungsentscheid zu erwirken (Botschaft zum Opferhilfegesetz vom 25. April 1990, BBl 1990 II 993). Nach der Rechtsprechung können an die Substantiierung eines Gesuchs nach
Art. 11 ff. OHG
keine allzu strengen Anforderungen gestellt werden (
BGE 126 II 97
E. 2c S. 101). Das Opfer trifft keine Beweislast im zivilrechtlichen Sinne (GOMM/STEIN/ZEHNTNER, a.a.O.,
Art. 16 OHG
N. 13).
Der Beschwerdeführer hat im Entschädigungsgesuch vom 8. Januar 1999 und in der Beschwerde vom 15. August 2001 an die Vorinstanz den Versorgerschaden aus seiner Sicht im Einzelnen berechnet. Damit hat er seiner Substantiierungspflicht Genüge getan. Wenn die Vorinstanz der Auffassung gewesen wäre, dass ihr einzelne Elemente zur Berechnung des Schadens für die Zeit nach November 1997 fehlten, wäre es ihre Sache gewesen, diese Elemente von Amtes wegen zu erheben. Gegebenenfalls hätte sie den Beschwerdeführer insoweit zur Mitwirkung auffordern können, wozu er verpflichtet gewesen wäre (
BGE 126 II 97
E. 2e). Was insbesondere die Höhe der mutmasslichen Unterhaltsbeiträge des Vaters für die Zeit nach November 1997 angeht, hätte die Vorinstanz - wenn sie der Ansicht gewesen wäre, dass der Berechnung des Beschwerdeführers insoweit nicht gefolgt werden könne - unter Berücksichtigung der Umstände selber einen Betrag festsetzen müssen.
Die Beschwerde ist in diesem Punkt begründet.
4.2
Das angefochtene Urteil verletzt ebenso Bundesrecht, soweit die Vorinstanz annimmt, Entschädigung nach dem Opferhilferecht sei nur zu leisten, soweit damit der in den Monaten nach der Straftat entstandene Schaden gedeckt werde. Bei der Entschädigung nach
Art. 11 ff. OHG
geht es nicht um Soforthilfe, welche bezweckt, die Schwierigkeiten des Opfers in der ersten Zeit nach der Straftat zu bewältigen. Die Entschädigung geht darüber hinaus. Sie soll vermeiden, dass das Opfer seinen Schaden alleine trägt, wenn der Straftäter unbekannt, flüchtig, zahlungs- oder urteilsunfähig ist (
BGE 125 II 169
BGE 129 II 49 S. 53
E. 2b/aa). Dabei ist der gesamte Schaden ins Blickfeld zu nehmen. Eine Begrenzung der opferhilferechtlichen Entschädigung ist nur zulässig, soweit das Gesetz dies vorsieht. Das Opferhilfegesetz und die Verordnung vom 18. November 1992 über die Hilfe an Opfer von Straftaten (Opferhilfeverordnung, OHV; SR 312.51) begrenzen die Entschädigung erstens durch Berücksichtigung der Einnahmen des Opfers (
Art. 12 Abs. 1 und
Art. 13 Abs. 1 OHG
), zweitens durch die Subsidiarität der staatlichen Leistung (
Art. 14 OHG
), drittens durch Festlegung des Höchstbetrages von Fr. 100'000.- (
Art. 4 Abs. 1 OHV
). Eine zeitliche Begrenzung der Schadensdeckung sehen Gesetz und Verordnung nicht vor. Hätte der Gesetzgeber insoweit eine Schranke setzen wollen, hätte er dies im Gesetz oder der Verordnung zum Ausdruck bringen müssen.
Die vorinstanzliche Rechtsauffassung hat das Bundesgericht im Übrigen implizit bereits abgelehnt in
BGE 126 II 237
, wo es um die Berechnung des Versorgerschadens ging. Eine zeitliche Begrenzung der Schadensdeckung auf die ersten Monate nach der Straftat wird dort nicht vorgenommen.
Die Beschwerde ist auch insoweit begründet.
4.3
4.3.1
Die Vorinstanz ist, wie dargelegt, der Ansicht, die Alimentenbevorschussung durch das Gemeinwesen sei bei der Ermittlung des Versorgerschadens nicht zu berücksichtigen.
Das Bundesgericht hatte bisher zu dieser Frage nicht Stellung zu nehmen. Im Schrifttum hat sich, soweit ersichtlich, einzig ALFRED KELLER dazu geäussert. Er legt dar, es sei erforderlich, dass die Versorgung wirklich, d.h. mit genügender Wahrscheinlichkeit geleistet worden wäre, dass also der Verstorbene die Möglichkeit und den Willen dazu besessen hätte. Selbst ein Scheidungs- oder Vaterschaftsurteil gebe noch keine Gewähr, dass die festgesetzten Beträge bezahlt worden wären. Immerhin sei daran zu denken, dass bei Nichtbezahlung der Alimente möglicherweise das Gemeinwesen in die Bresche gesprungen wäre (Haftpflicht im Privatrecht, Bd. II, 2. Aufl., Bern 1998, S. 80). KELLER ist damit offenbar der Auffassung, dass vom Gemeinwesen geleistete Alimentenbevorschussungen bei der Berechnung des Versorgerschadens zu berücksichtigen sind.
4.3.2
Der Begriff des Schadens ist im Opferhilferecht der gleiche wie im Haftpflichtrecht (EVA WEISHAUPT, Finanzielle Ansprüche nach Opferhilfegesetz, in: SJZ 98/2002 S. 327 mit Hinweisen). Schaden im Rechtssinne ist die Differenz zwischen dem gegenwärtigen, nach dem schädigenden Ereignis festgestellten Vermögensstand und
BGE 129 II 49 S. 54
dem Stand, den das Vermögen ohne das schädigende Ereignis hätte, bzw. die Differenz zwischen den Einkünften, die nach dem schädigenden Ereignis tatsächlich erzielt worden sind und denjenigen, die ohne dieses Ereignis zugeflossen wären (
BGE 127 III 403
E. 4a mit Hinweisen). Für den vorliegenden Fall bedeutet dies Folgendes: Der Beschwerdeführer erhielt seit der Tötung des Vaters eine Halbwaisenrente von Fr. 295.-. Ohne die Tötung hätte er aufgrund der staatlichen Alimentenbevorschussung den vollen Unterhaltsbeitrag von Fr. 450.- erhalten. Dem Beschwerdeführer ist damit ein Schaden entstanden, der ihm nach
Art. 45 Abs. 3 OR
zu ersetzen ist.
Der Umstand, dass der überwiegende Teil des dem Beschwerdeführer zugekommenen Unterhalts aufgrund der Alimentenbevorschussung durch das Gemeinwesen finanziert wurde und voraussichtlich auch in Zukunft finanziert worden wäre, ändert daran nichts. Bei der Alimentenbevorschussung, die zur öffentlichen Fürsorge gehört, richtet das Gemeinwesen anstelle und auf Rechnung der säumigen Eltern die Leistungen aus, deren das Kind für seinen Unterhalt bedarf (CYRIL HEGNAUER, Berner Kommentar, 1997,
Art. 293 ZGB
N. 22 f. und 27). Das Gemeinwesen erfüllt also die Schuld des Unterhaltspflichtigen. Dafür geht der Unterhaltsanspruch des Kindes auf das Gemeinwesen über (HEGNAUER, a.a.O., N. 22). Woher die Unterhaltszahlung stammt, braucht den Unterhaltsberechtigten nicht zu kümmern. So erwog das Bundesgericht bereits in
BGE 74 II 202
für die Frage, ob eine Tochter als Versorgerin ihrer Mutter zu gelten habe, sei es unerheblich, ob die Tochter die betreffenden Mittel zunächst vom Ehemann erhalten und dann an die Mutter weitergegeben habe, oder ob der Ehemann die Zuwendung an die Schwiegermutter unmittelbar vorgenommen habe (E. 7). Unter Hinweis auf diesen Entscheid bemerkt KELLER (a.a.O., S. 81), dass es unerheblich sei, woher das dem Versorgten zugegangene Geld komme. Für den Unterhaltsberechtigten ist unter schadensrechtlichen Gesichtspunkten in der Tat entscheidend, dass die Unterhaltsleistung - von wem auch immer - erbracht wurde und in Zukunft ohne den Tod des Unterhaltspflichtigen weiterhin erbracht worden wäre. Ob der Unterhaltspflichtige die Zahlung selbst geleistet oder ob das an seiner Stelle das Gemeinwesen oder sonst jemand - z.B. eine den Beteiligten nahe stehende Person - getan hätte, ist insoweit belanglos.
Folgendes kommt hinzu:
Art. 45 Abs. 3 OR
bezweckt, wie gesagt (E. 2), die Einkommensverhältnisse, wie sie sich ohne den Tod des Versorgers gestaltet hätten, annähernd zu erhalten, damit der
BGE 129 II 49 S. 55
anspruchsberechtigte Hinterlassene seine Lebensführung nicht wesentlich zu ändern braucht. Der Beschwerdeführer kann seine bisherige Lebensführung nur dann ohne wesentliche Änderung beibehalten, wenn ihm die Differenz zwischen der Halbwaisenrente und dem Unterhaltsbeitrag von Fr. 450.- erstattet wird.
Zu berücksichtigen ist im vorliegenden Zusammenhang auch das Europäische Übereinkommen vom 24. November 1983 über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (SR 0.312.5), das für die Schweiz am 1. Januar 1993 in Kraft getreten ist. Nach Art. 4 des Übereinkommens muss die staatliche Entschädigung je nach Lage des Falles unter anderem zumindest decken: bei Unterhaltsberechtigten den Ausfall von Unterhalt. Diese Bestimmung spricht ebenfalls dafür, dass es auf die Sicht des Versorgten ankommt. Ist die Halbwaisenrente geringer als der Unterhaltsbeitrag, der ihm ohne die Straftat zugegangen wäre, erleidet er einen Ausfall von Unterhalt, der nach Art. 4 des Übereinkommens zu ersetzen ist.
Die Beschwerde ist in diesem Punkt ebenfalls begründet.
5.
5.1
Das vorinstanzliche Urteil ist aufzuheben.
Die Berechnung des Versorgerschadens im vorliegenden Fall ist nicht spruchreif. Das gilt schon deshalb, weil unklar ist, wieweit der Beschwerdeführer unter Berücksichtigung der Einkommensverhältnisse der Mutter auch nach Ablauf der zweijährigen Trennungszeit noch Anspruch auf Alimentenbevorschussung gehabt hätte. Die Zusprechung der geltend gemachten Fr. 54'540.- nebst Zins durch das Bundesgericht fällt deshalb ausser Betracht. Insoweit ist die Beschwerde abzuweisen.
Die Sache ist an die Vorinstanz zurückzuweisen (
Art. 114 Abs. 2 OG
). Diese wird unter Berücksichtigung der oben dargelegten Grundsätze den Versorgerschaden zu ermitteln haben. | de |
464a7421-bdf7-4f7d-b180-aeda693e3fd4 | Sachverhalt
ab Seite 309
BGE 145 I 308 S. 309
A.
A. (geb. 1986) ist Staatsangehörige von Kenia. Am 16. August 2016 stellte sie unter falscher Identität ein Asylgesuch, nachdem sie
BGE 145 I 308 S. 310
über Italien in die Schweiz eingereist war. Mit Verfügung vom 6. Dezember 2016 trat das Staatssekretariat für Migration auf das Gesuch nicht ein, nachdem Abklärungen ergeben hatten, dass Italien ihr ein vom 14. Juli bis 7. August 2016 gültiges Visum ausgestellt hatte. Eine dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 29. Dezember 2016 ab. Auf das gegen dieses Urteil erhobene Revisionsgesuch trat das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 19. Januar 2017 nicht ein.
B.
Mit der Begründung, Opfer von Menschenhandel geworden zu sein, stellte A. am 3. Januar 2017 ein Gesuch um Gewährung einer Erholungs- und Bedenkzeit sowie um Erteilung einer Kurzaufenthaltsbewilligung für die Dauer des polizeilichen Ermittlungs- und Strafverfahrens. Mit Verfügung vom 17. Januar 2017 trat das Migrationsamt des Kantons Zürich (hiernach: Migrationsamt) auf das Gesuch nicht ein. Ein dagegen erhobener Rekurs bei der Sicherheitsdirektion blieb erfolglos (Entscheid vom 6. März 2017). Die dagegen gerichtete Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich mit Urteil vom 29. März 2017 ebenfalls ab.
C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten, eventualiter subsidiärer Verfassungsbeschwerde, vom 13. April 2017 beantragt A. die Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils. Es sei festzustellen, dass Opfer von Menschenhandel einen Anspruch auf Einleitung eines ausländerrechtlichen Bewilligungsverfahrens hätten. Das Migrationsamt sei anzuweisen, A. eine Kurzaufenthaltsbewilligung zu erteilen. Eventualiter sei die zuständige kantonale Behörde anzuweisen, auf das Gesuch um Erteilung einer Kurzaufenthaltsbewilligung einzutreten und es materiell zu beurteilen. Subeventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Die Vollzugsbehörden seien anzuweisen, bis zum Entscheid des Bundesgerichts von Vollzugshandlungen abzusehen. Zudem beantragt A. die unentgeltliche Rechtspflege vor Bundesgericht.
Während die Sicherheitsdirektion auf Vernehmlassung verzichtet, beantragen das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich und das Staatssekretariat für Migration die Abweisung der Beschwerde. Das Migrationsamt liess sich nicht vernehmen.
Mit Präsidialverfügung vom 19. April 2017 wurde der Beschwerde aufschiebende Wirkung zuerkannt.
In der Folge reichte die Beschwerdeführerin weitere Unterlagen ein.
BGE 145 I 308 S. 311
Am 14. Februar 2019 fand eine öffentliche Beratung statt.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
3.1
Nach dem Grundsatz der Ausschliesslichkeit des Asylverfahrens kann eine asylsuchende Person während des hängigen Verfahrens kein Verfahren um Erteilung einer ausländerrechtlichen Aufenthaltsbewilligung einleiten, ausser es bestehe ein Anspruch auf deren Erteilung (Art. 14 Abs. 1 des Asylgesetzes vom 26. Juni 1998 [AsylG; SR 142.31]). Ein solcher Anspruch kann sich aus der ausländerrechtlichen Gesetzgebung ergeben, auf der Bundesverfassung beruhen oder aber völkerrechtliche Bestimmungen zur Grundlage haben (vgl. PETER UEBERSAX, in: Code annoté de droit des migrations, Amarelle/Nguyen [Hrsg.], Bd. IV: Loi sur l'asile [LAsi], 2015, N. 10 zu
Art. 14 AsylG
). Er muss aber nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts offensichtlich sein (vgl.
BGE 137 I 351
E. 3.1 S. 354; Urteile 2C_665/2017 vom 9. Januar 2018 E. 1.1.1; 2C_551/2017 vom 24. Juli 2017 E. 2.2; 2C_947/2016 vom 17. März 2017 E. 3.3; 2C_647/2016 vom 2. Dezember 2016 E. 3.1).
3.2
Streitgegenstand bildet vorliegend die Frage, ob die Vorinstanz zu Recht davon ausgegangen ist, der Beschwerdeführerin komme kein Anspruch auf Erteilung einer Kurzaufenthaltsbewilligung zu, womit
Art. 14 Abs. 1 AsylG
der Einleitung eines Verfahrens um Erteilung einer ausländerrechtlichen Aufenthaltsbewilligung entgegenstehen würde. Die Beschwerdeführerin leitet solche Ansprüche aus verschiedenen Rechtsgrundlagen ab: Sie beruft sich auf Art. 30 Abs. 1 lit. e des Ausländer- und Integrationsgesetzes vom 16. Dezember 2005 (AIG; bis zum 1. Januar 2019: AuG; SR 142.20) einschliesslich der Ausführungsbestimmungen (namentlich Art. 36 der Verordnung vom 24. Oktober 2007 über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit [VZAE; SR 142.201]), daneben aber auch auf
Art. 4 EMRK
, Art. 14 des Übereinkommens vom 16. Mai 2005 zur Bekämpfung des Menschenhandels (SR 0.311.543; nachfolgend: ÜBM) (auch im Lichte des Normzwecks von Art. 13 ÜBM) sowie Art. 6 des Übereinkommens vom 18. Dezember 1979 zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW; SR 0.108). Die Frage, ob der Beschwerdeführerin Anspruch auf Erholungs- und Bedenkzeit zugestanden hätte (vgl. Art. 13 ÜBM), ist aufgrund des diesbezüglich ausdrücklichen Beschwerdeverzichts nicht Teil des Streitgegenstands.
BGE 145 I 308 S. 312
3.3
Zu prüfen ist zunächst, ob die Beschwerdeführerin aus
Art. 30 Abs. 1 lit. e AIG
und
Art. 36 VZAE
einen Aufenthaltsanspruch ableiten kann.
3.3.1
Nach
Art. 30 Abs. 1 lit. e AIG
kann von den Zulassungsvoraussetzungen (
Art. 18-29 AIG
) unter anderem abgewichen werden, um den Aufenthalt von Opfern und Zeugen von Menschenhandel zu regeln. Die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung im Zusammenhang mit den in
Art. 30 AIG
vorgesehenen möglichen Abweichungen von den Zulassungsvoraussetzungen liegt im Ermessen der zuständigen Behörden. Ein Anspruch auf Erteilung einer Kurzaufenthaltsbewilligung ergibt sich daraus nicht (
BGE 137 II 345
E. 3.2.1 S. 348 f.; Urteile 2C_873/2013 vom 25. März 2014 E. 1.2, nicht publ. in:
BGE 140 II 289
; 2C_48/2018 vom 5. September 2018 E. 1; vgl. überdies GOOD/ BOSSHARD, in: Kommentar zum AuG, Caroni und andere [Hrsg.], 2010, N. 2 zu Art. 30 AuG).
3.3.2
Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin lassen sich aus
Art. 36 VZAE
keine über das Gesetz hinausgehende Bewilligungsansprüche ableiten. Ganz allgemein ist dem Verordnungsgeber verwehrt, die Kantone gestützt auf
Art. 30 Abs. 2 AIG
über den Rahmen von
Art. 30 Abs. 1 lit. e AIG
hinausgehend zur Gewährung einer Bewilligung zu verpflichten (vgl.
BGE 129 II 249
E 5.5 S. 266 zum früheren Bundesgesetz vom 26. März 1931 über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer [ANAG, BS 1 121]), zumal wichtige rechtsetzende Bestimmungen über die Rechte und Pflichten von Personen sowie die Verpflichtungen der Kantone bei der Umsetzung und beim Vollzug des Bundesrechts in der Form des Bundesgesetzes zu erlassen sind (
Art. 164 Abs. 1 lit. c und f BV
). Eine Verordnungsbestimmung genügt folglich zur Einräumung eines gesetzlichen Anspruchs auf Aufenthaltsbewilligung nicht (vgl. PETER UEBERSAX, Einreise und Anwesenheit, in: Ausländerrecht, Uebersax/Rudin/Hugi Yar/Geiser [Hrsg.], 2. Aufl. 2009, S. 247 ff., 254).
Gestützt auf
Art. 30 Abs. 2 AIG
präzisiert der Verordnungsgeber in
Art. 36 VZAE
lediglich den Anwendungsbereich von
Art. 30 Abs. 1 lit. e AIG
(vgl. MINH SON NGUYEN, in: Code annoté de droit des migrations, Nguyen/Amarelle [Hrsg.], Bd. II: Loi sur les étrangers [LEtr], 2017, N. 93 zu Art. 30 AuG). Darauf deutet im Übrigen auch die Marginalie der Bestimmung hin, die ausdrücklich auf
Art. 30 Abs. 1 lit. e AIG
verweist. Aus dem Wortlaut von
Art. 36 VZAE
ergibt sich sodann, dass die Bestimmung nicht nur den Interessen des allfälligen Opfers von Menschenhandel dient, sondern auch den
BGE 145 I 308 S. 313
interessen der Strafverfolgungsbehörden: Die für die polizeilichen Ermittlungen oder das Gerichtsverfahren zuständigen Behörden beurteilen, ob und für welche Zeit eine Anwesenheit erforderlich ist (
Art. 36 Abs. 1 VZAE
). Eine allfällige Kurzaufenthaltsbewilligung wird nur für die voraussichtliche Dauer der polizeilichen Ermittlung oder des Gerichtsverfahrens erteilt (
Art. 36 Abs. 2 VZAE
). Und besteht keine Notwendigkeit mehr für einen weiteren Aufenthalt im Rahmen des Ermittlungs- und Gerichtsverfahrens, muss die betroffene Person die Schweiz verlassen (
Art. 36 Abs. 5 VZAE
).
Art. 36 VZAE
vermag für die Beschwerdeführerin folglich keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung zu begründen.
3.4
Weiter stellt sich die Frage, ob sich ein Aufenthaltsanspruch der Beschwerdeführerin aus völkerrechtlichen Bestimmungen ergibt. Die Beschwerdeführerin erblickt eine solche Anspruchsgrundlage in Art. 14 Abs. 1 lit. b ÜBM, ausgelegt im Lichte von
Art. 4 EMRK
sowie
Art. 6 CEDAW
.
Als Leitlinie zur Auslegung dieser Bestimmungen ist auf die Prämisse abzustellen, dass deren Schutzzweck effektiv entsprochen wird (vgl. BÉNÉDICTE LAVAUD-LEGENDRE, La force normative des textes internationaux consacrés à la protection des victimes de la traite des êtres humains, Revue trimestrielle des droits de l'homme 88/2011 S. 875 ff., 894, 899). Es handelt sich hier um eine Konkretisierung des Prinzips der Auslegung nach Treu und Glauben, wonach einer völkerrechtlichen Bestimmung unter mehreren möglichen Interpretationen derjenige Sinn beizumessen ist, welcher ihre effektive Anwendung gewährleistet ("effet utile") und nicht zu einem Ergebnis führt, das dem Ziel und Zweck der eingegangenen Verpflichtungen widerspricht (
BGE 144 II 130
E. 8.2.1 S. 139;
BGE 143 II 136
E. 5.2.2 S. 148 f.; vgl. ferner Urteil 4A_65/2018 vom 11. Dezember 2018 E. 2.4.2).
3.4.1
Völkerrechtliche Bestimmungen können in konkreten Streitfällen nur angerufen werden, wenn sie individualrechtliche Ansprüche verleihen (bzw. "self-executing" sind). Dies setzt voraus, dass die angerufene Norm inhaltlich hinreichend bestimmt und klar ist, um im Einzelfall Grundlage eines Entscheides bilden zu können. Für die Justiziabilität wird weiter vorausgesetzt, dass Rechte und Pflichten des Einzelnen umschrieben werden und dass die Norm sich an die rechtsanwendenden Behörden richtet (
BGE 140 II 185
E. 4.2 S. 190;
BGE 136 I 297
E. 8.1 S. 307 f.;
BGE 133 I 286
E. 3.2 S. 291 mit weiteren Hinweisen).
BGE 145 I 308 S. 314
3.4.2
Nach Art. 14 Abs. 1 ÜBM erteilen die Vertragsparteien einem Menschenhandelsopfer einen verlängerbaren Aufenthaltstitel, wenn die zuständige Behörde der Auffassung ist, dass der Aufenthalt des Opfers aufgrund seiner persönlichen Situation (lit. a) oder für die Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden bei den Ermittlungen oder beim Strafverfahren (lit. b) erforderlich ist. Während die Tatbestandsvariante von Art. 14 Abs. 1 lit. a ÜBM dem Opfer einen gewissen Schutz verschaffen soll, dient der Anwendungsfall von Art. 14 Abs. 1 lit. b ÜBM der Sicherstellung der Verfügbarkeit des Opfers für die Strafuntersuchung. Die beiden Anliegen gehen Hand in Hand, setzt die Kooperationswilligkeit mit den Strafverfolgungsbehörden doch das Vertrauen des Opfers in die Behörden voraus. Ein Vertrauen des Opfers in die Behörden ist aber nur denkbar, wenn letztere die Schutzbedürfnisse des Opfers angemessen berücksichtigen (vgl. Council of Europe Treaty Series, No. 197, Explanatory Report to the Council of Europe Convention on Action against Trafficking in Human Beings, S. 29).
Unter Berücksichtigung dieses Normzwecks und des klaren Wortlauts ist der Gehalt von Art. 14 Abs. 1 lit. b ÜBM eindeutig: Ist die für die Abwicklung des Strafverfahrens zuständige Behörde der Auffassung, dass ein weiterer Aufenthalt des Opfers in der Schweiz für die Zwecke des Strafverfahrens erforderlich ist, müssen die Migrationsbehörden eine Kurzaufenthaltsbewilligung erteilen. Ein Ermessensspielraum der zuständigen nationalen Migrationsbehörden besteht insofern nicht (vgl. NULA FREI, Menschenhandel und Asyl, 2017, S. 209 f., 475; CHARLOTTE ZIHLMANN, Asile: Lacunes dans la protection des victimes de traite d'êtres humains, Plaidoyer 2018 5 S. 22 ff., 27).
3.4.3
Den Schutzzweck der völkerrechtlichen Bestimmungen zur Bekämpfung des Menschenhandels hat auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in seiner Rechtsprechung wiederholt hervorgehoben. Als dogmatischer Anknüpfungspunkt fungiert dabei
Art. 4 EMRK
(vgl. Urteil des EGMR
Siliadin gegen Frankreich
vom 26. Juli 2005, Nr. 73316/01, § 89), der in der Schweiz direkt anwendbar ist. Aus dieser Bestimmung ergeben sich für die Konventionsstaaten verschiedene positive Handlungspflichten: Die
legislative
Schutzdimension verpflichtet die Staaten zur Implementierung eines effektiven gesetzgeberischen Rahmens zur Verhinderung von Menschenhandel; erforderlich ist namentlich, dass Menschenhandel unter Strafe gestellt wird. Die
operative
Dimension verlangt, dass im
BGE 145 I 308 S. 315
Einzelfall der effektive Schutz des Opfers sichergestellt wird. Nach der
prozeduralen
Dimension ist erforderlich, dass das Strafverfahren zeitnah an die Hand genommen und zu Ende geführt wird. Die
transnationale
Dimension gebietet schliesslich, internationale Mechanismen zur Verhinderung des grenzüberschreitenden Phänomens des Menschenhandels einzuführen (vgl. Urteile des EGMR
Rantsev gegen
Zypern und Russland
vom 7. Januar 2010, Nr. 25965/04, § 282 ff.;
J. u.a. gegen Österreich
vom 17. Januar 2017, Nr. 58216/12, § 103 ff.; vgl. ausserdem NULA FREI, Identifizieren, Schützen, Unterstützen: neue Rechtsprechung des EGMR zum Opferschutz bei Menschenhandel, Asyl 3/32 [2017] S. 15 ff., 15). Die genannten Schutzpflichtenentsprechen im Wesentlichen den Handlungspflichten, welche sich für die Staaten in Bezug auf den Handel von Frauen auch aus
Art. 6 CEDAW
ergeben (vgl. CHRISTINA HAUSAMMANN, in: CEDAW, Schläppi/Ulrich/Wyttenbach [Hrsg.], 2015, N. 28 zu
Art. 6 CEDAW
).
Der EGMR hat sich bis anhin nicht ausdrücklich mit der Gewährung eines temporären Aufenthaltsrechts als Teilaspekt der operativen oder der prozeduralen Schutzdimension befasst. In einzelnen Urteilen hat er jedoch die einschlägigen Bestimmungen des ÜBM erwähnt (vgl. Urteil des EGMR
Chowdury und andere gegen Griechenland
vom 30. März 2017, Nr. 21884/15, § 122) bzw. positiv vermerkt, dass ein Aufenthaltsrecht gewährt worden sei (Urteil des EGMR
L.E. gegen Griechenland
vom 21. Januar 2016, Nr. 71545/12, § 76). Überdies hat er wiederholt hervorgehoben, dass
Art. 4 EMRK
nicht losgelöst von anderen einschlägigen internationalen Abkommen ausgelegt werden dürfe, welche ein spezifisches Thema regelten (Urteil des EGMR
Rantsev gegen Zypern und Russland
vom 7. Januar 2010, Nr. 25965/04, § 274). Im Auge zu behalten ist überdies, dass die Konventionsbestimmungen den ihnen zugedachten Schutzzweck nicht bloss theoretisch, sondern auch praktisch erfüllen sollen (Urteil des EGMR
Rantsev gegen Zypern und Russland
vom 7. Januar 2010, Nr. 25965/04, § 273). Vor diesem Hintergrund drängt sich auch im Lichte von
Art. 4 EMRK
auf, Art. 14 Abs. 1 lit. b ÜBM so auszulegen, dass die Migrationsbehörden eine Kurzaufenthaltsbewilligung erteilen müssen, wenn die Strafverfolgungsbehörden den weiteren Aufenthalt eines Menschenhandelsopfers für die Zwecke des Strafverfahrens als erforderlich betrachten.
3.4.4
Mit Blick auf das von der Beschwerdeführerin ebenfalls angerufene CEDAW-Übereinkommen ist festzuhalten, dass dessen Art. 6 lediglich eine generelle Verpflichtung enthält, jede Form des
BGE 145 I 308 S. 316
Frauenhandels zu bekämpfen (vgl. BBl 1995 IV 901, S. 938).
Art. 6 CEDAW
ist im Rahmen der völkerrechtskonformen Auslegung der massgeblichen nationalen Vorschriften sowie auf dem Wege der Rechtsfortbildung zu berücksichtigen (vgl. REGULA KÄGI-DIENER, Völkerrecht und nationales Recht in der Auslegung [am Beispiel der CEDAW], Recht 2011, H. 5/6, S. 193 ff., 198 f.).
Wie es sich damit im vorliegenden Fall verhält, kann jedoch offenbleiben, zumal (vermeintliche) Opfer von Menschenhandel nach dem Gesagten schon aufgrund von Art. 14 Abs. 1 lit. b ÜBM einen offensichtlichen Anspruch (vgl. oben, E. 3.1) auf Erteilung einer Kurzaufenthaltsbewilligung haben, wenn die zuständige Strafverfolgungsbehörde der Auffassung ist, dass ihr weiterer Aufenthalt in der Schweiz für die Zwecke des Strafverfahrens erforderlich ist.
Art. 14 Abs. 1 AsylG
steht in einem solchen Falle der Einleitung eines Verfahrens auf Erteilung einer ausländerrechtlichen Aufenthaltsbewilligung deshalb nicht entgegen.
4.
Zu prüfen bleibt, ob die Voraussetzungen für eine Bewilligungserteilung nach Art. 14 Abs. 1 lit. b ÜBM im Falle der Beschwerdeführerin zum Zeitpunkt des vorinstanzlichen Entscheids erfüllt waren.
4.1
Die Vorinstanz legt ihrem Entscheid die Feststellung zugrunde, dass die Verfügbarkeit der Beschwerdeführerin für das Strafverfahren in der Schweiz ohne Weiteres auch dann sichergestellt werden könne, wenn sie im Rahmen des Dublin-Abkommens nach Italien weggewiesen werde. Für die Zwecke des Strafverfahrens könne ihr nämlich ein Einreisevisum ausgestellt und somit die Einreise in die Schweiz ermöglicht werden. Die Beschwerdeführerin beanstandet diese Feststellung als willkürlich.
Tatsächlich erscheint die Feststellung der Vorinstanz in mehrfacher Hinsicht als problematisch: Unter der Voraussetzung, dass ein weggewiesenes Menschenhandelsopfer überhaupt noch in die Schweiz kommen möchte, um zu einem Strafverfahren gegen Menschenhändler beizutragen, wäre es zwar möglich, die Einreise in die Schweiz organisatorisch zu bewerkstelligen. Allerdings wäre dies mit grösseren administrativen Mühen und erheblichem Zeitaufwand verbunden. In einem Strafverfahren kann es aber nötig sein, zeitnah zu handeln und Beweise abzunehmen. Eine erfolgreiche strafrechtliche Sanktionierung von Menschenhandel setzt voraus, dass die Strafverfolgungsbehörden ihre Untersuchungen effektiv und prompt durchführen können. Ihre Handlungsfähigkeit wäre insofern beeinträchtigt, wenn eine
BGE 145 I 308 S. 317
Dublin-Überstellung in einen Drittstaat während laufendem Strafverfahren vollzogen würde.
Davon abgesehen können die Schweizer Behörden nach Vollzug der Dublin-Überstellung nicht kontrollieren, wie schnell das Asylverfahren im zuständigen Staat abgewickelt wird. Nicht nur die Schweiz (vgl. Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement [EJPD], Erläuternder Bericht zur Umsetzung der Vorlage zur Beschleunigung der Asylverfahren,
www.sem.admin.ch/sem/de/home
/aktuell/gesetzgebung/aend_asylg_neustruktur.html [zuletzt abgerufen am 19. Februar 2019]), sondern auch andere Dublin-Staaten verfolgen das Ziel, die Dauer ihrer Asylverfahren zu verkürzen und Wegweisungen bei negativen Entscheiden zeitnah zu vollziehen. Unter der Annahme, dass es den italienischen Asylbehörden im Falle der Beschwerdeführerin gelungen wäre, das Asylverfahren zeitnah abzuschliessen und sie in der Folge nach Kenia weggewiesen worden wäre, hätte ihre Verfügbarkeit für das Strafverfahren, dessen Dauer zum Zeitpunkt des vorinstanzlichen Entscheids noch nicht absehbar war, offensichtlich nicht mehr sichergestellt werden können. Die entsprechende Feststellung der Vorinstanz erweist sich deshalb als willkürlich. Das Bundesgericht geht im Folgenden deshalb davon aus, dass eine allenfalls erforderliche Verfügbarkeit eines asylsuchenden Menschenhandelsopfers für das Strafverfahren in der Schweiz im Prinzip nur dadurch sichergestellt werden kann, dass es sich für die Dauer des Strafverfahrens in der Schweiz aufhält. Die anderslautenden Weisungen des Staatssekretariats für Migration (vgl. Weisungen und Erläuterungen Ausländerbereich, Oktober 2013 [aktualisiert am 1. Juli 2018], Ziff. 5.7.4 letzter Satz) sind mit den Vorgaben aus Art. 14 Abs. 1 lit. b ÜBM nicht zu vereinbaren.
4.2
Im hier interessierenden Fall hat die Stadtpolizei Zürich der Rechtsvertreterin mit Schreiben vom 15. März 2017 mitgeteilt, die Durchführung eines polizeilichen Vorermittlungsverfahrens bedinge, "dass die Verfügbarkeit der Beschwerdeführerin für den weiteren Verfahrensablauf gewährleistet" sei. Wie bereits oben dargelegt (vgl. E. 4.1) kann die Verfügbarkeit des Opfers in Fällen wie dem vorliegenden aber nur sichergestellt werden, wenn ihm ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht in Form einer Kurzaufenthaltsbewilligung erteilt wird. Für die Migrationsbehörden bleibt kein Raum, von der Einschätzung der Strafbehörden abzuweichen, wonach die Anwesenheit zu gewährleisten sei. Die für das Strafverfahren zuständigen Behörden sind nämlich als einzige in der Lage, die Notwendigkeit
BGE 145 I 308 S. 318
der Anwesenheit des Opfers für den weiteren Verfahrensverlauf zuverlässig abzuschätzen.
4.3
Aufgrund dieser Erwägungen ist die Beschwerde gutzuheissen und festzustellen, dass die Beschwerdeführerin im Zeitpunkt des angefochtenen Entscheids Anspruch auf Erteilung einer Kurzaufenthaltsbewilligung gehabt hätte. | de |
1b80cf53-e358-40e3-b4e6-189d6905d651 | Sachverhalt
ab Seite 164
BGE 119 IV 164 S. 164
Der in S./D wohnhafte U. führte am 15. November 1990, gegen 20.30 Uhr, mit seinem Personenwagen drei albanische Staatsangehörige, die weder Pass noch Visum besassen, zum Zollamt Ramsen/SH, das sich ca. 60 Meter im Landesinnern auf schweizerischem Hoheitsgebiet befindet. Bei der Ausweiskontrolle wurden U. und seine drei Mitfahrer angehalten und, da sich die Albaner nicht ausweisen konnten, der Kantonspolizei Schaffhausen übergeben.
Mit Strafbefehl vom 19. November 1990 erklärte das Untersuchungsrichteramt des Kantons Schaffhausen U. des Erleichterns der rechtswidrigen Einreise schuldig und verurteilte ihn zu 14 Tagen
BGE 119 IV 164 S. 165
Gefängnis mit bedingtem Strafvollzug und einer Busse von Fr. 80.--. Auf Einsprache hin sprach der 2. Präsident des Kantonsgerichts Schaffhausen als Einzelrichter in Strafsachen U. mit Urteil vom 20. November 1991 von Schuld und Strafe frei.
In teilweiser Gutheissung einer gegen dieses Urteil von der Staatsanwaltschaft erklärten Berufung sprach das Obergericht des Kantons Schaffhausen U. am 6. November 1992 des versuchten Erleichterns der rechtswidrigen Einreise schuldig und verurteilte ihn zu 14 Tagen Gefängnis, unter Einrechnung von vier Tagen Untersuchungshaft, mit bedingtem Strafvollzug unter Gewährung einer Probezeit von zwei Jahren, sowie zu einer Busse von Fr. 80.--.
Die Staatsanwaltschaft führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde und beantragt, das angefochtene Urteil sei insoweit aufzuheben, als es den Angeklagten lediglich der versuchten Widerhandlung gegen das Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer für schuldig erklärt, und die Sache sei zur Verurteilung wegen (vollendeten) Erleichterns der rechtswidrigen Einreise an die Vorinstanz zurückzuweisen. Das Obergericht des Kantons Schaffhausen hat auf Gegenbemerkungen, U. auf Vernehmlassung verzichtet.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
a) Gemäss
Art. 23 Abs. 1 ANAG
macht sich unter anderem strafbar, wer rechtswidrig das Land betritt oder darin verweilt (al. 4) und wer im In- oder Ausland die rechtswidrige Ein- oder Ausreise oder das rechtswidrige Verweilen im Lande erleichtern oder vorbereiten hilft (al. 5). Der französische und italienische Gesetzestext unterscheiden nicht zwischen "betreten" und "einreisen", sondern sprechen bei beiden Bestimmungen von "entrer" ("celui qui entre..."; "celui qui ... facilite ou aide à préparer une entrée...") bzw. "entrare" ("chiunque entra..."; "chiunque ... facilita od aiuta a preparare l'entrata..."; vgl. auch alt Art. 23 Abs. 1 al. 3 des BG über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer vom 26. März 1931: "wer ... das Land betritt...", bzw. "celui qui entre...", AS/RO 1933, S. 286). Entgegen der Auffassung der Vorinstanz lässt sich aus einer grammatikalischen Auslegung somit nicht ein Bedeutungsunterschied der beiden Begriffe ableiten. Die Differenz ist rein redaktionell bedingt und dürfte davon herrühren, dass der Tatbestand gemäss Art. 23
BGE 119 IV 164 S. 166
Abs. 1 al. 5 ANAG in der Fassung des Gesetzes vom 26. März 1931 noch nicht enthalten war (vgl. ROSCHACHER, Die Strafbestimmungen des Bundesgesetzes über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer vom 26. März 1931 (ANAG), Diss. Zürich 1991, S. 84 zu den Ungereimtheiten hinsichtlich der rechtswidrigen Ausreise).
Die Einreise in die Schweiz und das Betreten des Schweizer Territoriums bedeuten somit das gleiche. Gemeint ist in beiden Fällen grundsätzlich die Überschreitung der politischen Landesgrenze. Unklar bleibt jedoch auch bei dieser Sachlage, ob in den Fällen, in denen der offizielle Grenzübergang nicht mit dem Überqueren der politischen Landesgrenze zusammenfällt, sondern sich innerhalb des schweizerischen Staatsgebietes befindet, die Einreise in die Schweiz im Sinne des Gesetzes schon beim Betreten schweizerischen Territoriums oder erst beim Passieren der Grenzkontrolle erfolgt.
b) Gemäss
Art. 7 Abs. 1 der Verordnung über Einreise und Anmeldung der Ausländer vom 10. April 1946 (SR 142.211)
hat die Ein- und Ausreise über bestimmte, vom Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement für den grossen Grenzverkehr als offen bezeichnete Grenzübergangsstellen und Landungsplätze zu erfolgen. Jedes Überschreiten der Grenze ausserhalb einer für den grossen Grenzverkehr geöffneten Grenzübergangsstelle ist rechtswidrig. Das Betreten der Schweiz über die grüne Grenze, ausserhalb eines offiziellen Grenzübergangs ist somit immer rechtswidrig. Erfolgt die Einreise über eine Grenzstelle, liegt der wesentliche Gesichtspunkt im Passieren des offiziellen Grenzübergangs. Liegt der Grenzposten wie im zu beurteilenden Fall bereits innerhalb des schweizerischen Gebiets, so bedeutet das Überschreiten der politischen Landesgrenze allein noch keine rechtswidrige Einreise bzw. kein rechtswidriges Betreten der Schweiz. Die Einreise erfolgt erst beim Passieren des Grenzpostens oder aber bei der Umgehung der Grenzkontrolle. Dasselbe gilt im übrigen für die Einreise auf dem Luftweg. Auch in diesem Fall betritt der Ausländer die Schweiz erst nach der Passkontrolle (so ROSCHACHER, a.a.O., S. 28).
Im umgekehrten Fall, bei dem die Grenzkontrolle etwa in einer Gemeinschaftsanlage im Ausland stattfindet, muss die Einreise denn auch bereits mit dem Passieren des Grenzpostens als erfolgt betrachtet werden (vgl. nicht publizierter Entscheid des Kassationshofs vom 10. Juni 1988 i. S. EZV gegen H. für die Feststellung des Verstosses gegen die Vignettenpflicht gemäss Art. 1 der Verordnung über die Abgabe für die Benützung von Nationalstrassen vom 12. September 1984 (NSAV; SR 741.72) ausserhalb der schweizerischen Landesgrenze).
BGE 119 IV 164 S. 167
Würde aber der Auffassung der Beschwerdeführerin gefolgt, wäre in einem solchen Fall trotz Passierens des Grenzpostens eine rechtswidrige Einreise ausgeschlossen.
Zum selben Ergebnis führt
Art. 13a AsylG
(SR 142.31), nach welcher Bestimmung der Flüchtling sein Asylgesuch bei der Einreise an einem geöffneten Grenzübergang stellen muss, was voraussetzt, dass die Einreise erst beim Passieren des Grenzübergangs erfolgt (vgl. auch
Art. 13d AsylG
und Art. 5 Asylverordnung 1, SR 142.311). Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Zollgesetz (ZG; SR 631.0). Zwar fällt nach
Art. 2 Abs. 1 ZG
die Zollgrenze grundsätzlich mit der politischen Landesgrenze zusammen. Eine Zollwiderhandlung begeht aber, wer die Zollkontrolle zu umgehen sucht (vgl.
Art. 74 und 76 ZG
). | de |
98a3405a-c4b6-40f3-93f2-cd1efac2e9e4 | Sachverhalt
ab Seite 142
BGE 114 Ib 142 S. 142
Der Bundesrat erteilte am 4. Januar 1966 dem generellen Projekt für die Nationalstrasse 4a, Teilstrecke Blegi-Zimbel (Blickensdorf), seine Genehmigung. Für diese Teilstrecke legte der Kanton Zug ab 16. Mai 1966 einen Projektierungszonenplan gemäss Art. 14 des Bundesgesetzes über die Nationalstrassen (NSG) in den betroffenen Gemeinden öffentlich auf.
Am 29. Juli 1966 erwarb die Interchemie AG (heute: Leutwyler Dienstleistungen AG), die bereits Eigentümerin des an die SBB-Linie Zug-Steinhausen stossenden Grundstücks Nr. 470 in Steinhausen war, die nach dem aufgelegten Plan zwischen der Projektierungszone und ihrem Grundstück liegende Fläche von 4950 m2 (Parzelle Nr. 490) für den Bau einer zweiten Lagerhalle und eines
BGE 114 Ib 142 S. 143
Bürohauses. Im Baubewilligungsverfahren machte das kantonale Bauamt die Grundeigentümerin jedoch darauf aufmerksam, dass nach den anhand von elektronischen Berechnungen erstellten Detailplänen die Zonengrenze über ihre Parzellen verlaufe und die geplante Lagerhalle anschneide. Das Bauamt wies die Interchemie AG im weiteren darauf hin, dass im Zuge des Baues der Unterführung der N 4a unter den SBB-Geleisen mit einer Grundwasserspiegel-Absenkung zu rechnen sei, und riet ihr, mit der Erstellung von Bauten entlang der Projektierungszone nach Möglichkeit zuzuwarten, um bautechnische Schwierigkeiten zu verhindern.
Das aufgrund des generellen Projektes ausgearbeitete Ausführungsprojekt für die N 4a, das die definitiven sowie "provisorische", für die Bauzeit gültige Baulinien enthielt, wurde in der Gemeinde Steinhausen vom 23. November bis 22. Dezember 1967 publiziert. Gegen dieses Projekt erhob die Interchemie AG Einsprache, zog diese aber nach Verhandlungen mit der Baudirektion des Kantons Zug, die der Grundeigentümerin gegenüber verschiedene Zusicherungen abgab, wieder zurück. Das Ausführungsprojekt wurde am 31. Oktober 1969 durch das Eidgenössische Departement des Innern genehmigt.
Für den Bau der Nationalstrassen-Unterführung beanspruchte der Kanton Zug vorübergehend ab den Parzellen Nrn. 470 und 490 rund 1500 m2. Am 3. November 1970 bewilligte der Zuger Regierungsrat gestützt auf
Art. 37 NSG
die vorzeitige Inbesitznahme dieser Fläche, wobei er erwähnte, dass für alle mit der Landumlegung zusammenhängenden Fragen die Ausführungskommission der Gesamtmelioration "Lorze" zuständig sei. Im Zusammenhang mit der vorzeitigen Besitzeinweisung schlossen die Interchemie AG und die Baudirektion des Kantons Zug am 13. November 1970 eine Vereinbarung "betreffend Entschädigungs- und Detailfragen", in welcher die Vergütung für die vorübergehende Inanspruchnahme auf jährlich Fr. 300.-- festgesetzt und bestimmt wurde, dass die Grundeigentümerin für allfällige betriebliche Inkonvenienzen zusätzlich entschädigt würde. Gestützt auf diese Vereinbarung hob der Regierungsrat seinen Beschluss über die vorzeitige Besitzeinweisung am 17. November 1970 unter dem Vorbehalt auf, dass die für den reibungslosen Ablauf des Nationalstrassenbaus erforderlichen Arbeiten im Bereiche der Grundstücke Nrn. 470 und 490 ungehindert fortgesetzt werden könnten.
Der Bau der Grundwasserwanne für die Strassenunterführung erwies sich als äusserst schwierig und erforderte umfangreichere
BGE 114 Ib 142 S. 144
Aushebungen als zunächst vorgesehen. Da auch die Grundstücke Nrn. 470 und 490 davon betroffen wurden, schlossen die Parteien am 16. Juni 1971 eine neue Vereinbarung ("Grundvereinbarung" genannt), die unter anderem den Ablauf der Bauarbeiten sowie die Wiederherstellung und Rückgabe des vorübergehend beanspruchten Terrains regelte und einen Flächenabtausch vorsah. Durch Zusatzvereinbarung vom 19. November 1971 gestattete die Grundeigentümerin dem Kanton Zug, weitere Abtragungen vorzunehmen. Nach erneuter Verschlechterung der Gelände- und Bauverhältnisse kam am 3. März 1972 eine zweite Zusatzvereinbarung zustande, in der sich die Interchemie AG damit einverstanden erklärte, dass der Kanton Zug die von ihr erstellte, durch Absenkungen gefährdete Heizzentrale entferne.
In der Folge zeigte sich, dass die Rückgabe des vorübergehend beanspruchten Terrains auf den vorgesehenen Zeitpunkt nicht möglich war, und es ergaben sich Streitigkeiten über die vertraglichen Pflichten der Parteien, im Laufe derer die Interchemie AG schliesslich beim Bundesgericht gestützt auf
Art. 42 OG
Klage gegen den Kanton Zug erhob und bei diesem zudem zuhanden der Eidgenössischen Schätzungskommission vorsorglich Entschädigungsbegehren einreichte, die im noch zu eröffnenden Enteignungsverfahren zu behandeln seien. Im Klageverfahren vor Bundesgericht kamen die Parteien überein, dass die geltend gemachten Forderungen ausschliesslich im Expropriationsverfahren zu beurteilen seien und die eingereichte Klage unter dem Vorbehalt zurückgezogen werde, dass sie bei Unzuständigkeit der Schätzungskommission wieder anhängig gemacht werden könne.
Entsprechend der Vereinbarung ersuchte der Kanton Zug den Präsidenten der Eidgenössischen Schätzungskommission, Kreis 9, um Eröffnung eines Enteignungsverfahrens und um Erlaubnis zur Durchführung des abgekürzten Verfahrens im Sinne von Art. 33 des Bundesgesetzes über die Enteignung (EntG). Gemäss der persönlichen Anzeige, die der Enteigneten am 23. August 1977 zuging, verlangte der Kanton Zug die Abtretung eines Landstreifens von 60 m2 für den Bau einer Pump- und Trafo-Station. Nach Beizug eines Gutachters und verschiedenen Schriftenwechseln setzte die Schätzungskommission mit Entscheid vom 29. April 1983 die Höhe der Entschädigung für einzelne Teilbegehren der Enteigneten fest, trat aber auf andere Forderungspunkte nicht ein, da die Schätzungskommission nicht zuständig sei zur Beurteilung, ob die zwischen den Parteien geschlossenen zivilrechtlichen Verträge gültig
BGE 114 Ib 142 S. 145
seien und inwieweit sie der Grundeigentümerin einen Entschädigungsanspruch - namentlich für die verspätete Rückgabe des Landes - verschafften.
Die Interchemie AG hat gegen das Urteil der Schätzungskommission Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhoben, mit der sie unter anderem den Nichteintretensentscheid anficht. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde in einem Teilentscheid insoweit gut, als sie die Frage der Zuständigkeit der Schätzungskommission betrifft. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Den Erwägungen der Schätzungskommission über ihre eigene Zuständigkeit ist nicht durchwegs zuzustimmen.
a) Im angefochtenen Entscheid wird zu Recht ausgeführt, dass nach ständiger bundesgerichtlicher Rechtsprechung die Schätzungskommission in der Regel nur vom Unternehmen, das bereits über das Enteignungsrecht verfügt oder noch damit ausgestattet werden soll, um Eröffnung eines Expropriationsverfahrens ersucht werden kann; die Privaten können sich erst dann mit ihren Entschädigungsbegehren direkt an die Schätzungskommission wenden, wenn das Verfahren durch eine öffentliche Planauflage im Sinne von
Art. 30 EntG
oder durch eine persönliche Anzeige gemäss Art. 33 f. EntG bereits eingeleitet worden ist (
BGE 112 Ib 125
f.,
BGE 110 Ib 371
f. E. 1,
BGE 106 Ib 234
E. 2a). Im weiteren kann die Spezialgesetzgebung die Eröffnung des Enteignungsverfahrens an zusätzliche formelle Voraussetzungen knüpfen. So haben die Kantone auf dem Gebiet des Nationalstrassenbaus, für den sie von Gesetzes wegen das Enteignungsrecht besitzen oder dieses den Gemeinden übertragen können (
Art. 39 Abs. 1 NSG
), bei Einleitung des Verfahrens nachzuweisen, dass das Ausführungsprojekt nach Behandlung der Einsprachen vom zuständigen Departement genehmigt worden ist (Art. 39 Abs. 2 in Verbindung mit
Art. 27 und 28 NSG
). Enteignungsverfahren, die von der Schätzungskommission vor dem Vorliegen dieser Genehmigung eröffnet werden, sind nichtig und werden vom Bundesgericht von Amtes wegen aufgehoben (
BGE 99 Ib 488
ff.;
BGE 109 Ib 133
E. 2b; nicht publ. Entscheid vom 20. März 1984 i.S. Staat Wallis E. 1a und 2b). Ist dagegen ein Verfahren formell richtig eingeleitet worden, so steht dem Privaten der Weg zum Richter offen und braucht er - entgegen der im angefochtenen Entscheid vertretenen Meinung - sich nicht darauf zu beschränken, nur für jene Rechte Entschädigung
BGE 114 Ib 142 S. 146
zu verlangen, die vom Unternehmen als Enteignungsobjekt bezeichnet worden sind. Sonst wäre der Nachbar eines Werkes, von dem tatsächlich oder angeblich übermässige Immissionen ausgehen, kaum je in der Lage, seinen Entschädigungsanspruch für die Unterdrückung seiner Abwehrrechte anzumelden, da der Enteigner nach
Art. 27 Abs. 2 EntG
nur verpflichtet ist, die für die Erstellung des Werkes beanspruchten Rechte in der Grunderwerbstabelle zu nennen, dagegen in der Regel nicht angeben kann, welche Nachbarrechte durch den zukünftigen Werkbetrieb beeinträchtigt werden (nicht publ. Entscheid vom 9. Dezember 1983 i.S. Stiftung WWF Schweiz E. 3). Der Enteigner ist denn auch aufgrund von
Art. 22ter BV
und
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
gehalten, dem Privaten den Zugang zum Richter zu ermöglichen, selbst wenn er den Eingriff in fremde Rechte grundsätzlich bestreitet (
BGE 112 Ib 178
, 294,
BGE 111 Ib 231
f. E. 2e,
BGE 110 Ib 372
E. 1). Wo es die Spezialgesetzgebung vorsieht, kann allerdings der Private mit seinem Entschädigungsgesuch direkt an die Schätzungskommission gelangen; es handelt sich hiebei um Fälle der materiellen Enteignung, deren Beurteilung der Gesetzgeber für besondere Sachbereiche ebenfalls den Eidgenössischen Schätzungskommissionen übertragen hat (
BGE 112 Ib 126
E. 2,
BGE 106 Ib 234
). Zwar wird sich der Private auch in solchen Fällen - wie in
Art. 18 und 25 NSG
vorgesehen - zunächst mit dem Enteigner zu einigen versuchen, doch unterlässt er dies, liegt darin kein Grund, ihm den direkten Zugang zur Schätzungskommission zu verwehren. Beigefügt sei, dass der Gesetzgeber die (erstinstanzliche) Zuständigkeit der Schätzungskommission zur Beurteilung von Entschädigungsbegehren für materielle Enteignung unter anderem zur Entlastung des Bundesgerichtes geschaffen hat, welches sonst über diese Forderungen, die gestützt auf
Art. 116 lit. c OG
mit verwaltungsrechtlicher Klage vorzutragen wären, als erste und einzige Instanz zu befinden hätte.
Aus dem Gesagten ergibt sich, dass im angefochtenen Entscheid zu Unrecht ausgeführt wird, der Kanton Zug habe die Forderungseingaben der Interchemie AG vom 23. August und 23. September 1976 der Schätzungskommission in der irrigen Annahme überwiesen, dass die Enteignete ihre Begehren direkt bei der Kommission anhängig machen könne. Soweit sich die Forderungen auf
Art. 18 und 25 NSG
stützten, traf dies tatsächlich zu. Insofern andere Entschädigungsbegehren erhoben wurden, hätte der Kanton, um deren Beurteilung durch den Richter zu ermöglichen,
BGE 114 Ib 142 S. 147
sofort die Schätzungskommission um Verfahrenseröffnung ersuchen sollen, auch wenn er die Ansprüche der Interchemie AG für unbegründet hielt: Wie bereits erwähnt, ist es nicht Sache des Werkeigentümers, sich über die materielle Berechtigung der geltend gemachten Entschädigungsbegehren auszusprechen, und darf sich dieser nur in Ausnahmefällen der Verfahrenseinleitung widersetzen (vgl.
BGE 112 Ib 178
E. 3b und dort zitierte Entscheide).
b) Die Schätzungskommission erklärt im angefochtenen Entscheid, die "Grundvereinbarung" der Parteien vom 16. Juni 1971 und die beiden Zusatzvereinbarungen seien keine Enteignungsverträge, sondern wiesen rein zivilrechtlichen Charakter auf; die Schätzungskommission sei daher für die Beurteilung der vertraglichen Ansprüche nicht kompetent.
aa) Zum sogenannten Enteignungsvertrag ist zunächst vorauszuschicken, dass sich dieser nicht notwendigerweise auf die Abtretung von dinglichen Rechten für den Bau eines öffentlichen Werkes beschränken muss. Als Vertragsinhalt fallen zahlreiche andere Punkte in Betracht, die normalerweise im Rahmen des Enteignungsverfahrens zu regeln sind. So können nach Lehre und Rechtsprechung durch Enteignungsvertrag der Rückzug einer Einsprache oder der Verzicht auf diese, die Ausdehnung oder Reduktion der Enteignung, auch wenn die gesetzlichen Voraussetzungen hiefür nicht gegeben sind (vgl.
Art. 12 und 13 EntG
), die Vornahme von Wiederherstellungsarbeiten auf nicht enteigneten Restflächen, die Einzelheiten einer vorübergehenden Beanspruchung sowie die Höhe der Entschädigung für abgetretene Rechte oder für andere Ansprüche vereinbart werden (
BGE 102 Ia 559
f. E. 4a,
BGE 99 Ib 273
, je mit Hinweisen auf die Literatur,
BGE 77 II 78
f.,
BGE 52 I 37
f.; HESS/WEIBEL, Das Enteignungsrecht des Bundes, 1986, N. 1 und 9 zu
Art. 53 EntG
und N. 1, 2 und 6 zu
Art. 54 EntG
, GRISEL, Traité de droit administratif, S. 763, IMBODEN/RHINOW, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung Nr. 126 IV a). Das Enteignungsgesetz regelt zwar einzig den Fall der vertraglichen Festsetzung der Entschädigung, für welchen es bestimmt, dass die nach Einleitung des Enteignungsverfahrens, aber ausserhalb des Einigungsverfahrens zustandegekommene Verständigung zu ihrer Verbindlichkeit der schriftlichen Form bedürfe und dem Präsidenten der Schätzungskommission mitzuteilen sei (
Art. 54 Abs. 1 EntG
). Das bedeutet aber nicht, dass der Gesetzgeber andere Arten von Enteignungsverträgen habe ausschliessen, noch, dass er sie dem Privatrecht habe zuweisen wollen (vgl. zit. Entscheide).
BGE 114 Ib 142 S. 148
bb) Als Enteignungsverträge gelten nach der zitierten Lehre und Rechtsprechung nur jene Vereinbarungen, die nach Eröffnung des Enteignungsverfahrens geschlossen werden. Solange das Gemeinwesen beim Erwerb der für ein öffentliches Werk benötigten Rechte nicht hoheitlich, sondern gleich wie ein Privater auftritt, handelt es auf dem Boden des Zivilrechts: Form und Inhalt solcher Verträge unterstehen den privatrechtlichen Vorschriften, und Vertragsstreitigkeiten sind vor dem Zivilrichter auszutragen; dem Verwaltungsrichter steht allenfalls eine "vorfrageweise" Beurteilung dieser Verträge zu, solange sich der Zivilrichter hiezu nicht geäussert hat. Vom Moment an jedoch, in dem der Werkeigentümer gegenüber dem Privaten als mit Zwangsmitteln ausgestatteter Hoheitsträger auftritt, kann nicht mehr von Beziehungen unter rechtlich Gleichgestellten gesprochen werden, und gelten die unter solchen Umständen abgeschlossenen Vereinbarungen als öffentlichrechtliche. Dieses Unterscheidungs-Kriterium ist nichts anderes als ein Ausfluss aus der sogenannten Subordinationstheorie, also einer der verschiedenen Theorien, auf die sich das Bundesgericht je nach den Umständen im Einzelfall für die Abgrenzung von Privat- und öffentlichem Recht stützt (vgl.
BGE 109 Ib 149
E. 1b, 152 E. 3). Allerdings ist festzustellen, dass sich die Parteien beim Erwerb von Grundstücken, auch wenn ein Subordinationsverhältnis besteht, manchmal der privatrechtlichen Formen bedienen (öffentliche Beurkundung). Ob in solchen Fällen ein öffentlich- oder ein privatrechtlicher Vertrag vorliege, ist oft schwer zu beurteilen. Jedenfalls darf nicht leichthin angenommen werden, dass der Private auf die ihm vom Enteignungsgesetz gewährten Garantien (wie das Rückforderungsrecht) verzichtet habe. In diesem Sinne ist denn auch das Bundesgericht in Ausnahmefällen schon vom Bestehen eines Enteignungsvertrages ausgegangen, obwohl die fragliche Vereinbarung schon vor Einleitung des Enteignungsverfahrens geschlossen worden war (nicht publ. Entscheide i.S. PTT c. Galeries de commerce vom 28. Juli 1951 und i.S. Erben Gobbi vom 14. September 1966).
cc) Das genannte Unterscheidungs-Kriterium - Abschluss des Vertrages vor oder nach Einleitung der Enteignung - ist ohne weiteres auf die Verfahren anwendbar, die sich ausschliesslich nach dem Bundesgesetz über die Enteignung richten. In solchen Fällen wird das Enteignungsverfahren im weiteren Sinne, das sowohl das Einsprache- wie auch das eigentliche Enteignungsverfahren umfasst (vgl.
Art. 30, 35 und 36 EntG
), durch die öffentliche Auflage
BGE 114 Ib 142 S. 149
der Pläne und der Grunderwerbstabelle oder, im abgekürzten Verfahren, durch die persönliche Anzeige in Gang gesetzt (
Art. 30 und 33 EntG
). In diesem Moment gibt der Werkeigentümer klar zu erkennen, dass er von der ihm verliehenen oder noch zu verleihenden Befugnis zur Zwangsanwendung Gebrauch machen will. Gleichzeitig tritt auch zu seinen Gunsten der Enteignungsbann ein und werden damit dem Privaten Verfügungsbeschränkungen auferlegt (
Art. 44 ff. EntG
).
Anders ist die Situation dagegen in jenen Verfahren, in denen neben oder teilweise anstelle des Enteignungsgesetzes die bundesrechtliche Spezialgesetzgebung anzuwenden ist. Das betrifft - was die Schätzungskommission hier übersehen hat - auch den Landerwerb für den Nationalstrassenbau. Nach dem Bundesgesetz über die Nationalstrassen wird der zwangsweise Landerwerb - sei es auf dem Wege der Enteignung oder auf jenem der Landumlegung (
Art. 30 NSG
) - durch die öffentliche Auflage des Ausführungsprojektes eingeleitet. Das durch diese Publikation eröffnete Einspracheverfahren (
Art. 27 NSG
) tritt an die Stelle des enteignungsrechtlichen Einspracheverfahrens und ersetzt dieses in allen Belangen (
BGE 108 Ib 507
E. 2,
BGE 106 Ib 23
). Im nachfolgenden eigentlichen Enteignungsverfahren sind nur noch die angemeldeten Entschädigungsforderungen zu behandeln (
Art. 39 Abs. 2 NSG
;
Art. 30 Abs. 1 lit. c EntG
). Auf dem Gebiet des Nationalstrassenbaus fällt somit der Zeitpunkt, von dem an der Kanton gegenüber dem Privaten als Hoheitsträger auftritt, mit der Auflage des Ausführungsprojektes zusammen. Dieser Zeitpunkt muss deshalb, wie das Bundesgericht schon im (nicht publizierten) Entscheid vom 30. April 1971 i.S. Rauss gegen Kanton Waadt festgehalten hat, auch für die Charakterisierung der zwischen Kanton und Privaten geschlossenen Verträge massgebend sein: Die vor der Auflage des Ausführungsprojektes zustandegekommenen Vereinbarungen sind privatrechtlicher, die nach der Publikation geschlossenen öffentlichrechtlicher Natur. Im gleichen Sinne hat das Bundesgericht im Falle Gauger (
BGE 106 Ib 20
ff.) mit eingehender Begründung ausgeführt, dass der Enteignungsbann (
Art. 42 EntG
) bereits im Zeitpunkt der ersten Publikation des Ausführungsprojektes und nicht erst bei Eröffnung des eigentlichen Schätzungsverfahrens zu wirken beginne; hieraus ist auf die Kompetenz der Schätzungskommission zur Festsetzung der Entschädigung für die dem Grundeigentümer auferlegte Verfügungsbeschränkung geschlossen worden (
Art. 44 EntG
). Schliesslich ist die Zuständigkeit der
BGE 114 Ib 142 S. 150
Schätzungskommission zur Beurteilung von Entschädigungsforderungen für Verfügungsbeschränkungen sogar in einem Fall bejaht worden, in dem der Kanton im Hinblick auf den geplanten Nationalstrassenbau Anzahlungen geleistet hatte, das eingeleitete Enteignungsverfahren aber, da überhaupt kein Ausführungsprojekt vorlag, nichtig war und deshalb an sich auch kein Enteignungsbann bestand. In diesem Entscheid hat das Bundesgericht darauf hingewiesen, dass der Kanton stets als Hoheitsträger aufgetreten sei und der nichtige Enteignungsbann faktisch zu den selben Auswirkungen wie eine rechtmässige Verfügungsbeschränkung geführt hätte, so dass die hiefür geltend gemachte Entschädigungsforderung der Grundeigentümer nicht anders als enteignungsrechtlich qualifiziert werden könne, auch wenn ein Enteignungsbann rechtlich gesehen nie eingetreten sei (nicht veröffentlichter Entscheid vom 20. März 1984 i.S. Kanton Wallis gegen Schwery E. 1).
dd) Hieraus ergibt sich, dass im vorliegenden Fall die Schätzungskommission ihre Kompetenz zur Beurteilung der von der Interchemie AG aufgrund der vertraglichen Vereinbarungen erhobenen Entschädigungsansprüche zu Unrecht verneint hat. Sowohl der Rückzug der Einsprache, zu der sich die Interchemie AG aufgrund der Zusicherungen des Kantons entschloss, als auch der Abschluss der Vereinbarungen vom 13. November 1970, vom 16. Juni 1971, vom 19. November 1971 und vom 3. März 1972 erfolgten erst nach der Auflage des Ausführungsprojektes. Die Vereinbarungen sind zudem alle erst nach dem Beschluss des Zuger Regierungsrates vom 3. November 1970 zustandegekommen, durch den die vorzeitige Inbesitznahme des beanspruchten Bodens gestützt auf
Art. 37 NSG
bewilligt wurde. Nun ist
Art. 37 NSG
, wie in
BGE 105 Ib 103
ff. E. 7 dargelegt, nichts anderes als die im Landumlegungsverfahren anwendbare Parallelvorschrift zu
Art. 76 EntG
und tritt der Kanton im nationalstrassenbedingten Meliorationsverfahren bekanntlich in der Doppelrolle als Teilnehmer und als Enteigner auf, bestimmt er doch zum vornherein, einseitig und in zwingender Weise, welcher Boden - das Strassentrassee und die für den Strassenbau benötigten Flächen - ihm im Verfahren zuzuweisen sei (
BGE 105 Ib 335
E. 1b,
BGE 99 Ia 497
E. 4b). Dass hier der Regierungsrat die vorzeitige Besitzeinweisung nachträglich wieder rückgängig machte, ändert nichts daran, dass der Kanton im fraglichen Verfahren als Enteigner handelte; übrigens wurde die Anordnung nur aufgrund der inzwischen mit der Interchemie
BGE 114 Ib 142 S. 151
AG geschlossenen Vereinbarung und mit dem ausdrücklichen Vorbehalt zurückgezogen, dass die begonnenen Bauarbeiten keine Verzögerung erfahren dürften. Die genannten Vereinbarungen sind somit alle vom Kanton in der Rolle des Hoheitsträgers, des Enteigners, getroffen worden. Sie stellen Enteignungsverträge dar, deren Beurteilung in den - in
Art. 64 EntG
nicht abschliessend umschriebenen - Zuständigkeitsbereich der Schätzungskommission fällt. Der angefochtene Entscheid verstösst insoweit, als er die Kompetenzfrage anders beantwortet, gegen Bundesrecht und ist in Gutheissung der Beschwerde aufzuheben. ee) Damit kann die Frage offen bleiben, ob sich die Schätzungskommission nicht aufgrund von
Art. 69 Abs. 2 EntG
zum Entscheid über die vertraglichen Streitigkeiten hätte zuständig erklären müssen, selbst wenn die Vereinbarungen privatrechtlicher Natur wären, sind doch die Parteien vor Bundesgericht übereingekommen, dass die geltend gemachten Forderungen ausschliesslich in dem für Expropriationsstreitigkeiten vorgesehenen Verfahren zu beurteilen seien. Zwar kann durch Parteivereinbarung keine Zuständigkeit geschaffen werden, die es an sich nicht gibt. Da jedoch der Gesetzgeber selbst die Möglichkeit vorgesehen hat, den Entscheid über die zivilrechtliche Frage des Bestands eines Rechtes aus Gründen der Prozessökonomie der Schätzungskommission anheimzustellen, so wäre kaum einzusehen, weshalb dieser nicht auch Streitigkeiten über Verträge unterbreitet werden könnten, welche - ähnlich wie gewisse im Besitzeinweisungsverfahren geschlossene Vereinbarungen - die vorübergehende Inanspruchnahme des für den Bau des Werkes benötigten Bodens regeln. Dass sich die Enteignete vorsorglicherweise vorbehalten hat, allenfalls direkte Klage beim Bundesgericht einzureichen, kann die Abrede der Parteien, ihren Streit einer einzigen Instanz zu unterbreiten, nicht berühren. Wie gesagt braucht indessen hier über die Anwendung von
Art. 69 Abs. 2 EntG
nicht entschieden zu werden. | de |
4cfde8f0-198f-41ee-ab7b-124b9af01999 | Sachverhalt
ab Seite 458
BGE 120 Ib 456 S. 458
Die Einwohnergemeinde Hägendorf beabsichtigt, die Schulanlage Thalacker zu erweitern. Es sollen insbesondere zusätzliche Schulräume geschaffen und die bestehende Turnhalle zu einer Doppelturnhalle (Mehrzweckhalle) mit unterirdischer Anlieferungsrampe ausgebaut werden; westlich des neuen Schultraktes sind insgesamt 39 oberirdische sowie im genannten Anlieferungsbereich acht unterirdische Autoparkplätze vorgesehen. Die Schulanlage Thalacker liegt gemäss Zonenplan vom 12. August 1986 in der Zone für öffentliche Bauten und Anlagen (OeBA). Sie grenzt im Nordosten an die Wohnzone W2a.
Gegen das am 16./19. April 1993 eingereichte Baugesuch der Gemeinde wurde von Nachbarn Einsprache erhoben. Am 11. Mai 1993 erteilte indessen die Bau- und Wasserkommission von Hägendorf unter verschiedenen Auflagen und Bedingungen die Baubewilligung und wies die Einsprachen ab. Dagegen erhobene Beschwerden an das Bau-Departement und anschliessend an das Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn blieben ohne Erfolg, worauf eine Nachbarin Verwaltungsgerichtsbeschwerde und die weiteren Einsprecher staatsrechtliche Beschwerde an das Bundesgericht erhoben. Dieses heisst die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gut, soweit die Baubewilligung für die 39 oberirdischen Parkplätze erteilt wurde. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Nach Auffassung der Beschwerdeführerin können die primär für die Besucher der neuen Mehrzweckhalle geplanten Parkplätze westlich des Schulhauses aus Gründen des Lärmschutzes nicht bewilligt werden.
a) Gemäss Art. 44 Abs. 1 und 2 der Lärmschutz-Verordnung vom 15. Dezember 1985 (LSV; SR 814.41) haben die Kantone bis spätestens am 1. April 1997 den Nutzungszonen nach Art. 14 ff. des Bundesgesetzes über die Raumplanung vom
BGE 120 Ib 456 S. 459
22. Juni 1979 (Raumplanungsgesetz, RPG; SR 700) Empfindlichkeitsstufen (ES) zuzuordnen. Bis zur allgemein verbindlichen Festsetzung in den Nutzungsplänen oder Baureglementen sind die Empfindlichkeitsstufen im Einzelfall zu bestimmen (
Art. 44 Abs. 3 LSV
). Wird so vorgegangen, entfalten diese keine über das einzelne Verfahren hinausgehende Rechtswirkungen (
BGE 120 Ib 89
E. 4c S. 95 f.;
BGE 119 Ib 179
E. 2c S. 187 f. und E. 3 S. 191).
b) Im vorliegenden Fall muss ein einzelfallweises Vorgehen eingeschlagen werden, weil in Hägendorf die Empfindlichkeitsstufen noch nicht allgemein verbindlich in der Ortsplanung festgesetzt wurden; es besteht insoweit lediglich ein Entwurf. Er sieht für die Zone für öffentliche Bauten und Anlagen, welcher das Parkplatzareal zugewiesen ist, die Empfindlichkeitsstufe III, und für die Wohnzone W2a, in welcher die Parzellen der Beschwerdeführer liegen, die Empfindlichkeitsstufe II vor. Das Verwaltungsgericht hielt sich an diese Vorgaben, was grundsätzlich nicht zu beanstanden ist (
BGE 120 Ib 89
E. 4c S. 95) und von den Verfahrensbeteiligten auch nicht kritisiert wird. Mit Blick auf die in
Art. 43 Abs. 1 LSV
vorgesehene allgemeine Regelung zwingt die vom Verwaltungsgericht übernommene Einteilung aber zur Frage, ob die genannten einzelfallweisen Zuordnungen sachgerecht sind.
4.
a) Die Zuordnung der Empfindlichkeitsstufen zu den einzelnen Nutzungszonen stellt einen Planungsakt dar, welcher eine bestimmte Nutzungsordnung konkretisiert, präzisiert und in einem erheblichen Masse auch materiell ergänzt. Der bundesrechtliche Teil der Nutzungsordnung (Lärmschutz) muss auf den kantonalrechtlichen Teil abgestimmt, mit diesem koordiniert und harmonisiert sein (HEINZ AEMISEGGER, Aktuelle Fragen des Lärmschutzrechts in der Rechtsprechung des Bundesgerichts, URP 1994 S. 445; vgl. auch MARKUS NEFF, Die Auswirkungen der LSV auf die Nutzungsplanung, Diss. Zürich 1994, S. 145). Dafür knüpft die Lärmschutz-Verordnung an die im kantonalen Recht üblichen Kriterien über die Zulässigkeit störender Betriebe in den einzelnen Zonen an, welche im wesentlichen auch den §§ 29 ff. des Bau- und Zonenreglementes der Gemeinde Hägendorf (BZR) zugrunde liegen.
Art. 43 Abs. 1 LSV
sieht in Zonen mit einem erhöhten Lärmschutzbedürfnis die Empfindlichkeitsstufe I vor, bezeichnet die Empfindlichkeitsstufe II für Zonen, in denen keine störenden Betriebe zugelassen sind, legt die Empfindlichkeitsstufe III für Zonen mit mässig störenden Betrieben fest und ordnet die Empfindlichkeitsstufe IV für Zonen
BGE 120 Ib 456 S. 460
an, in denen stark störende Betriebe zulässig sind, namentlich für Industriezonen.
b) Bei der Zuordnung der Empfindlichkeitsstufen ist im Regelfall nach
Art. 43 Abs. 1 LSV
vorzugehen. Die in dieser Vorschrift enthaltenen Regeln sind als generelles Zuordnungsprinzip zu verstehen (
BGE 117 Ib 125
E. 4c S. 129), an welches sich die Behörden grundsätzlich zu halten haben. Das schliesst jedoch nicht aus, dass im Rahmen des Verordnungsvollzuges ein weiter Ermessensspielraum besteht (
BGE 120 Ib 287
E. 3c/bb S. 295;
BGE 119 Ib 179
E. 2a S. 186).
Gewisse Sachverhalte können gemäss
Art. 43 Abs. 2 LSV
beurteilt werden. Danach darf vom generellen Vorgehen abgewichen und eine Zone statt der Empfindlichkeitsstufe I oder II der jeweils nächsthöheren Stufe zugeordnet werden, wenn die Nutzungszone mit Lärm vorbelastet ist ("Aufstufung" oder "Höhereinstufung"). Diese Regelung hat primär alte Dorfkerne oder städtische Verhältnisse im Auge. Wenn sich Gemeinden für die Erhaltung des vorhandenen Wohnraumes und gegen die Entleerung ihrer Kerngebiete oder Innenstädte einsetzen, soll dies durch die Lärmschutz-Verordnung nicht verhindert werden (
BGE 117 Ib 125
E. 4c S. 129; KURT GILGEN, Lärmschutz und Raumplanung, Bern 1988, S. 94).
Art. 43 Abs. 2 LSV
kann auch bei kleineren Wohngebieten inmitten gewachsener Gewerbezonen in Betracht kommen (
BGE 115 Ib 456
E. 4 S. 64 f.). Von "Aufstufungen" ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes zurückhaltend Gebrauch zu machen (
BGE 115 Ib 456
E. 4 S. 465).
c) Vorliegend steht eine "Aufstufung" nicht zur Diskussion. Die Zuordnung der Empfindlichkeitsstufen erfolgt daher nach
Art. 43 Abs. 1 LSV
. Dabei haben die zuständigen Behörden in erster Linie zu berücksichtigen, dass die Belastungsgrenzwerte, wie sie gemäss den Anhängen 3-7 zur LSV für die einzelnen Empfindlichkeitsstufen gelten, auf die raumplanerischen Festlegungen abgestimmt sind und der unterschiedlichen Lärmempfindlichkeit der verschiedenen Zonen Rechnung tragen (
BGE 117 Ib 125
E. 4a S. 128).
Bei der Zuordnung der Empfindlichkeitsstufen ist weiter zu beachten, dass es den Kantonen oder Gemeinden obliegt, aufgrund einer umfassenden Interessenabwägung (
Art. 1 und 3 RPG
;
BGE 119 Ia 362
E. 5a S. 372) die Nutzungspläne festzusetzen (
Art. 25 Abs. 1 RPG
) und innerhalb der Bauzonen nach Nutzungsart und -mass zu differenzieren. Für die Beurteilung der Lärmempfindlichkeit ist deshalb, wie das Bundesgericht bereits in
BGE 120 Ib 456 S. 461
BGE 114 Ib 214
E. 3b S. 221 festhielt, grundsätzlich vom planungsrechtlich als zulässig bezeichneten Störungsmass auszugehen. Entsprechend seiner Zielsetzung im Bereiche des Immissionsschutzes beschränkt das Umweltschutzrecht des Bundes die Planungsfreiheit der Kantone und Gemeinden nur insoweit, als es verlangt, dass die von ihm für den Lärmschutz getroffenen Anforderungen erfüllt werden müssen (Urteil des Bundesgerichtes vom 25. März 1992 i.S. Gemeinde Sils i.D., E. 4c, publiziert in URP 1992 S. 621 f.). Schliesslich ist zu berücksichtigen, dass das in
Art. 43 Abs. 1 LSV
vorgesehene Zuordnungsschema auf Vereinfachungen beruht. Dem Bundesrat war es nicht möglich, alle in den Baugesetzen und -ordnungen bekannten Spezialzonen einzeln zu erfassen. Auch aus diesem Grunde muss den Behörden ein Spielraum gewährt werden (KURT GILGEN, a.a.O., S. 93 f.).
d) Werden diese allgemeinen Grundsätze beachtet, so kann hier die einzelfallweise Bestimmung der Empfindlichkeitsstufe III für die Zone für öffentliche Bauten und Anlagen nicht beanstandet werden. Zwar sieht
Art. 43 Abs. 1 lit. b LSV
für solche Zonen primär die Stufe II vor. Die für die Zone für öffentliche Bauten und Anlagen geltenden Vorschriften im kommunalen Bau- und Zonenreglement (§ 37 BZR) lassen jedoch in dieser Zone nahezu alle denkbaren Nutzungen mit ganz unterschiedlichen Aus- und Einwirkungen auf die Nachbarschaft zu. So ist in der fraglichen Zone neben dem Bau von Schulanlagen oder eines Alters- und Pflegeheimes, was beides dort bereits besteht, zum Beispiel auch die Erstellung eines Spitals, eines Werkhofes, einer öffentlichen Parkplatz- oder einer anderen Anlage mit viel Publikumsverkehr denkbar. Die Zone für öffentliche Bauten und Anlagen nach dem Recht der Gemeinde Hägendorf ist daher einer Mischzone ähnlich, in welcher neben nicht störenden auch mässig störende Betriebe zulässig sind. Für solche Fälle erlaubt
Art. 43 Abs. 1 lit. c LSV
die Zuordnung der Empfindlichkeitsstufe III.
e) Ebenfalls zu keiner grundsätzlichen Kritik gibt die einzelfallweise Bestimmung der Empfindlichkeitsstufe II für die benachbarte Wohnzone W2a Anlass. Gemäss § 29 Abs. 1 BZR sind in dieser Zone nur nichtstörende Gewerbe- und Dienstleistungsbetriebe zugelassen; es gilt daher im Regelfall die Empfindlichkeitsstufe II (
Art. 43 Abs. 1 lit. b LSV
), wovon auch das Verwaltungsgericht und die Beschwerdeführerin ausgehen.
Allerdings fragt es sich, wie sich diese Empfindlichkeitsstufe mit derjenigen für das benachbarte, der Zone für öffentliche Bauten und Anlagen
BGE 120 Ib 456 S. 462
zugeteilte Gebiet verträgt. Wie erwähnt sind manchen Nutzungen in einer solchen Zone Auswirkungen eigen, die sich möglicherweise mit der Empfindlichkeitsstufe II im unmittelbar benachbarten Wohngebiet nicht vertragen. Aus diesem Grunde verlangt die Rechtsprechung, dass bei der einzelfallweisen Bestimmung der Empfindlichkeitsstufen die lärmmässige Belastung der Umgebung mitzuberücksichtigen ist (
BGE 115 Ib 347
E. 2e S. 357). Dies bedingt eine sachgerechte Beurteilung der Lärmsituation (
Art. 40 LSV
). Wie es sich mit diesen Fragen verhält, ist im folgenden zu prüfen.
5.
a) Dem angefochtenen Urteil liegt eine gutachtlich erarbeitete Lärmprognose anhand von Berechnungen nach dem Anhang 6 zur LSV zugrunde. Dieser Anhang gilt unter anderem für die Beurteilung des Lärms grösserer Parkplätze ausserhalb von Strassen (Ziffer 1 Abs. 1 lit. d des Anhanges). Die Gutachter gehen davon aus, dass bezogen auf acht bestehende und 32 neue Parkplätze (das Bauvorhaben sieht freilich nur 31 "neue" Parkplätze vor) "ein Total" der nach unterschiedlichen Kriterien prognostizierten Lärmwerte des bestehenden und des neuen "Anlageteils" massgebend sei.
Nach dem Bauprojekt sollen westlich des neuen Schultrakts insgesamt 39 oberirdische Parkplätze eingerichtet werden. Selbst wenn man mit dem Verwaltungsgericht annimmt (
Art. 105 Abs. 2 OG
), es habe die acht als "bestehend" bezeichneten Parkplätze wirklich gegeben, so erscheint es dennoch als unzulässig, die Parkierungsanlage im Rahmen einer Lärmprognose in einen bestehenden und einen neuen Anlagenteil aufzuspalten. In tatsächlicher Hinsicht ist für die Beurteilung davon auszugehen, dass die Parkierungsanlage als ganzes benützt werden wird. | de |
18889540-6557-4298-987f-e63b4c8a8912 | Sachverhalt
ab Seite 336
BGE 114 Ia 335 S. 336
Die Erbengemeinschaft G. ist Eigentümerin der ungefähr 13 000 m2 umfassenden Parzelle Nr. 828 im Gebiet "Untere Weitenzelg" in Romanshorn. Diese Liegenschaft bildet Teil einer grösseren Zone für öffentliche Bauten und Anlagen (Reservezone), welche im Zonenplan von 1975, dessen Rechtskraft im Jahre 1979 eintrat, festgesetzt worden war. Bei der Teilrevision des Zonenplanes von 1986 beantragte die Erbengemeinschaft G. mit Einsprache und Beschwerde die Umzonung ihrer Parzelle in eine mehrgeschossige Wohnzone, nachdem sie bereits zuvor mit entsprechenden Begehren an den Gemeinderat Romanshorn und den Regierungsrat des Kantons Thurgau gelangt waren. Sowohl die Gemeinde und das kantonale Baudepartement als auch das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau lehnten jedoch ihre Begehren ab, im wesentlichen mit der Begründung, die Liegenschaft werde gemäss der Sportstättenplanung der Gemeinde für Sportanlagen benötigt, was aufgrund des Bedarfes mit genügender Sicherheit feststehe.
Gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts vom 5. Juli 1988 gelangte die Erbengemeinschaft G. mit staatsrechtlicher Beschwerde
BGE 114 Ia 335 S. 337
an das Bundesgericht. Sie ist der Meinung, die Zone für öffentliche Bauten und Anlagen verstosse gegen die gemäss
Art. 22ter BV
gewährleistete Eigentumsgarantie. Zwar anerkennt sie, dass sich die Festsetzung dieser Zone auf eine genügende gesetzliche Grundlage und an sich auch auf ausreichende öffentliche Interessen zu stützen vermag. Sie rügt jedoch eine geradezu willkürliche Interessenabwägung zwischen den öffentlichen und ihren privaten Interessen. Die Zone sei ursprünglich für Kantonsschulbauten vorgesehen gewesen, von welchen man seit 1972 gesprochen habe. Seit 1984 stehe fest, dass das Grundstück vom Kanton nicht benötigt werde, doch bestünde seit dreizehn Jahren auch die Absicht, auf der Parzelle Nr. 828 Sportstätten zu errichten. Den Bürgern seien jedoch keine Detailpläne vorgelegt worden. Ein so vages öffentliches Interesse, welches die Beschwerdeführer jahrelang an einer baulichen Nutzung ihres Landes hindere, überwiege das private Interesse nicht.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab Erwägungen
aus folgenden Erwägungen:
1.
Die Beschwerdeführer sind als Eigentümer der Parzelle Nr. 828, deren Antrag auf Umzonung in eine mehrgeschossige Wohnzone letztinstanzlich mit dem angefochtenen Entscheid des Verwaltungsgerichtes abgewiesen wurde, zur staatsrechtlichen Beschwerde wegen Verletzung ihrer verfassungsmässigen Rechte legitimiert. Die von ihnen beantragte Zone für öffentliche Bauten und Anlagen ist zwar bereits im Jahre 1979 in Rechtskraft erwachsen. Doch sind die Beschwerdeführer der Meinung, die Verhältnisse hätten sich erheblich geändert, da seit 1984 feststehe, dass ihre Liegenschaft nicht für Anlagen der Kantonsschule benötigt werde. Als Eigentümer sind die Beschwerdeführer befugt, bei einer erheblichen Änderung der Verhältnisse eine Überprüfung der Planfestsetzung zu verlangen (Art. 21 Abs. 2 des Bundesgesetzes über die Raumplanung vom 22. Juni 1979 [RPG]). Auf ihre staatsrechtliche Beschwerde gegen die Ablehnung ihres bei der Teilrevision des Zonenplanes im Jahre 1986 angemeldeten Umzonungsbegehrens ist demgemäss einzutreten.
2.
Die Zone für öffentliche Bauten und Anlagen führt zu einer öffentlichrechtlichen Eigentumsbeschränkung, die mit der Eigentumsgarantie vereinbar ist, wenn sie sich auf eine klare gesetzliche Grundlage stützt, im überwiegenden öffentlichen Interesse liegt,
BGE 114 Ia 335 S. 338
verhältnismässig ist und voll entschädigt wird, sofern sie einer Enteignung gleichkommt (
BGE 113 Ia 132
E. 7, 364 E. 2,
BGE 111 Ia 26
f. E. 3, 96 E. 2 je mit Hinweisen). Die gesetzliche Grundlage ist nicht bestritten. Desgleichen anerkennen die Beschwerdeführer, dass an sich ein öffentliches Interesse an der Festsetzung einer Zone für öffentliche Bauten und Anlagen besteht. Sie verneinen jedoch ein ausreichend konkretisiertes öffentliches Interesse für die Inanspruchnahme ihrer Parzelle Nr. 828. Nach dem Wegfall des Interesses des Kantons für die Inanspruchnahme ihrer Liegenschaft für Anlagen der Kantonsschule sei das geltend gemachte Interesse der Gemeinde für Sportanlagen zu vage; es vermöge daher ihr privates Interesse an einer baulichen Nutzung ihrer Liegenschaft nicht zu überwiegen.
a) Ob eine Eigentumsbeschränkung im öffentlichen Interesse liegt und ob dieses das entgegenstehende private Interesse überwiegt, prüft das Bundesgericht grundsätzlich frei. Es auferlegt sich jedoch Zurückhaltung, soweit die Beurteilung von einer Würdigung der örtlichen Verhältnisse abhängt, welche die kantonalen Behörden besser kennen und überblicken als das Bundesgericht (
BGE 113 Ia 33
E. 2,
BGE 112 Ia 316
f. E. 3b;
BGE 110 Ia 172
E. 7b aa, je mit Hinweisen).
b) Die Beschwerdeführer stellen nicht in Abrede, dass sich im Gebiet "Untere Weitenzelg" in unmittelbarer Nähe ihrer Liegenschaft sowohl Schulbauten als auch Sportanlagen befinden. Bei der von der Gemeinde im Jahre 1975 eingeleiteten Totalrevision des Zonenplanes stand noch nicht fest, ob die Parzelle der Beschwerdeführer vom Kanton für Bauten und Anlagen der Kantonsschule beansprucht werde. Seit 1984 besteht Klarheit darüber, dass dies nicht zutrifft. Es war jedoch stets auch von einer allfälligen Inanspruchnahme für Sportanlagen der Gemeinde die Rede. Wie die Beschwerdeführer selbst darlegen, werde doch schon seit dreizehn Jahren hiervon gesprochen. Der Wegfall des Interesses des Kantons an einem Liegenschaftserwerb steht dem geltend gemachten Interesse der Gemeinde nicht entgegen. Dass sich Interessen des übergeordneten Gemeinwesens mit Interessen der Gemeinde überschneiden können, ist keineswegs aussergewöhnlich. Der Wegfall des einen Interesses ändert an der Zulässigkeit der Eigentumsbeschränkung nichts, sofern das zweite Interesse genügend ausgewiesen ist.
c) Dass ein öffentliches Werk, für welches die Zone für öffentliche Bauten und Anlagen festgesetzt wird, erst nach Jahren realisiert
BGE 114 Ia 335 S. 339
wird, schliesst das öffentliche Interesse an der Landsicherung nicht aus. Es entspricht vielmehr der Aufgabe der Raumplanung, auf weite Sicht die zweckmässige Nutzung des Bodens festzulegen, um zu einer den Bedürfnissen der Bevölkerung entsprechenden Gestaltung der Siedlungen zu gelangen (
Art. 22quater BV
;
Art. 1 und 3 RPG
). Insbesondere sollen für die öffentlichen oder im öffentlichen Interesse liegenden Bauten und Anlagen sachgerechte Standorte bestimmt werden. Dabei ist darauf zu achten, dass Einrichtungen wie Schulen und Freizeitanlagen für die Bevölkerung gut erreichbar sind (
Art. 3 Abs. 4 RPG
).
Die Beschwerdeführer ziehen aus den von ihnen angeführten Bundesgerichtsentscheiden 88 I 295 f., 94 I 136 ff. und 102 Ia 369 ff. unzutreffende Folgerungen. Die bundesgerichtliche Rechtsprechung hat seit jeher anerkannt, dass das Gemeinwesen die für öffentliche Anlagen benötigten Flächen auf weite Sicht mit entsprechenden Zonenfestsetzungen sichern darf. Im Entscheid 88 I 295 f. hat es festgestellt, dass eine Gemeinde die Flächen, welche sie für Spielplätze, Promenaden, Parkplätze und für grössere Veranstaltungen benötigt, nach dem voraussichtlichen Bevölkerungswachstum der nächsten 30 Jahre berechnen darf (S. 296). Wenn das Raumplanungsgesetz in Art. 15 die Festsetzung der Bauzonen u.a. nach dem voraussichtlichen Bedarf der kommenden fünfzehn Jahre verlangt, so heisst dies nicht, dass die zu planenden öffentlichen Bauten und Anlagen nicht nach den Bedürfnissen einer längeren Periode bemessen werden dürfen.
Art. 18 RPG
erlaubt den Kantonen ausdrücklich, weitere Nutzungszonen vorzusehen und Vorschriften aufzustellen über Gebiete, in denen eine bestimmte Nutzung erst später zugelassen wird. Reservezonen oder Zonen zweiter Etappe stellen solche Zonen dar. Man beachte, dass das Bundesrecht für die künftige Erweiterung eines bestehenden öffentlichen Werkes sogar die Enteignung von Land erlaubt, das innert 25 Jahren zu diesem Zwecke verwendet werden muss (
Art. 102 Abs. 1 lit. b EntG
). Dass im vorliegenden Falle gemäss der Darstellung der Beschwerdeführer seit 1972 vom Landbedarf für die Kantonsschule und seit dreizehn Jahren vom Bedarf für Sportstätten geredet wird, obschon bis heute die entsprechenden Anlagen noch nicht realisiert wurden, steht daher der Festsetzung der Zone für öffentliche Bauten und Anlagen (Reservezone) nicht entgegen.
d) Voraussetzung zur Festsetzung einer Zone für öffentliche Bauten und Anlagen ist freilich, dass das geltend gemachte zukünftige
BGE 114 Ia 335 S. 340
Bedürfnis genügend konkretisiert ist. Das Bedürfnis ist vom Gemeinwesen so genau wie möglich anzugeben, und die Errichtung der öffentlichen Baute bzw. Anlage muss mit einiger Sicherheit zu erwarten sein (
BGE 94 I 136
E. 7b;
102 Ia 369
f. E. 3; nicht publ. Urteil des Bundesgerichts vom 16. Dezember 1987, P., wo gesagt wird, das Bedürfnis sei "mit der grösstmöglichen Genauigkeit" anzugeben). Als unzulässig müsste die Schaffung von Zonen für öffentliche Bauten und Anlagen bezeichnet werden, wenn diese Zonenfestsetzung einzig ein Vorwand dafür wäre, dass sich das Gemeinwesen ausgedehnte Landflächen sichern wollte, um über eine möglichst grosse Handlungsfreiheit für die raumplanerische Gestaltung des Gemeindegebietes zu verfügen (
BGE 88 I 295
). Steht jedoch aufgrund sorgfältiger Analysen und Prognosen, welche gemäss den heute anerkannten Methoden der Raumplanung durchgeführt werden (siehe hiezu MARTIN LENDI/HANS ELSASSER, Raumplanung in der Schweiz, eine Einführung, 2. Aufl. 1986, insbesondere S. 243 ff.), fest, dass der geltend gemachte Landbedarf für bestimmte öffentliche Bedürfnisse ausgewiesen ist, so ist die Festsetzung der Zone für öffentliche Bauten und Anlagen nicht zu beanstanden.
e) Im vorliegenden Fall ergibt sich entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer aus den Akten mit genügender Deutlichkeit, dass die von der Gemeinde Romanshorn durchgeführte Sportstättenplanung den gesetzlichen Anforderungen, welche an die Raumplanung zu stellen sind, entspricht. Zu verweisen ist namentlich auf den Bericht des Sportamtes des Kantons Thurgau vom 25. Juni 1985. Die vom Sportamt vorgenommene Überprüfung der von der Gemeinde bereits im Jahre 1975 durchgeführten Sportstättenplanung gelangte zur Bestätigung der richtigen Bemessung des Gesamtflächenbedarfs sowie auch zur Feststellung, dass diese Fläche mit den zur Verfügung stehenden Grundstücken nicht vollumfänglich erreicht wird. Die Gemeinde hat in der Folge ihre Sportstättenplanung für die Ortsplanungsrevision 1987 überarbeitet und dabei sowohl die vorhandenen als auch die noch fehlenden Anlagen möglichst genau genannt. Dass diese Anlagen vorzugsweise in Zentren zusammengefasst werden sollen, liegt auf der Hand. Das Gebiet "Untere Weitenzelg" eignet sich diesbezüglich besonders gut, da es zentral gelegen ist und somit dem raumplanerischen Grundsatz entspricht, dass entsprechende Einrichtungen für die Bevölkerung gut erreichbar sein sollen (
Art. 3 Abs. 4 lit. b RPG
). | de |
951c4a51-3842-42ed-aecf-640806494b50 | Sachverhalt
ab Seite 133
BGE 104 Ia 131 S. 133
§ 147 des aargauischen Baugesetzes vom 2. Februar 1971 (BauG) lautet:
"1 Die Gemeindebauvorschriften treten mit der Annahme durch die zuständigen Gemeindeorgane in Kraft.
2 Die Gemeindebauvorschriften unterliegen der Genehmigung durch den Grossen Rat, der sie nach Rechtmässigkeit und Zweckmässigkeit überprüft. In einfachen Fällen kann der Grosse Rat die Genehmigung einer von ihm bestellten Kommission übertragen.
3 Die Genehmigungsbehörde kann nach Anhören des Gemeinderates an den Gemeindebauvorschriften Änderungen redaktioneller oder formeller Art selbst vornehmen. Sie kann im übrigen einzelne Teile der Vorschriften zur Abänderung mit angemessener Fristansetzung an die Gemeinden zurückgeben und die Abänderung selbst vornehmen, wenn diese durch die Gemeinden nicht fristgemäss und zweckmässig erfolgt. Erhalten Gemeindebauvorschriften in ihrer Gesamtheit die kantonale Genehmigung nicht, so gelten sie als aufgehoben."
Das in § 147 BauG vorgesehene Verfahren gilt auch für den Erlass von kommunalen Zonenplänen, Überbauungsplänen und Gestaltungsplänen (§ 127 BauG).
Die Einwohnergemeinde Tägerig stimmte im Jahre 1973 in einer Gemeindeversammlung und in einer anschliessenden Referendumsabstimmung einer Bau- und Zonenordnung zu. Der Zonenplan unterteilt das Baugebiet in "definitives Baugebiet" (1. Etappe) und "zusätzliches Baugebiet" (2. Etappe). § 30 der Bau- und Zonenordnung (BZO) lautete in seiner ursprünglichen, von der Gemeinde beschlossenen Fassung wie folgt:
BGE 104 Ia 131 S. 134
"1 Das zusätzliche Baugebiet kann vom Gemeinderat ganz oder teilweise in definitives umgewandelt werden, wenn die zweckmässige Erschliessung mit Strassen, Wasser (inkl. Brandschutz), Kanalisation und elektrischer Energie auf Grund eines Überbauungsplanes technisch und finanziell sichergestellt ist. Die Umwandlung ist dem Baudepartement mitzuteilen.
2 Vor der Umwandlung ist die Gemeinde zu keinerlei finanziellen Leistungen an die Erschliessung dieser Gebiete verpflichtet."
Der Regierungsrat des Kantons Aargau stellte in seiner Botschaft dem Grossen Rat den Antrag, Bauordnung und Zonenplan der Gemeinde Tägerig zu genehmigen. In der zuständigen grossrätlichen Kommission (Strassenbaukommission) wurden jedoch gegenüber dem erwähnten § 30 BZO Bedenken erhoben. Der Grosse Rat genehmigte in seiner Sitzung vom 10. Juni 1975 die Bauordnung und den Zonenplan von Tägerig, nahm jedoch, einem Antrag der Strassenbaukommission folgend, § 30 BZO von der Genehmigung aus und verhielt die Gemeinde, diese Vorschrift gemäss einem vom Grossen Rat gemachten Abänderungsvorschlag neu zu formulieren und sie hernach erneut zur Genehmigung zu unterbreiten. Die Gemeindeversammlung von Tägerig lehnte am 12. Dezember 1975 die vom Grossen Rat verlangte Abänderung von § 30 BZO einstimmig ab. Der Grosse Rat beschloss daraufhin am 15. September 1976 gestützt auf § 147 Abs. 3 BauG, dass § 30 BZO wie folgt neu gefasst werde:
"1 Das zusätzliche Baugebiet ist für eine der Entwicklung der Gemeinde entsprechende spätere Überbauung vorgesehen.
2 Das zusätzliche Baugebiet kann erst zur Überbauung freigegeben werden, wenn die Umwandlung in definitives Baugebiet vorgenommen worden ist.
3 Das zusätzliche Baugebiet kann ganz oder teilweise in definitives Baugebiet umgewandelt werden, wenn
- das definitive Baugebiet, soweit es für Bauzwecke zur Verfügung steht, weitgehend überbaut ist
- die Entwicklung der Gemeinde eine weitere Bereitstellung von Baugebiet erfordert
- die finanzielle Lage der Gemeinde die Umwandlung und Freigabe zur Überbauung erlaubt
- die zweckmässige Erschliessung mit Strassen, Wasser (inkl. Brandschutz), Kanalisation und elektrischer Energie auf Grund eines vom Grossen Rat genehmigten Überbauungsplanes technisch und finanziell sichergestellt ist.
4 Die Umwandlung wird durch den Gemeinderat im Einvernehmen mit dem kantonalen Baudepartement vorgenommen.
BGE 104 Ia 131 S. 135
5 Vor der Umwandlung ist die Gemeinde zu keinerlei finanziellen Leistungen an die Erschliessung dieser Gebiete verpflichtet."
Die Gemeinde Tägerig erhob gegen diesen Grossratsbeschluss am 14. Oktober 1976 staatsrechtliche Beschwerde. Gleichzeitig reichte der Gemeinderat beim Verwaltungsgericht des Kantons Aargau ein Gesuch um prinzipale Normenkontrolle ein mit dem Hauptbegehren, es sei der Grossratsbeschluss vom 15. September 1976 betreffend die Abänderung von § 30 BZO ungültig zu erklären und aufzuheben. Im Hinblick auf dieses kantonale Verfahren wurde die Behandlung der staatsrechtlichen Beschwerde vom 14. Oktober 1976 ausgesetzt. Mit Urteil vom 17. Oktober 1977 wies das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau den im kantonalen Normenkontrollverfahren gestellten Antrag ab. Die Gemeinde Tägerig erhebt im Anschluss hieran am 19. Dezember 1977 eine zweite staatsrechtliche Beschwerde mit dem Hauptantrag, es seien das Urteil des Verwaltungsgerichtes und der Beschluss des Grossen Rates aufzuheben.
Das Bundesgericht tritt auf die erste staatsrechtliche Beschwerde nicht ein und weist die zweite ab, aus folgenden Erwägungen
Erwägungen:
1.
Die Gemeinde Tägerig rügt in beiden Verfahren eine Verletzung der Gemeindeautonomie, wobei sie sich im Zusammenhang mit dieser Rüge auf gewisse ungeschriebene oder aus
Art. 4 BV
abgeleitete Verfassungsgrundsätze beruft (Grundsatz der Verhältnismässigkeit, Willkürverbot, Rechtsgleichheit). Eine derartige staatsrechtliche Beschwerde ist nach
Art. 86 Abs. 2 OG
erst nach Erschöpfung des kantonalen Instanzenzuges zulässig. Die Gemeinde konnte den in ihre Autonomie eingreifenden Beschluss des Grossen Rates mit einem Normenkontrollbegehren beim Verwaltungsgericht des Kantons Aargau anfechten, und zwar mit sämtlichen Rügen, die sie in den beiden staatsrechtlichen Beschwerden erhebt. Wie das Bundesgericht in
BGE 103 Ia 362
ff. festgestellt hat, ist das in den §§ 68 ff. des aargauischen Verwaltungsrechtspflegegesetzes vorgesehene abstrakte Normenkontrollverfahren einem Rechtsmittelverfahren im Sinne von
Art. 86 Abs. 2 OG
gleichzusetzen. Steht dieser kantonale Rechtsbehelf offen, so muss er, vorbehältlich der in
Art. 86 Abs. 2 Satz 2 OG
genannten Ausnahmen,
BGE 104 Ia 131 S. 136
vor Einreichung einer staatsrechtlichen Beschwerde ergriffen werden. Auf die erste, unmittelbar im Anschluss an den beanstandeten Grossratsbeschluss erhobene Beschwerde vom 14. Oktober 1976 ist daher mangels Erschöpfung des Instanzenzuges nicht einzutreten.
2.
Mit der zweiten staatsrechtlichen Beschwerde vom 19. Dezember 1977 verlangt die Gemeinde Tägerig sowohl die Aufhebung des Verwaltungsgerichtsurteils wie auch des Beschlusses des Grossen Rates.
a) Entscheidet eine kantonale Rechtsmittelbehörde mit freier Kognition, so ersetzt ihr Urteil den vorangegangenen unterinstanzlichen Entscheid, und es kann nur der Rechtsmittelentscheid Anfechtungsobjekt der staatsrechtlichen Beschwerde bilden. Hatte hingegen die kantonale Rechtsmittelinstanz eine beschränkte Kognition, so kann mit der im Anschluss an den Rechtsmittelentscheid erhobenen staatsrechtlichen Beschwerde auch noch die Aufhebung des unterinstanzlichen Sachentscheides verlangt werden (
BGE 94 I 462
und seitherige Praxis).
Das Bundesgericht hat bisher in der Regel angenommen, dass das auf einer freien rechtlichen und tatsächlichen Kognition beruhende Urteil eines kantonalen Verwaltungsgerichts die vorangegangenen unterinstanzlichen kantonalen Entscheide ersetze und daher nur dieses letztinstanzliche Urteil Anfechtungsobjekt einer staatsrechtlichen Beschwerde bilden könne (so
BGE 100 Ia 192
;
BGE 99 Ia 148
, 484;
BGE 98 Ia 156
;
BGE 94 I 220
; abweichend:
BGE 100 Ia 267
). Ob und inwieweit diese Rechtsprechung noch einer gewissen Differenzierung bedarf, kann hier offen bleiben; denn sie bezieht sich auf die Anfechtung von Verfügungen. Bei der Anfechtung von Erlassen gilt allgemein die Regel, dass mit der im Anschluss an den kantonalen Rechtsmittelentscheid erhobenen staatsrechtlichen Beschwerde auch noch die Aufhebung der angefochtenen Vorschrift selber verlangt werden kann (
BGE 103 Ia 364
;
BGE 101 Ia 491
E. 9;
BGE 98 Ia 405
Nr. 64). Entsprechendes gilt auch für Beschwerden gegen Wahlen und Abstimmungen (vgl.
BGE 102 Ia 267
f.).
Der Beschluss des Grossen Rates vom 15. September 1976 hat insofern, als er einer baurechtlichen Vorschrift der Gemeinde einen neuen Inhalt gibt, den Charakter eines Erlasses. Mit der im Anschluss an das Verwaltungsgerichtsurteil erhobenen staatsrechtlichen Beschwerde kann daher auch noch die Aufhebung dieses Grossratsbeschlusses beantragt werden.
BGE 104 Ia 131 S. 137
b) Ob ein Beschwerdeführer von der in bestimmten Fällen gegebenen Möglichkeit, mit der im Anschluss an den kantonalen Rechtsmittelentscheid erhobenen staatsrechtlichen Beschwerde auch noch die Aufhebung des unterinstanzlichen Sachentscheides zu verlangen, Gebrauch macht oder nicht, hat auf den Umfang der bundesgerichtlichen Kognition keinen Einfluss, sofern die geltend gemachten Verfassungsrügen von der Rechtsmittelinstanz geprüft worden sind. Auch wenn bloss die Aufhebung des Rechtsmittelentscheides verlangt wird, prüft das Bundesgericht, ob die den Beschwerdeführer belastende Anordnung, soweit sie im kantonalen Rechtsmittelverfahren nicht beseitigt worden ist, gegen die angerufenen Verfassungsnormen verstösst. Hat die kantonale Rechtsmittelinstanz das Vorliegen der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu Unrecht verneint, so verletzt ihr Entscheid seinerseits das betreffende Verfassungsrecht, und es genügt, dass sich die staatsrechtliche Beschwerde gegen diesen Entscheid richtet. Voraussetzung ist freilich, dass die Rechtsmittelinstanz aufgrund der ihr nach kantonalem Verfahrensrecht zustehenden Kognition die Möglichkeit hatte, die vor Bundesgericht erhobenen Verfassungsrügen der Sache nach zu prüfen. Will jemand mit einer erst im Anschluss an den Rechtsmittelentscheid eingereichten staatsrechtlichen Beschwerde Rügen erheben, die der Kognition der Rechtsmittelinstanz entzogen waren, so muss er notgedrungen auch den unterinstanzlichen kantonalen Entscheid mitanfechten, damit das Bundesgericht auf diese Rügen eintreten kann; der Entscheid einer kantonalen Rechtsmittelinstanz, die aufgrund ihrer beschränkten Überprüfungsbefugnis nicht in der Lage ist, die beanstandete Verfassungswidrigkeit zu beseitigen, bildet kein taugliches Anfechtungsobjekt.
Der letztgenannte Fall trifft hier jedoch nicht zu. Die Beschwerdeführerin erhebt vor Bundesgericht keine Rügen, die der Kognition des aargauischen Verwaltungsgerichtes entzogen gewesen wären. Sie hätte sich daher ohne Verringerung ihrer Erfolgschancen darauf beschränken können, das Urteil des Verwaltungsgerichtes anzufechten. Wenn es ihr nach der erwähnten Rechtsprechung trotz fehlender verfahrensrechtlicher Notwendigkeit gestattet ist, gleichzeitig auch noch die Aufhebung des vorangegangenen Grossratsbeschlusses zu verlangen, so deshalb, weil ein solches Vorgehen prozessökonomisch erscheint und gegebenenfalls die Wiederherstellung der verfassungsmässigen Lage erleichtert.
BGE 104 Ia 131 S. 138
3.
a) Es darf davon ausgegangen werden, dass die aargauischen Gemeinden auch unter der Herrschaft des kantonalen Baugesetzes vom 2. Februar 1971 bei der Festlegung von Zonenplänen und beim Erlass der dazugehörigen Vorschriften im Sinne der bundesgerichtlichen Autonomierechtsprechung über eine relativ erhebliche Entscheidungsfreiheit verfügen. Dass sie bei dieser Tätigkeit einer Zweckmässigkeitskontrolle durch die kantonale Genehmigungsbehörde unterworfen sind, schliesst das Vorliegen eines geschützten Autonomiebereiches nicht aus. Vom Umfang der der kantonalen Behörde zustehenden Überprüfungsbefugnis hängt jedoch ab, wann ein Eingriff in die kommunale Gestaltungsfreiheit die Autonomie der Gemeinde verletzt (
BGE 102 Ia 170
;
BGE 101 Ia 261
mit Hinweisen;
BGE 96 I 381
;
BGE 93 I 160
, 432). Die Gemeinde kann sich somit unter Berufung auf ihre Autonomie gegen ungerechtfertigte Eingriffe der kantonalen Genehmigungsbehörde zur Wehr setzen. Soweit nicht die Auslegung und Anwendung spezieller Normen des eidgenössischen oder kantonalen Verfassungsrechtes in Frage steht, prüft das Bundesgericht den Entscheid der kantonalen Behörde nur unter dem Gesichtswinkel der Willkür (
BGE 104 Ia 45
, 127;
BGE 102 Ia 71
;
BGE 100 Ia 395
).
b) In der staatsrechtlichen Beschwerde wird zu Recht nicht behauptet, dass das Vorgehen des Grossen Rates gegen irgendwelche unmittelbar durch die Kantonsverfassung gewährleistete kommunale Selbstverwaltungsbefugnisse verstosse. Massgebend für den Umfang der Gemeindeautonomie im Bau- und Planungswesen sind die Vorschriften der kantonalen Gesetzgebung (vgl. Art. 95 KV), deren Handhabung das Bundesgericht im Rahmen einer Autonomiebeschwerde nur unter dem Gesichtswinkel der Willkür prüft.
c) Im vorliegenden Falle ist zu entscheiden, ob der Grosse Rat als Genehmigungsbehörde von den ihm durch § 147 BauG eingeräumten Befugnissen in haltbarer Weise Gebrauch gemacht hat. Nach § 147 Abs. 2 BauG prüft der Grosse Rat die kommunalen Bauvorschriften und Zonenpläne sowohl auf ihre Rechtmässigkeit als auch auf ihre Zweckmässigkeit hin. Stellt er einen Mangel fest, so kann er die Vorschrift zur Änderung an die Gemeinde zurückweisen und, falls die Gemeinde nicht innert der ihr gesetzten Frist eine zweckmässige Lösung beschliesst, selber die Vorschrift abändern (§ 147 Abs. 3 BauG). Die Beschwerdeführerin rügt, dass § 30 der kommunalen Bau- und
BGE 104 Ia 131 S. 139
Zonenordnung in der von der Gemeinde beschlossenen Fassung sowohl recht- als auch zweckmässig gewesen sei und der Grosse Rat der Vorschrift daher zu Unrecht die Genehmigung verweigert habe. Die vom Grossen Rat beschlossene Fassung sei nicht zweckmässiger als jene der Gemeinde, sondern im Gegenteil weniger zweckmässig, ja sogar völlig unzweckmässig.
d) Es ist richtig, dass die in § 147 BauG vorgesehene Zweckmässigkeitskontrolle nicht den Sinn hat, dass der Grosse Rat die aus dem kommunalen Rechtsetzungsverfahren hervorgegangenen Vorschriften nach Belieben durch eigene Normen ersetzen darf. Die Genehmigungsbehörde soll vielmehr nur dann intervenieren, wenn sie die von der Gemeinde getroffene Lösung für unzweckmässig hält, und die Anordnung einer Ersatzlösung setzt voraus, dass diese zweckmässiger ist als die Regelung der Gemeinde. Es dürfte auch dem Sinn von § 147 BauG entsprechen, dass der Grosse Rat seine Zweckmässigkeitskontrolle mit Zurückhaltung ausübt und den Gemeinden einen gewissen Spielraum belässt (vgl. ZIMMERLIN, Baugesetz des Kantons Aargau, N. 11 zu §§ 146/147, S. 406).
e) Ob sich der Grosse Rat im vorliegenden Falle an diese Schranken gehalten hat, ist weitgehend eine Ermessensfrage, die das Bundesgericht im Rahmen einer Autonomiebeschwerde nur unter dem Gesichtswinkel der Willkür prüft. Der verfassungsrechtliche Schutz der Autonomie beschränkt sich hier praktisch darauf, dass der Eingriff in die kommunale Gestaltungsfreiheit auf vernünftigen, vertretbaren Überlegungen beruhen und die von der Genehmigungsbehörde an Stelle der Gemeinde getroffene Anordnung ihrerseits sachlich haltbar sein muss (vgl.
BGE 102 Ia 171
;
BGE 101 Ia 262
f.). Für eine weitergehende Kontrolle, so namentlich für die Abklärung der Frage, welche von zwei vertretbaren Lösung die zweckmässigere ist, besteht im Rahmen einer Willkürprüfung kein Raum. Wohl enthält § 147 BauG eine weitergehende Schranke als nur das Willkürverbot; die Genehmigungsbehörde darf in die Rechtsetzungsbefugnis der Gemeinde nur eingreifen, wenn dies bei pflichtgemässer Würdigung der Verhältnisse als geboten erscheint; doch liegt eine verfassungsrechtlich relevante Autonomieverletzung erst vor, wenn die kantonale Genehmigungsbehörde die ihr durch § 147 BauG übertragene Rechts- und Zweckmässigkeitskontrolle willkürlich ausgeübt hat. Unter
BGE 104 Ia 131 S. 140
diesem Gesichtswinkel ist der Beschluss des Grossen Rates im folgenden zu prüfen.
f) Ob auch das Verwaltungsgericht, das - im Gegensatz zum Bundesgericht - die Handhabung des kantonalen Gesetzesrechtes an sich frei zu prüfen hat, seine Kognition in der gleichen Weise beschränken durfte, ist hier nicht weiter zu untersuchen. In der staatsrechtlichen Beschwerde wird nicht behauptet, dass das Verwaltungsgericht dadurch, dass es auf das erhobene Normenkontrollbegehren hin den Beschluss des Grossen Rates mit dem gleichen Massstab prüfte, den das Bundesgericht bei Autonomiebeschwerden anwendet, eine Rechtsverweigerung begangen habe.
4.
a) Die Unterteilung der Bauzonen in verschiedene, räumlich abgegrenzte Abschnitte (Etappen) ist ein planerisches Mittel, um den Nachteilen, die sich aus der Ausscheidung eines grossen oder überdimensionierten Baugebietes ergeben können, zu begegnen. Im aargauischen Baurecht wird zwischen Erschliessungsetappierung und Baugebietsetappierung unterschieden. Die Erschliessungsetappierung will sicherstellen, dass die Erschliessungstätigkeit der öffentlichen Hand systematisch und rationell erfolgt. Sie besteht darin, dass die Gemeinde nur in einem Teil der Bauzone die Erschliessungskosten übernimmt; im übrigen Teil kann zwar gebaut werden, doch haben die Grundeigentümer die vollen Erschliessungskosten selber zu bezahlen. Die Baugebietsetappierung dient darüber hinaus dem Zweck, den Ablauf der Überbauung nach allgemeinen raumplanerischen Gesichtspunkten zu lenken (geordnete Besiedlung, Verhinderung der Streubauweise). In den entfernter gelegenen Teilen der Bauzone ist das Bauen vorläufig verboten, doch kann das Gebiet der zweiten Etappe sukzessive in definitives Baugebiet umgewandelt und damit zur Überbauung freigegeben werden (vgl. Aargauische Gerichts- und Verwaltungsentscheide 1976, S. 277 ff.; THOMAS PFISTERER, Möglichkeiten zur Beschränkung der Baugebiete aus der Sicht vorab des aargauischen Rechts, in: Planen und Bauen in der Nordwestschweiz, 1977, S. 6 ff.).
b) Die Gemeinde Tägerig sah in § 30 BZO eine Erschliessungsetappierung vor. Durch die vom Grossen Rat beschlossene Fassung von § 30 BZO wird eine Baugebietsetappierung vorgeschrieben.
Die Rüge der Beschwerdeführerin, eine Baugebietsetappierung sei in der aargauischen Baugesetzgebung nirgends ausdrücklich
BGE 104 Ia 131 S. 141
vorgesehen, weshalb die vom Grossen Rat getroffene Anordnung der gesetzlichen Grundlage entbehre, dringt, jedenfalls unter dem Gesichtswinkel der Willkür, nicht durch. Wenn die Planungsorgane befugt sind, das Baugebiet auf das für eine zweckmässige Besiedlung erforderliche Mass zu beschränken, so haben sie auch die Möglichkeit, die Bauzone in verschiedene, stufenweise zu überbauende Abschnitte zu unterteilen. Es ist daher davon auszugehen, dass das aargauische Baugesetz sowohl die eine wie die andere Form der Etappierung zulässt (vgl. ZIMMERLIN, a.a.O., N. 6 und 7 zu § 128 BauG, S. 337 ff.). Zu prüfen bleibt, ob die vom Grossen Rat beschlossene Regelung auf vertretbaren Überlegungen beruht und sachlich vor dem Willkürverbot standhält.
c) Der Regierungsrat führt in seiner Vernehmlassung aus, dass die Baugebietsfläche von Tägerig nach Auffassung des Grossen Rates zu gross sei. Statt sie auf dem Wege der Auszonung (bzw. Nichteinzonung) zu verkleinern, sei als mildere Massnahme eine Baugebietsetappierung angeordnet worden. Die von der Gemeindeversammlung Tägerig beschlossene Etappierungsvorschrift erscheine dem Grossen Rat wegen ihrer largen Formulierung nicht als ausreichend. Da der Gemeinderat Tägerig schon in drei Fällen provisorisches Baugebiet in definitives umgewandelt habe, ohne dass - wie nach § 30 BZO erforderlich - ein von der kantonalen Behörde genehmigter Überbauungsplan vorgelegen hätte, habe sich der Grosse Rat veranlasst gesehen, die Voraussetzungen für die Etappenumwandlung präziser zu umschreiben.
Inwiefern das ausgeschiedene Baugebiet der Gemeinde Tägerig zu gross sein soll, wird in der Vernehmlassung des Regierungsrates, der selber ursprünglich die Genehmigung der kommunalen Bau- und Zonenordnung beantragt hatte, nicht näher ausgeführt. Der Regierungsrat stellt jedoch die Massnahme des Grossen Rates in einen grösseren Zusammenhang. Er weist darauf hin, dass heute im Kanton Aargau gesamthaft ein Baugebiet für 800'000 bis 900'000 Einwohner ausgeschieden sei; da jedoch nach heutiger Prognose der Kanton im Jahre 2000 nur 520'000 Einwohner haben werde, sei das ausgeschiedene Baugebiet eindeutig überdimensioniert. Die planerischen Gegenmassnahmen seien die Auszonung und die Etappierung. Die herkömmliche Erschliessungsetappierung, bei welcher der Grundeigentümer bei Übernahme der Kosten der Basiserschliessung in der zweiten Etappe praktisch beliebig an jeder Stelle bauen
BGE 104 Ia 131 S. 142
könne, reiche nicht aus, um die Entwicklung in den Griff zu bekommen und eine unerwünschte und unökonomische Streubauweise zu verhindern. Die vom Grossen Rat beschlossene Etappierungsvorschrift, wonach zunächst nur in der ersten Etappe erschlossen und gebaut werden dürfe und eine Umwandlung von Gebiet der zweiten Etappe in definitives Baugebiet nur bei Vorliegen präzis umschriebener Voraussetzungen im Einvernehmen mit den kantonalen Instanzen erfolgen dürfe, sei ein zweckmässiges Mittel, um sicherzustellen, dass die Ortsplanung der regionalen und kantonalen Richtplanung und dem vom Kanton verfolgten Siedlungskonzept entspreche.
Das Verwaltungsgericht hat sich diesen Überlegungen im wesentlichen angeschlossen und ist ebenfalls zum Schluss gelangt, dass die vom Grossen Rat beschlossene Baugebietsetappierung zulässig sei und den aargauischen Gemeinden zwangsweise auferlegt werden könne.
d) Die Beschwerdeführerin bringt nichts vor, was diese Überlegungen entkräften würde. Sie tut insbesondere nicht dar, dass die Verhältnisse in Tägerig derart besonders gelagert seien, dass die von der kantonalen Behörde angestellten grundsätzlichen Erwägungen für diese Gemeinde keine Geltung haben könnten. Dass der Regierungsrat ursprünglich der Meinung war, die von der Gemeinde Tägerig beschlossene Lösung könne ohne Änderungen genehmigt werden, schliesst nicht aus, dass die vom Grossen Rat geforderte Änderung sachlich begründbar und zweckmässig ist. Es erscheint nicht unvernünftig, die kurzfristige Konzentration der Überbauung im definitiven Baugebiet dadurch zusätzlich zu fördern, dass im Baugebiet zweiter Etappe einstweilen nicht gebaut werden darf, solange in der ersten Etappe ausreichend Land zur Verfügung steht. Indem die Gemeinde eine Erschliessungsetappierung vorsah, ging sie selber davon aus, dass zunächst die Überbauung des definitiven Baugebietes wünschbar sei und dass eine Staffelung der Überbauung des übrigen Baugebietes in ihrem eigenen Interesse liege. Der Grosse Rat verstärkte nur die Mittel zur Erreichung dieses Zieles. Die Voraussetzungen, von denen der Grosse Rat die Umwandlung der zweiten Etappe in definitives Baugebiet abhängig macht, sind sachbezogen und geeignet, das angestrebte planerische Ziel zu erreichen. Sie haben für die Gemeinde keine übermässige Einschränkung der baulichen Entwicklung zur Folge. Steht im definitiven Baugebiet nicht
BGE 104 Ia 131 S. 143
mehr genügend Bauland zur Verfügung, so kann auch nach der vom Grossen Rat beschlossenen Regelung zusätzliches Baugebiet zur Überbauung freigegeben werden. Ob in Tägerig derartige Umwandlungen schon sehr bald vorgenommen werden müssen, ist ohne Belang. Sollten sich die kantonalen Behörden einem Umwandlungsbegehren in willkürlicher Weise widersetzen, können die Gemeinden oder die betroffenen Grundeigentümer hiegegen die zur Verfügung stehenden Rechtsmittel ergreifen.
e) Von einer rechtsungleichen Behandlung könnte nur die Rede sein, wenn der Grosse Rat bei andern Gemeinden, die sich in einer gleichen oder ähnlichen Lage wie Tägerig befinden, eine ganz andere Haltung eingenommen hätte. Dies wurde jedoch nicht dargetan. Der Vergleich mit den Gemeinden, die noch keine Ortsplanung haben, ist nicht stichhaltig. | de |
8d71c6b6-745a-478e-b1b1-3d1a23415c49 | Sachverhalt
ab Seite 448
BGE 127 V 448 S. 448
A.-
S., geboren 1961, arbeitete ab Januar 1989 bei der Y AG und war bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) obligatorisch für die Folgen von Berufs- und Nichtberufsunfällen versichert. Am 20. November 1991 stürzte er von einem Gerüst und
BGE 127 V 448 S. 449
zog sich dabei eine Densfraktur sowie Frakturen an den Handgelenken zu. Die SUVA kam für die Unfallbehandlung auf und richtete Taggeld aus. Am 13. August 1992 meldete sich S. bei der Invalidenversicherung an, welche ihm bei einem Invaliditätsgrad von 70% ab November 1992 eine bis August 1993 befristete ganze Rente zusprach und mit Verfügung vom 10. September 1993 für eine Umschulung zum Schreinerei-Mitarbeiter aufkam. Nach dem vorzeitigen Abbruch der beruflichen Massnahme richtete sie ab 1. August 1994 wieder eine ganze und ab 1. Januar 1995 eine halbe Rente aus. Am 5. Juli 1995 erliess die SUVA eine Verfügung, mit welcher sie dem Versicherten eine Rente auf Grund einer Erwerbsunfähigkeit von 40% ab 1. Juli 1995 sowie eine Integritätsentschädigung bei einer Integritätseinbusse von 25% zusprach. Auf Einsprache hin ordnete sie eine psychiatrische Begutachtung an, hob die Verfügung vom 5. Juli 1995 in Bezug auf die Invalidenrente auf und sprach dem Versicherten ab 1. Juli 1995 bei einer Erwerbsunfähigkeit von 80% und einem Jahresverdienst von Fr. 75'975.- eine als Komplementärrente berechnete Rente von Fr. 3096.- (Fr. 3174.- ab 1. Januar 1997) im Monat zu; an der Integritätsentschädigung von 25% hielt sie fest (Verfügung vom 29. September 1997). S. liess auch gegen diese Verfügung Einsprache erheben und beantragen, die Komplementärrente sei unter Erhöhung des versicherten Verdienstes entsprechend der Teuerungszulage festzusetzen und es sei ihm eine Integritätsentschädigung von mindestens 65% zuzusprechen. Mit Entscheid vom 19. Februar 1998 wies die SUVA die Einsprache ab.
B.-
Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen hiess die hiegegen erhobene Beschwerde insoweit teilweise gut, als es den Einspracheentscheid bezüglich der Rente aufhob und die Sache an die SUVA zurückwies, damit sie die Komplementärrente unter Berücksichtigung der auf den 1. Januar 1997 in Kraft getretenen Verordnungsbestimmung über den Teuerungsausgleich neu festsetze; im Übrigen wies es die Beschwerde ab (Entscheid vom 18. August 1999).
C.-
Die SUVA führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben, soweit damit die Sache zu neuer Verfügung über die Komplementärrente an sie zurückgewiesen wurde. In der Begründung wird daran festgehalten, dass die Verordnungsbestimmung über den Teuerungsausgleich übergangsrechtlich auf den vorliegenden Fall nicht Anwendung findet.
BGE 127 V 448 S. 450
Der Beschwerdegegner beantragt Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) schliesst auf Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Erwägungen
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Hat der nach UVG rentenberechtigte Versicherte Anspruch auf eine Rente der Invalidenversicherung (IV) oder der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV), so wird ihm eine Komplementärrente gewährt; diese entspricht der Differenz zwischen 90% des versicherten Verdienstes und der Rente der IV oder der AHV, höchstens aber dem für Voll- oder Teilinvalidität vorgesehenen Betrag. Die Komplementärrente wird beim erstmaligen Zusammentreffen der erwähnten Renten festgesetzt und lediglich späteren Änderungen der für Familienangehörige bestimmten Teile der Rente der IV oder der AHV angepasst (
Art. 20 Abs. 2 UVG
).
Gestützt auf
Art. 20 Abs. 3 UVG
hat der Bundesrat nähere Vorschriften zur Berechnung der Komplementärrenten erlassen. Nach dem mit der Verordnungsänderung vom 9. Dezember 1996 (AS 1996 3456) eingefügten Abs. 2 von
Art. 31 UVV
(in Kraft seit 1. Januar 1997) wird bei der Festlegung der Berechnungsbasis nach
Art. 20 Abs. 2 UVG
der versicherte Verdienst um den beim erstmaligen Zusammentreffen gültigen Prozentsatz der Teuerungszulage nach
Art. 34 UVG
erhöht. Nach den Schlussbestimmungen der Verordnungsänderung vom 9. Dezember 1996 (Abs. 1) gilt für Komplementärrenten im Sinne der Art. 20 Abs. 2 und 31 Abs. 4 UVG, die vor Inkrafttreten dieser Änderung festgesetzt wurden, das bisherige Recht.
2.
Streitig und zu prüfen ist, ob
Art. 31 Abs. 2 UVV
auf den vorliegenden Fall anwendbar ist. Dabei ist davon auszugehen, dass der Anspruch auf Komplementärrente vor Inkrafttreten der Verordnungsänderung entstanden, über den Anspruch jedoch erst nach diesem Zeitpunkt verfügt worden ist. Es stellt sich mithin die Frage, wie die Übergangsbestimmung von Abs. 1 der Schlussbestimmungen zur Verordnungsänderung vom 9. Dezember 1996 zu verstehen ist. Während die Vorinstanz zum Schluss gelangt, die neue Bestimmung sei auf sämtliche nach Inkrafttreten der Verordnungsänderung verfügungsweise festgesetzten Komplementärrenten anwendbar, halten SUVA und BSV dafür, dass übergangsrechtlich der Zeitpunkt des erstmaligen Zusammentreffens der Renten massgebend ist.
a) Nach dem bis Ende 1996 gültig gewesenen Recht wurde bei der Berechnung der Komplementärrente die gemäss
Art. 15 Abs. 2
BGE 127 V 448 S. 451
UVG
auf der Grundlage des versicherten Verdienstes im Jahr vor dem Unfall festgesetzte Rente der Unfallversicherung der im Zeitpunkt des Rentenbeginns ausgerichteten Rente der AHV oder IV gegenübergestellt, was im Hinblick auf die grundsätzliche Unabänderlichkeit des versicherten Verdienstes teilweise zu unbefriedigenden Ergebnissen führte (vgl.
BGE 122 V 342
Erw. 5,
BGE 119 V 492
Erw. 4b und
BGE 118 V 298
Erw. 2f). Mit dem auf den 1. Januar 1997 in Kraft getretenen
Art. 31 Abs. 2 UVV
wurde diesem Umstand insoweit Rechnung getragen, als der versicherte Verdienst um den beim erstmaligen Zusammentreffen gültigen Prozentsatz der Teuerungszulage nach
Art. 34 UVG
erhöht wird. Gemäss dieser Bestimmung erhalten die Bezüger von Invaliden- und Hinterlassenenrenten zum Ausgleich der Teuerung Zulagen, welche vom Bundesrat auf Grund des Landesindexes der Konsumentenpreise festgesetzt werden, wobei die Anpassung auf den gleichen Zeitpunkt erfolgt wie bei den Renten der AHV. Mit
Art. 31 Abs. 2 UVV
wird folglich sichergestellt, dass beim erstmaligen Zusammentreffen der Leistungen die für den Anspruch auf die Komplementärrente massgebenden Berechnungselemente (Rente der Unfallversicherung und Rente der AHV oder IV) auf der gleichen zeitlichen Grundlage beruhen (zeitliche Kongruenz; vgl. Erläuterungen des BSV zur Änderung der Bestimmungen über die Komplementärrenten, in: RKUV 1997 S. 48).
b) Die Übergangsbestimmung von Abs. 1 der Schlussbestimmungen der Verordnungsänderung vom 9. Dezember 1996, wonach für Komplementärrenten im Sinne von
Art. 20 Abs. 2 und
Art. 31 Abs. 4 UVG
, die vor Inkrafttreten der Änderung festgesetzt wurden, das bisherige Recht gilt, bedeutet, dass keine Teuerungsanpassung nach
Art. 31 Abs. 2 UVV
bei Komplementärrenten erfolgt, die vor dem 1. Januar 1997 festgesetzt worden sind. Der Wortlaut der Bestimmung ist insofern nicht eindeutig, als unter dem Ausdruck "festgesetzt wurden" allein die ursprüngliche Rentenfestsetzung (erstmaliges Zusammentreffen der Renten) oder grundsätzlich jede Festsetzung der Komplementärrente verstanden werden kann (mit der Folge, dass bei Neufestsetzung der Rente nach Inkrafttreten der Änderung das neue Recht anwendbar ist). Fraglich ist zudem, ob übergangsrechtlich auf den Anspruchsbeginn oder auf den Zeitpunkt des Verfügungserlasses abzustellen ist. Im Kreisschreiben Nr. 17 an die UVG-Versicherer und die Ersatzkasse UVG vom 19. März 1997 hat das BSV hiezu ausgeführt, gemäss
Art. 20 Abs. 2 Satz 2 UVG
werde die Komplementärrente beim erstmaligen Zusammentreffen
BGE 127 V 448 S. 452
einer UVG-Rente mit einer Rente der AHV oder der IV festgesetzt. Der Zeitpunkt der Festsetzung einer Komplementärrente sei somit derjenige der Entstehung des Anspruchs auf die Rente. Daraus ergebe sich, dass das neue Recht auf Renten der obligatorischen Unfallversicherung anwendbar sei, die nach dem 1. Januar 1997 erstmals mit einer Rente der AHV oder der IV zusammentreffen. Diese Auffassung findet in Gesetz und Verordnung insofern eine Stütze, als
Art. 20 Abs. 2 UVG
zwischen Festsetzung und Anpassung der Renten unterscheidet und in
Art. 33 UVV
nicht von Festsetzung bzw. Neufestsetzung, sondern von Anpassung (adaptation, adeguamento; so der Normtitel) gesprochen wird. Wenn daher in der Übergangsbestimmung von Festsetzung der Rente (qui ont été fixées ..., stabilite prima ...) die Rede ist, so spricht dies dafür, dass damit allein die erstmalige Rentenfestsetzung und nicht auch die spätere Neufestsetzung (Anpassung) von Komplementärrenten gemeint ist. Dazu kommt, dass die Teuerungsanpassung gemäss
Art. 31 Abs. 2 UVV
beim erstmaligen Zusammentreffen der Leistungen erfolgt. Damit ist gleichzeitig gesagt, dass für die Teuerungsanpassung der Zeitpunkt der Entstehung des Anspruchs auf Komplementärrente und nicht derjenige des Verfügungserlasses massgebend ist, was auch übergangsrechtlich zu beachten ist.
c) Diese Auslegung entspricht dem klaren Willen des Verordnungsgebers, wie er aus den Materialien hervorgeht. Danach wurde beim Erlass der Übergangsbestimmung davon ausgegangen, dass nur neue Renten der Unfallversicherung nach den revidierten Vorschriften über die Komplementärrenten zu berechnen sind, was im Rahmen einer Übergangsbestimmung festgehalten werden sollte (Protokoll zur Besprechung vom 3. Juli 1995 betreffend Revision der UVV, S. 13). Bei der Diskussion der Übergangsbestimmung wurde seitens der Vertreter der SUVA darauf hingewiesen, dass höhere Leistungen nicht rückwirkend finanziert werden könnten. Es wurde daher eine Formulierung vorgeschlagen, wonach die neue Regelung auf Komplementärrenten, die vor Inkrafttreten der Änderung festgesetzt wurden, nicht Anwendung findet (Protokoll zur Besprechung vom 18. Oktober 1995 betreffend Revision der UVV, Fragen der Berechnung der Komplementärrenten, S. 9). Aus der Feststellung, wonach nur neue Renten nach den geänderten Bestimmungen festgesetzt werden sollten, ist zu schliessen, dass eine Teuerungsanpassung gemäss
Art. 31 Abs. 2 UVV
bei laufenden Renten auch im Falle einer Neufestsetzung (
Art. 33 UVV
) ausgeschlossen werden sollte. Dementsprechend hat das BSV in den
BGE 127 V 448 S. 453
Erläuterungen zur Verordnungsänderung ausgeführt, die Anrechnung der Teuerungszulage erfolge nur beim erstmaligen Zusammentreffen und nicht bei jeder späteren Neuberechnung infolge Mutation (RKUV 1997 S. 49), womit auch gesagt wurde, dass übergangsrechtlich auf das erstmalige Zusammentreffen der Leistungen und nicht auf den Zeitpunkt des Verfügungserlasses abzustellen ist. Diese Lösung steht nicht im Widerspruch zu dem mit der Verordnungsänderung angestrebten Zweck. Zwar soll nach dem Gesagten mit
Art. 31 Abs. 2 UVV
sichergestellt werden, dass die für den Anspruch auf Komplementärrenten massgebenden Berechnungselemente auf der gleichen zeitlichen Grundlage beruhen. Der Grundsatz der zeitlichen Kongruenz wird indessen nicht voll verwirklicht, indem die Teuerung nur beim erstmaligen Zusammentreffen der Renten ausgeglichen wird, nicht aber bei der Neufestsetzung von Renten gemäss
Art. 33 Abs. 2 und
Art. 34 UVV
. Dies spricht für eine Auslegung der Übergangsbestimmung in dem Sinne, dass die neue Vorschrift von
Art. 31 Abs. 2 UVV
nur zur Anwendung gelangt, wenn die Renten erstmals nach Inkrafttreten der Verordnungsänderung zusammengetroffen sind, nicht aber bei einer Anpassung der Renten nach diesem Zeitpunkt oder wenn über eine vor Inkrafttreten des neuen Rechts entstandene Rente erst unter der Herrschaft des neuen Rechts verfügt wird.
3.
Zu prüfen bleibt, ob sich die vom Verordnungsgeber getroffene Regelung mit Gesetz und Verfassung, insbesondere dem Rechtsgleichheitsgebot von
Art. 8 BV
, vereinbaren lässt.
a) Die Übergangsbestimmung verstösst nicht gegen das Gesetz, sondern entspricht nach dem Gesagten vielmehr
Art. 20 Abs. 2 UVG
, wonach die Rente beim erstmaligen Zusammentreffen der zu koordinierenden Renten festzusetzen ist. Sie hält sich zudem im Rahmen dessen, was der Gesetzgeber in
Art. 118 Abs. 2 lit. c UVG
beim Inkrafttreten des UVG übergangsrechtlich statuiert hat. Danach waren vom Inkrafttreten dieses Gesetzes an die neuen Bestimmungen über die Invalidenrente anwendbar, wenn der Anspruch erst nach diesem Zeitpunkt entstanden war, was bedeutet, dass bei den vor Inkrafttreten entstandenen Rentenansprüchen das frühere Recht anwendbar blieb (vgl.
BGE 124 V 56
Erw. 3; vgl. auch Bemerkungen von MAURER in SZS 1985 S. 210). Auch bei Leistungsverbesserungen im Sozialversicherungsrecht besteht kein Grundsatz, wonach das neue Recht ab Inkrafttreten stets auch auf Dauerverhältnisse anwendbar ist, bei denen sich der anspruchsbegründende Sachverhalt vor dem Inkrafttreten verwirklicht hat (
BGE 99 V 203
Erw. 2;
BGE 127 V 448 S. 454
vgl. etwa
BGE 126 V 273
ff.). Dem Gesetz- und Verordnungsgeber steht bei der übergangsrechtlichen Regelung eine weite Gestaltungsfreiheit zu. Er kann dabei auch die finanziellen Folgen einer Rechtsänderung mit berücksichtigen (vgl. MAURER, Schweizerisches Sozialversicherungsrecht, Bern 1979, Bd. I, S. 181). SUVA und BSV weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Finanzierung der Invaliden- und Hinterlassenenrenten gemäss
Art. 90 Abs. 2 UVG
nach dem Rentenwertumlageverfahren erfolgt und das Deckungskapital für sämtliche Ausgaben aus bereits eingetretenen Unfällen genügen muss. Nach Abs. 3 der Bestimmung werden die Teuerungszulagen aus den Zinsüberschüssen und, soweit diese nicht ausreichen, nach dem Ausgabenumlageverfahren finanziert. Danach sind künftige Leistungen vorauszufinanzieren und erforderlichenfalls durch entsprechende Prämienzuschläge zu decken (vgl. MAURER, Unfallversicherungsrecht, Bern 1985, S. 571). Wie den Materialien zur Verordnungsänderung zu entnehmen ist, war dieser Umstand ausschlaggebend dafür, dass die Anwendbarkeit des neuen Rechts auf Komplementärrenten beschränkt wurde, die erstmals nach dessen Inkrafttreten am 1. Januar 1997 mit einer Rente der AHV oder IV zusammentreffen (Protokoll zur Besprechung vom 18. Oktober 1995 betreffend Revision der UVV, Fragen der Berechnung der Komplementärrenten, S. 9; vgl. auch RKUV 1997 S. 53).
b) Nach der Rechtsprechung verletzt ein Erlass den Grundsatz der rechtsgleichen Behandlung (
Art. 8 Abs. 1 BV
), wenn er rechtliche Unterscheidungen trifft, für die ein vernünftiger Grund in den zu regelnden Verhältnissen nicht ersichtlich ist, oder wenn er Unterscheidungen unterlässt, die sich auf Grund der Verhältnisse aufdrängen. Die Rechtsgleichheit ist insbesondere verletzt, wenn Gleiches nicht nach Massgabe seiner Gleichheit gleich oder Ungleiches nicht nach Massgabe seiner Ungleichheit ungleich behandelt wird. Vorausgesetzt ist, dass sich der unbegründete Unterschied oder die unbegründete Gleichstellung auf eine wesentliche Tatsache bezieht. Die Frage, ob für eine rechtliche Unterscheidung ein vernünftiger Grund in den zu regelnden Verhältnissen ersichtlich ist, kann zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich beantwortet werden. Dem Gesetzgeber bleibt im Rahmen dieser Grundsätze und des Willkürverbots ein weiter Spielraum der Gestaltung (
BGE 123 I 7
Erw. 6a, 23 Erw. 3b, 141 Erw. 10b und 243 Erw. 2b,
BGE 123 II 11
Erw. 3a und 26 Erw. 6a). Bei Rechtsänderungen ist zu beachten, dass Änderungen von Erlassen zwangsläufig bewirken, dass für die Rechtsunterworfenen unterschiedliche Regelungen gelten je nachdem, ob
BGE 127 V 448 S. 455
der rechtlich erfasste Tatbestand für sie vor oder nach der Revision wirksam wird. In den damit verbundenen Ungleichbehandlungen liegt an sich noch kein Verfassungsverstoss. Auch im Lichte des Rechtsgleichheitsgebots ist es nicht Sache des Gerichts, sein Ermessen an die Stelle desjenigen des Gesetz- oder Verordnungsgebers zu stellen (
BGE 122 II 117
Erw. 2b mit Hinweisen).
Die streitige Übergangsbestimmung hat insofern eine Ungleichbehandlung zur Folge, als Bezüger von Komplementärrenten, für die der Anspruch vor dem 1. Januar 1997 entstanden ist, keinen Teuerungszuschlag nach
Art. 31 Abs. 2 UVV
erhalten, selbst wenn hierüber erst nach dem 1. Januar 1997 verfügt oder die Rente nach diesem Zeitpunkt gemäss
Art. 33 Abs. 2 UVV
(oder
Art. 34 UVV
) angepasst wird. Hierin kann indessen keine Verletzung des Rechtsgleichheitsgebotes von
Art. 8 Abs. 1 BV
erblickt werden. Nach dem Gesagten bestehen sachliche Gründe für die getroffene Lösung. Eine Anwendung der Bestimmung auf sämtliche laufenden Renten sowie auf Renten, die nach Inkrafttreten der Verordnungsänderung angepasst werden, wäre unter sozialpolitischen Gründen wohl wünschbar gewesen. Eine solche Regelung hat der Verordnungsgeber jedoch nicht vorgesehen und er kann hiezu auch vom Richter nicht verhalten werden. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass auch die Bezüger laufender Komplementärrenten nicht von jedem Teuerungsausgleich ausgeschlossen sind. Der Ausgleich erfolgt allerdings auf der Komplementärrente und nicht auf der Grundrente oder dem versicherten Verdienst (
BGE 119 V 484
ff.). | de |
637ba513-788b-429f-a633-e3463bf00898 | Sachverhalt
ab Seite 268
BGE 115 IV 267 S. 268
Das Obergericht des Kantons Zürich verurteilte Y. und O. am 10. Oktober 1986 u.a. gestützt auf
Art. 19 Ziff. 2 BetmG
zu mehrjährigen Zuchthausstrafen. Dem Schuldspruch lag ein abgehörtes Telefongespräch zugrunde, das Y. mit O. als Gast im Restaurant X. in Zürich geführt hatte. Der Telefonanschluss dieses Restaurants war überwacht worden, weil der dringende Verdacht bestand, dass es als Heroinumschlagplatz diene und der Wirt sowie zwei Geschäftsführer als Händler beteiligt seien.
Das Kassationsgericht des Kantons Zürich hob dieses Urteil gestützt auf
§ 104d Abs. 3 StPO
/ZH auf, weil diese Bestimmung der Verwertbarkeit von Zufallsfunden bei der Telefonüberwachung entgegenstehe.
In Befolgung des kassationsgerichtlichen Entscheides sprach das Obergericht am 30. Dezember 1988 Y. und O. wegen Fehlens anderer Beweise bezüglich der Betäubungsmitteldelikte frei.
Mit eidgenössischer Nichtigkeitsbeschwerde beantragt die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich die Aufhebung des obergerichtlichen Urteils wegen Verletzung von
Art. 249 BStP
(Grundsatz der freien Beweiswürdigung) und Rückweisung der Sache zur Schuldigsprechung.
Das Bundesgericht weist die Nichtigkeitsbeschwerde ab Erwägungen
aus folgenden Erwägungen:
1.
Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung gemäss
Art. 249 BStP
besagt, dass die Organe der Strafrechtspflege frei
BGE 115 IV 267 S. 269
von Beweisregeln und nur nach ihrer persönlichen Ansicht aufgrund gewissenhafter Prüfung darüber entscheiden, ob sie eine Tatsache für bewiesen halten (
BGE 103 IV 300
E. 1a,
BGE 84 IV 174
E. 2; ROBERT HAUSER, Kurzlehrbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 2. Aufl., S. 146). Die Beweiswürdigung besteht in der Bewertung der aufgenommenen Beweise nach ihrer Zuverlässigkeit und Richtigkeit. Ist für den Strafprozess die materielle Wahrheit wegleitend, so kann für diese Beurteilung nur die freie, persönliche Meinung des Richters massgebend sein. Allein auf diese Weise kann er ein für jeden Einzelfall zutreffendes Urteil fällen, während ihn die früheren Beweistheorien an Regeln banden, und zwar unabhängig davon, ob das Ergebnis seiner eigenen Überzeugung entsprach oder nicht (so HAUSER, a.a.O; vgl. auch GERARD PIQUEREZ, Précis de procédure pénale suisse, S. 184 und 187/8; NIKLAUS SCHMID, Strafprozessrecht, Zürich 1989, N. 286 und 600).
Aus diesem Sinn und Zweck der freien Beweiswürdigung folgt, dass
Art. 249 BStP
dem Richter bloss verbietet, bei der Durchführung von Beweisen und der Würdigung erhobener Beweise gesetzlichen Regeln - Beweiserhebungs-, Beweisverwertungsverboten oder Beweisregelungen (vgl. dazu HAUSER, a.a.O., S. 162/3) - zu folgen, welche die eigene Prüfung und Bewertung der Überzeugungskraft der Beweismittel ausschliessen; eine Verletzung von
Art. 249 BStP
liegt mithin nur vor, wenn bestimmten Beweismitteln im voraus in allgemeiner Weise die Beweiseignung abgesprochen wird oder wenn der Richter im konkreten Fall bei der Würdigung der Beweise im Ergebnis nicht seiner eigenen Überzeugung folgt. Dagegen steht der Grundsatz der freien Beweiswürdigung nicht Beweisbeschränkungen entgegen, die sich daraus ergeben, dass das kantonale Recht oder übergeordnetes Verfassungs- oder Staatsvertragsrecht aus anderen Gründen als der Beweiseignung, z.B. zur Wahrung schutzwürdiger öffentlicher oder privater Interessen, gewisse Beweismittel nicht oder nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässt (so bereits
BGE 97 IV 232
und
BGE 84 IV 174
E. 2).
2.
Nach
§ 104d Abs. 3 StPO
/ZH dürfen Ergebnisse genehmigter Überwachungsmassnahmen, die mit dem abzuklärenden Sachverhalt in keiner Beziehung stehen, aber auf die Begehung einer anderen Straftat hindeuten, nur dann verwertet werden, wenn auch bezüglich dieser Tat die Voraussetzungen von § 104 Ziff. 1 (Verbrechen oder Vergehen, dessen Schwere oder Eigenart den
BGE 115 IV 267 S. 270
Eingriff rechtfertigt) und 2 (dringender Tatverdacht) oder § 104a (Überwachung von Drittpersonen) gegeben sind. Diese Bestimmung bezweckt nach den Erwägungen im Entscheid des Kassationsgerichtes Zürich den Schutz der Privatsphäre und des Telefongeheimnisses, dem der Zürcher Gesetzgeber den Vorrang eingeräumt habe, wenn er die Verwertbarkeit von Zufallsfunden bei der Telefonüberwachung (
§ 104d Abs. 3 StPO
) ausgeschlossen habe.
Diese Bestimmung des kantonalen Rechts stellt mithin nicht ein Beweisverwertungsverbot mangels Beweiseignung des in Frage stehenden Beweismittels auf. Nach dem oben Gesagten ist eine Verletzung von
Art. 249 BStP
daher zu verneinen, wenn die Vorinstanz das abgehörte Telefongespräch zwischen Y. und O. bei der Beweiswürdigung unberücksichtigt liess. Ob die Auslegung des kantonalen Rechts durch das Kassationsgericht Zürich vor der Bundesverfassung standhält oder nicht, kann im Rahmen der Nichtigkeitsbeschwerde nicht geprüft werden (
Art. 269 BStP
). | de |
dc8f6278-36fc-49ed-93c4-fe715ebb3a26 | Sachverhalt
ab Seite 401
BGE 130 III 400 S. 401
A.
Das Betreibungsamt Obwalden erliess in der gegen Y. laufenden Betreibung Nr. x am 4. September 2003 die Pfändungsurkunde. Gleichentags zeigte das Betreibungsamt der Ausgleichskasse Z. an, dass von dem seit 7. Juli 2003 an den Schuldner ausgerichteten IV-Taggeld der sein Existenzminimum von Fr. 2'700.- übersteigende Betrag dem Amt abzuliefern sei. Am 1. Oktober 2003 erhob die Ausgleichskasse Z. Beschwerde gegen das Schreiben des Betreibungsamtes vom 19. September 2003, mit welchem dieses auf der Ablieferung des Betrages gemäss Anzeige bestanden hatte, und verlangte die Feststellung der Nichtigkeit der Pfändung.
B. | de |
4d086fb1-1c1d-4ace-a83f-f73876e66af8 | Sachverhalt
ab Seite 143
BGE 118 II 142 S. 143
Mit Vertrag vom 30. Juni 1982 kaufte Peter S. von Willy L. ein Grundstück samt einem darauf noch im Bau befindlichen Wohnhaus zum Preis von Fr. 430'000.--. L. verpflichtete sich, das Haus auf den 1. Oktober 1982 schlüsselfertig und bezugsbereit fertigzustellen. Der Grundbucheintrag erfolgte sofort nach dem Vertragsabschluss, während Nutzen und Schaden gemäss Vereinbarung der Parteien erst am 1. Oktober 1982 auf den Käufer übergehen sollten. In Ziffer 10 des Vertrages vereinbarten die Parteien ausserdem, alle bestehenden Garantie-Verpflichtungen der Handwerker aus dem Hausneubau gingen vom Verkäufer auf den Käufer über.
Entgegen der vertraglichen Vereinbarung war das Haus am 1. Oktober 1982 nicht fertig erstellt. Da sich L. nicht darum kümmerte, verzichtete S. hinsichtlich der noch ausstehenden Arbeiten auf die nachträgliche Leistung, vergab diese Arbeiten an Dritte und machte deren Kosten gegenüber dem Verkäufer gerichtlich geltend. Im Winter 1985/86 traten zudem an den Holzfassaden des Hauses Schäden auf (Verziehen der Bretter, Abblättern des Anstrichs). Mit Schreiben vom 24. Februar 1986 rügte S. diese Mängel. Da L. untätig blieb, veranlasste S. beim Bezirksgericht Aarau eine vorsorgliche Beweisaufnahme und liess darauf die Fassaden durch einen Dritten instand stellen.
Im Dezember 1987 reichte S. beim Bezirksgericht Aarau Klage ein mit dem Antrag, L. zur Zahlung von Fr. 20'563.90 nebst 5% Zins seit 2. November 1987 zu verpflichten. Der Beklagte beantragte die Abweisung der Klage und verlangte widerklageweise den Betrag von Fr. 2'432.50 für die ihm im Zusammenhang mit der vorsorglichen
BGE 118 II 142 S. 144
Beweisaufnahme entstandenen Kosten. Mit Urteil vom 26. April 1989 schützte das Bezirksgericht die Klage im Umfang von Fr. 20'018.90 nebst 5% Zins seit 2. November 1987 und wies die Widerklage ab.
Eine Appellation des Beklagten wies das Obergericht des Kantons Aargau mit Urteil vom 27. Dezember 1990 zwar ab; es korrigierte jedoch einen Rechnungsfehler des Bezirksgerichts und hiess deshalb die Klage nur noch im Betrag von Fr. 19'981.40 nebst 5% Zins seit 2. November 1987 gut.
Der Beklagte hat gegen das Urteil des Obergerichts Berufung eingelegt, die vom Bundesgericht teilweise gutgeheissen wird. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Der Beklagte beanstandet mit der Berufung, das Obergericht habe die vom Kläger ihm gegenüber geltend gemachten Gewährleistungsansprüche trotz fehlender Passivlegitimation gutgeheissen. Er beruft sich zur Stützung seiner Auffassung auf Ziffer 10 des Kaufvertrages, wonach die Garantie-Verpflichtungen der Handwerker dem Kläger abgetreten worden sind.
a) Wird ein Grundstück verkauft, auf dem ein Gebäude erstellt werden soll oder sich bereits im Bau befindet, so können die Parteien entweder zwei getrennte Verträge (Grundstückkauf und Werkvertrag) abschliessen oder einen einzigen gemischten Vertrag, welcher die kaufrechtliche Leistungspflicht mit der werkvertraglichen Herstellungspflicht verbindet (
BGE 117 II 264
). Im vorliegenden Fall ist ein gemischter Vertrag anzunehmen, da die Entschädigung für den Boden und für die Erstellung des Bauwerks nicht aufgeteilt, sondern in einem Gesamtpreis zusammengefasst worden ist. Auf die Pflicht zur Herstellung bzw. Vollendung der Neubaute sind die werkvertraglichen Regeln über die Mängelhaftung anzuwenden, und zwar auch hinsichtlich der Gebäudeteile, die bei Vertragsabschluss bereits erstellt waren (GAUCH, Der Werkvertrag, 3. Aufl., S. 56 Rz. 193; SCHUMACHER, Die Haftung des Grundstückverkäufers, in: Der Grundstückkauf, S. 246 Rz. 631).
Nach Gesetz haftet der Unternehmer für alle Mängel des abgelieferten Werks (
Art. 368 OR
). Diese Haftung kann im Rahmen der gesetzlichen Schranken vertraglich wegbedungen werden (
BGE 91 II 348
E. 2a). Ob und in welchem Umfang die Mängelhaftung des Unternehmers im konkreten Fall wegbedungen worden ist, muss
BGE 118 II 142 S. 145
durch die Auslegung der entsprechenden Vertragsklausel ermittelt werden. Solche Freizeichnungsklauseln sind im Zweifel eng und somit zu Ungunsten des Unternehmers auszulegen (
BGE 109 II 25
E. 4: Kaufvertrag; GAUCH, a.a.O., S. 488 Rz. 1868).
b) Die Abtretung von Forderungen oder Ansprüchen ist ein Verfügungsgeschäft, kraft dessen der Zessionar anstelle des Zedenten Gläubiger wird. Welche Bedeutung der Zession im Verhältnis zwischen dem Zedenten und dem Zessionar zukommt, ergibt sich aus dem Grundgeschäft, das den sachlichen Anlass zur Abtretung bildet. Die Übertragung der abgetretenen Forderung kann die Erfüllung eines Kaufvertrages oder eine Schenkung darstellen, an Zahlungs Statt, zahlungshalber, sicherungshalber oder treuhänderisch zum Inkasso erfolgen (BUCHER, Schweiz. Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl., S. 552 f.; GUHL/MERZ/KOLLER, Das Schweiz. Obligationenrecht, 8. Aufl., S. 245). Bei der Abtretung zum Zweck der Erfüllung einer eigenen Verpflichtung des Zedenten ist gemäss
Art. 172 OR
anzunehmen, dass die Abtretung nicht an Zahlungs Statt, sondern nur zahlungshalber erfolgt. Dies entspricht der allgemeinen Regel, wonach bei sogenannten liberatorischen Rechtsgeschäften jene Partei die Beweislast trägt, die den weitergehenden Inhalt, das heisst die Leistung an Erfüllungs Statt behauptet (WEBER, N 144 Einleitung und Vorbemerkungen zu
Art. 68-96 OR
).
Die Abtretung der Gewährleistungsansprüche gegenüber den Handwerkern sagt somit für sich allein nichts aus über den Umfang der eigenen Gewährleistungspflicht des Beklagten gegenüber dem Kläger. Das Obergericht ist zum Schluss gekommen, dass die Parteien nicht eine allgemeine Freizeichnung vereinbaren wollten, sondern nur eine Abtretung des Nachbesserungsanspruchs sowie des Anspruchs auf Ersatz eines allfälligen Mängelfolgeschadens. Gewährleistungspflichtig blieb bei dieser Auslegung der Beklagte. Mit der Abtretung erlangte der Kläger jedoch die Möglichkeit, den dem Beklagten zustehenden Nachbesserungsanspruch gegenüber den Handwerkern selbst geltend zu machen. Alle auf diesem Weg von den Handwerkern erbrachten Leistungen werden dann auf die Gewährleistungspflicht des Beklagten angerechnet.
Der Beklagte bringt mit der Berufung nichts vor, was diese Vertragsauslegung als bundesrechtswidrig erscheinen liesse. Gegen eine allgemeine Freizeichnung spricht schon der Wortlaut von Ziffer 10 des Vertrages, da nirgends von einer Einschränkung der Gewährleistungspflicht des Beklagten die Rede ist. Es wird vielmehr der Eindruck erweckt, damit werde die Stellung des Klägers verbessert bzw.
BGE 118 II 142 S. 146
erleichtert, was nur im Fall des Fortbestandes der gesetzlichen Gewährleistungspflicht verbunden mit einer Abtretung erfüllungshalber zutrifft. Hätte der Beklagte von jeder eigenen Gewährleistungspflicht befreit werden sollen, so hätten ihm wenigstens minimale Pflichten auferlegt werden müssen, damit seine Garantieansprüche gegenüber den Handwerkern aufrechterhalten bleiben und diese vom Kläger auch tatsächlich geltend gemacht werden konnten. Die Auslegung nach dem Vertrauensprinzip verbietet es deshalb, die erwähnte Klausel als Wegbedingung einer eigenen Gewährleistungspflicht des Beklagten zu verstehen.
c) Wird eine Forderung erfüllungshalber abgetreten, so ergibt sich in Analogie zu
Art. 467 Abs. 2 OR
für den Zessionar daraus die Verpflichtung, vorerst die abgetretene Forderung geltend zu machen; die vom Zedenten geschuldete eigene Leistung gilt so lange als gestundet (WEBER, N 137 Einleitung und Vorbemerkungen zu
Art. 68-96 OR
; GUHL/MERZ/KOLLER, a.a.O., S. 217). Die Geltendmachung der abgetretenen Gewährleistungsansprüche durch den Kläger setzt jedoch voraus, dass ihm der Beklagte die Namen der beteiligten Handwerker nennt und diese Ansprüche nicht wegen Umständen, die der Beklagte zu verantworten hat, bereits untergegangen sind. Das Obergericht hat dazu festgestellt, der Beklagte habe es unterlassen, den Kläger zu dokumentieren und damit in die Lage zu versetzen, den verantwortlichen Unternehmer zur Nachbesserung der mangelhaften Arbeit anzuhalten. Insbesondere habe er ihm nie eine Handwerkerliste übergeben und den Namen des Zimmereibetriebs, welcher die Holzfassaden erstellt hatte, erst in der Klageantwort preisgegeben. Unterlassen habe der Beklagte auch eine Mängelrüge gegenüber diesem Handwerker nach Eingang der Beanstandung seitens des Klägers. Damit hat er die Verwirkung des abgetretenen Nachbesserungsanspruchs selbst zu verantworten, weshalb er sich nicht auf die mit der Abtretung erfüllungshalber verbundene Stundungswirkung berufen kann. Die Vorinstanz hat demnach zu Recht angenommen, der Beklagte hafte gegenüber dem Kläger gemäss
Art. 368 ff. OR
für Mängel des Hauses.
3.
Eine Verletzung von Bundesrecht erblickt der Beklagte ausserdem darin, dass das Obergericht die Rechtzeitigkeit der Mängelrüge bejaht hat. Das Obergericht führt dazu aus, der Kläger habe die im Winter 1985/86 aufgetretenen Schäden an den Holzfassaden erst nach seiner Rückkehr aus den Skiferien (17. Januar 1986) festgestellt, worauf er sie mit Schreiben vom 24. Februar 1986 gerügt habe; etwas anderes sei vom Beklagten nicht nachgewiesen worden.
BGE 118 II 142 S. 147
Nach Auffassung des Beklagten beruht diese Feststellung auf einer unzulässigen Umkehr der Beweislast hinsichtlich der Rechtzeitigkeit der Mängelrüge. Er macht zudem geltend, die Rüge sei jedenfalls zu spät erfolgt, weil der Kläger gemäss
Art. 370 Abs. 3 OR
die Mängel sofort nach ihrer Entdeckung hätte anzeigen müssen.
a) Werden vom Besteller Sachgewährleistungsansprüche geltend gemacht, so obliegt es dem Unternehmer zu behaupten, das Werk sei infolge verspäteter Mängelrüge genehmigt worden (
BGE 107 II 54
). Die Beweislast für die Rechtzeitigkeit der Mängelrüge liegt jedoch nach der allgemeinen Regel beim Besteller (
BGE 107 II 176
; GAUCH, a.a.O., S. 413 Rz. 1581). Entgegen der Auffassung von BUCHER (ZSR 1983 II 343) ist die Verspätung der Rüge nicht eine rechtshindernde, sondern ihre Rechtzeitigkeit eine rechtsbegründende Tatsache. Die Rechtzeitigkeit der Mängelrüge gehört zu den Anspruchsvoraussetzungen, die vom Besteller zu beweisen sind (HONSELL, Schweiz. Obligationenrecht, Besonderer Teil, S. 201). Das Erfordernis sofortiger Mängelrüge gemäss
Art. 370 Abs. 3 OR
unterscheidet sich von anderen Verwirkungsfristen des Gesetzes nur dadurch, dass die Frist nicht absolut, das heisst zum Beispiel in einer bestimmten Anzahl von Tagen angegeben, sondern durch einen auslegungsbedürftigen Begriff umschrieben wird. Für die Einhaltung einer Verwirkungsfrist trägt jedoch stets der das Recht Ausübende die Beweislast (KUMMER, N 151 und 312 ff. zu
Art. 8 ZGB
).
Liegt die Beweislast für die Rechtzeitigkeit der Mängelrüge beim Besteller, so gehört dazu auch der Nachweis, wann er den gerügten Mangel entdeckt hat (
BGE 107 II 176
; a.M. GAUCH, a.a.O., S. 413 Rz. 1581). Die Entdeckung eines Mangels ist eine innere Tatsache, von der im allgemeinen nur der Besteller selbst Kenntnis hat. Er hat deshalb den Nachweis zu erbringen, in welchem Zeitpunkt dies der Fall war. Wendet demgegenüber der Unternehmer ein, der Besteller habe den gerügten Mangel schon früher entdeckt, so hat der Unternehmer seinerseits seine Behauptung zu beweisen (KUMMER, N 316 zu
Art. 8 ZGB
).
Nach ständiger Praxis des Bundesgerichts ist die Frage der Beweislastverteilung indessen gegenstandslos, wenn die Vorinstanz - wie im vorliegenden Fall - aufgrund eines Beweisverfahrens zum Ergebnis gelangt ist, bestimmte Tatsachenbehauptungen seien bewiesen oder widerlegt (
BGE 114 II 291
mit Hinweisen). Die Frage, ob das Obergericht von einer anderen als der erörterten Beweislastverteilung ausgegangen ist, kann deshalb offenbleiben. Die obenstehenden Erwägungen zur Beweislastfrage behalten jedoch ihre Gültigkeit
BGE 118 II 142 S. 148
für den Fall, dass die Streitsache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen werden muss.
b) Aufgrund des angefochtenen Urteils ist unklar, wann genau der Kläger die Mängel entdeckt hat. Die Feststellung des Obergerichts kann entweder bedeuten, der Kläger habe die Mängel am 17. Januar 1986 entdeckt. Sie kann aber auch so verstanden werden, dass die Entdeckung in einem unbestimmten Zeitpunkt im Zeitraum zwischen dem 17. Januar und dem 24. Februar 1986 erfolgt sei. Im ersten Fall wäre die Mängelrüge gemäss der Praxis des Bundesgerichts zu spät erhoben, denn in
BGE 107 II 176
f. E. 1b ist für den - jedenfalls bezüglich des allgemeinen zeitlichen Rahmens - vergleichbaren Fall eines Wassereinbruchs in einem Gebäude die rund drei Wochen nach der Entdeckung des Mangels mitgeteilte Rüge als verspätet betrachtet worden. Bei der Beurteilung, ob eine Rüge rechtzeitig erfolgt ist, muss zwar auf die konkreten Umstände des Einzelfalles, insbesondere die Art der Mängel abgestellt werden. Entscheide in anderen Fällen sind deshalb nur mit Zurückhaltung heranzuziehen. Allgemein kann aber gesagt werden, dass die Rügefrist kurz zu bemessen ist, wenn es sich um einen Mangel handelt, bei dem die Gefahr besteht, dass ein Zuwarten zu einem grösseren Schaden führen kann (PEDRAZZINI, in SPR Bd. VII/1, S. 528). Dem Besteller ist auch eine Erklärungsfrist zuzubilligen, die jedoch ebenfalls kurz zu bemessen ist (GAUCH, a.a.O., S. 403 Rz. 1541 und S. 410 f. Rz. 1571). In Berücksichtigung all dieser Gesichtspunkte erscheint eine Mängelrüge, die erst fünf Wochen nach der Entdeckung der Schäden an den Holzfassaden erfolgt wäre, als verspätet.
Wäre die Feststellung des Obergerichts dagegen im zweiten Sinne zu verstehen, so genügte sie nicht, um die Rechtzeitigkeit der Mängelrüge zu überprüfen. Auch die Akten enthalten keine Anhaltspunkte, die es dem Bundesgericht ermöglichen würden, die Tatbestandsfeststellung in diesem Punkt gemäss
Art. 64 Abs. 2 OG
zu ergänzen. Das angefochtene Urteil muss deshalb aufgehoben und die Streitsache zur allfälligen Vervollständigung des Sachverhalts und zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen werden.
Das Obergericht wird im Fall einer Ergänzung des Sachverhalts zu beachten haben, dass ein Mangel erst mit dessen zweifelsfreier Feststellung entdeckt ist (
BGE 107 II 175
E. 1a). Der Besteller muss vom Mangel solche Kenntnis erlangt haben, dass er eine genügend substantiierte Rüge erheben kann (TERCIER, La partie spéciale du Code des obligations, S. 334 Rz. 2572 und 2574). Bei Mängeln, die nach und nach zum Vorschein kommen, weil sie in ihrer Ausdehnung oder
BGE 118 II 142 S. 149
Intensität wachsen, genügen dafür noch nicht die ersten Anzeichen. Es ist vielmehr erforderlich, dass der Besteller die Bedeutung und Tragweite dieser Mängel erfassen kann (GAUCH, a.a.O., S. 411 Rz. 1573; im gleichen Sinne GIGER, N 7 zu
Art. 200 OR
). Die strengen Rügevorschriften würden sonst dazu führen, dass der Besteller bereits jede Bagatellerscheinung anzeigen muss, um nicht für den Fall einer ungünstigen weiteren Entwicklung seiner Mängelrechte verlustig zu gehen. Bei nach und nach zum Vorschein kommenden Mängeln darf deshalb eine Entdeckung erst angenommen werden, wenn der ernsthafte Charakter des Zustandes deutlich wird.
4.
Eine Rückweisung der Streitsache an das Obergericht würde sich erübrigen, wenn gemäss der weiteren Rüge des Beklagten die Ansprüche des Klägers verjährt wären. Er vertritt die Auffassung, die unstreitig anwendbare fünfjährige Verjährungsfrist von
Art. 371 Abs. 2 OR
habe bereits am 1. Oktober 1982 zu laufen begonnen; das Sühnebegehren vom 2. November 1987 habe deshalb die Verjährung nicht mehr unterbrechen können.
Gemäss
Art. 371 Abs. 2 OR
beginnt die Verjährungsfrist mit der Abnahme des Werkes zu laufen. Von dieser gesetzlichen Regel kann zwar durch vertragliche Vereinbarung abgewichen werden. Im vorliegenden Fall ist das indessen entgegen der Behauptung des Beklagten nicht geschehen. Wenn in Ziffer 1 des Vertrages vom 30. Juni 1982 der Übergang von Nutzen und Schaden auf den 1. Oktober 1982 vereinbart worden ist, so ist darin nach dem Vertrauensprinzip keine zeitliche Festlegung des Beginns der Verjährungsfrist für allfällige Mängel zu erblicken. Der kaufrechtliche Übergang des Nutzens kann auch eintreten, ohne dass die Baute schon vollendet und eine Abnahme erfolgt ist. Gemäss den Vertragsbestimmungen war der Beklagte zwar verpflichtet, das Wohnhaus auf den 1. Oktober 1982 fertigzustellen.
Art. 371 Abs. 2 OR
stellt jedoch nicht auf einen vereinbarten Fertigstellungstermin, sondern auf den tatsächlichen Zeitpunkt der Abnahme ab. Nach den Feststellungen der Vorinstanz war das Haus entgegen der vertraglichen Vereinbarung am 1. Oktober 1982 noch nicht fertig erstellt. Ausstehend waren noch Leistungen im Wert von mehr als Fr. 48'000.--, um deren Erbringung sich der Beklagte dann aber nicht mehr gekümmert hat. Zur Ablieferung und Abnahme eines Werkes gehört jedoch auch dessen Vollendung (GAUCH, a.a.O., S. 27 Rz. 95). Davon kann unter den gegebenen Umständen keine Rede sein. Die Vorinstanz hat deshalb die Verjährung der Gewährleistungsansprüche des Klägers zu Recht verneint. | de |
2bfde307-e98c-4a7d-b455-39f0ca3c6e40 | SR 812.212.23 1 Verordnung des Schweizerischen Heilmittelinstituts über die vereinfachte Zulassung von Arzneimitteln und die Zulassung von Arzneimitteln im Meldeverfahren (VAZV) vom 22. Juni 2006 (Stand am 1. Juli 2020) Der Institutsrat des Schweizerischen Heilmittelinstituts (Institutsrat), gestützt auf die Artikel 9a, 14 Absatz 1 Buchstaben aaquater, dg und 2, 15 Absatz 2 und 72a Absatz 1 Buchstabe k des Heilmittelgesetzes vom 15. Dezember 20001 (HMG), sowie in Ausführung des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 19952 über die technischen Handelshemmnisse,3 verordnet: 1. Kapitel: Allgemeine Bestimmungen Art. 1 Gegenstand 1 Diese Verordnung regelt die Verfahren zur vereinfachten Zulassung von Arznei- mitteln und deren Zulassung auf blosse Meldung hin. 2 Sie regelt: a. die befristete Zulassung von Arzneimitteln nach Artikel 9a HMG; b. die vereinfachte Zulassung von Arzneimitteln nach den Artikeln 14 und 14a HMG; c. die Zulassung von Arzneimitteln im Meldeverfahren nach Artikel 15 Ab- satz 1 Buchstabe b HMG; d. die Zulassung von Verfahren zur Herstellung nichtstandardisierbarer Arz- neimittel nach Artikel 9 Absatz 3 HMG.4 AS 2006 3623 1 SR 812.21 2 SR 946.51 3 Fassung gemäss Ziff. I der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2018, in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 3657). 4 Fassung gemäss Ziff. I der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2018, in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 3657). 812.212.23 Heilmittel 2 812.212.23 Art. 25 Begriffe 1 Im Sinne dieser Verordnung gelten als: a. Formularium: eine Sammlung von Präparate-Monografien; b. Präparate-Monografie: eine Sammlung aller notwendigen Angaben zur Herstellung, Beschriftung und Aufbewahrung eines bestimmten Arzneimit- tels; c. Formulariumsinhaberin: Person, die für ein Formularium und dessen Präpa- rate-Monografien über eine Anerkennung des Schweizerischen Heilmittel- instituts (Swissmedic) verfügt; d. biologisches Arzneimittel: Arzneimittel mit einem Wirkstoff biologischen Ursprungs, der aus Mikroorganismen, Organen oder Geweben pflanzlichen oder tierischen Ursprungs, Zellen oder Flüssigkeiten humanen oder tieri- schen Ursprungs einschliesslich Blut oder Plasma oder biotechnologischen Zellsubstraten, unabhängig davon, ob Letztere rekombinant oder anders her- gestellt wurden, einschliesslich primären Zellen stammt; e. biotechnologisches Arzneimittel: biologisches Arzneimittel, bei dem der Wirkstoff aus in Zellbanken kultivierten Zellen gewonnen wird und rekom- binante Technologien oder Verfahren zur Anwendung kommen. 2 Arzneimittel mit mikrobiologischen Metaboliten als Wirkstoffen, insbesondere Antibiotika, Aminosäuren, Kohlenhydrate oder andere niedermolekulare Substan- zen, gelten nicht als biotechnologische Arzneimittel. Art. 3 Anwendbares Recht Die Vorschriften der Arzneimittel-Zulassungsverordnung vom 9. November 20016 (AMZV) finden Anwendung, soweit diese Verordnung keine Abweichungen enthält. 2. Kapitel: Anerkennung des Status als wichtiges Arzneimittel für seltene Krankheiten 1. Abschnitt: Humanarzneimittel Art. 4 Voraussetzungen 1 Den Status als wichtiges Arzneimittel für seltene Krankheiten (Orphan Drug) erhält ein Humanarzneimittel auf Gesuch hin, wenn die Gesuchstellerin nachweist, dass das Arzneimittel den Kriterien von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe adecies HMG entspricht.7 5 Fassung gemäss Ziff. I der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2018, in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 3657). 6 SR 812.212.22 7 Fassung gemäss Ziff. I der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2018, in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 3657). Vereinfachte Zulassung von Arzneimitteln und Zulassung von Arzneimitteln im Meldeverfahren. V des Schweizerischen Heilmittelinstituts 3 812.212.23 2 Der Nachweis, dass ein Arzneimittel, für das der Status als Orphan Drug nach Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe adecies Ziffer 1 HMG beantragt wird, der Erkennung, Verhütung oder Behandlung einer seltenen Krankheit dient, ist mit folgenden Anga- ben und Unterlagen zu erbringen:8 a. den massgeblichen Referenzdokumenten zur Tatsache, dass die für eine Be- handlung mit dem Arzneimittel vorgesehene Krankheit in der Schweiz zum Zeitpunkt der Gesuchseinreichung höchstens fünf von zehntausend Personen betrifft; b. sämtlichen relevanten Einzelheiten über die zu behandelnde Krankheit und Beiträgen aus der Fachliteratur, die belegen, dass die Krankheit lebensbe- drohend oder chronisch invalidisierend ist; c. einer bibliografischen Analyse der relevanten Fachliteratur oder einem Ver- weis auf eine entsprechende Analyse und Informationen aus relevanten Da- tenbanken zur Schweiz oder, falls Daten zur Schweiz fehlen, einen Verweis auf Datenbanken von Drittländern, mit denen die erforderlichen Hoch- rechnungen vorgenommen werden. 3 Diese Unterlagen können jederzeit im Verlauf der Entwicklung oder gleichzeitig mit dem Zulassungsgesuch (Art. 26) eingereicht werden. 3bis Bei Wirkstoffen oder Arzneimitteln, deren Status als Orphan Drug von zwei Ländern mit vergleichbarer Arzneimittelkontrolle im Sinne von Artikel 13 HMG unterschiedlich beurteilt wurde, evaluiert die Swissmedic9 selbst die Daten, mit denen die Schwere und die Seltenheit der Krankheit belegt werden.10 4 In Gesuchen, mit denen für ein Arzneimittel der Status als Orphan Drug nach Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe adecies Ziffer 2 HMG beantragt wird, muss die Gesuch- stellerin belegen, dass der Wirkstoff, dem im Ausland der Status als Orphan Drug zuerkannt wurde, auch in dem Arzneimittel enthalten ist, das Gegenstand des Ge- suchs bildet.11 5 Betrifft das Gesuch eine neue Indikation eines bereits zugelassenen Arzneimittels, so reicht die Zulassungsinhaberin ein separates Gesuch ein, das ausschliesslich die Indikationen für die seltenen Krankheiten abdeckt. 8 Fassung gemäss Ziff. I der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2018, in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 3657). 9 Ausdruck gemäss Ziff. I der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2018, in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 3657). Diese Änd. wurde im ganzen Erlass berücksichtigt. 10 Eingefügt durch Ziff. I der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2012, in Kraft seit 1. Jan. 2013 (AS 2012 5677). 11 Fassung gemäss Ziff. I der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2018, in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 3657). Heilmittel 4 812.212.23 Art. 5 Verleihung des Status und Mitteilungspflicht12 1 Die Swissmedic verleiht den Status als wichtiges Arzneimittel für seltene Krank- heiten, wenn das Arzneimittel die Anforderungen von Artikel 4 erfüllt. Der Status kann an Auflagen und Bedingungen geknüpft werden. 2 Ist einem Arzneimittel der Status als Orphan Drug nach Artikel 4 Absatz 1 Buch- stabe adecies Ziffer 2 HMG verliehen worden, so muss die Gesuchstellerin oder die Zulassungsinhaberin der Swissmedic sämtliche in den übrigen Ländern mit ver- gleichbarer Arzneimittelkontrolle im Sinne von Artikel 13 HMG betreffend die Erteilung des Status als Orphan Drug ergangenen Entscheide einreichen.13 Art. 614 Entzug des Status Die Swissmedic entzieht einem Arzneimittel den Status als Orphan Drug, wenn: a. die Gesuchstellerin oder die Zulassungsinhaberin einen entsprechenden An- trag stellt; b. sich herausstellt, dass die Kriterien nach Artikel 4 nicht mehr erfüllt sind; c. die Gesuchstellerin oder die Zulassungsinhaberin auf ihre Aufforderung hin nicht nachweisen kann, dass in der Summe von allen für denselben Wirk- stoff zugelassenen und beantragten Indikationen mit Orphan-Drug-Status in- nerhalb desselben Krankheitsbildes, einschliesslich aller Stadien der Krank- heit, höchstens fünf von zehntausend Personen in der Schweiz betroffen sind; oder d. einem Arzneimittel oder seinem Wirkstoff der Status als Orphan Drug nach Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe adecies Ziffer 2 HMG erteilt und dieser Status nachträglich in einem anderen Land mit vergleichbarer Arzneimittelkontrol- le im Sinne von Artikel 13 HMG unterschiedlich beurteilt wurde, es sei denn, die Gesuchstellerin oder die Zulassungsinhaberin weist nach, dass das Arzneimittel oder sein Wirkstoff Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe adecies Zif- fer 1 HMG entspricht. Art. 715 Verzeichnis 1 Die Swissmedic führt und veröffentlicht ein Verzeichnis mit den Arzneimitteln, die den Status eines Orphan Drug in der Schweiz haben. 2 Das Verzeichnis enthält folgende Angaben: a. die Bezeichnung des Arzneimittels; b. die zu behandelnde seltene Krankheit; 12 Fassung gemäss Ziff. I der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2018, in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 3657). 13 Eingefügt durch Ziff. I der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2018, in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 3657). 14 Fassung gemäss Ziff. I der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2018, in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 3657). 15 Fassung gemäss Ziff. I der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2018, in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 3657). Vereinfachte Zulassung von Arzneimitteln und Zulassung von Arzneimitteln im Meldeverfahren. V des Schweizerischen Heilmittelinstituts 5 812.212.23 c. den oder die Wirkstoffe; d. den Namen der Gesuchstellerin oder der Zulassungsinhaberin; e. das Datum der Verleihung des Status; f. das Datum des Entzugs des Status; g. den Zulassungsstatus des Arzneimittels; h. die Zulassungsnummer; i. das Datum der Zulassung. 2. Abschnitt: Tierarzneimittel Art. 816 1 Der Status als wichtiges Arzneimittel für seltene Krankheiten (MUMS: Minor Use, Minor Species) kann auf Gesuch hin verliehen werden für Tierarzneimittel gegen lebensbedrohende oder chronisch schädigende Krankheiten oder gegen Krankheiten, die dem Tier Schmerzen und Leiden verursachen, sofern diese Arzneimittel: a. seltene Indikationen oder ein eng umschriebenes Einsatzgebiet (Minor Use) aufweisen und eingesetzt werden zur Behandlung von: 1. Rindern, Schweinen, Pferden, Hunden und Katzen, oder 2. Schafen, ausgenommen Mutterschafen, deren Milch in Verkehr ge- bracht wird, und Hühnern, ausgenommen Legehennen; b. zur Behandlung von unter Buchstabe a nicht erwähnten Tierarten oder Tier- kategorien dienen (Minor Species); c. bereits in einem anderen Land mit vergleichbarer Arzneimittelkontrolle den Status als wichtiges Arzneimittel für seltene Krankheiten besitzen. 2 Begründet die Gesuchstellerin die Seltenheit der Indikation oder die Einschrän- kung des Einsatzgebiets gemäss Absatz 1 Buchstabe a damit, dass nur eine geringe Menge des betreffenden Arzneimittels umgesetzt wird, so sind der Swissmedic ent- sprechende Belege zu unterbreiten. 3 Im Übrigen gelten die Artikel 4 Absätze 2 Buchstabe b, 3, 3bis und 4 sowie die Artikel 5–7 sinngemäss. Im Verzeichnis nach Artikel 7 ist zusätzlich die Zieltierart anzugeben. 4 Betrifft das Gesuch eine neue Indikation eines bereits zugelassenen Arzneimittels oder eine neue Zieltierart, so reicht die Zulassungsinhaberin ein separates Gesuch ein, das ausschliesslich die Indikation für die seltene Krankheit oder die neue Ziel- tierart abdeckt. 16 Fassung gemäss Ziff. I der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2018, in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 3657). Heilmittel 6 812.212.23 3. Kapitel: Anerkennung von Formularien Art. 9 Anerkennung von Formularien Die Swissmedic anerkennt ein Formularium, wenn dessen Präparate-Monografien anerkannt sind. Art. 10 Anerkennung von Präparate-Monografien 1 Die Swissmedic anerkennt eine Präparate-Monografie, wenn: a.17 die Dokumentation dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik so- wie den Anforderungen nach Anhang 1 entspricht und belegt, dass das darin beschriebene Arzneimittel von hoher Qualität ist; und b. das Arzneimittel nur bekannte Wirkstoffe (Art. 12 Abs. 1) oder nur Wirk- und Hilfsstoffe enthält, die in der Pharmakopöe oder in einem anderen von der Swissmedic anerkannten Arzneibuch aufgeführt sind oder im Anhang zur Präparate-Monografie nach den Kriterien einer Stoffmonografie der Pharmakopöe referenziert werden. 2 Die Swissmedic kann zusätzliche Unterlagen und Auskünfte verlangen, sofern dies für die Begutachtung der Qualität des in der Präparate-Monografie beschriebenen Arzneimittels erforderlich ist. 3 Ausgeschlossen ist die Anerkennung von Präparate-Monografien für: a.18 Impfstoffe, Seren und Toxine; b. Blutprodukte; c. Arzneimittel mit gentechnisch veränderten Organismen; d.19 biotechnologische Arzneimittel; sowie e. Arzneimittel für neuartige Therapien, basierend auf Methoden des Gentrans- fers (Gentherapeutika). Art. 11 Rechte und Pflichten der Formulariumsinhaberin 1 Die Formulariumsinhaberin ist verpflichtet, dafür zu sorgen, dass das Formularium und die darin enthaltenen Präparate-Monografien dem aktuellen Stand von Wissen- schaft und Technik entsprechen und in Bezug auf die Qualitätsanforderungen an die neusten Erkenntnisse angepasst sind. Der Swissmedic sind die aktualisierten Unter- lagen jeweils einzureichen. 17 Fassung gemäss Ziff. I der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2018, in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 3657). 18 Fassung gemäss Ziff. I 2 der V des Institutsrats vom 7. Nov. 2018 (Medicrime- Konvention), in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 5071). 19 Fassung gemäss Ziff. I der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2018, in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 3657). Vereinfachte Zulassung von Arzneimitteln und Zulassung von Arzneimitteln im Meldeverfahren. V des Schweizerischen Heilmittelinstituts 7 812.212.23 2 Ein Gesuch um Anerkennung einer weiteren Präparate-Monografie sowie einer Änderung einer bereits anerkannten Monografie kann nur durch die jeweilige For- mulariumsinhaberin gestellt werden. 4. Kapitel: Vereinfachte Zulassungsverfahren20 1. Abschnitt: Arzneimittel mit bekannten Wirkstoffen (Art. 14 Abs. 1 Bst. a HMG) Art. 1221 Grundsatz 1 Vereinfacht zugelassen werden kann ein Arzneimittel, dessen Wirkstoff in einem Arzneimittel enthalten ist, das von der Swissmedic zugelassen ist oder war (bekann- ter Wirkstoff). 2 Bezieht sich das Zulassungsgesuch auf die Zulassungsunterlagen für ein anderes von der Swissmedic zugelassenes Arzneimittel (Referenzarzneimittel), so muss dieses auf der Grundlage vollständiger Zulassungsunterlagen zugelassen worden sein. 3 Ist kein Referenzarzneimittel mehr zugelassen, so kann das Gesuch: a. auf ein anderes von der Swissmedic zugelassenes Arzneimittel, das nicht über vollständige Zulassungsunterlagen verfügt, Bezug nehmen, sofern die Swissmedic die entsprechenden Unterlagen als ausreichend erachtet; b. sich auf die Dokumentation zu einem Zulassungsgesuch in einem Land mit vergleichbarer Arzneimittelkontrolle im Sinne von Artikel 13 HMG bezie- hen, sofern die Swissmedic die entsprechenden Unterlagen als ausreichend betrachtet. In diesem Fall muss die Gesuchstellerin alle für die Zulassung re- levanten Unterlagen einreichen und zusätzlich belegen, dass das Arzneimit- tel im betreffenden Staat bereits zugelassen ist; oder c. sich ausschliesslich auf veröffentlichte Fachliteratur beziehen, falls die Ge- suchstellerin mit einer detaillierten Bibliografie nachweist, dass die Aus- gangsstoffe des Arzneimittels für die beantragte Indikation und Anwen- dungsart seit mindestens 10 Jahren verwendet werden und dass ihre Sicherheit und Wirksamkeit in der wissenschaftlichen Literatur gut doku- mentiert und allgemein anerkannt sind. 4 Sind die Zulassungsunterlagen des Referenzarzneimittels für eine Bezugnahme nicht geeignet, so kann sich das Gesuch auf ein Arzneimittel nach Absatz 3 Buch- stabe a beziehen. 5 Nicht vereinfacht zugelassen werden können: 20 Fassung gemäss Ziff. I der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2018, in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 3657). 21 Fassung gemäss Ziff. I der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2018, in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 3657). Heilmittel 8 812.212.23 a.22 Impfstoffe, Seren und Toxine; b. Blutprodukte; c. Arzneimittel, die gentechnisch veränderte Organismen enthalten; d. biotechnologische Arzneimittel; sowie e. Arzneimittel für neuartige Therapien, basierend auf Methoden des Gentrans- fers (Gentherapeutika). 6 Die Swissmedic kann in begründeten Fällen bei der Zulassung von Arzneimitteln nach Absatz 5 Erleichterungen von der Dokumentations- und Nachweispflicht nach den Artikeln 3–11 AMZV23 gewähren. Art. 13 Dokumentation über die pharmakologischen und toxikologischen Prüfungen 1 Als Dokumentation über die pharmakologischen und toxikologischen Prüfungen nach Artikel 4 AMZV24 sind nur Unterlagen zu den Aspekten einzureichen, in denen sich das Arzneimittel vom Referenzarzneimittel unterscheidet, insbesondere bezüg- lich Indikation, Applikationsweg, Darreichungsform oder Dosierung.25 2 Wenn in der veröffentlichten Literatur ausreichend Belege vorhanden sind, so können diese anstelle der Dokumentation über die pharmakologischen und toxikolo- gischen Prüfungen eingereicht werden. Art. 14 Nachweis der Sicherheit und der therapeutischen Wirksamkeit 1 Sofern dies auf Grund der Zusammensetzung des Arzneimittels, dessen Unbe- denklichkeit, der therapeutischen Wirkung und Breite, der Art der Anwendung, der beantragten Indikation, der Dosierung und der Behandlungsdauer sinnvoll und möglich ist, können die therapeutische Wirksamkeit und Sicherheit nachgewiesen werden durch: a.26 den Nachweis, dass das Arzneimittel mit dem Referenzarzneimittel thera- peutisch äquivalent ist; b. Bioverfügbarkeitsuntersuchungen; c. pharmakodynamische Untersuchungen; d. Anwendungsbelege; e. eine bibliographische Dokumentation, sofern die Gesuchstellerin zeigen kann, dass die Ergebnisse auf das Arzneimittel übertragbar sind; 22 Fassung gemäss Ziff. I 2 der V des Institutsrats vom 7. Nov. 2018 (Medicrime- Konvention), in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 5071). 23 SR 812.212.22 24 SR 812.212.22 25 Fassung gemäss Ziff. I der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2018, in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 3657). 26 Fassung gemäss Ziff. I der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2018, in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 3657). Vereinfachte Zulassung von Arzneimitteln und Zulassung von Arzneimitteln im Meldeverfahren. V des Schweizerischen Heilmittelinstituts 9 812.212.23 f. Prüfungen der In-Vitro-Wirkstofffreisetzung. 2 Die Swissmedic bestimmt im Einzelfall, welche der genannten Dokumente rele- vant sind. Art. 14a27 Fixe Arzneimittelkombinationen Enthält ein Arzneimittel ausschliesslich Wirkstoffe, die in dieser Form Bestandteil anderer, von der Swissmedic bereits zugelassener Arzneimittel sind, aber erstmals in der beantragten Kombination zugelassen werden sollen, so sind keine Ergebnisse präklinischer und klinischer Prüfungen zu den Einzelwirkstoffen, sondern lediglich zur Wirkstoffkombination nach Massgabe von Artikel 6 AMZV28 vorzulegen. 2. Abschnitt: Arzneimittel nach Artikel 14 Absatz 1 Buchstaben d und e HMG29 Art. 15 und 1630 Art. 17 Arzneimittel für den Spitalbedarf und Arzneimittel für Zwecke des Koordinierten Sanitätsdienstes 1 Arzneimittel, die in einer Spitalapotheke für den Spitalbedarf oder in der Armee- apotheke für Zwecke des Koordinierten Sanitätsdienstes hergestellt werden, können vereinfacht zugelassen werden. 2 Als Spitalbedarf gilt die Gesamtheit aller Arzneimittel, die in Schweizer Spitälern und anderen klinisch-medizinisch betreuten Institutionen für die Versorgung der eigenen Kundschaft eingesetzt werden. 3 Die Anforderungen an die Dokumentation über die pharmakologischen und toxi- kologischen Prüfungen sowie an den Nachweis der therapeutischen Wirksamkeit und Sicherheit richten sich nach den Vorgaben der Artikel 13 Absatz 2 und 14. 4 Für Arzneimittel nach Absatz 1, die für die beantragte Indikation seit mindestens 10 Jahren verwendet werden und deren Sicherheit und Wirksamkeit in der wissen- schaftlichen Literatur gut dokumentiert und allgemein anerkannt sind, kann die Swissmedic auf einen direkten Sicherheits- und Wirksamkeitsnachweis verzichten, sofern die Gesuchstellerin im Rahmen einer Nutzen-Risiko-Abwägung nachweist, dass: 27 Eingefügt durch Ziff. I der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2018, in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 3657). 28 SR 812.212.22 29 Fassung gemäss Ziff. I der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2018, in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 3657). 30 Aufgehoben durch Ziff. I der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2012, mit Wirkung seit 1. Jan. 2013 (AS 2012 5677). Heilmittel 10 812.212.23 a.31 das Präparat hinsichtlich Indikation, Applikationsweg, Darreichungsform oder Dosierung lediglich unwesentlich von einem durch die Swissmedic be- reits zugelassenen Arzneimittel abweicht; und b. nach aktuellem Stand der Wissenschaft keine wesentlichen Unterschiede be- treffend seine Wirksamkeit und Sicherheit zu erwarten sind. 2a. Abschnitt:32 In einem EU- oder EFTA-Land zugelassene Arzneimittel (Art. 14 Abs. 1 Bst. abis HMG) Art. 17a Grundsatz Vereinfacht zugelassen wird ein Arzneimittel, wenn: a. seine Wirkstoffe in einem Arzneimittel verwendet werden, das seit mindes- tens zehn Jahren in mindestens einem Land der EU oder der EFTA zugelas- sen ist; und b. es mit dem im Ausland zugelassenen Arzneimittel hinsichtlich Indikation, Dosierung und Applikationsweg sowie bei Tierarzneimitteln hinsichtlich der Zieltierart vergleichbar ist und nach aktuellem Stand der Wissenschaft nicht zu erwarten ist, dass eine allfällige Abweichung zu einer anderen Beurtei- lung von dessen Sicherheit und Wirksamkeit führt. Art. 17b Gesuch 1 Für die Zulassung von Arzneimitteln nach Artikel 14 Absatz 1 Buchstabe abis HMG kann die Dokumentation über die pharmakologischen, toxikologischen und klinischen Prüfungen nach den Artikeln 4 und 5 AMZV33 in bibliografischer Form eingereicht werden, wenn in der veröffentlichten Fachliteratur ausreichend Belege für die Sicherheit und Wirksamkeit des Arzneimittels vorhanden sind. Unter der gleichen Bedingung können für Tierarzneimittel die Dokumentationen nach den Artikeln 8 und 11 AMZV ebenfalls in bibliografischer Form eingereicht werden. 2 Gesuche um Zulassung von Arzneimitteln für Nutztiere müssen zudem Angaben und Unterlagen zum Rückstandsnachweis und zu den notwendigen Absetzfristen enthalten. 3 Gesuche um Zulassung von Tierarzneimitteln, die Antibiotika enthalten, müssen zusätzlich zu den Angaben und Unterlagen nach den Absätzen 1 und 2 Angaben und Unterlagen zum Resistenzrisiko enthalten. 4 Unter den Rubriken 416 der Fachinformation und den Rubriken 39 der Patien- teninformation muss der Text übernommen und in den Amtssprachen nach Arti- 31 Fassung gemäss Ziff. I der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2018, in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 3657). 32 Eingefügt durch Ziff. I der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2018, in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 3657). 33 SR 812.212.22 Vereinfachte Zulassung von Arzneimitteln und Zulassung von Arzneimitteln im Meldeverfahren. V des Schweizerischen Heilmittelinstituts 11 812.212.23 kel 26 Absatz 2 der Arzneimittelverordnung vom 21. September 201834 (VAM) übersetzt werden, der in der zuletzt genehmigten Arzneimittelinformation des Staa- tes steht, auf dessen Zulassung sich das Gesuch stützt. Bei Tierarzneimitteln gilt dies für die Rubriken 46 der Fachinformation und die Rubriken 413 der Packungsbei- lage. 5 Fachinformation und Packungsbeilage müssen einen gut lesbaren Hinweis enthal- ten, der angibt: a. dass die Swissmedic Sicherheit und Wirksamkeit des Arzneimittels nur sum- marisch geprüft hat; b. auf welches ausländische Arzneimittel sich die Zulassung in der Schweiz stützt, insbesondere dessen Bezeichnung und den Zulassungsstaat. 2b. Abschnitt:35 Arzneimittel mit langjähriger Verwendung in der EU und der EFTA (Art. 14 Abs. 1 Bst. ater HMG) Art. 17c 1 Für die Zulassung von Arzneimitteln nach Artikel 14 Absatz 1 Buchstabe ater HMG kann auf eine Dokumentation über die pharmakologischen, toxikologischen und klinischen Prüfungen nach den Artikeln 4 und 5 AMZV36 sowie auf eine Fach- information verzichtet werden. Für Tierarzneimittel kann auf die Dokumentationen nach den Artikeln 8 und 11 AMZV sowie auf eine Fachinformation verzichtet werden. 2 Gesuche um Zulassung von Arzneimitteln für Nutztiere müssen Angaben und Unterlagen zum Rückstandsnachweis und zu den notwendigen Absetzfristen enthal- ten. 3 Die Packungsbeilage muss einen gut lesbaren Hinweis enthalten, wonach das Arzneimittel ausschliesslich aufgrund seiner langjährigen Verwendung in einem bestimmten Land zugelassen wurde und dessen Sicherheit und Wirksamkeit von der Swissmedic nicht geprüft wurden. 34 SR 812.212.21 35 Eingefügt durch Ziff. I der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2018, in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 3657). 36 SR 812.212.22 Heilmittel 12 812.212.23 2c. Abschnitt:37 Arzneimittel mit kantonaler Zulassung (Art. 14 Abs. 1 Bst. aquater HMG) Art. 17d 1 Für die Zulassung von Arzneimitteln nach Artikel 14 Absatz 1 Buchstabe aquater HMG kann auf eine Dokumentation über die pharmakologischen, toxikologischen und klinischen Prüfungen nach den Artikeln 4 und 5 AMZV38 sowie auf eine Fachinformation verzichtet werden. Für Tierarzneimittel kann auf die Dokumentati- onen nach den Artikeln 8 und 11 AMZV sowie auf eine Fachinformation verzichtet werden. 2 Gesuche um Zulassung von Arzneimitteln für Nutztiere müssen Angaben und Unterlagen zum Rückstandsnachweis und zu den notwendigen Absetzfristen enthal- ten. 3 Die Packungsbeilage muss einen gut lesbaren Hinweis enthalten, wonach das Arz- neimittel ausschliesslich aufgrund seiner langjährigen Erfahrung in einem bestimm- ten Kanton zugelassen wurde und dessen Sicherheit und Wirksamkeit von der Swissmedic nicht geprüft wurden. 3. Abschnitt: Befristete Zulassung (Art. 9a HMG)39 Art. 1840 Grundsatz Befristet zugelassen werden kann ein Arzneimittel, wenn: a. es der Erkennung, Verhütung oder Behandlung einer Krankheit dient, die zu einer schweren Invalidität, schwerem Leiden mit möglicher Todesfolge oder kurzfristig zum Tod einer Patientin oder eines Patienten oder eines Tieres führen kann; b. kein alternativ anwendbares und gleichwertiges Arzneimittel in der Schweiz zugelassen oder verfügbar ist; c. von seiner Anwendung ein grosser therapeutischer Nutzen zu erwarten ist; d. die Gesuchstellerin voraussichtlich in der Lage ist, die erforderlichen Daten im Sinne des 2. oder des 3. Abschnitts der AMZV41 nachzuliefern; und 37 Eingefügt durch Ziff. I der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2018, in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 3657). 38 SR 812.212.22 39 Fassung gemäss Ziff. I der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2018, in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 3657). 40 Fassung gemäss Ziff. I der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2018, in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 3657). 41 SR 812.212.22 Vereinfachte Zulassung von Arzneimitteln und Zulassung von Arzneimitteln im Meldeverfahren. V des Schweizerischen Heilmittelinstituts 13 812.212.23 e. das Sammeln aller erforderlichen Daten sowie die Verarbeitung und Evalua- tion der Daten nach Buchstabe d im Rahmen des ordentlichen Zulassungs- verfahrens nach Artikel 11 HMG so lange dauern würde, dass dadurch irre- versible Schädigungen auftreten oder sich verstärken würden oder dies für die Patientin oder den Patienten mit schwerem Leiden verbunden wäre. Art. 19 Gesuch 1 Das Zulassungsgesuch muss insbesondere enthalten: a. Daten, die belegen, dass die in Artikel 18 festgelegten Kriterien erfüllt sind; b. die in den Artikeln 3 und 4 beziehungsweise 7–10 AMZV42 beschriebenen Angaben und Dokumente, die den Schluss nahe legen, dass die Zulassung des Arzneimittels mit dem Schutz der Gesundheit vereinbar ist; c. die Zwischenergebnisse von klinischen Studien, die darauf hinweisen, dass von der Anwendung des Arzneimittels ein grosser therapeutischer Nutzen zu erwarten ist; d. Angaben zur Zeit, die bis zur Einreichung eines ordentlichen Zulassungsge- such nach Artikel 9 Absatz 1 HMG erforderlich ist. 2 ...43 Art. 20 Im Ausland zugelassenes Arzneimittel 1 Erfüllt ein Arzneimittel die Kriterien nach Artikel 18 und ist es in einem anderen Land mit vergleichbarer Arzneimittelkontrolle (Art. 13 HMG) zugelassen, so muss die Gesuchstellerin nachweisen, dass ihr Präparat mit dem im Ausland zugelassenen identisch ist. 2 Die Swissmedic kann von der Gesuchstellerin zusätzliche Unterlagen und Angaben verlangen, namentlich die Evaluationsberichte der ausländischen Zulassungsbehör- de.44 Art. 2145 Befristung und Verlängerung der Zulassung 1 Die Zulassung wird für maximal zwei Jahre erteilt und mit besonderen Auflagen, beispielsweise mit der Pflicht, laufende Studien abzuschliessen oder neue Studien einzuleiten, verknüpft. 2 Wird ein Arzneimittel befristet zugelassen, so muss dies aus seiner Arzneimittel- information deutlich hervorgehen. 42 SR 812.212.22 43 Aufgehoben durch Ziff. I der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2018, mit Wirkung seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 3657). 44 Fassung gemäss Ziff. I der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2018, in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 3657). 45 Fassung gemäss Ziff. I der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2018, in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 3657). Heilmittel 14 812.212.23 3 Die Zulassung kann auf begründetes Gesuch hin verlängert werden. Mit dem Gesuch ist der Swissmedic ein Zwischenbericht über die Erfüllung der für die Zulas- sung angeordneten besonderen Auflagen einzureichen. Art. 21a46 Entzug der Zulassung und Erteilung einer Zulassung ohne besondere Auflagen 1 Die Swissmedic kann die Zulassung jederzeit entziehen, wenn eine der Vorausset- zungen nach Artikel 18 nicht mehr erfüllt ist oder die Zulassungsinhaberin die besonderen Auflagen nach Artikel 21 Absatz 1 nicht erfüllt. 2 Wurden diese Auflagen vollständig erfüllt, so erteilt die Swissmedic auf Gesuch hin für ein befristet zugelassenes Arzneimittel eine Zulassung für fünf Jahre. Art. 22 Verzeichnis der Arzneimittel mit befristeter Zulassung 1 Die Swissmedic führt und veröffentlicht ein Verzeichnis der Arzneimittel mit befristeter Zulassung. 2 Das Verzeichnis enthält folgende Daten: a. die Bezeichnung des Arzneimittels und die Zulassungsnummer; b. die beantragte Indikation; c. den oder die Wirkstoffe; d. den Namen der Zulassungsinhaberin; e. das Datum der Verfügung der Zulassung; f. das Datum des Ablaufs der Zulassung. g. für Tierarzneimittel, die Zieltierart. Art. 2347 Besondere Bestimmungen für Tierarzneimittel 1 Bei Tierarzneimitteln für Nutztiere sind die Anforderungen nach Artikel 10 AMZV48 zu erfüllen. 2 Ein Tierarzneimittel kann befristet zugelassen werden, wenn mit der befristeten Zulassung gesundheitliche Schäden abgewendet werden können, die zu schwerem Leiden oder zum Tod des Tiers führen würden, und dies auch, wenn die Vorausset- zung nach Artikel 19 Buchstabe c nicht erfüllt ist. 3 Tierarzneimittel, die nach diesem Abschnitt befristet zugelassen wurden, sind von der Möglichkeit der Umwidmung nach Artikel 6 der Tierarzneimittelverordnung vom 18. August 200449 (TAMV) ausgenommen. 46 Eingefügt durch Ziff. I der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2018, in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 3657). 47 Fassung gemäss Ziff. I der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2018, in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 3657). 48 SR 812.212.22 49 SR 812.212.27 Vereinfachte Zulassung von Arzneimitteln und Zulassung von Arzneimitteln im Meldeverfahren. V des Schweizerischen Heilmittelinstituts 15 812.212.23 4. Abschnitt: Wichtige Arzneimittel für seltene Krankheiten (Orphan Drugs, MUMS)50 Art. 24 Grundsatz 1 Vereinfacht zugelassen werden kann ein Arzneimittel, das über den Status als wichtiges Arzneimittel für seltene Krankheiten gemäss den Artikeln 4 und 8 Ab- satz 1 verfügt. 2 Betrifft das Zulassungsgesuch eine neue Indikation eines bereits zugelassenen Arzneimittels, so reicht die Zulassungsinhaberin ein separates Zulassungsgesuch ein, das ausschliesslich die Indikationen für die seltenen Krankheiten abdeckt. Art. 2551 Vorabklärungen Die Gesuchstellerin kann vor der Einreichung eines Zulassungsgesuchs von der Swissmedic die Prüfungen und Versuche zum Nachweis von Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit des Arzneimittels beurteilen lassen, die gemäss den Artikeln 3–6 oder bei Tierarzneimitteln nach den Artikeln 711 AMZV52 durchzuführen sind. Art. 26 Wissenschaftliche Dokumentation für die Zulassung 1 Die Seltenheit der Krankheit und die damit verbundene Erschwerung der Durch- führung klinischer Versuche gemäss Artikel 5 oder 11 AMZV53 werden durch die Swissmedic im Hinblick auf die Anforderungen an die wissenschaftliche Dokumen- tation für die Zulassung angemessen berücksichtigt. 2 Ist das Arzneimittel von einem anderen Land mit vergleichbarer Arzneimittelkon- trolle zugelassen, kann die Gesuchstellerin bei der Swissmedic die Dokumentation zur Qualität, zur Toxikologie und zur Klinik einreichen, welche die Grundlage zur Bewilligung im Drittland bildete, wenn diese Unterlagen in einer Landessprache oder in Englisch verfasst sind. Art. 27 Besondere Bestimmungen für die vereinfachte Zulassung wichtiger Tierarzneimittel für seltene Krankheiten (Art. 14 Abs. 1 HMG)54 1 Bei Tierarzneimitteln für Nutztiere sind die Anforderungen nach Artikel 10 AMZV55 vollumfänglich zu erfüllen. 50 Fassung gemäss Ziff. I der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2018, in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 3657). 51 Fassung gemäss Ziff. I der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2018, in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 3657). 52 SR 812.212.22 53 SR 812.212.22 54 Fassung gemäss Ziff. I der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2018, in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 3657). 55 SR 812.212.22 Heilmittel 16 812.212.23 2 Tierarzneimittel, die nach diesem Abschnitt vereinfacht zugelassen wurden, sind von der Möglichkeit der Umwidmung nach Artikel 6 TAMV56 ausgenommen. 4a. Abschnitt:57 Radiopharmazeutika und Antidota mit allgemeiner medizinischer Verwendung (Art. 14 Abs. 1 HMG) Art. 27a 1 Radiopharmazeutika und Antidota, die einen Wirkstoff enthalten, der in keinem anderen von der Swissmedic zugelassenen Arzneimittel enthalten ist oder war, können vereinfacht zugelassen werden, wenn: a. der Wirkstoff des Arzneimittels für die beantragte Indikation und Anwen- dungsart seit mindestens 10 Jahren verwendet wird und seine Sicherheit und Wirksamkeit aufgrund der gesammelten Anwendungserfahrungen allgemein anerkannt sind; b. das Präparat in einem Land mit vergleichbarer Arzneimittelkontrolle für die beantragte Indikation und Anwendungsart zugelassen ist oder war oder von der zuständigen ausländischen Behörde oder von der Swissmedic für die Behandlung bestimmter Patientinnen oder Patienten bewilligt worden ist. 2 Antidota, die in das Sortiment der Armeeapotheke aufgenommen werden sollen, können vereinfacht zugelassen werden, wenn die Voraussetzung nach Absatz 1 Buchstabe a erfüllt ist. 3 Die Swissmedic kann in begründeten Fällen von der Dokumentationspflicht nach den Artikeln 4 und 5 AMZV absehen. Der Zulassungsentscheid kann an Auflagen und Bedingungen geknüpft werden, die eine systematische Überwachung der An- wendung des Arzneimittels sicherstellen. 5. Abschnitt: Eingeführte Arzneimittel (Art. 14 Abs. 2 HMG) Art. 2858 Grundsatz 1 Ein nach Artikel 14 Absatz 2 HMG eingeführtes Arzneimittel kann vereinfacht zugelassen werden.59 2 Die Swissmedic gibt den Gesuchstellerinnen bekannt, welche Länder über ein gleichwertiges Zulassungssystem im Sinne von Artikel 14 Absatz 2 HMG verfügen. 56 SR 812.212.27 57 Eingefügt durch Ziff. I der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2012, in Kraft seit 1. Jan. 2013 (AS 2012 5677). 58 Fassung gemäss Ziff. I der V des Institutsrats vom 8. Mai 2009, in Kraft seit 1. Juli 2009 (AS 2009 2437). 59 Die Berichtigung vom 12. Juni 2019 betrifft nur den französischen Text (AS 2019 1801). Vereinfachte Zulassung von Arzneimitteln und Zulassung von Arzneimitteln im Meldeverfahren. V des Schweizerischen Heilmittelinstituts 17 812.212.23 Art. 29 Gesuch 1 Das Gesuch um Zulassung eines Arzneimittels nach Artikel 28 Absatz 1 muss enthalten:60 a. einen Nachweis, dass die Gesuchstellerin über eine Herstellungsbewilligung nach Artikel 5 Absatz 1 Buchstabe a HMG oder über eine Bewilligung für die Einfuhr nach Artikel 18 Absatz 1 Buchstabe a HMG verfügt; b.61 die Bezeichnung und die Zulassungsnummer des in der Schweiz bereits zu- gelassenen Arzneimittels; c. die Bezeichnung und die Zulassungsnummer des eingeführten Arzneimittels sowie den Namen und die Anschrift der Zulassungsinhaberin im Ausland (Exportland); d. eine Musterpackung des im Ausland zugelassenen Arzneimittels samt Fach- und Patienteninformation im Original sowie in einer beglaubigten Überset- zung in einer Schweizer Amtssprache oder in Englisch, falls das Original in einer anderen Sprache verfasst ist; e. eine Erklärung, wonach ausschliesslich dieses Arzneimittel in die Schweiz eingeführt und vertrieben werden soll; f. Belege dafür, dass die ausländische Bezugsquelle für das eingeführte Arz- neimittel über eine gültige Bewilligung des Exportlandes verfügt, welche die Einhaltung der Regeln der guten Vertriebspraxis (GDP) sicherstellt; g. eine detaillierte Beschreibung des Umpackungsverfahrens entsprechend den Regeln der Guten Herstellungspraxis (GMP); h. allgemeine administrative Unterlagen nach Artikel 2 Buchstabe a AMZV62. 2 Zudem müssen: a. die Fach- und die Patienteninformation und die Angaben auf der Packung des eingeführten Arzneimittels denjenigen des in der Schweiz bereits zuge- lassenen Arzneimittels entsprechen; und b. die Fach- und die Patienteninformation einen gut lesbaren Hinweis enthal- ten, der angibt: 1. dass das eingeführte Arzneimittel gestützt auf Artikel 14 Absatz 2 HMG zugelassen wurde, und 2. auf welches in der Schweiz bereits zugelassene Arzneimittel, insbeson- dere dessen Bezeichnung, Zulassungsnummer und Zulassungsinhabe- rin, sich das eingeführte Arzneimittel bezieht.63 60 Fassung gemäss Ziff. I der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2018, in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 3657). 61 Fassung gemäss Ziff. I der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2018, in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 3657). 62 SR 812.212.22 63 Fassung gemäss Ziff. I der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2018, in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 3657). Heilmittel 18 812.212.23 Art. 3064 Vorlage von Dokumenten betreffend Herstellung und Prüfung im Rahmen der Marktüberwachung 1 Die Swissmedic kann von der Zulassungsinhaberin des eingeführten Arzneimittels generelle oder chargenspezifische Dokumente betreffend Herstellung und Prüfung verlangen. 2 Macht die Zulassungsinhaberin des eingeführten Arzneimittels glaubhaft, dass sie nicht in der Lage ist, die verlangten Dokumente zu beschaffen, so kann die Swiss- medic die Zulassungsinhaberin des in der Schweiz bereits zugelassenen Arzneimit- tels auffordern, diese Dokumente vorzulegen. 3 Macht die Zulassungsinhaberin des in der Schweiz bereits zugelassenen Arzneimit- tels glaubhaft, dass sie nicht in der Lage ist, die verlangten Dokumente zu beschaf- fen, so wendet sich die Swissmedic zur Erlangung der erforderlichen Unterlagen an die Behörde des Exportlandes. Art. 3165 Änderungen Erfährt das in der Schweiz bereits zugelassene Arzneimittel gesundheitspolizeilich relevante Änderungen, so sind diese auch für das eingeführte Arzneimittel unverzüg- lich zu beantragen. 5. Kapitel: Meldeverfahren 1. Abschnitt: Allgemeine Bestimmungen Art. 32 Grundsatz 1 Die Swissmedic kann die Zulassung auf blosse Meldung hin verfügen, sofern: a. die Voraussetzungen für ein vereinfachtes Verfahren nach Artikel 14 Ab- satz 1 HMG erfüllt sind; und b. aufgrund der ihr vorliegenden Erkenntnisse die Vorlage und Prüfung von Unterlagen zur Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit des Arzneimittels nicht erforderlich erscheint.66 2 Die Gesuchstellerin muss der Swissmedic auf einfache Aufforderung hin jederzeit eine Dokumentation zur Qualität nach Artikel 3 beziehungsweise 7 AMZV67 vorle- gen können. 64 Fassung gemäss Ziff. I der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2018, in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 3657). 65 Fassung gemäss Ziff. I der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2018, in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 3657). 66 Fassung gemäss Ziff. I der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2018, in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 3657). 67 SR 812.212.22 Vereinfachte Zulassung von Arzneimitteln und Zulassung von Arzneimitteln im Meldeverfahren. V des Schweizerischen Heilmittelinstituts 19 812.212.23 Art. 33 Verfahren Die Einreichung und Prüfung des Gesuchs (Meldung) richten sich nach Artikel 3 VAM68. 2. Abschnitt: Co-Marketing-Arzneimittel Art. 34 Grundsatz Ein Arzneimittel, das sich auf Grund einer schriftlichen Ermächtigung der Zulas- sungsinhaberin eines bereits zugelassenen Arzneimittels (Basispräparates) auf des- sen Zulassungsunterlagen stützen kann und vom Basispräparat mit Ausnahme der Bezeichnung und der Packung nicht unterscheidet, kann durch die Swissmedic als Co-Marketing-Arzneimittel auf blosse Meldung hin zugelassen werden. Art. 35 Meldung Die Meldung an die Swissmedic muss enthalten: a. einen Nachweis, dass die Gesuchstellerin über eine Bewilligung nach Arti- kel 10 Absatz 1 Buchstabe b HMG verfügt; b. allgemeine administrative Angaben nach Artikel 2 Buchstabe a AMZV69; c. eine schriftliche Erklärung der Zulassungsinhaberin des Basispräparates, mit der die Gesuchstellerin ermächtigt wird, sich vollumfänglich auf die wissen- schaftliche Dokumentation zu diesem Präparat zu beziehen; d. eine schriftliche Erklärung der Herstellerin, mit der diese bestätigt, dass das Co-Marketing-Arzneimittel in Bezug auf das Herstellungsverfahren sowie auf die qualitative und quantitative Zusammensetzung mit dem Basispräpa- rat identisch ist. Art. 36 Arzneimittelinformation Die Fach- und Patienteninformation für das Co-Marketing-Arzneimittel muss mit derjenigen des Basispräparates mit Ausnahme der Bezeichnung identisch sein. Weitere Ausnahmen sind lediglich gestattet, soweit sie notwendig sind, weil vom Co-Marketing-Arzneimittel nicht alle Packungsgrössen des Basispräparates zugelas- sen sind. Art. 37 Packungsgrössen Für das Co-Marketing-Arzneimittel dürfen nur Packungsgrössen zugelassen werden, die auch für das Basispräparat zugelassen sind. 68 SR 812.212.21 69 SR 812.212.22 Heilmittel 20 812.212.23 Art. 3870 Änderungen 1 Erfährt das Basispräparat Änderungen, die auch das Co-Marketing-Arzneimittel betreffen, so sind diese für das Co-Marketing-Arzneimittel zu übernehmen. 2 Die Änderungen des Co-Marketing-Arzneimittels sind innerhalb von 30 Tagen nach Genehmigung der Änderungen des Basispräparates oder nach Versand der Meldung über die Änderung des Basispräparates der Swissmedic zu melden. 3. Abschnitt: Tierarzneimittel Art. 3971 Grundsatz 1 Ein nicht verschreibungspflichtiges Tierarzneimittel für Heimtiere nach Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe b TAMV72 kann auf blosse Meldung hin zugelassen werden, wenn das Tierarzneimittel ausschliesslich: a. für Zierfische, Sing- oder Ziervögel, Brieftauben, Reptilien, Amphibien oder für Kleinsäuger bestimmt ist; und b. Wirkstoffe enthält, die in der Liste gemäss Anhang 2 aufgeführt sind. 2 Ein nicht verschreibungspflichtiges Arzneimittel, das zwar für Tiere nach Absatz 1 Buchstabe a bestimmt ist, dessen Wirkstoffe jedoch nicht in der Liste gemäss An- hang 2 aufgeführt sind, kann auf entsprechendes Gesuch hin trotzdem auf blosse Meldung hin zugelassen werden, sofern deren Gefährdungspotenzial nach aktuellem Stand der Wissenschaft als gering zu beurteilen ist. Art. 40 Meldung 1 Die Meldung an die Swissmedic muss enthalten: a. Unterlagen, die zeigen, dass die Anforderungen nach Artikel 39 erfüllt sind; und b. den Nachweis, dass die Gesuchstellerin über eine Bewilligung nach Arti- kel 10 Absatz 1 Buchstabe b HMG verfügt.73 2 Die Swissmedic kann zusätzliche Auskünfte und Unterlagen verlangen. Art. 4174 70 Fassung gemäss Ziff. I der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2018, in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 3657). 71 Fassung gemäss Ziff. I der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2018, in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 3657). 72 SR 812.212.27 73 Fassung gemäss Ziff. I der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2018, in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 3657). 74 Aufgehoben durch Ziff. I der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2018, mit Wirkung seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 3657). Vereinfachte Zulassung von Arzneimitteln und Zulassung von Arzneimitteln im Meldeverfahren. V des Schweizerischen Heilmittelinstituts 21 812.212.23 Art. 42 Umwidmung Tierarzneimittel, die nach diesem Abschnitt auf blosse Meldung hin zugelassen wurden, sind von der Möglichkeit der Umwidmung nach Artikel 6 TAMV75 ausge- nommen. 5a. Kapitel:76 Zulassung von Verfahren zur Herstellung nichtstandardisierbarer Arzneimittel Art. 42a Die im Anhang 3 zu dieser Verordnung bezeichneten Arzneimittel und Arzneimit- telgruppen dürfen nur in Verkehr gebracht werden, wenn ihr Herstellungsverfahren von der Swissmedic zugelassen worden ist. 6. Kapitel: Schlussbestimmungen Art. 43 Aufhebung bisherigen Rechts Die Verordnung des Schweizerischen Heilmittelinstituts vom 9. November 200177 über die vereinfachte Zulassung und die Meldepflicht von Arzneimitteln wird auf- gehoben. Art. 44 Inkrafttreten Diese Verordnung tritt am 1. Oktober 2006 in Kraft. 75 SR 812.212.27 76 Eingefügt durch Ziff. I der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2018, in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 3657). 77 [AS 2001 3469] Heilmittel 22 812.212.23 Anhang 178 (Art. 10 Abs. 1) Anforderungen an Präparate-Monografien nach Artikel 10 1 Aufbau Die Präparate-Monografie eines Formulariums hat folgende Gliederung aufzuwei- sen: a. Titel; b. Definition; c. qualitative und quantitative Zusammensetzung; d. Qualität der Wirkstoffe und Hilfsstoffe; e. Herstellungsverfahren des Präparates; f. Prüfungen auf Identität, Reinheit und Gehalt sowie allgemeine und galeni- sche Prüfungen; g. Lagerung und Haltbarkeit; h. Beschriftung inklusive Bezeichnung der Präparate-Monografie, aufgrund welcher das Arzneimittel hergestellt wurde sowie Verfallsdatum bzw. Auf- brauchsfrist; i. Behältnisse. 2 Angaben Das Gesuch muss für jede Präparate-Monografie folgende Angaben enthalten: a. Hinweise zur Indikation und Dosierung des Präparates; b. Applikation; c. Grösse und Herstellungsformel für Standardchargen; d. Begründung für die Zusammensetzung und die Art der Applikation; e. Spezifikationen und Prüfungsvorschriften aller Ausgangsstoffe und gegebe- nenfalls Ausgangsmaterialien; f. ausführliche Beschreibung des Herstellungsverfahrens; g. Risikobewertung der einzelnen Herstellungsschritte; h. Validierungsunterlagen zum Herstellungsverfahren; 78 Ursprünglich: Anhang. Bereinigt gemäss Ziff. II Abs. 1 der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2018, in Kraft seit 1. Jan. 2019 (AS 2018 3657). Vereinfachte Zulassung von Arzneimitteln und Zulassung von Arzneimitteln im Meldeverfahren. V des Schweizerischen Heilmittelinstituts 23 812.212.23 i. Spezifikationen und Prüfungsvorschriften der Zwischenprodukte; j. Spezifikationen und Prüfungsvorschriften des Fertigprodukts; k. Analysen-Zertifikate des Fertigprodukts; l. Validierungsunterlagen zu den Prüfungsvorschriften; m. Spezifikation und Eignung des Primärbehälters; n. Stabilitätsunterlagen; o. Textentwürfe für die Verpackungsmaterialien; p. Bibliografie. Heilmittel 24 812.212.23 Anhang 279 (Art. 39) Zulässige Wirkstoffe für die Zulassung von Tierarzneimitteln im Meldeverfahren80 79 Eingefügt durch Ziff. II Abs. 2 der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2018 (AS 2018 3657). Fassung gemäss Ziff. I der V des Institutsrats vom 8. Mai 2020, in Kraft seit 1. Juli 2020 (AS 2020 1847). 80 Dieser Text wird in der AS und in der SR nicht publiziert (Art. 5 PublG; SR 170.512). Er kann unter www.swissmedic.ch abgerufen werden. Vereinfachte Zulassung von Arzneimitteln und Zulassung von Arzneimitteln im Meldeverfahren. V des Schweizerischen Heilmittelinstituts 25 812.212.23 Anhang 381 (Art. 42a) Arzneimittel und Arzneimittelgruppen mit zulassungspflichtigem Herstellungsverfahren82 81 Eingefügt durch Ziff. II Abs. 2 der V des Institutsrats vom 7. Sept. 2018 (AS 2018 3657). Fassung gemäss Ziff. I der V des Institutsrats vom 8. Mai 2020, in Kraft seit 1. Juli 2020 (AS 2020 1847). 82 Dieser Text wird in der AS und in der SR nicht publiziert (Art. 5 PublG; SR 170.512). Er kann unter www.swissmedic.ch abgerufen werden. Heilmittel 26 812.212.23 | de |
85fc17cd-bb66-4cde-ada7-292db5ed89a5 | Sachverhalt
ab Seite 556
BGE 95 II 555 S. 556
A.-
Robert Wehrli, einziger Aktionär und Verwaltungsrat der Elektro-Mechanik AG, Luzern, suchte im Sommer 1964 einen Teilhaber-Geschäftsführer mit einer Kapitalbeteiligung. Mit Vertrag vom 20. August 1964 trat Ernst Bösch als "leitender Geschäftsführer für den technischen und kaufmännischen Bereich" in die Dienste der Elektro-Mechanik AG. In der ausserordentlichen Generalversammlung der Gesellschaft vom 19. Februar 1965 wurde die Firma in Fema AG abgeändert, Bösch als neues Mitglied in den Verwaltungsrat aufgenommen und die Erhöhung des Aktienkapitals von Fr. 50'000.-- auf Fr. 100'000.--, eingeteilt in 200 Namenaktien zu Fr. 500.--, beschlossen. Die Aktien wurden von Wehrli und Bösch je zur Hälfte übernommen. Wehrli wurde Präsident des Verwaltungsrates
BGE 95 II 555 S. 557
mit Einzelunterschrift. In der Folge kam es zwischen den beiden Aktionären zu Differenzen. Bösch kündigte den Anstellungsvertrag auf den 31. Dezember 1966 und blieb bis 28. Januar 1967 Mitglied der Verwaltung.
Die Statuten der Fema AG von 19. Februar 1965 bestimmen u.a.: Auf jede Aktie entfällt eine Stimme (Art. 9). Die Generalversammlung fasst ihre Beschlüsse mit der absoluten Mehrheit der vertretenen Aktienstimmen (Art. 10 Satz 1). Der Vorsitzende stimmt mit und hat zudem den Stichentscheid (Art. 10 Satz 2).
An der ordentlichen Generalversammlung der Fema AG vom 28. Januar 1967 stimmten beide Aktionäre gegensätzlich über folgende Geschäfte ab:
"a) Genehmigung des Jahresabschlusses pro 1965;
b) Antrag des Klägers, die Bilanz 1965 nach wirklichen Werten zu korrigieren, nämlich Abschreibungen und angefangene Arbeiten richtig zu stellen;
c) Verwendung des Reingewinns:
aa) Antrag Robert Wehrli, den Reingewinn auf neue Rechnung vorzutragen;
bb) Antrag des Klägers, nach berichtigtem Jahresabschluss eine Dividende von 5% auszuschütten, das gesetzlich vorgeschriebene Minimum in den Reservefonds zu legen, Fr. 2000.-- an den Kläger für besondere Leistungen und Fr. 500.-- an den Buchhalter als Honorar zu bezahlen.
Der Rest wäre auf neue Rechnung vorzutragen.".
In der am gleichen Tag durchgeführten ausserordentlichen Generalversammlung der Fema AG stimmten die beiden Aktionäre - wiederum gegensätzlich - über folgende Anträge ab:
a) Abberufung bzw. Nichterneuerung des Verwaltungsratsmandates des Klägers;
b) Abberufung bzw. Nichterneuerung des Verwaltungsratsmandates E. Bösch und Wahl des Präsidenten Robert Wehrli."
In der Folge wurde Ernst Bösch auf Mitteilung der Fema AG im Handelsregister als Mitglied des Verwaltungsrates mit Kollektivunterschrift gelöscht. Die Löschung wurde am 6. März 1967 im Schweizerischen Handelsamtsblatt veröffentlicht.
B.-
Ernst Bösch klagte am 10. Juni 1967 beim Amtsgericht Luzern-Stadt auf Feststellung, dass Art. 10 Satz 2 der Gesellschaftsstatuten, die an der ordentlichen und ausserordentlichen Generalversammlung der Fema AG vom 28. Januar 1967 mit Stichentscheid des Verwaltungsratspräsidenten gefassten Beschlüsse betreffend Geschäftsbericht und Jahresabschluss 1965,
BGE 95 II 555 S. 558
Wahl und Abberufung von Angestellten, Entlastung der Verwaltung, Neuwahl und Abberufung des Verwaltungsrates nichtig (Rechtsbegehren 1, 2a und b), eventuell anfechtbar seien (Rechtsbegehren 3); ferner sei das Handelsregisteramt des Kantons Luzern anzuweisen, den Kläger als Verwaltungsrat der Beklagten mit Kollektivunterschrift im Handelsregister wieder einzutragen und die entsprechende Veröffentlichung im Schweizerischen Handelsamtsblatt vorzunehmen (Rechtsbegehren 4a); eventuell sei die Beklagte zu verpflichten, diese Anmeldung beim kantonalen Handelsregisteramt selber vorzunehmen (Rechtsbegehren 4b); subeventuell sei der Kläger zu ermächtigen, diese Anmeldung von sich aus vorzunehmen (Rechtsbegehren 4c). Schliesslich beantragte der Kläger, ihm für das Geschäftsjahr 1965 gerichtlich Entlastung zu erteilen (Rechtsbegehren 5).
Das Amtsgericht Luzern-Stadt wies am 20. März 1968 die Klage ab, soweit es darauf eintrat.
Das Obergericht des Kantons Luzern schützte am 4. November 1968 die Klage teilweise, indem es die von der Beklagten
a) an der ordentlichen Generalversammlung vom 28. Januar 1967 gefassten Beschlüsse
- betreffend die Genehmigung des Geschäftsberichtes für das Jahr 1965;
- betreffend die Genehmigung des Jahresabschlusses für das Jahr 1965;
- betreffend die Wahl und Abberufung von Angestellten;
b) an der ausserordentlichen Generalversammlung vom 28. Januar 1967 gefassten Beschlüsse
- betreffend die Nichterneuerung des Mandates des Klägers als Verwaltungsrat;
- betreffend die Erneuerung des Mandates Robert Wehrlis als Verwaltungsrat;
als nichtig erklärte.
Ferner verpflichtete es die Beklagte, innert 10 Tagen nach Rechtskraft des Urteils den Kläger als Verwaltungsrat mit Kollektivunterschrift zur Eintragung im Handelsregister des Kantons Luzern anzumelden; im übrigen wies es die Klage ab.
C.-
Die Beklagte beantragt mit der Berufung, das vorinstanzliche Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Berufung abzuweisen und das angefochtene Urteil zu bestätigen.
BGE 95 II 555 S. 559 Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
a) Nach
Art. 703 OR
fasst die Generalversammlung der Aktiengesellschaft ihre Beschlüsse und vollzieht ihre Wahlen, soweit das Gesetz (vgl. Art. 623 Abs. 2, 635 Abs. 3, 636, 646, 648 Abs. 1, 650 Abs. 2, 825 Abs. 3 OR) oder die Statuten es nicht anders bestimmen, mit der absoluten Mehrheit der vertretenen Aktienstimmen. Schweigen die Statuten, so hat bei Stimmengleichheit ein Antrag das nötige Mehr nicht gefunden und ist abgelehnt; ebenso ist eine Wahl nicht zustande gekommen, wenn die Kandidaten dieselbe Stimmenzahl erreichen (vgl. BÄR, Aktuelle Fragen des Aktienrechts, ZSR 1966 II, S. 431). Es fragt sich, ob die Statuten nach
Art. 703 OR
für den Fall der Stimmengleichheit den Stichenscheid des Vorsitzenden vorsehen dürfen und damit die Beschlussfähigkeit der Generalversammlung ermöglichen können. Die Frage ist in der Lehre umstritten und vom Bundesgericht noch nicht entschieden worden (in
BGE 71 II 277
f. war sie nicht zu beurteilen).
b) Nach
Art. 19 Abs. 1 OR
kann der Inhalt des Vertrages innerhalb der Schranken des Gesetzes beliebig festgelegt werden. Dieser auf das Schuldrecht ausgerichtete Grundsatz ist nach
Art. 7 ZGB
auch auf andere Rechtsverhältnisse, also auch auf das Gesellschaftsrecht anzuwenden (vgl.
BGE 51 II 70
; KOLLER, Grundfragen einer Typuslehre im Gesellschaftsrecht, S. 107/08; SCHUCANY, N. 2 zu
Art. 706 OR
). Der statutarisch angeordnete Stichentscheid des Vorsitzenden in der Generalversammlung der Aktiengesellschaft ist somit insbesondere dann zulässig, wenn er nicht gegen zwingende Vorschriften des Aktienrechts verstösst (
Art. 19 Abs. 2 OR
).
2.
Das Obergericht erachtet die angefochtene Statutenbestimmung als unzulässig, weil entsprechend dem Wesen der Aktiengesellschaft als Kapitalgesellschaft das Stimmrecht auf der Kapitalbeteiligung beruhe und nur diese die Mitgliedschaft und die aus ihr fliessenden Rechte verleihe; für das Stimmrecht nach Köpfen bestehe daher im schweizerischen Aktienrecht kein Raum und dürfe eine vom Aktienbesitz unabhängige persönliche Stimme des Vorsitzenden nicht geschaffen werden. Die Vorinstanz folgert daraus, dass in den Abstimmungen der beiden Generalversammlungen keine Beschlüsse gefasst worden seien, weil die absolute Mehrheit der vertretenen Aktienstimmen gefehlt habe.>
BGE 95 II 555 S. 560
Diese Auffassung wird im Schrifttum von verschiedenen Autoren (vgl. FREI, Zur Frage des Stichentscheides des Vorsitzenden in der Generalversammlung der Aktiengesellschaft, SAG 1950/51, S. 230 f.; BÜRGI, N. 24 f. zu Art. 698 und N. 2 zu
Art. 703 OR
; CARRY, La voix prépondérante du président dans les assemblées générales de la société anonyme, Sem. jud. 1960, S. 449 f.; SCHOCH, Die Zweimann-Aktiengesellschaft (Probleme bei gleichem Aktienbesitz), SAG 1959/60, S. 235/36; EIGENMANN, Zum Stichentscheid des Präsidenten, SAG 1962, S. 245 f.; SCHAUB, La voix prépondérante du président, SAG 1960/61, S. 101/102) vertreten und in der Rechtsprechung vom Handelsgericht des Kantons St. Gallen (SAG 1962/63, S. 128 f.) und der Cour de Justice de Genève (SAG 1969, S. 109 f.) geteilt. Sie beruht auf der Vorstellung, der Gesetzgeber habe bei der Regelung des Aktienrechts die sogenannte Publikums-Aktiengesellschaft als Leitbild im Auge gehabt (vgl. in diesem Sinne JÄGGI, Ungelöste Fragen des Aktienrechts, SAG 1958/59, S. 65; BÜRGI, Revisionsbedürftige Regelungen des Aktienrechts, Expo-Festschrift 1964, S. 205; MEIER-HAYOZ, Personengesellschaftliche Elemente im Rechte der Aktiengesellschaft, Festschrift Hug, S. 384; WOLF, Zu einem Urteil über den statutarischen Stichentscheid in der Generalversammlung der Aktiengesellschaft, SAG 1962/63, S. 222; derselbe, Das Stimmengleichheitsproblem bei Abstimmungen: Problemlösungsdenken versus limitatives Systemdenken, SJZ 1965, S. 205; CARRY, a.a.O., S. 455). Gegen diese Betrachtungsweise erheben sich gewichtige Bedenken (vgl. JOLIDON, Problèmes de structure dans le droit des sociétés (Portée et limites de la théorie des Types), ZSR 1968 II S. 552 f.). So legte der Gesetzgeber das Mindestkapital der Aktiengesellschaft auf Fr. 50'000.-- fest, forderte für die Deckung jedoch bloss Fr. 20'000.-- in bar oder durch Sacheinlage (
Art. 633 OR
); ferner liess er die Gründung einer Aktiengesellschaft mit drei Aktionären zu, ohne dass nachträglich eine Verminderung der Gesellschafter zwangsläufig die Auflösung der Aktiengesellschaft zur Folge hätte (
Art. 625 OR
). Schliesslich kann eine Aktiengesellschaft nach Art. 638 auch durch Simultangründung (vgl. Randtitel) entstehen, indem sämtliche Aktionäre die Errichtungsurkunde unterzeichnen. Durch diese Ordnung ermöglichte der Gesetzgeber auch die Entstehung kleinerer Gesellschaften mit personenrechtlichem Einschlag (vgl. BÜRGI, Expo-Festschrift 1964 S. 205). Diese Gesellschaften
BGE 95 II 555 S. 561
überwiegen im Rechtsleben eindeutig, verwirklichen doch nur eine "Minderzahl von Aktiengesellschaften ... das gesetzliche Modell" (vgl. JÄGGI, a.a.O., S. 66; MEIER-HAYOZ, a.a.O., S. 384).
Auch bei der Ordnung des Stimmrechts in der Generalversammlung (vgl. Art. 692 f. OR) hat der Gesetzgeber personengesellschaftlichen Gesichtspunkten Rechnung getragen. Das in
Art. 692 Abs. 1 OR
verankerte Stimmrecht nach Zahl und Nennwert der Aktien (Real- oder Kapitalprinzip) wird durch erhebliche Ausnahmen abgeschwächt. So können die Statuten nach
Art. 692 Abs. 2 OR
die Stimmenzahl der Besitzer mehrerer Aktien beschränken. Absatz 3 der gleichen Vorschrift gestattet, bei Herabsetzung des Nennwertes der Aktien im Falle der Sanierung das Stimmrecht dem ursprünglichen Nennwert entsprechend beizubehalten. Sodann können nach
Art. 693 Abs. 1 OR
die Statuten das Stimmrecht unabhängig vom Nennwert nach der Zahl der jedem Aktionär gehörenden Aktien festsetzen, so dass auf jede Aktie eine Stimme entfällt. Freilich ist in allen diesen Ausnahmefällen das Stimmrecht notwendigerweise mit dem Besitz von Aktien verknüpft. Die für die Beschlussfassung massgebende Stimmkraft ist aber nicht ausschliesslich an die kapitalmässige Beteiligung gebunden, sondern beruht entscheidend auf der Person des Aktionärs. Diese Feststellung trifft für die Stimmrechtsaktien (vgl. Randtitel zu
Art. 693 OR
) in besonderem Masse zu, werden doch damit ganz unterschiedliche Machtverhältnisse geschaffen, indem beispielsweise eine Aktiengesellschaft neben Aktien zu Fr. 100.-- solche zu Fr. 1000.-- oder Fr. 3000.-- ausgibt und die beiden Aktiengattungen trotz unterschiedlichem Nennwert mit der gleichen Stimmkraft ausstattet (verdecktes Pluralstimmrecht). Kapitalmässig kleinere Minderheiten können daher entscheiden, was bei der Beschlussfassung viel schwerer wiegt als der Stichentscheid des Vorsitzenden, der das Abstimmungsergebnis nur geringfügig verfälscht (vgl. BÄR, a.a.O., S. 432; VON STEIGER, Nochmals zum Stimmengleichheitsproblem, SJZ 1965, S. 305/06). Es rechtfertigt sich denn auch innerlich ebenso gut, statt den Willen der ablehnenden 50% zu berücksichtigen, auf jenen der zustimmenden 50% abzustellen. BÄR (a.a.O., S. 431) betrachtet es daher mit Recht als eine Überspitzung des Mehrheitsprinzips, wenn in einem solchen Fall der in den Statuten niedergelegte korporative Wille nicht berücksichtigt wird. Gerade bei der Gesellschaft mit grosser
BGE 95 II 555 S. 562
Aktionärzahl ohne feste Blockbildung und mit nur zufälligem, jedenfalls aber bloss gelegentlichem Gleichstand ist der Stichentscheid des Vorsitzenden besonders am Platz und verlieren die Bedenken aus der Gleichheit der Stimmbemessung jedes Gewicht (vgl. BÄR, a.a.O., S. 433).
Die Gegner lehnen den statutarischen Stichentscheid des Vorsitzenden namentlich deshalb ab, weil bei der Zweimann- oder Zweigruppen-Gesellschaft die Gefahr eines Missbrauchs bestehe, indem die nur mit Stichentscheid geschaffene, im Grunde genommen bloss fiktive Mehrheit den andern Aktionär oder die andere Aktionärgruppe ständig in die Minderheit versetzen könne. Damit würde - so wird argumentiert - auf die Dauer ein unerträglicher Zustand geschaffen, der für die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft nicht weniger gefährlich wäre als die Beschlussunfähigkeit zufolge Stimmengleichheit. In solchen Fällen sei daher eine mehr oder weniger erzwungene Verständigung meist zweckmässiger als die Majorisierung auf Grund einer einzigen, bloss fiktiven Mehrheitsstimme. Der Gefahr der Beschluss- und Funktionsunfähigkeit einer Aktiengesellschaft mit zwei kapitalmässig gleich stark beteiligten Aktionären oder Aktionärgruppen könne dadurch begegnet werden, dass beide Seiten je eine Aktie einem gemeinsamen Vertrauensmann übergeben.
Zwar ist denkbar, dass der statutarische Stichentscheid in einzelnen Fällen dauernd zu Mehrheitsbeschlüssen führen kann. Aber solche Beschlüsse brauchen durchaus nicht rechtsmissbräuchlich zu sein (vgl. WOLF, SJZ 1965, S. 205 und SAG 1962/63, S.221). Das ist erst dann der Fall, wenn der auf Grund des Stichentscheides gefasste Beschluss sich durch vernünftige wirtschaftliche Erwägungen nicht rechtfertigen lässt, die Interessen der Minderheit offensichtlich beeinträchtigt und Sonderinteressen der Mehrheit ohne Grund bevorzugt (vgl.
BGE 95 II 164
mit Hinweisen). Die Auffassung BÜRGIS (ZSR 1959 II S. 726a), es sei besonders untragbar, wenn eine Zweigruppen-Gesellschaft nur von der Stimme des Präsidenten abhange, ist daher eine unzutreffende Verallgemeinerung. Wird die Minderheit durch einen sachlich nicht gerechtfertigten Beschluss beeinträchtigt, so steht ihr die Anfechtungs- und allenfalls die Auflösungsklage aus wichtigen Gründen offen (
Art. 706 und 736 Abs. 4 OR
).
Die Möglichkeit, bei der Zweimann- oder Zweigruppen-
BGE 95 II 555 S. 563
Gesellschaft eine Aktie einem Vertrauensmann zu übergeben, ist beachtenswert. Sie macht aber das Rechtsinstitut des statutarischen Stichentscheides nicht überflüssig. Die Ernennung eines Treuhänders setzt den Abschluss eines Vertrages unter den Beteiligten voraus. Für die Aktionäre ist es unter Umständen schwierig, einen gemeinsamen Vertrauensmann überhaupt zu finden, sich mit diesem über seine Aufgabe, seine Verantwortung, seine Vergütung sowie die Vertragsdauer zu einigen (vgl. WOLF, SAG 1962/63, S. 223). Auch darf nicht übersehen werden, dass durch diese Lösung gesellschaftsinterne Schwierigkeiten nicht in jedem Falle zu vermeiden sind. Es ist nicht ausgeschlossen, dass zwischen den sich gegenüberstehenden Aktionären oder Aktionärgruppen über die Rolle des Treuhänders Meinungsverschiedenheiten entstehen und sie sich über den vorzeitigen Widerruf des gemeinsam erteilten Auftrages nicht einigen können. Der statutarische Stichentscheid ist daher das einfachere und zweckmässigere Mittel, um die Beschlussfähigkeit der Generalversammlung und damit die Verwirklichung des Gesellschaftszwecks zu gewährleisten.
3.
Das Obergericht nimmt in zweiter Linie den Standpunkt ein, die Wahlen seien ohnehin nicht gültig zustande gekommen, weil sich der statutarische Stichentscheid des Vorsitzenden nur auf Beschlüsse, nicht auch auf Wahlen beziehe. Der Kläger macht sich diese Auffassung mit dem Hinweis darauf zu eigen, dass Art. 7 der Gesellschaftsstatuten bei den der Generalversammlung übertragenen Befugnissen zwischen Wahlen (lit. c und d) und Beschlüssen (lit. i) unterscheide.
a) Diese Argumentation fällt mit Bezug auf drei der insgesamt vier im Berufungsverfahren noch streitigen Gegenstände zum vorneherein ausser Betracht.
aa) Nach Art. 12 Abs. 1 der Statuten werden die Mitglieder der Verwaltung auf zwei Jahre gewählt. Die Amtsdauer der in der Generalversammlung vom 19. Februar 1965 gewählten Verwaltungsratsmitglieder lief im Jahre 1967 ab. Der Kläger hat im Hinblick auf seine Wiederwahl als Mitglied des Verwaltungsrates nur 50% der vertretenen Aktienstimmen auf sich vereinigt, also keine Mehrheit erreicht. Der Stichentscheid des Vorsitzenden hatte daher auf seine Nichtwiederwahl keinen Einfluss.
bb) Der über den Antrag des Klägers gefasste Beschluss, die Buchhaltung nicht mehr durch den Mitaktionär Wehrli, sondern auswärts besorgen zu lassen, bezieht sich nicht auf die in Art. 7
BGE 95 II 555 S. 564
lit. d der Statuten vorgesehene "Wahl und Abberufung von Angestellten, die zugleich Mitglied der Verwaltung sind". Es handelt sich im Gegenteil um einen Beschluss über ein gewöhnliches Sachgeschäft. Dass Wehrli für die Besorgung der Buchhaltung eine nach Art. 13 der Statuten zulässige Vergütung bezog, änderte an seiner Eigenschaft als Verwaltungsrat mit Einzelzeichnungsberechtigung nichts, machte ihn insbesondere nicht zu einem Angestellten im Sinne der erwähnten Statutenbestimmung.
cc) Der Beschluss über die Genehmigung des Geschäftsberichtes sowie der Gewinn- und Verlustrechnung für das Jahr 1965 betrifft ebenfalls kein Wahlgeschäft.
b) Die Eventualbegründung des Obergerichtes könnte somit nur noch für die Wiederwahl des Robert Wehrli als Verwaltungsrat in Frage kommen. Sie scheint durch den Wortlaut des
Art. 703 OR
bestätigt zu werden, der zwischen Beschlüssen und Wahlen unterscheidet, die mit der absoluten Mehrheit der vertretenen Aktienstimmen gefasst werden.
Art. 698 OR
, der mit
Art. 703 OR
funktionell zusammenhängt, zählt dagegen zu den unübertragbaren Befugnissen der Generalversammlung ohne Unterschied Wahlen und andere Sachgeschäfte. Art. 10 Abs. 2 der Statuten der Beklagten bezieht sich nach dem Wortlaut nur auf Beschlüsse, die in Anlehnung an
Art. 703 OR
"mit der absoluten Mehrheit der vertretenen Aktienstimmen" gefasst werden. Eine weitere Vorschrift, die sich ausdrücklich auf Wahlen beziehen würde, sehen die Statuten indessen nicht vor. Die wörtliche Auslegung der fraglichen Statutenbestimmung führte aber zu einem widersinnigen Ergebnis, wäre doch für Beschlüsse im engern Sinne das absolute Mehr nach Art. 10 Abs. 2 der Statuten, für Wahlen dagegen die gleiche Stimmenzahl nach
Art. 703 OR
massgebend. Unter Beschlüsse im Sinne von Art. 10 Satz 2 der Statuten sind daher sämtliche Entscheidungen der Generalversammlung, also auch Wahlen zu verstehen, die im Grunde genommen nichts anderes als Beschlüsse besonderer Art sind.
4.
Der Kläger stellt sich mit dem Obergericht subsidiär auf den Standpunkt, die beiden Generalversammlungsbeschlüsse seien auch anfechtbar, weil sie gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung der Aktionäre verstiessen, der verlange, dass Aktionäre mit Aktien vom gleichen Nennwert auch hinsichtlich des Stimmrechts gleichgestellt seien.>
BGE 95 II 555 S. 565
Der genannte Grundsatz will aber nicht eine absolute Gleichbehandlung der Aktionäre gewährleisten; er bedeutet vielmehr, dass von der Gleichbehandlung nur insofern abgewichen werden darf, als diese für die Verfolgung des Gesellschaftszweckes im Interesse aller Aktionäre notwendig ist. Eine unterschiedliche Behandlung ist also dort zulässig, wo sie nicht unsachlich, sondern ein angemessenes Mittel zur Erreichung eines gerechtfertigten Zweckes ist (vgl.
BGE 91 II 301
mit Hinweisen,
BGE 93 II 406
,
BGE 95 II 162
/63).
Der Grundsatz der kapitalmässigen Bemessung des Stimmrechts ist, wie erwähnt, nicht zwingend, sondern kann durch statutarische Anordnung verschiedene Ausnahmen erfahren. Eine Statutenvorschrift, die das Stimmengleichgewicht der Aktionäre in einer Aktiengesellschaft durch Stichentscheid des Vorsitzenden in der Generalversammlung umstösst, um die Beschlussfähigkeit der Generalversammlung und damit auch den Bestand der Gesellschaft zu gewährleisten, kann nicht als unsachlich bezeichnet werden. Sie bringt denn im vorliegenden Fall keine grössere Ungleichheit mit sich, als wenn die beiden Aktionäre die gleiche Lösung beispielsweise durch Zuteilung der Aktien im Verhältnis von 99 zu 101 oder durch Schaffung von Stimmrechtsaktien angestrebt hätten (vgl. WOLF, SJZ 1965, S. 205, SAG 1962/63, S. 221).
5.
Art. 708 Abs. 4 OR
bestimmt, dass, wenn mehrere Gruppen von Aktionären mit verschiedener Rechtsstellung bestehen, durch die Statuten jeder Gruppe die Wahl wenigstens eines Vertreters in der Verwaltung zu sichern ist. Besteht ein Verwaltungsratsausschuss, so haben wichtige Gruppen auch Anspruch auf eine Vertretung in diesem.
Diese Vorschrift ist zwingender Natur. Sie folgt der Tendenz der modernen Aktienrechtsgesetzgebung, den Minderheiten gewisse Rechte einzuräumen, selbst wenn sie nur einen Bruchteil des Aktienkapitals vertreten (vgl.
BGE 66 II 49
/50). Der Kläger folgert daraus, dass ihm angesichts der gleich starken Kapitalbeteiligung wie Wehrli umso mehr das Recht zustehe, im Verwaltungsrat vertreten zu sein.
Art. 708 Abs. 4 OR
trifft indessen hier nicht zu. Die Beklagte hat ausschliesslich Aktien der gleichen Gattung ausgegeben und verfügt auch nicht über einen Verwaltungsratsausschuss.
Art. 708 Abs. 5 OR
sieht vor, dass die Statuten zum Schutze der Minderheiten oder einzelner Gruppen von Aktionären weitere
BGE 95 II 555 S. 566
Bestimmungen über die Wahlart aufstellen können. Unter "einzelnen Gruppen" sind solche von Aktionären mit verschiedener Rechtsstellung im Sinne von
Art. 708 Abs. 4 OR
und unter "Minderheiten" solche von Aktionären gleicher Rechtsstellung zu verstehen (vgl. SCHUCANY, N. 5 zu
Art. 708 OR
). Die Statuten der Beklagten enthalten keine Bestimmung im Sinne der erwähnten Vorschrift, weshalb der angebliche Anspruch des Klägers auf Vertretung im Verwaltungsrat der Beklagten auch unter diesem Gesichtspunkt abzulehnen ist.
6.
Der Kläger vertritt sodann die Auffassung, der in der ordentlichen Generalversammlung vom 28. Februar 1967 mit Stichentscheid des Vorsitzenden gefasste Beschluss, den Geschäftsbericht sowie die Gewinn- und Verlustrechnung für das Jahr 1965 zu genehmigen und keine Dividende auszuschütten, verstosse gegen das wohlerworbene Recht des Aktionärs auf einen verhältnismässigen Anteil am Reingewinn (
Art. 646 und 660 OR
).
Das Obergericht hat diese Frage nicht geprüft, weil es die auf Grund des Stichentscheides gefassten Beschlüsse der Beklagten ohnehin als nichtig erklärte. Die erste Instanz wies dagegen das Begehren aus materiellen Gründen ab. Sie stellte auf Grund der Ausführungen des Klägers in der Klagebegründung fest, dass dieser bis Mitte 1965 bei der Beklagten einen Betriebsverlust von ungefähr Fr. 35'000.-- ermittelt habe; es sei ihm nicht gelungen, diesen Verlust auf Grund eines von ihm selber entworfenen Budget- und Sanierungsprogrammes bis Ende 1965 abzubauen, geschweige denn, den behaupteten Reingewinn von Fr. 10'000.-- für das betreffende Geschäftsjahr nachzuweisen. Das Amtsgericht machte sich die Auffassung des Zeugen Bachmann zu eigen, der die mit einem Reingewinn von Fr. 43.18 abschliessende Betriebsrechnung für das Jahr 1965 überprüfte und erklärte, die Ausschüttung einer Dividende sei unter diesen Umständen bei einer Gesellschaft wie der Beklagten nicht denkbar.
Das Klagebegehren wäre ohne weiteres abzuweisen, wenn das Obergericht diese Feststellungen übernommen hätte. Da die Berufungsinstanz ihrem Entscheid nur die tatsächlichen Verhältnisse des angefochtenen Urteils zu Grunde legen darf (
Art. 48 OG
), ist die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie - prozesskonforme Behauptungen und Beweisanträge vorbehalten - die Akten ergänze und über diesen Punkt neu entscheide (
Art. 64 OG
). Sie wird dabei zu beachten haben, dass
BGE 95 II 555 S. 567
das wohlerworbene Recht des Aktionärs auf einen verhältnismässigen Anteil am Reingewinn im Sinne von
Art. 646 und 660 OR
kein unbedingtes ist, sondern durch die weitgehenden Befugnisse der Generalversammlung oder der Verwaltung eingeschränkt werden darf. So kann die Generalversammlung den Reingewinn zur Äufnung von Reserven oder zu andern nach Gesetz oder Statuten zulässigen Zwecken verwenden. Die Gerichte können aber die Angemessenheit der hierüber gefassten Beschlüsse nicht überprüfen und dürfen nur einschreiten, wenn die Generalversammlung den Rahmen vernünftiger Überlegungen willkürlich überschritten hat (vgl.
BGE 91 II 310
und dort erwähnte Entscheide,
BGE 93 II 405
Erw. 6a,
BGE 95 II 163
/164).
7.
Der Kläger macht schliesslich geltend, Wehrli habe ihn durch missbräuchliche und willkürliche Ausübung des Stichentscheides benachteiligt.
Das angefochtene Urteil enthält keine Feststellung, die den Schluss auf ein missbräuchliches Verhalten Wehrlis zuliesse. Die Vorinstanz wird daher auch hier unter Vorbehalt des kantonalen Prozessrechts zu prüfen haben, ob der Kläger Sachumstände behauptet und zum Beweise angeboten hat, die seinen Vorwurf rechtfertigen könnten. Dabei ist nicht zu beanstanden, dass sich Wehrli als Initiant und bisheriger Alleinaktionär bei der Änderung der Gesellschaftsstatuten gegenüber dem Kläger durch Einräumung der Einzelzeichnungsberechtigung und des Stichentscheides den massgebenden Einfluss auf die Entwicklung des Unternehmens sichern wollte. Diese Massnahme war ein Gebot der Klugheit, zumal Wehrli ja nicht wusste, wie sich die Zusammenarbeit mit dem Kläger gestalten werde. | de |
5998cc65-32d2-4595-b528-e4a84b1dc9b9 | Sachverhalt
ab Seite 177
BGE 98 II 176 S. 177
Mehrere gesetzliche Erben des Christian Schmid verlangten u.a. gestützt auf
Art. 519 ZGB
die Ungültigerklärung letztwilliger Verfügungen des Erblassers, von denen sie am 7. Januar 1965 Kenntnis erhalten hatten. Die Tatsachen, aus denen sie die Ungültigkeit der Verfügungen ableiten, wurden ihnen spätestens am 22. März 1965 bekannt, so dass die Jahresfrist, mit deren Ablauf die Ungültigkeitsklage nach
Art. 521 Abs. 1 ZGB
"verjährt", spätestens mit dem 22. März 1966 endigte. Nachdem die Kläger das Vermittleramt Oberengadin am 17. März 1965 und 5. Januar 1966 um Ladung zum Sühneversuch über ihr Klagebegehren ersucht, die nach dem Scheitern der Sühneversuche am 31. Mai 1965 und 19. November 1966 ausgestellten Leitscheine des Vermittleramtes aber nicht bzw. nicht innert der 20tägigen Frist von Art. 96 der ZPO von Graubünden mit einer Prozesseingabe beim Bezirksgericht Maloja eingereicht hatten, stellten sie am 2. Januar 1967 ein neues Vermittlungsbegehren und reichten den Leitschein vom 21. Juni 1967 am 27. Juni 1967 mit einer Prozesseingabe beim Bezirksgericht ein. Die bündnerischen Gerichte und das Bundesgericht weisen die damit eingeleitete Klage, soweit sie eine Ungültigkeitsklage im Sinne von
Art. 519 ZGB
darstellt, wegen Versäumung der Jahresfrist von
Art. 521 Abs. 1 ZGB
ab. Erwägungen
Erwägungen:
10.
Die Kläger haben am 17. März 1965, 5. Januar 1966 und 2. Januar 1967 das Vermittleramt um Ladung zum Sühneversuch über ihr Begehren auf Ungültigerklärung der streitigen Testamente ersucht. Innert der Geltungsdauer des Leitscheins, der ihnen nach dem Scheitern des am 2. Januar 1967 verlangten Sühneversuchs ausgestellt wurde, machten sie die vorliegende
BGE 98 II 176 S. 178
Klage beim Bezirksgericht anhängig. Bei diesem Sachverhalt könnte, wenn auf die in
Art. 521 ZGB
vorgesehene "Verjährung" die Vorschriften des OR über die Unterbrechung der Verjährung von Forderungen (insbesondere die
Art. 135 Ziff. 2 und 137 Abs. 1 OR
) anzuwenden wären, nicht angenommen werden, die Ungültigkeitsklage sei bei Einleitung des vorliegenden Prozesses bereits verjährt gewesen. (Unter dem in
Art. 135 Ziff. 2 OR
verwendeten Ausdruck "Ladung zu einem amtlichen Sühneversuch" ist nachBGE 65 II 166ff. das Begehren an den Friedensrichter [Vermittler] zu verstehen.)
Es fragt sich jedoch, ob die in
Art. 521 und 533 ZGB
geregelte "Verjährung" der Ungültigkeits- und der Herabsetzungsklage eine eigentliche Verjährung sei, auf welche nach
Art. 7 ZGB
die erwähnten Vorschriften des OR sinngemäss angewendet werden könnten, oder ob man es in Wirklichkeit mit einer Verwirkung des Klagerechts zu tun habe, wie das nach der Rechtsprechung in mehreren andern Fällen zutrifft, wo das Gesetz von Verjährung spricht (vgl. namentlichBGE 65 II 101ff., bes. 103/04,
BGE 68 II 274
,
BGE 69 II 347
,
BGE 84 II 595
und
BGE 95 II 267
zu Art. 127, 137 Abs. 2 und 138 Abs. 2 ZGB,
BGE 65 II 103
zum Randtitel von
Art. 251 OR
,
BGE 76 II 240
ff. Erw. 3 zu Art. 21 des BG vom 22. März 1888 betr. den Geschäftsbetrieb der Auswanderungsagenturen und
BGE 95 II 266
ff. Erw. 9 zu
Art. 14 Abs. 1 Satz 2 EHG
).
Das Bundesgericht hat in
BGE 86 II 344
Erw. 4 erklärt, die Frage, ob und wieweit sich die entsprechende Anwendung von Art. 135 und 137/38 OR auf die Ungültigkeits- und die Herabsetzungsklage sachlich rechtfertige, lasse sich beantworten, ohne dass zu prüfen wäre, ob es dogmatisch richtig sei, die Rechtsfolge, welche die
Art. 521 und 533 ZGB
an den unbenützten Ablauf der hier festgesetzten Fristen knüpfen, als Verjährung (besonderer Art) zu bezeichnen, oder ob besser von einer Verwirkung des Klagerechts gesprochen würde (wie es die Vorinstanz im Gegensatz zu der bis dahin vorherrschenden, auch vom Bundesgericht vertretenen Auffassung getan hatte). Sodann hat es in Erw. 5 im wesentlichen ausgeführt, der durch eine Verfügung von Todes wegen Benachteiligte könne, falls er die ihm nach seiner Auffassung zukommenden Erbschaftswerte noch nicht besitzt, nach dem klaren Sinne des Gesetzes nur durch gerichtliche Klage geltend machen, die Verfügung sei mit einem Ungültigkeitsgrund behaftet oder verletze seinen Pflichtteil;
BGE 98 II 176 S. 179
solange kein Gerichtsurteil ergangen sei, stünden ihm die Ansprüche, welche die Verfügung ihm abgesprochen hat, nicht zu, sondern besitze er nur ein durch Klage auszuübendes Anfechtungsrecht; darin unterscheide sich seine Stellung wesentlich von derjenigen des Gläubigers einer Geldforderung, der diese schon vor dem Gerichtsurteil innehabe und nicht immer ein solches erstreiten müsse, um sie zur Geltung zu bringen; wenn das Gesetz vorschreibe, dass die Ungültigkeits- und die Herabsetzungsklage mit dem Ablauf bestimmter Fristen verjähren, könne das also nur heissen, der nicht besitzende Benachteiligte müsse bei Gefahr des Verlustes des Klagerechts innert dieser Fristen die gerichtliche Klage einleiten; hieraus folge, dass
Art. 135 OR
auf die Ungültigkeits- und die Herabsetzungsklage jedenfalls insoweit nicht angewendet werden könne, als er eine Unterbrechung der Verjährung durch andere Mittel als durch gerichtliche Klage (oder Einrede vor Gericht) vorsieht; die Ladung zu einem amtlichen Sühneversuch (
Art. 135 Ziff. 2 OR
) könne zur Wahrung der Fristen von
Art. 521 und 533 ZGB
nur genügen, wenn die Voraussetzungen gegeben seien, unter denen nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts (
BGE 85 II 537
mit Hinweisen) die Anrufung des Sühnebeamten als Klageanhebung gilt; anderseits genüge eine zuständigenorts und in gehöriger Form eingeleitete Klage, um den Kläger gegen einen durch Zeitverlust bewirkten Verlust der Befugnis zu schützen, die Ungültigerklärung oder Herabsetzung der ihn benachteiligenden Verfügung zu verlangen; nach vorschriftsmässiger Ausübung des Klagerechts könne von einer Verjährung der Klage, "womit hier eben nur dieses durch den einmaligen Akt der Klageeinleitung auszuübende Recht... gemeint sein" könne, nicht mehr die Rede sein; die Vorschriften von Art. 137 Abs. 1 und 138 Abs. 1 OR seien somit auf die Verjährung der Ungültigkeits- und der Herabsetzungsklage im Sinne von Art. 521 bzw. 533 ZGB nicht anwendbar.
Mit diesen Ausführungen hat das Bundesgericht zwar nicht dem Worte, aber der Sache nach entschieden, dass die Fristen der
Art. 521 und 533 ZGB
in Wirklichkeit nicht Verjährungs-, sondern Verwirkungsfristen seien. Das ergibt sich namentlich daraus,
- dass festgestellt wurde, die in Frage stehenden Klagen seien "bei Gefahr des Verlustes des Klagerechts" innert dieser Fristen einzuleiten,
BGE 98 II 176 S. 180
- dass bei Umschreibung der Voraussetzungen, unter denen die Ladung zu einem Sühneversuch zur Wahrung dieser Fristen genügt, auf die Regeln abgestellt wurde, welche die Rechtsprechung für die bundesrechtlichen Klagefristen aufgestellt hat (vgl. hiezu ausser
BGE 85 II 537
mit Hinweisen auch den diese Praxis bestätigenden Entscheid
BGE 89 II 307
Erw. 4), und
- dass als Gegenstand der Klageverjährung im Sinne von
Art. 521 und 533 ZGB
das "durch den einmaligen Akt der Klageeinleitung auszuübende" Klagerecht bezeichnet und entschieden wurde,
Art. 137 Abs. 1 OR
, wonach die Verjährung mit der Unterbrechung von neuem beginnt, sei auf die Verjährung im Sinne von
Art. 521 und 533 ZGB
nicht anwendbar.
Der Entscheid
BGE 86 II 347
ff. ist denn auch von PICENONI (der ihn kritisiert) im angegebenen Sinne verstanden worden (SJZ 1967 S. 101 ff., S. 103/04), wogegen MERZ (der den Entscheid billigt) sich nicht darüber ausspricht, welcher Charakter den Fristen von Art. 521 und 533 nach diesem Entscheide zuzuschreiben sei (ZBJV 1961 S. 370 f.).
An der Auffassung über das Wesen der in
Art. 521 und 533 ZGB
vorgesehenen "Verjährung", zu der sich das Bundesgericht in diesem Entscheide implicite bekannt hat, ist aus den dort angegebenen Gründen festzuhalten. Neben der in diesem Entscheide gekennzeichneten Natur des Rechts, das die
Art. 521 und 533 ZGB
einer "Verjährung" unterwerfen, spricht für diese Auffassung auch der Zweck der genannten Vorschriften. Das Gesetz will mit diesen Bestimmungen unverkennbar dafür sorgen, dass eine allfällige Ungültigkeits- oder Herabsetzungsklage im Regelfalle (- wenn nicht die Sonderbestimmung von
Art. 521 Abs. 2 ZGB
eingreift -) innert einer verhältnismässig kurzen Frist vom Bekanntwerden der massgebenden Tatsachen an erhoben und der fragliche Streit im so eingeleiteten Verfahren erledigt wird. Die durch die betreffende Verfügung Bedachten, unter denen sich betagte Personen wie z.B. der überlebende Ehegatte des Erblassers befinden können, haben hieran ein berechtigtes Interesse. Den durch die Verfügung Benachteiligten ist die Ausübung ihres Klagerechts innert der Jahresfrist von Art. 521 bzw. 533 ZGB unter Vorbehalt des erwähnten Sonderfalles um so eher zuzumuten, als sie nach
Art. 559 ZGB
die Auslieferung der Erbschaft an die eingesetzten
BGE 98 II 176 S. 181
Erben dadurch verhindern können, dass sie deren Berechtigung innert eines Monats seit der in
Art. 558 ZGB
vorgeschriebenen Mitteilung der Verfügung ohne Grundangabe (vgl. BGE 98 I b 99 Abs. 2 am Ende) bestreiten.
Die praktische Tragweite der Art. 521 Abs. 1 und 533 Abs. 1 ZGB wird freilich, worauf PICENONI (a.a.O. 104 ff.) hinweist, dadurch beschränkt, dass Personen, die sich im Besitz oder Mitbesitz der Erbschaft befinden, nicht auf die Ungültigkeits- oder Herabsetzungsklage angewiesen sind, sondern die Ungültigkeit oder Herabsetzbarkeit einer Verfügung gemäss Art. 521 Abs. 3 bzw. 533 Abs. 3 jederzeit einredeweise geltend machen können, und zwar gegebenenfalls auch im Erbteilungsprozess (
BGE 58 II 404
ff. Erw. 3,
BGE 86 II 462
f.). Das hindert aber keineswegs, die erwähnten Bestimmungen so auszulegen, dass sie dort, wo sie zur Anwendung kommen, ihren Zweck erfüllen.
Sind die hier festgesetzten Fristen Verwirkungsfristen, so kommen eine Unterbrechung ihres Laufs nach Art. 135 und ein Neubeginn nach Art. 137/38 OR nicht in Frage, sondern muss unter allen Umständen innert dieser Fristen geklagt werden und richten sich die Anforderungen an die Klageerhebung nach den für die bundesrechtlichen Klagefristen geltenden Grundsätzen.
11.
Die Kläger sind vor Ablauf der Jahresfrist von
Art. 521 Abs. 1 ZGB
(22. März 1966) nicht an das Gericht gelangt, sondern haben bloss zwei Vermittlungsbegehren gestellt.
Die Anrufung des Sühnebeamten genügt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts zur Wahrung einer bundesrechtlichen Klagefrist nur dann, wenn der Sühnebeamte die Streitsache gemäss kantonalem Prozessrecht mangels Aussöhnung von Amtes wegen an das Gericht weiterzuleiten hat oder wenn zwischen dem Sühne- und dem eigentlichen Prozessverfahren nach kantonalem Prozessrecht ein Zusammenhang wenigstens in dem Sinne besteht, dass der Kläger den Streit innert einer gewissen Frist nach Abschluss des Sühneverfahrens vor den urteilenden Richter bringen muss, um die Verwirkung des Klagerechts oder andere Rechtsnachteile zu vermeiden, und der Kläger diese Frist im konkreten Falle auch wirklich eingehalten hat (
BGE 74 II 16
f. Erw. 1b mit Hinweisen,
BGE 81 II 538
,
BGE 82 II 590
,
BGE 85 II 315
und 537,
BGE 89 II 307
Erw. 4).
In Graubünden besteht zwischen dem Vermittlungsverfahren und dem gerichtlichen Verfahren ein solcher Zusammenhang (vgl.
BGE 89 II 307
). Die Nichteinhaltung der Frist von 20
BGE 98 II 176 S. 182
Tagen seit Ausstellung des Leitscheins, die nach
Art. 96 ZPO
für die Einreichung des Leitscheins des Vermittleramtes (und der Prozesseingabe) beim Gericht gilt, bewirkt zwar nicht etwa den Verlust des im materiellen Recht begründeten Klagerechts (vgl. hiezu
BGE 93 II 371
Erw. 5 mit Hinweisen), macht aber den Leitschein unwirksam und führt, wenn dieser gleichwohl eingereicht wird, nach
Art. 97 ZPO
zur Abschreibung der Klage, was genügt, um den nach der Rechtsprechung erforderlichen Zusammenhang zwischen Vermittlungs- und Gerichtsverfahren herzustellen.
Die Kläger haben jedoch den im ersten Vermittlungsverfahren ausgestellten Leitschein vom 31. Mai 1965 überhaupt nicht und den Leitschein aus dem zweiten Vermittlungsverfahren, der am 19. November 1966 ausgestellt wurde, erst am 14. Dezember 1966 eingereicht, was nach der im Berufungsverfahren nicht überprüfbaren Auslegung des kantonalen Prozessrechts durch die Vorinstanz zu spät war. Daher stellt weder das erste noch das zweite der innert der Jahresfrist von
Art. 521 Abs. 1 ZGB
gestellten Vermittlungsbegehren eine Klageanhebung im Sinne der bundesgerichtlichen Praxis dar. Die vorliegende Klage könnte deshalb selbst dann nicht als innert dieser Frist angehoben gelten, wenn es sich dabei um die im Anschluss an das zweite Vermittlungsverfahren beim Gericht eingereichte Klage handeln würde. Das ist im übrigen nicht der Fall, sondern die vorliegende Klage beruht auf dem Leitschein aus dem dritten Vermittlungsverfahren, das erst am 2. Januar 1967 und damit lange nach Ablauf der Jahresfrist von
Art. 521 Abs. 1 ZGB
eingeleitet wurde.
Vergeblich machen die Kläger geltend, das Testamentsanfechtungsverfahren sei seit dem 17. März 1965 (Datum des ersten Vermittlungsbegehrens) oder doch jedenfalls seit dem 5. Januar 1966 (Datum des zweiten, ebenfalls noch vor Ablauf der Frist von
Art. 521 Abs. 1 ZGB
gestellten Vermittlungsbegehrens) "ohne jeden Unterbruch rechtshängig". Beim Entscheid darüber, ob die Klagefrist von
Art. 521 Abs. 1 ZGB
eingehalten worden sei, kommt es nicht auf die Rechtshängigkeit, die sich nach kantonalem Recht bestimmt (
BGE 74 II 69
,
BGE 90 II 216
Erw. 2), sondern allein darauf an, wann die zu beurteilende Klage in Sinne der für die bundesrechtlichen Klagefristen geltenden Regeln des Bundesrechts angehoben wurde, und das ist eben im vorliegenden Falle erst lange nach
BGE 98 II 176 S. 183
Ablauf jener Frist geschehen. Im übrigen hat die Vorinstanz auf Grund des kantonalen Prozessrechts, dessen Anwendung das Bundesgericht als Berufungsinstanz nicht zu überprüfen hat, festgestellt, dass das mit dem Vermittlungsbegehren vom 5. Januar 1966 eingeleitete Verfahren bereits am 10. Dezember 1966, d.h. an dem auf den letzten Tag der Leitscheinfrist folgenden Tage, nicht mehr hängig war und dass mehrere aufeinanderfolgende Vermittlungsbegehren nicht dazu taugen, die Streithängigkeit ohne Unterbruch aufrechtzuerhalten. Indem die Vorinstanz ausführte, die Streithängigkeit falle mit dem unbenützten Ablauf der Leitscheinfrist ohne weiteres dahin und der Beschluss vom 29. Dezember 1966 über die Abschreibung der Klage nach
Art. 97 ZPO
stelle den Hinfall der Rechtshängigkeit rein deklaratorisch fest, hat sie implicite auch erklärt, dass die aufschiebende Wirkung, die den Rechtsmitteln gegen den Abschreibungsbeschluss erteilt wurde, nach kantonalem Recht keinen Einfluss auf die Rechtshängigkeit der Streitsache haben konnte (sondern nur die Vollstreckung des Kostenspruchs hinderte). Ob der Abschreibungsbeschluss während der kantonalen Gerichtsferien erlassen werden durfte, ist unerheblich, da beim Entscheid über die Rechtzeitigkeit der vorliegenden Klage auf diesen Beschluss überhaupt nichts ankommt, und stellt im übrigen eine Frage des kantonalen Prozessrechts dar, mit der sich das Bundesgericht im Berufungsverfahren nicht befassen kann.
Art. 139 OR
, der in der Berufungsschrift angerufen wird, hilft den Klägern nicht. Diese Vorschrift, die unter den Bestimmungen über die Verjährung eine Sonderstellung einnimmt (
BGE 89 II 309
), ist zwar nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts auf die Klagefristen des Bundeszivilrechts entsprechend anzuwenden (
BGE 89 II 307
ff. Erw. 6 mit Hinweisen,
BGE 93 II 369
Erw. 3,
BGE 96 III 95
Erw. 2). Sie greift grundsätzlich auch dann ein, wenn eine Klage an einem Fehler scheitert, der nicht bei Einleitung des Vermittlungsverfahrens, sondern erst bei Anrufung des Gerichtes unterlief. Dem Kläger, der in diesem Stadium des Verfahrens einen Fehler begeht, kommt die Nachfrist von
Art. 139 OR
aber nur zugute, falls er innert der Frist, die nach kantonalem Prozessrecht für die Einreichung der Klage beim Gericht gilt, etwas - wenn auch nicht das Richtige - vorkehrt. Einem Kläger, der diese Frist unbenützt verstreichen lässt, ist die Nachfrist des
Art. 139 OR
dagegen nicht zu gewähren
BGE 98 II 176 S. 184
(
BGE 89 II 311
f. Erw. 7,
BGE 93 II 370
f. Erw. 4). So verhält es sich im vorliegenden Falle. Die Kläger sind innert der Frist von 20 Tagen seit Ausstellung der Leitscheine vom 31. Mai 1965 und 19. November 1966, innert der sie nach
Art. 96 ZPO
den Leitschein und die Prozesseingabe hätten einreichen sollen, untätig geblieben und können daher eine Nachfrist im Sinne von
Art. 139 OR
nicht beanspruchen.
Soweit die vorliegende Klage eine Ungültigkeitsklage im Sinne von
Art. 519 ZGB
darstellt, ist sie also wegen Versäumung der Klagefrist von
Art. 521 Abs. 1 ZGB
abzuweisen. | de |
78121bd9-6f7a-460b-8856-2c9d3181852f | Sachverhalt
ab Seite 386
BGE 81 II 385 S. 386
A.-
Willy Suter führte am Vormittag des 12. November 1952 seinen Personenwagen aus der Richtung Bremgarten durch die Zentralstrasse in Wohlen (Aargau) in die nach links abzweigende Bahnhofstrasse. Er nahm die Biegung kurz, ohne durch die Verhältnisse dazu gezwungen zu sein, und war ausserdem so unaufmerksam, dass er den von Lenzburg her auf der Zentralstrasse gleichzeitig an der Einmündung der Bahnhofstrasse eintreffenden Motorradfahrer Erich Kolpin erst aus 2 m Entfernung bemerkte, obschon die Sicht in der Richtung gegen Lenzburg 150 m weit frei war. Da Suter ihm den Vortritt nicht mehr zu lassen vermochte, fuhr Kolpin in die rechte Seite des Personenwagens und wurde so schwer verletzt, dass er am gleichen Tage starb.
B.-
Otto und Marie Kolpin, Eltern des Verunfallten, sowie dessen Bruder Marc Kolpin klagten gegen Suter auf Ersatz des Schadens und Leistung von Genugtuung.
Das Bezirksgericht Bremgarten verurteilte den Beklagten nach Abzug anbezahlter Fr. 15'000.-- zur Bezahlung von Fr. 500.-- für Sachschaden und Fr. 11, 732.-- für Versorgerschaden an Otto und Marie Kolpin sowie zur Leistung von Fr. 1500.-- als Genugtuung an alle drei Kläger zusammen, alles nebst Zins.
Auf Appellation der Kläger und des Beklagten sprach das Obergericht des Kantons Aargau Otto und Marie Kolpin am 24. Juni 1955 für Versorgerschaden Fr. 10'288.-- nebst Zins zu und bestätigte in den übrigen Punkten das Urteil des Bezirksgerichts. Wie dieses ging es davon aus, dass der Beklagte den Unfall allein verschuldet habe.
C.-
Der Beklagte beantragt auf dem Wege der Berufung, das Urteil des Obergerichtes sei aufzuheben und die
BGE 81 II 385 S. 387
Klage insoweit abzuweisen, als die kantonalen Instanzen sie gutgeheissen haben.
D.-
Otto Kolpin ist am 26. Juli 1955 gestorben und von Marie und Marc Kolpin beerbt worden. Deren bevollmächtigter Vertreter hat am 7. Oktober 1955 erklärt, die Kläger liessen die Genugtuungsforderung des Marc Kolpin von restanzlich Fr. 500.-- fallen, womit die ihnen als Genugtuung zugesprochene Summe von Fr. 1500.-- sich auf Fr. 1000.-- ermässige. Im übrigen beantragen die Kläger, die Berufung sei abzuweisen. Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Der Beklagte macht geltend, Erich Kolpin habe den Unfall zu 20-25% mitverschuldet, indem er zu schnell gefahren sei. Das ergebe sich einmal daraus, dass er trotz freier Sicht unabgebremst an den Personenwagen gefahren sei, also das Motorrad nicht beherrscht habe; hätte er gebremst, so wäre der Wagen nicht durch den Zusammenstoss um 0,5 m seitwärts verschoben worden. Sodann sei die Geschwindigkeit des Motorrades den Verkehrsverhältnissen nicht angepasst gewesen. Da der Beklagte den Richtungsanzeiger lange vor dem Abschwenken in die deutlich als Abzweigung markierte Bahnhofstrasse nach links gestellt habe und die Strasse übersichtlich sei, habe Kolpin seine Absicht früh erkennen müssen. Das hätte ihn veranlassen sollen, die Geschwindigkeit herabzusetzen. Auch das Abschwenken selber hätte ihn dazu bewegen sollen. Kolpin habe den Vortritt nicht erzwingen dürfen in der klaren Voraussicht, dass er mit dem Personenwagen zusammenstossen würde. Der Beklagte habe keine Möglichkeit mehr gehabt, auszuweichen, während Kolpin das hätte tun und die Fahrt hätte verlangsamen können.
Dass Kolpin der Vorwurf zu schnellen Fahrens auch hätte gemacht werden müssen, wenn der Beklagte nicht erschienen wäre, behauptet dieser mit Recht nicht. Das Obergericht gibt zwar die Geschwindigkeit des Motorradfahrers nicht ziffermässig an, führt aber aus, nach der
BGE 81 II 385 S. 388
Aussage des erst im Zivilverfahren einvernommenen Zeugen Notter habe sie sich nicht an der oberen Grenzen des Zulässigen bewegt, wie der Strafrichter angenommen habe, sondern sei erheblich niedriger gewesen. Das Bezirksgericht als Strafgericht stützte die Vermutung, die Geschwindigkeit Kolpins habe an der oberen Grenze des Zulässigen gelegen, auf die Aussage des Zeugen Dreier, der sie auf 60-70 km /h schätzte; folgerichtig kann das Obergericht somit zulasten des Motorradfahrers höchstens eine Geschwindigkeit von 50 km /h, wenn nicht sogar nur die vom Bezirksgericht als erste Zivilinstanz angenommene Geschwindigkeit von nicht über 40 km /h feststellen wollen. 50 km /h aber waren für einen Motorradfahrer auf der gut ausgebauten Zentralstrasse in Wohlen trotz der Annäherung an die Einmündung der Bahnhofstrasse nicht unangemessen hoch.
Unter diesen Umständen kann dem Motorradfahrer auch nicht vorgeworfen werden, er sei im Hinblick auf das Erscheinen und Verhalten des Beklagten und das Gebot des ständigen Beherrschens des Fahrzeuges (Art. 25 Abs. 1 MFG) zu schnell gefahren. Dieses Gebot ist nicht jedesmal verletzt, wenn der Führer die Gefahr eines Zusammenstosses nicht durch sofortiges Anhalten zu bannen vermag. Ja selbst die Behauptung des Beklagten, Kolpin habe vor dem Zusammenstoss nicht einmal gebremst, begründet den Vorwurf des Nichtbeherrschens seines Fahrzeuges nicht. Dieser Vorwurf wäre Kolpin nur zu machen, wenn er die Gefahr eines Zusammenstosses so frühzeitig hätte erkennen können, dass er durch Verzögerung der Fahrt den Zusammenstoss hätte vermeiden oder mildern können. Das wird vom Obergericht verneint, indem es ausführt, der Motorradfahrer habe mit der Beobachtung seines Vortrittsrechts durch den sehr langsam fahrenden Beklagten rechnen dürfen. Diese Feststellung bindet das Bundesgericht, denn sie beruht nicht auf einer Verkennung der Sorgfaltspflichten des Motorradfahrers. Die Tatsache allein, dass der Beklagte den Richtungsanzeiger nach links gestellt hatte,
BGE 81 II 385 S. 389
liess einen Zusammenstoss nicht voraussehen; sie zeigte nur an, dass er in die Bahnhofstrasse einzufahren beabsichtigte, nicht auch, dass er entgegen Art. 26 Abs. 2 MFG die Biegung kurz nehmen und in Verletzung des Art. 47 MFV vor, statt hinter dem Motorrad durchfahren wollte. Nicht einmal der Beginn des Abbiegens selbst liess auf vorschriftswidriges Verhalten des Beklagten schliessen. Da dieser, wie das Obergericht feststellt, sehr langsam fuhr (nach seiner eigenen Aussage etwa mit 20 km /h), durfte Kolpin immer noch annehmen, der Beklagte werde ihm den Vortritt lassen. Dass ersterer die Unaufmerksamkeit des Beklagten an andern Umständen als an der Fahrweise hätte erkennen sollen, wird nicht behauptet. Berücksichtigt man ferner, dass der Motorradfahrer bei einer Geschwindigkeit von 50 km /h in der üblichen Reaktionszeit von einer Sekunde etwa 14 m zurücklegte, so kann ihm auch mit der Behauptung, er habe weder gebremst, noch auszuweichen versucht, kein Vorwurf gemacht werden. Als er wahrnehmen konnte, dass ihm der Beklagte durch zu enges Befahren der Biegung und durch gröbliche Missachtung des Art. 47 MFV den Weg abschneide, war er dem Motorwagen schon so nahe, dass zur Abwehr nicht genügend Zeit blieb.
2.
Die kantonalen Instanzen haben Otto Kolpin Fr. 2500.-- und Marie Kolpin Fr. 3000.-- als Genugtuung zuerkannt und unter Abzug der anbezahlten Beträge von Fr. 2000.-- und 2500.-- jedem unter diesem Titel Fr. 500.-- als Restforderung zugesprochen.
Die Rüge des Beklagten, die Genugtuung für Otto Kolpin falle weg, weil dieser am 26. Juli 1955 gestorben sei, hält nicht stand. Genugtuungsansprüche sind nicht schlechthin unvererblich. Sogar solche aus Verlöbnisbruch, die das Gesetz doch als höchstpersönlich erachtet und daher als unübertragbar erklärt, gehen auf die Erben über, sobald sie eingeklagt sind, da sie dadurch zu gewöhnlichen Forderungen werden (
Art. 93 Abs. 2 ZGB
;
BGE 41 II 339
). Umsoweniger können eingeklagte Genugtuungsansprüche
BGE 81 II 385 S. 390
aus unerlaubter Handlung und Haftung als Halter eines Motorfahrzeuges, deren Übertragbarkeit die Rechtsprechung bejaht (
BGE 63 II 157
ff.), unvererblich sein. Sie gehen sogar schon vor der Anhebung der Klage auf die Erben über, wenn der Berechtigte sie irgendwie geltend gemacht hat (BGE 13. Juni 1903 i.S. Justice gegen Barral). Der Genugtuungsanspruch des Otto Kolpin hat sich daher auf die beiden anderen Kläger vererbt.
Dass die Genugtuung für Otto Kolpin zu hoch bemessen worden sei, macht der Beklagte mit Recht nicht geltend. Wie für die Bemessung des Anspruches der Marie Kolpin, den er für übersetzt hält, war zu berücksichtigen, dass das Verschulden des Beklagten schwer ist und ein Mitverschulden des Getöteten fehlt. Die Eheleute Kolpin sind durch den plötzlichen Verlust ihres zweiundzwanzigjährigen Sohnes, der ledig war und die Verbindung mit den Eltern noch nicht stark gelockert hatte, schwer getroffen worden, zumal sie nur zwei Nachkommen hatten. Ein Vergleich mitBGE 66 II 221, wo eine an Eltern zugesprochene Genugtuung von je Fr. 2500.-- als hoch bezeichnet wurde, hilft dem Beklagten schon wegen der seither eingetretenen Geldentwertung nicht. Die Beträge, welche die kantonalen Instanzen den Eltern Kolpin zuerkannt haben, bleiben im Rahmen des Ermessens und widersprechen somit dem Art. 42 MFG nicht. | de |
2eb41cd2-318e-4fe6-b8ce-cd7ca55a318d | Sachverhalt
ab Seite 209
BGE 127 II 209 S. 209
K. beabsichtigt, auf dem Grundstück Nr. 524 im Weiler Pfaffwil in der Gemeinde Inwil ein Wohnhaus mit 5 1/2 Zimmern und ein Nebengebäude mit Garage, Geräteraum und einem Stall zu errichten. Die Bauparzelle liegt in der Landwirtschaftszone. Das Raumplanungsamt des Kantons Luzern erteilte am 17. März 2000 die für das Vorhaben erforderliche Ausnahmebewilligung gemäss
Art. 24 des Bundesgesetzes über die Raumplanung vom 22. Juni 1979 (RPG; SR 700)
in der bis am 31. August 2000 geltenden Fassung (aRPG). Es ging davon aus, dass es sich beim vorgesehenen Neubau um eine Ersatzbaute für das frühere Wohnhaus auf der Parzelle Nr. 264 handle, das 1992 abgebrochen wurde. Der Abbruch erfolgte, weil das fragliche Land für die Erweiterung der Lehmgrube der Firma X.
BGE 127 II 209 S. 210
benötigt wurde. Die Gemeinde Inwil bewilligte das Bauprojekt am 6. April 2000.
F. und J. fochten die Bewilligungen des kantonalen Raumplanungsamts und der Gemeinde Inwil mit einer Beschwerde beim Verwaltungsgericht des Kantons Luzern an. Dieses hiess ihr Rechtsmittel am 9. August 2000 gut und hob die beiden angefochtenen Bewilligungen auf. Es gelangte zum Schluss, dass das Vorhaben nicht als Wiederaufbau gemäss Art. 24 Abs. 2 aRPG angesehen und auch nach Art. 24 Abs. 1 aRPG nicht bewilligt werden könne.
K. hat gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts vom 9. August 2000 eine Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Bundesgericht erhoben.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Das Urteil des Verwaltungsgerichts erging am 9. August 2000, also noch bevor am 1. September 2000 die revidierten Bestimmungen des Raumplanungsgesetzes und die neue Raumplanungsverordnung vom 28. Juni 2000 (RPV; SR 700.1) in Kraft traten. Da die Revision auch die Regelung der Ausnahmebewilligung für Bauten ausserhalb der Bauzonen betraf, fragt sich, ob für die Beurteilung des vorliegenden Falls das alte oder das neue Recht massgeblich ist.
a) Das Raumplanungsgesetz selber enthält keine Übergangsregelung. Eine solche findet sich jedoch auf Verordnungsstufe in
Art. 52 RPV
. Danach werden Verfahren, die am 1. September 2000 hängig waren, nach dem neuen Recht beurteilt (Abs. 1). In diesem Zeitpunkt hängige Beschwerdeverfahren werden dagegen nach dem bisherigen Recht zu Ende geführt, sofern das neue Recht für den Gesuchsteller oder die Gesuchstellerin nicht günstiger ist (Abs. 2).
Inwieweit dem Verordnungsgeber die Befugnis zukommt, Übergangsbestimmungen aufzustellen, wenn der Gesetzgeber keine Regelung trifft, erscheint nicht völlig geklärt. Das Bundesgericht ist in einem Entscheid davon ausgegangen, die Kompetenz der Exekutive zum Erlass einer Übergangsordnung ergebe sich schon aus ihrer Ermächtigung zur Inkraftsetzung eines Gesetzes (
BGE 106 Ia 254
E. 2b S. 257). Diese Ansicht ist jedoch in der Lehre auf Kritik gestossen. So wurde geltend gemacht, dass namentlich Übergangsregelungen, die den Rechtsunterworfenen schwer belasten können, zumindest in den Grundzügen einer formellgesetzlichen Grundlage bedürften (ALFRED KÖLZ, Intertemporales Verwaltungsrecht, in: ZSR 102/1983 II S. 156 f.).
BGE 127 II 209 S. 211
b) Die in
Art. 52 RPV
vorgesehene Ordnung orientiert sich an den von der bundesgerichtlichen Rechtsprechung entwickelten intertemporalrechtlichen Grundsätzen, die beim Fehlen einer Übergangsordnung gelten. Danach ist die Rechtmässigkeit von Verwaltungsakten in der Regel nach der Rechtslage im Zeitpunkt ihres Ergehens zu beurteilen, und nachher eingetretene Rechtsänderungen sind nicht zu berücksichtigen. Anders verhält es sich nur dort, wo zwingende Gründe für die sofortige Anwendung des neuen Rechts sprechen (
BGE 125 II 591
E. 5e/aa S. 598 mit Hinweisen). Solche Gründe bestehen hier nicht, da mit der jüngsten Revision des Raumplanungsrechts die Bautätigkeit grundsätzlich nicht schärferen Vorschriften unterworfen werden sollte.
Art. 52 Abs. 2 RPV
kommt dem Gesuchsteller jedoch insofern entgegen, als das neue Recht dann für anwendbar erklärt wird, wenn es für ihn günstiger ist. Damit kann der Bauwillige sofort von den Möglichkeiten Gebrauch machen, die ihm das neue Recht einräumt, ohne zuvor bei der erstinstanzlichen Behörde ein neues Baugesuch einreichen zu müssen. Auch wenn die Rechtsprechung bei Fehlen einer intertemporalrechtlichen Regelung eine solche Berücksichtigung des milderen Rechts nicht immer zuliess (
BGE 106 Ib 325
E. 2; Entscheid des Bundesgerichts vom 15. Oktober 1993, in: ZBl 95/1994 S. 81 E. 2e S. 87; demgegenüber
BGE 99 Ia 339
E. 2;
BGE 95 I 123
E. 4a; vgl. auch ANDRÉ GRISEL, Traité de droit administratif, Bd. I, Neuchâtel 1984, S. 154), dient diese Lösung offenkundig der Verfahrensökonomie. Wie erwähnt muss der Bauwillige nicht nachträglich bei der erstinstanzlichen Behörde ein neues Gesuch einreichen, um - gemäss
Art. 52 Abs. 1 RPV
- eine Beurteilung nach dem neuen Recht zu erlangen. Jedenfalls stellt
Art. 52 Abs. 2 RPV
den Gesuchsteller nicht schlechter, als dies bei Anwendung der allgemeinen intertemporalrechtlichen Grundsätze der Fall wäre.
Unter diesen Umständen besteht kein Anlass,
Art. 52 RPV
die Anwendung zu versagen. Die Norm kann vielmehr - unabhängig von der Kompetenz des Verordnungsgebers zu ihrem Erlass - als Ausdruck allgemeiner intertemporalrechtlicher Erwägungen angesehen werden.
c) Der vorliegende Fall ist somit gemäss
Art. 52 Abs. 2 RPV
nach dem alten Recht zu beurteilen, sofern die revidierten Bestimmungen für den Beschwerdeführer nicht günstiger sind.
Art. 24c Abs. 2 RPG
lässt wie Art. 24 Abs. 2 aRPG den Wiederaufbau bestehender Bauten ausserhalb der Bauzonen zu, wenn er mit den wichtigen Anliegen der Raumplanung vereinbar ist, doch handelt es sich dabei jetzt um eine direkt anwendbare Norm des Bundesrechts und nicht mehr um eine
BGE 127 II 209 S. 212
blosse Ermächtigung zugunsten der Kantone, den Wiederaufbau in ihrem Recht zuzulassen.
Art. 42 RPV
umschreibt zudem die Voraussetzungen des Wiederaufbaus näher, orientiert sich dabei aber ganz an der bisherigen bundesgerichtlichen Praxis (vgl. dazu den Entscheid des Bundesgerichts vom 7. März 1994, in: ZBl 96/1995 S. 186 E. 3b). In den Kantonen, die den von Art. 24 Abs. 2 aRPG eröffneten Spielraum vollumfänglich ausgeschöpft hatten, wie dies für den Kanton Luzern unbestrittenermassen der Fall ist (vgl. § 181 des Planungs- und Baugesetzes vom 7. März 1989), erweist sich das neue Recht somit beim Wiederaufbau für den Gesuchsteller nicht als günstiger. Es ist im Gegenteil insofern strenger, als
Art. 24c Abs. 1 RPG
das Recht zum Wiederaufbau auf Bauten und Anlagen beschränkt, die nicht mehr zonenkonform, d.h. durch eine nachträgliche Änderung von Erlassen oder Plänen zonenwidrig geworden sind (
Art. 41 RPV
). Ob diese Voraussetzung mit Bezug auf das 1992 abgebrochene Wohnhaus erfüllt wäre, kann offen bleiben, da der Wiederaufbau jedenfalls im Rahmen des bisherigen Rechts zulässig ist.
Das Wiederaufbauprojekt des Beschwerdeführers ist somit nach dem alten Recht zu beurteilen. Dabei kann indessen die neue Vorschrift von
Art. 42 RPV
, die wie dargelegt den Stand der Rechtsprechung zur Zulässigkeit des Wiederaufbaus nach dem alten Recht wiedergibt, mitberücksichtigt werden.
3.
Der Beschwerdeführer wirft dem Verwaltungsgericht zunächst eine unrichtige Anwendung von Art. 24 Abs. 2 aRPG und damit zusammenhängend eine unzutreffende sowie unvollständige Sachverhaltsfeststellung vor.
a) Der Wiederaufbau einer abgebrochenen oder zerstörten Baute ausserhalb der Bauzone kommt nach der Rechtsprechung zu Art. 24 Abs. 2 aRPG nur in Betracht, wenn das alte Bauwerk im Zeitpunkt seines Untergangs noch bestimmungsgemäss nutzbar war und an seiner weiteren Nutzung ein ununterbrochenes Interesse besteht (Entscheid des Bundesgerichts vom 7. März 1994, in: ZBl 96/1995 S. 186 E. 3b; vgl. auch
Art. 42 Abs. 4 RPV
). Zudem muss die Ersatzbaute in der Grösse und der Nutzung die wesentlichen Züge des bisherigen Gebäudes wahren. Das bedeutet, dass eine Erweiterung gegenüber der alten Baute nur in dem Umfang zulässig ist, als die Identität erhalten bleibt und noch von einer teilweisen Änderung gesprochen werden kann (
BGE 113 Ib 314
E. 3a; vgl. auch
Art. 42 Abs. 1-3 RPV
). Ausserdem ist die Identität des Ersatzbaus auch in örtlicher Hinsicht zu wahren. Der Standort der neuen Baute darf daher nicht erheblich von demjenigen des untergegangenen Gebäudes abweichen (vgl. auch
BGE 127 II 209 S. 213
Art. 42 Abs. 4 Satz 2 RPV
). Die Rechtsprechung sieht zwar davon ab, das zulässige Mass der räumlichen Verschiebung des Ersatzbaus generell zu umschreiben, da die verlangte Wahrung der Identität von den konkreten örtlichen Gegebenheiten abhängt. So hielt es das Bundesgericht für zulässig, den Anlegeplatz für einen Nauen am Vierwaldstättersee um 40 Meter zu verschieben, weil die alte Anlegestelle dem Neubau einer Galerie weichen musste (bereits zitierter Entscheid vom 7. März 1994, in: ZBl 96/1995 S. 186 E. 3d). In einem anderen Fall erklärte es dagegen, eine Verschiebung eines Gebäudes um 80 Meter stelle eine so weitgehende Änderung gegenüber dem früheren Zustand dar, dass sie höchstens unter besonderen Umständen bewilligt werden könne (nicht publizierter Entscheid vom 19. Dezember 1991, erwähnt im Entscheid vom 7. März 1994, in: ZBl 96/1995 S. 186 E. 3b; vgl. auch THOMAS MÜLLER, Die erleichterte Ausnahmebewilligung, Diss. Zürich 1991, S. 139).
b) Im vorliegenden Fall lehnte es das Verwaltungsgericht ab, das Bauvorhaben des Beschwerdeführers als Ersatzbaute für ein 1992 abgebrochenes Wohnhaus anzuerkennen. Es ist zwar unbestritten, dass das untergegangene Objekt im Zeitpunkt des Abbruchs noch bestimmungsgemäss nutzbar war. Tatsächlich erfolgte der Abbruch deshalb, weil das Land für den Lehmabbau benötigt wurde und nicht weil das Gebäude nicht mehr bewohnbar gewesen wäre. Das Verwaltungsgericht verneinte jedoch einen Anspruch des Beschwerdeführers auf einen Wiederaufbau, weil das alte Wohnhaus freiwillig abgebrochen worden sei, um einer besseren Nutzung Platz zu machen. In einem solchen Fall könne die Besitzstandsgarantie nicht beansprucht werden. Ausserdem erklärte es, der vorgesehene Neubau in 260 Meter Distanz zum früheren Standort überschreite das Mass der nach Art. 24 Abs. 2 aRPG zulässigen örtlichen Verschiebung. Der Beschwerdeführer rügt den angefochtenen Entscheid in beiden Punkten als bundesrechtswidrig.
c) Art. 24 Abs. 2 aRPG lässt den Wiederaufbau sowohl von unfreiwillig zerstörten als auch von freiwillig abgebrochenen Bauten zu (
BGE 113 Ib 314
E. 3a S. 317; ALEXANDER RUCH, Öffentlichrechtliche Anforderungen an das Bauprojekt, in: Peter Münch/Peter Karlen/Thomas Geiser [Hrsg.], Beraten und Prozessieren in Bausachen, Basel/Genf/München 1998, Rz. 7.136). Den Kantonen stand es bis zum Inkrafttreten des neuen Rechts allerdings frei, den Wiederaufbau nur für Bauten zu gestatten, die durch höhere Gewalt zerstört wurden, und ihn bei einem freiwilligen Abbruch auszuschliessen (vgl. MÜLLER, a.a.O., S. 136, der eine solche Einschränkung im
BGE 127 II 209 S. 214
kantonalen Recht befürwortet). Das frühere aargauische Recht, auf welches sich das Verwaltungsgericht im angefochtenen Entscheid bezieht, sah kein Recht auf Wiederaufbau vor und schöpfte insofern den von Art. 24 Abs. 2 aRPG gewährten Spielraum nicht aus (vgl. ERICH ZIMMERLIN, Baugesetz des Kantons Aargau vom 2. Februar 1971, 2. Aufl., Aarau 1985, N. 6 zu § 224). § 181 des luzernischen Planungs- und Baugesetzes gestattet dagegen ausdrücklich den Wiederaufbau in dem von Art. 24 Abs. 2 aRPG erlaubten Umfang. Der Beschwerdeführer rügt daher zu Recht, dass ihm ein Wiederaufbau des 1992 abgerissenen Wohnhauses nicht bereits deshalb hätte verweigert werden dürfen, weil damals der Abbruch freiwillig erfolgte.
d) Der Standort für den Ersatzbau liegt im vorliegenden Fall 260 Meter vom 1992 abgebrochenen Wohnhaus entfernt. Eine solche Verschiebung überschreitet in der Regel den von Art. 24 Abs. 2 aRPG bzw. von
Art. 24c Abs. 2 RPG
in Verbindung mit
Art. 42 Abs. 4 RPV
gezogenen Rahmen bei weitem. Es trifft zwar zu, dass die zulässige Distanz zwischen altem und neuem Standort nicht in abstrakter Weise zu bestimmen ist und daher je nach den konkreten Gegebenheiten etwas variieren kann. Der vom Beschwerdeführer vorgesehene Standort für die Ersatzbaute unterscheidet sich jedoch ganz erheblich von jenem des abgebrochenen Wohnhauses. Während sich letzteres in isolierter Lage etwas oberhalb des Weilers Pfaffwil befand, ist die neue Bauparzelle im zentralen Bereich dieses Weilers und damit in unmittelbarer Nachbarschaft zahlreicher weiterer Häuser gelegen. Ein engerer räumlicher Zusammenhang zwischen den beiden Standorten besteht offensichtlich nicht. Unter diesen Umständen geht dem Bauvorhaben des Beschwerdeführers die Identität mit dem abgebrochenen Wohnhaus schon wegen der stark unterschiedlichen örtlichen Einbettung ab. Art. 24 Abs. 2 aRPG bzw.
Art. 24c Abs. 2 RPG
erlauben nicht, bei einem Wiederaufbau in einem weiteren Umfeld den Ort der Ersatzbaute frei auszuwählen. Steht in der näheren Umgebung kein geeigneter Ersatzstandort zur Verfügung, kommt ein Wiederaufbau nicht in Betracht (vgl. auch den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 21. November 1994, in: BVR 1996 S. 58 ff. E. 5 und 6).
Der Beschwerdeführer und auch die Gemeinde Inwil betonen jedoch, dass sich das vorgesehene Bauvorhaben gut in die bestehende Häusergruppe von Pfaffwil einordne und daher raumplanerisch zweckmässiger sei als ein Ersatzbau im unüberbauten Gebiet. Diese Argumentation übersieht zunächst, dass der Beschwerdeführer nicht ohne weiteres einen Anspruch auf den Wiederaufbau
BGE 127 II 209 S. 215
des abgebrochenen Wohnhauses hat, sondern dass dafür die erwähnten gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sein müssen. Ausserdem steht eine Ersatzbaute am vorgesehenen Ort - auch bei relativ guter Einfügung in die bestehende Überbauung - im Widerspruch zu der von der Gemeinde geschaffenen Nutzungsplanung. Diese hat die Bauparzelle der Landwirtschaftszone und das benachbarte überbaute Land einer eng umgrenzten Weilerzone zugewiesen, in der keine Neubauten zulässig sind. Wenn die Gemeinde und das kantonale Raumplanungsamt heute die Situation anders beurteilen und eine gewisse bauliche Entwicklung in Pfaffwil als sinnvoll erachten, wären die restriktiven planerischen Festlegungen zu überprüfen und entsprechend anzupassen.
e) Aus diesen Gründen kann das Bauvorhaben des Beschwerdeführers nicht auf dem Wege einer Ausnahmebewilligung verwirklicht werden. Die entsprechenden Rügen sind daher unbegründet. | de |
07890792-4cb9-41ce-8792-4211ce75c1e4 | Sachverhalt
ab Seite 185
BGE 106 Ia 184 S. 185
Die Ehegatten Krönert erwarben am 27. Dezember 1972 und 8. Februar 1973 am Hang der Anhöhe Lutzenland oberhalb Herisau zwei grössere Teilflächen angrenzender Landwirtschaftsbetriebe, um sie zu überbauen, zu parzellieren und teilweise weiter zu veräussern. Sie liessen verschiedene Projekte ausarbeiten, zuletzt für eine Terrassenhaussiedlung. Am 9. August 1973 erliess indessen der Gemeinderat von Herisau aufgrund einer Volksinitiative für das Gebiet Lutzenland - und damit auch für das Land Krönert - eine befristete Bausperre. Der in der Folge ausgearbeitete Schutzzonenplan Lutzenland wurde in der Gemeindeabstimmung vom 6. April 1975 angenommen und am 20. Mai 1975 vom Regierungsrat des Kantons Appenzell Ausser-Rhoden genehmigt. Das Kantonsgericht am 23. März 1977 und das Obergericht (Gesamtgericht) des Kantons Appenzell A.Rh. am 20. April 1978 wiesen die von den Eheleuten Krönert am 14. Juni 1976 gegen die Gemeinde Herisau eingereichte Klage aus materieller Enteignung ab. Das Bundesgericht weist die hiegegen gerichtete Beschwerde ebenfalls ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
4.
a) Für die Prüfung der Frage der enteignungsähnlichen Wirkung ist das Verwaltungsgericht mit Recht vom Zeitpunkt der Rechtskraft des Schutzzonenplanes Lutzenland (20. Mai 1975) ausgegangen, stützen doch die Beschwerdeführer ihre Entschädigungsforderung auf den nach ihrer Auffassung durch den Schutzzonenplan erfolgten Entzug einer gegebenen bzw. in naher Zukunft mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Überbauungsmöglichkeit ihres Grundstückes. Entscheidend ist daher, ob am massgebenden Stichtag die bauliche Nutzung voraussehbar und mit hoher Wahrscheinlichkeit in naher Zukunft zu verwirklichen war, und ob diese Erwartung durch den Schutzzonenplan aufgehoben wurde.
b) Für die Beantwortung dieser Frage ist in erster Linie auf die rechtlichen Gegebenheiten abzustellen. Dabei kommt dem Bundesrecht Vorrang zu. Es ist daher zu prüfen, ob am 20. Mai 1975 die Voraussetzungen des am 1. Juli 1972 in Kraft getretenen Gewässerschutzgesetzes (GSchG) erfüllt waren, um die fragliche Parzelle mit den geplanten Einfamilienhäusern zu überbauen.
BGE 106 Ia 184 S. 186
aa) Gemäss
Art. 19 und 20 GSchG
in der hier anwendbaren, bis Ende 1979 geltenden Fassung dürfen Bewilligungen für den Neu- und Umbau von Bauten und Anlagen aller Art nur innerhalb der Bauzonen oder, wo solche fehlen, innerhalb des im generellen Kanalisationsprojekt (GKP) abgegrenzten Gebietes erteilt werden, wenn der Anschluss der Abwässer an die Kanalisation gewährleistet ist. Baubewilligungen für Gebäude und Anlagen ausserhalb der Bauzonen oder des im generellen Kanalisationsprojekt abgegrenzten Gebietes dürfen nur erteilt werden, sofern der Gesuchsteller ein sachlich begründetes Bedürfnis nachweist (
BGE 102 Ib 213
E. 1a mit Verweisungen). Mit dieser Regelung verfolgte der Gesetzgeber nicht nur Ziele des Gewässerschutzes, sondern auch der Raumplanung, indem er mit Rücksicht auf die vielfältigen öffentlichen Interessen, die auf dem Spiele stehen - rationelle Nutzung des Bodens, Erhaltung des Landwirtschaftsgebietes, Landschaftsschutz u.a.m. - die allgemeine bauliche Nutzung auf die hiefür planerisch bezeichneten Gebiete begrenzen wollte (BGE
BGE 101 Ib 193
E. 2a). Welches sachlich begründete Bedürfnis Neu- oder Umbauten ausserhalb der Bauzonen bzw. des GKP zu rechtfertigen vermag, präzisierte
Art. 27 AGSchV
näher; primär geht es dabei um sogenannte standortgebundene Bauten. Ausdrücklich hält die Bestimmung fest, dass die Anschlussmöglichkeit an eine Kanalisation in keinem Fall die Erfordernisse für die Anerkennung des sachlich begründeten Bedürfnisses ersetzt.
bb) Im vorliegenden Fall ist unbestritten, dass sich die Parzelle der Beschwerdeführer in keiner rechtsgültigen Bauzone befand, da die Gemeinde Herisau am 20. Mai 1975 über keinen Zonenplan - dieser trägt im Recht des Kantons Appenzell Ausser-Rhoden die Bezeichnung Bebauungsplan (Art. 112 Abs. 2 lit. e EG zum ZGB) - verfügte. Ein früherer, dem Baureglement vom 18. Mai 1914 beigegebener rudimentärer Zonenplan wurde mit dem Baureglement vom 13. Dezember 1970 aufgehoben (Art. 135), ohne dass gleichzeitig ein Bebauungsplan erlassen werden konnte.
Im Zeitpunkt der Annahme des Schutzzonenplanes Lutzenland lag lediglich der Entwurf eines Bebauungsplanes vor. Nach diesem befand sich das von den Beschwerdeführern erworbene Land am Rande der Bauzone in der Ein- und Zweifamilienhauszone. Aus einem vom zuständigen Gemeindeorgan noch nicht angenommenen und vom Regierungsrat noch nicht
BGE 106 Ia 184 S. 187
genehmigten Plan (Art. 124 EG zum ZGB) kann jedoch entgegen der Annahme der Beschwerdeführer nicht gefolgert werden, ihr Land befinde sich in einer Bauzone im Sinne der
Art. 19 und 20 GSchG
, und zwar auch dann nicht, wenn der aufgelegte, jedoch noch nicht rechtsverbindlich festgesetzte Plan von den Baubehörden der Gemeinde in der Zeit zwischen dem Erlass des Baureglementes und der Planfestsetzung für die Erteilung von Baubewilligungen innerhalb des durch das GKP abgegrenzten Gebietes, wie dies die Vertreter der Gemeinde am Augenschein anerkannt haben, als wegleitend konsultiert wurde.
cc) Unbestritten ist ferner, dass die Parzelle der Beschwerdeführer ausserhalb des vom Regierungsrat am 19. Dezember 1960 genehmigten generellen Kanalisationsprojekts liegt. Der Gemeinderat beantragte zwar mit Schreiben vom 6. Januar 1971 an die kantonale Baudirektion dessen Erweiterung, worauf diese am 26. März 1971 antwortete, sie sei bereit, "die vorgesehene Zonenerweiterung amtsintern anzuerkennen und die Baugesuche im erweiterten Gebiet gleich denjenigen innerhalb genehmigtem GKP zu behandeln". Da jedoch der Bauzonenplan der Gemeinde Herisau noch nicht rechtskräftig und daher auch die Zonenerweiterung des GKP nicht endgültig sei, wolle sie auf das Begehren des Gemeinderates, die Genehmigung des Regierungsrates für die provisorische Zonenerweiterung des GKP einzuholen, zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht eintreten.
Gemäss der vom Gemeinderat beantragten Erweiterung des GKP wäre - was ebenfalls unbestritten ist - die Parzelle der Beschwerdeführer in das vom GKP erfasste Gebiet einbezogen worden. Die Beschwerdeführer sind daher der Meinung, zufolge der amtsinternen Anerkennung der vorgesehenen Erweiterung des GKP wäre der Erteilung der Baubewilligung ohne das Dazwischentreten der Lutzenland-Initiative nichts im Wege gestanden. Sie übersehen jedoch, dass am 1. Juli 1972 das neue eidgenössische Gewässerschutzgesetz in Kraft trat. Die im Jahre 1971 erfolgte amtsinterne Anerkennung der beantragten Erweiterung des GKP, die ausdrücklich als noch nicht endgültig bezeichnet wurde, vermochte keinesfalls von der Einhaltung der klaren Regeln des Gewässerschutzgesetzes über den Ausschluss der Überbaubarkeit des ausserhalb des GKP gelegenen Gebietes mit nicht standortgebundenen Bauten zu befreien.
BGE 106 Ia 184 S. 188
Das Recht des Kantons Appenzell Ausser-Rhoden verlangte die Genehmigung der von den Gemeinden ausgearbeiteten generellen Kanalisationsprojekte durch den Regierungsrat (Art. 2 EG vom 27. April 1958 zum früheren GSchG). Ein im Hinblick auf die noch ausstehende Rechtskraft des Bebauungsplanes dem Regierungsrat nicht unterbreiteter Antrag der Gemeinde, das GKP zu erweitern, genügt daher nicht zur Annahme, das Grundstück der Beschwerdeführer sei im Sinne des
Art. 19 GSchG
innerhalb des GKP gelegen.
Ein von dieser Rechtslage abweichendes Ergebnis wäre höchstens dann in Erwägung zu ziehen, wenn eine feste Praxis nachgewiesen wäre, dass die Behörden nach Inkrafttreten des GSchG auch ausserhalb des GKP von 1960 im Gebiet, dessen Einbezug der Gemeinderat in das GKP beantragt hatte, Baubewilligungen für andere als standortgebundene Bauten erteilt hätten. Dies trifft jedoch nicht zu, wie die von der bundesgerichtlichen Instruktionskommission verlangten Abklärungen ergeben haben. Gemäss der Auskunft des Gemeindebauamtes Herisau, an deren Vollständigkeit zu zweifeln entgegen der Meinung der Beschwerdeführer kein Anlass besteht, wurden im fraglichen Erweiterungsgebiet in der Zeit zwischen dem Inkrafttreten des Gewässerschutzgesetzes und der Rechtskraft des Bebauungsplanes (12. August 1975) einzig drei Bewilligungen erteilt, wovon die eine - freilich aus Gründen, die nicht mit dem GKP zusammenhängen - erst am 10. April 1976 rechtsgültig wurde. Die von den Beschwerdeführern angeführten drei weiteren Bewilligungen liegen in Gebieten mit Überbauungsplänen, welche der Gemeinderat aufgrund des früheren Baureglementes von 1914 rechtsverbindlich festsetzen konnte und die gemäss dem in der Gemeindeabstimmung vom 13. Dezember 1970 angenommenen neuen Baureglement ausdrücklich in Kraft blieben (Art. 135 Abs. 1). Derartige Überbauungspläne genügen, wie die Gemeinde zutreffend dargelegt hat, dem Begriff der Bauzone im Sinne des Gewässerschutzgesetzes. Sie kommen einer gemäss kantonalem Recht räumlich begrenzt angeordneten Bauzone gleich und entsprechen damit der raumplanerischen Zielsetzung der Art. 19 f. GSchG.
dd) Die Parzelle der Beschwerdeführer liegt somit gewässerschutzrechtlich weder in einer Bauzone noch innerhalb des GKP und ist daher aufgrund der
Art. 19 und 20 GSchG
, wie das Obergericht zutreffend festgestellt hat, mit andern als
BGE 106 Ia 184 S. 189
standortgebundenen Bauten nicht zu überbauen. Die Ausführungen des Obergerichts, wonach die Standortbedingtheit der terrassierten Einfamilienhäuser nicht hätte anerkannt werden können, decken sich mit der bundesgerichtlichen Rechtsprechung (
BGE 102 Ib 79
E. 4b).
c) Es kann sich daher nur fragen, ob bei Inkrafttreten des Schutzzonenplanes Lutzenland besondere Umstände vorlagen, welche die Einzonung zwingend geboten hätten, so dass im Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung mit hoher Wahrscheinlichkeit in naher Zukunft die Überbauungsmöglichkeit zu bejahen war. In
BGE 105 Ia 338
E. 3d wurde festgestellt, die Anwendung des Gewässerschutzgesetzes könne möglicherweise dann zu einer enteignungsähnlichen Wirkung führen, wenn baureifes oder grob erschlossenes Land, das innerhalb des mit den Anforderungen des Gewässerschutzgesetzes übereinstimmenden GKP liegt, nicht eingezont werde. Müsste im vorliegenden Fall angenommen werden, das Gewässerschutzgesetz gebiete eine Erweiterung des GKP im Sinne des vom Gemeinderat gestellten Antrages, so wäre möglicherweise die Nichteinzonung dem vom Bundesgericht erwähnten Ausnahmefall gleichzusetzen. Es fragt sich daher, ob das GKP den Anforderungen des Gewässerschutzgesetzes entspricht.
Aus dem von der bundesgerichtlichen Instruktionskommission verlangten technischen Bericht über das GKP ergibt sich, dass Herisau im Jahre 1960 eine Bevölkerung von rund 14'800 Einwohnern aufwies und dass bei voller Überbauung des angenommenen Baulandes eine Einwohnerzahl von 27'000 erreicht werden kann. Gewiss muss bei der Würdigung derartiger Berechnungen berücksichtigt werden, dass das Mass der wirklichen Überbauung erfahrungsgemäss oft erheblich unter der möglichen Vollüberbauung bleibt. Dennoch erlauben die dem GKP zugrunde liegenden Annahmen die Folgerung, dass dieses keineswegs zu eng bemessen ist, soll es doch gemäss
Art. 15 AGSchV
, sofern keine Zonenplanung besteht, das überbaute und das innert höchstens 15 Jahren zur Erschliessung vorgesehene Baugebiet erfassen, dabei darf höchstens eine Verdoppelung der vorhandenen Bevölkerungszahl berücksichtigt werden. Dass Herisau mit einer besonders starken Bevölkerungszunahme rechnen müsste, kann aufgrund der Entwicklung der Vergangenen Jahre nicht angenommen werden, wies doch die Gemeinde nach den Angaben der Einwohnerkontrolle im Jahre
BGE 106 Ia 184 S. 190
1965 lediglich 15'421 und im Jahre 1975 sogar bloss 15'074 Einwohner auf. Dass dieser Rückgang auf die ungenügende planerische Ausscheidung von Baugebiet zurückzuführen ist, kann angesichts der beachtlichen Reserven, die bei der Bemessung des Umfanges des GKP berücksichtigt wurden, nicht angenommen werden. Jedenfalls kann aufgrund dieser Bevölkerungszahl und deren Entwicklung nicht gefolgert werden, eine Erweiterung des GKP im Raume Egg/Lutzenland dränge sich gebieterisch auf.
d) Diese Erwägungen schliessen auch die Annahme aus, eine Festlegung der Bauzone gemäss dem aufgelegten Bebauungsplan hätte sich aufgrund der baulichen und bevölkerungsmässigen Entwicklung der Gemeinde zwingend aufgedrängt. Der Behauptung der Beschwerdeführer, in Herisau sei zuwenig Land für Ein- und Zweifamilienhäuser ausgeschieden, kann angesichts der im GKP und dem angenommenen Bebauungsplan enthaltenen Reserven nicht gefolgt werden. Freilich begründete der Antrag des Gemeinderates, wie er im aufgelegten Bebauungsplan zum Ausdruck kam, die Hoffnung auf Einzonung des von den Beschwerdeführern erworbenen Landes. Doch vermag ein Antrag den Entscheid der für die Beschlussfassung über den Bebauungsplan zuständigen Stimmberechtigten der Gemeinde nicht zu binden. Muss zunächst ein Zonenplan angenommen werden, so schliesst dies in der Regel die Annahme aus, ein Grundstück sei in naher Zukunft mit hoher Wahrscheinlichkeit zu überbauen (unveröffentlichtes Urteil Schmid vom 11. Juli 1979, E. 6, S. 17). Wer Land in der Hoffnung erwirbt, die Stimmberechtigten würden den gestellten Antrag annehmen, handelt auf eigenes Risiko. Eine abweichende Annahme wäre mit der den Beschwerdeführern bekannten demokratischen Grundordnung der Gemeinden nicht vereinbar.
Dass die mit dem Schutzzonenplan Lutzenland vorgenommene Begrenzung des Baugebietes in ortsplanerischer Sicht als sachgerecht zu bezeichnen ist, hat der Augenschein bestätigt. Das von den Beschwerdeführern erworbene Land liegt inmitten von landwirtschaftlich genutztem Areal. Auch unter diesem Gesichtspunkt liegen daher keine zwingenden Gründe vor, welche die Einzonung des von den Beschwerdeführern erworbenen Landes geboten hätten. | de |
297b3e6a-d3e9-44ef-8c7c-1df7e80a01a5 | Sachverhalt
ab Seite 456
BGE 122 II 455 S. 456
Im Jahre 1966 erwarb X. eine Parzelle "in der Torlen". Die Liegenschaft umfasst eine Fläche von 2'390 m2 und befand sich gemäss dem damals geltenden Zonenplan der Gemeinde Stäfa im nördlichen Bereich der an das übrige Gemeindegebiet grenzenden Landhauszone.
Ende der sechziger Jahre erarbeitete X. zusammen mit benachbarten Grundeigentümern ein Projekt für die kanalisationsmässige Erschliessung der nördlich der Rütihofstrasse gelegenen Liegenschaften. Nachdem die Gemeindeversammlung von Stäfa am 4. Juli 1969 Projekt und Kredit des Kanalisationsvorhabens genehmigt hatte, wurde das Werk im Jahre 1970 erstellt. Die dabei verlegten Leitungen reichen bis zur südlichen Parzellengrenze des Grundstücks von X., der sich an den Erstellungskosten von Fr. 222'000.-- mit einem Beitrag von Fr. 12'880.-- beteiligte.
Die 1974 revidierte Bau- und Zonenordnung brachte im Bereich der Parzelle von X. hinsichtlich der Zonierung keine wesentlichen Änderungen. - Kurze Zeit nach Inkrafttreten der neuen Bau- und Zonenordnung erliess die Baudirektion eine auch diese Parzelle erfassende, ursprünglich auf fünf Jahre befristete und später bis Mitte der achtziger Jahre verlängerte Planungszone.
Am 4. Juli 1985 beschloss die Gemeindeversammlung eine erneute Revision der Bau- und Zonenordnung. Der neue Zonenplan wies das Grundstück von X. der Reservezone zu. Nachdem die Gemeinde in der Folge von der kantonalen Baurekurskommission verpflichtet worden war, die im Gebiet Rütihof/Torlen vorgenommenen
BGE 122 II 455 S. 457
Zonierungen zu überprüfen und neu festzusetzen, teilte sie das Grundstück am 10. Dezember 1990 der Landwirtschaftszone zu.
Mit Schreiben vom 6. Januar 1992 meldete X. bei der Gemeinde Entschädigungsansprüche aus materieller Enteignung an. Die Schätzungskommission II des Kantons Zürich stellte allerdings mit Urteil vom 9. Juli 1993 fest, die Umzonung des Grundstücks stelle keinen enteignungsähnlichen Eingriff dar. Demgegenüber befand das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich am 23. November 1994, die Zuweisung der Parzelle zur Landwirtschaftszone sei als materielle Enteignung zu qualifizieren.
Die Gemeinde Stäfa führt gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Bundesgericht. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
4.
a) Die Nichteinzonung löst wie gesagt grundsätzlich keine Entschädigungspflicht aus. Sie trifft den Eigentümer nur ausnahmsweise enteignungsähnlich, etwa dann, wenn er überbaubares oder groberschlossenes Land besitzt, das von einem gewässerschutzrechtlichen generellen Kanalisationsprojekt (GKP) erfasst wird, und wenn er für Erschliessung und Überbauung seines Landes schon erhebliche Kosten aufgewendet hat, wobei diese Voraussetzungen in der Regel kumulativ erfüllt sein müssen. Sodann können weitere besondere Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes so gewichtig sein, dass ein Grundstück unter Umständen hätte eingezont werden müssen. Ein Einzonungsgebot kann ferner zu bejahen sein, wenn sich das fragliche Grundstück im weitgehend überbauten Gebiet (
Art. 15 lit. a des Bundesgesetzes über die Raumplanung vom 22. Juni 1979 [Raumplanungsgesetz, RPG; SR 700]
) befindet. Solche Umstände hätten möglicherweise eine Einzonung gebieten können, so dass der Eigentümer am massgebenden Stichtag mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einer aus eigener Kraft realisierbaren Überbauung seines Landes rechnen durfte (
BGE 122 II 326
E. 6a;
BGE 121 II 417
E. 4b).
Trifft das nicht zu, kann nicht von einer enteignungsgleichen Wirkung der Nichteinzonung gesprochen werden. Der Eigentümer besitzt grundsätzlich keinen Rechtsanspruch auf Einweisung seines Landes in eine Bauzone, auch nicht, wenn er erschlossenes oder erschliessbares Land besitzt. Dies ergibt sich aus dem Vorrang der rechtlichen Gegebenheiten, auf die in erster Linie abzustellen ist.
BGE 122 II 455 S. 458
Erste Voraussetzung bildet die Zugehörigkeit des entsprechenden Landes zu einer Bauzone, welche den aus der Neuordnung des Bodenrechts fliessenden verfassungs- und gesetzmässigen Anforderungen entspricht und welche die Berechtigung zum Bauen einschliesst (
BGE 122 II 326
E. 6a;
BGE 119 Ib 124
E. 2d).
b) Das Verwaltungsgericht ging bei der Prüfung der Frage der Entschädigungspflicht von den vorstehend dargelegten Prinzipien aus und prüfte, ob einer der genannten entschädigungspflichtigen Ausnahmefälle vorliege. Dabei kam es zum Schluss, die Liegenschaft des Beschwerdegegners sei vollständig erschlossen und er habe für die Erschliessung bereits erhebliche Kosten aufgewendet. Zur Frage, ob das Grundstück von einem gewässerschutzrechtskonformen GKP erfasst werde, hielt das Verwaltungsgericht fest, Sinn der entsprechenden bundesgerichtlichen Praxis könne nur sein, dass das GKP den verlangten technischen Anforderungen, nicht aber hinsichtlich seiner Ausdehnung den Vorgaben des Gewässerschutzrechtes genüge; andernfalls sei das vom Bundesgericht verlangte Erfordernis eine Hürde, welche nie zu einer Entschädigungspflicht führen könne. Da jedenfalls die Kanalisation zur Erschliessung der Liegenschaft des Beschwerdegegners erstellt sei, sei das Erfordernis des Einbezuges des Grundstücks in ein gewässerschutzrechtskonformes GKP hier obsolet.
c) Die Argumentation des Verwaltungsgerichtes wirft Fragen auf. Offenbar geht es davon aus, die in der bundesgerichtlichen Rechtsprechung erwähnten (möglicherweise) entschädigungspflichtigen Nichteinzonungsfälle (vorne E. 4a) seien je in sich geschlossene Tatbestände, und wenn die Voraussetzungen eines Tatbestandes nicht erfüllt seien, liege von vorneherein keine materielle Enteignung vor. In dieser Absolutheit kann die Rechtsprechung des Bundesgerichtes jedoch nicht verstanden werden.
Massgebend für das Vorliegen der Entschädigungspflicht (auch) bei Nichteinzonungen ist, dass der Eigentümer am Stichtag seine Liegenschaft aus eigener Kraft in naher Zukunft sehr wahrscheinlich hätte überbauen können. Dabei hat das Bundesgericht stets betont, es komme insoweit auf eine Würdigung aller rechtlichen und tatsächlichen Gegebenheiten an, wobei in erster Linie auf die rechtliche Ausgangslage abzustellen sei (
BGE 122 II 326
E. 3 und 6a;
121 I 417
E. 4; Urteil des Bundesgerichtes vom 11. November 1992, E. 6c, in ZBl. 94/1993 S. 261 f.). Deshalb können zwar im Einzelfall die gegebenen Erschliessungsverhältnisse eine Entschädigungspflicht gebieten (vgl. Urteil des Bundesgerichtes vom 11. November
BGE 122 II 455 S. 459
1992, E. 6d, in ZBl. 94/1993 S. 262 ff.), doch ist das nicht zwingend (vgl. Urteil des Bundesgerichtes vom 9. März 1988, E. 4d, in ZBl. 90/1989 S. 548 f., und nicht veröffentlichtes Urteil des Bundesgerichtes vom 30. Mai 1994 i.S. Gemeinde Safnern, E. 6, mit Präzisierung des zitierten Entscheides vom 11. November 1992); namentlich die sich aus dem Gebot der systematischen Baugebietserschliessung ergebende Quartierplanpflicht kann der Möglichkeit, ein für sich allein betrachtet erschlossenes Grundstück in naher Zukunft aus eigener Kraft zu überbauen, entgegenstehen (
BGE 119 Ib 124
E. 4a/bb; Urteil des Bundesgerichtes vom 11. November 1992, E. 6c, in ZBl. 94/1993 S. 262). Auf der anderen Seite schliesst zum Beispiel selbst eine nicht in allen Teilen hinreichende Erschliessung eine materielle Enteignung nicht zum vornherein aus; es kann sein, dass aufgrund einer Gesamtwürdigung des Sachverhaltes eine Einzonungspflicht bejaht werden muss, weil das Land im weitgehend überbauten Gebiet im Sinne von
Art. 36 Abs. 3 RPG
liegt (
BGE 122 II 326
E. 6b und c;
121 II 417
).
5.
a) Im vorliegenden Fall tätigte der Beschwerdegegner für die Erschliessung seiner Parzelle Aufwendungen; auch kann die Liegenschaft an sich als erschlossen betrachtet werden. Der Augenschein hat dies bestätigt, führen doch sowohl die Strasse als auch die Werkleitungen bis zum bzw. in die unmittelbare Nähe des Grundstückes. Dies allein ist aber nach dem Gesagten für eine allfällige Entschädigungspflicht noch nicht ausschlaggebend.
b) aa) Hinsichtlich der Frage, welche Tragweite dem GKP hier zukommt, kann vorab festgehalten werden, dass die Parzelle innerhalb des heute noch geltenden GKP Ortsteil Uerikon-Wellenberg vom Dezember 1965 liegt. Allerdings ist das vom GKP erfasste Gebiet deutlich grösser dimensioniert als die Bauzonen der Zonenpläne von 1960 und 1974. Das GKP entsprach damit nie den Anforderungen des
Art. 15 der Allgemeinen Gewässerschutzverordnung (AGSchV; SR 814.201)
in der Fassung vom 19. Juni 1972, nach dessen Wortlaut für die Ausdehnung des GKP in erster Linie "das im Zonenplan ausgeschiedene Baugebiet" massgeblich ist. Ihm lagen, wie an der Instruktionsverhandlung bestätigt worden ist, völlig unrealistische Vorstellungen über das Bevölkerungswachstum zugrunde (vgl. dazu auch
BGE 106 Ia 184
E. 4c).
bb) Jedenfalls nicht mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtes übereinstimmend ist die Auffassung des Verwaltungsgerichts, wonach sich das Kriterium der Gewässerschutzrechtskonformität des GKP lediglich auf die technischen Aspekte, z.B. die Dimensionierung
BGE 122 II 455 S. 460
der Leitungen, nicht aber auf die Ausdehnung des GKP beziehe. Das Bundesgericht beurteilte bereits in
BGE 106 Ia 184
(E. 4c) die Dimensionierung des GKP aus ortsplanerischer Sicht. In
BGE 118 Ib 38
(E. 4d) und
BGE 119 Ib 124
(E. 3b) bestätigte es, dass das GKP für das überbaute und für das innert 15 Jahren zur Erschliessung vorgesehene Baugebiet anzulegen ist (vgl.
Art. 15 AGSchV
in der Fassung vom 19. Juni 1972). Zwar mag es zutreffen, dass die Rechtsprechung des Bundesgerichts, wonach seit Inkrafttreten des Raumplanungsgesetzes der Verweis in der Gewässerschutzgesetzgebung auf das im Zonenplan ausgeschiedene Baugebiet als Verweis auf eine RPG-konforme Zonenplanung zu verstehen sei (so
BGE 118 Ib 47
mit Hinweis auf einen unveröffentlichten Entscheid vom 13. Januar 1992 i.S. Commune de Gruyère), den Anschein erwecken kann, in gewissen Fällen sei die Bejahung einer entschädigungspflichtigen Nichteinzonung von vornherein undenkbar. Wie bereits erwähnt worden ist, stellt indessen das Kriterium des gewässerschutzrechtskonformen GKP nicht einen abgeschlossenen Tatbestand dar. Dazu kommt, dass im vorliegenden Fall die Gewässerschutzrechtskonformität des GKP gerade nicht daran scheitert, dass das GKP nicht den Dimensionen entspricht, wie sie das im Jahre 1980 in Kraft getretene RPG für Bauzonen vorsieht. Das GKP Ortsteil Uerikon-Wellenberg vom Dezember 1965 widerspricht vielmehr auch der Gewässerschutzgesetzgebung, wie sie sich vor Inkrafttreten des RPG präsentiert hat. So war, wie bereits ausgeführt worden ist, das von ihm erfasste Gebiet erheblich grösser als die (bereits überdimensionierten) Bauzonen der Zonenpläne von 1960 und 1974 (vgl. E. 5b/aa).
c) Es kommt hinzu, dass sich die Beschwerdeführerin zu Recht auf den Standpunkt stellt, die Quartierplanpflicht stehe trotz der gegebenen Erschliessung einer aus eigener Kraft realisierbaren Überbauung der Liegenschaft durch den Beschwerdegegner entgegen. Anders als dieser meint, ist der Einwand der Quartierplanpflicht nicht neu. Die Beschwerdeführerin hat in ihrer Klagebegründung vom 11. November 1993 einlässlich ausgeführt, weshalb ihrer Meinung nach ein Grundstück, das für sich allein betrachtet erschlossen ist, in die für die Baureifmachung eines ganzen Gebiets notwendige Quartierplanung einbezogen werden kann.
Der Augenschein hat in tatsächlicher Hinsicht bestätigt, dass sich das Grundstück an einer landschaftlich heiklen Stelle befindet. Es liegt auf einem Moränenhügel und markiert als Abschluss des nach Süden abfallenden Rütihofhangs den Übergang zum nördlich
BGE 122 II 455 S. 461
anschliessenden unüberbauten Plateau "Torlen". Östlich der Parzelle befinden sich die unüberbauten Grundstücke Kat.-Nrn. ..., .. und ...... Auch diese zeichnen sich durch ihre exponierte und landschaftlich heikle Lage an der Krete des Rütihofhanges aus.
Diese landschaftlich besondere Situation fand in den planerischen Festlegungen der Gemeinde Niederschlag. Die Beschwerdeführerin bezeichnete in ihrem Richtplan den östlichen Teil der Parzelle des X. sowie die östlich daran anschliessenden Grundstücke als Trenngebiete (kommunaler Gesamtplan, Siedlungsplan, Landschaftsplan und Plan der öffentlichen Bauten und Anlagen vom 16. Mai 1983). Im Bericht zum kommunalen Gesamtplan, Ziff. 4.5.1., wird dazu als Begründung angeführt, solche Gebiete sollten aus Gründen des Landschaftsschutzes unüberbaut bleiben. Eine aktive Nutzung als Erholungsgebiet stehe im Interesse der Erhaltung der noch unüberbauten Hügelkuppe nicht im Vordergrund. Die Bedeutung des Trenngebietes liege in der Gliederung des Siedlungsgebietes, weshalb die entsprechenden Landflächen unüberbaut bleiben sollten.
d) Der Quartierplan bezweckt, eingezontes Land überbaubar zu machen (
§ 123 ff. PBG
;
BGE 113 Ib 133
E. 4c; WALTER HALLER/PETER KARLEN, Raumplanungs- und Baurecht, 2. Aufl., 1992, S. 87). Er dient der systematischen Erschliessung von Bauland innerhalb eines zusammenhängenden Gebietes und will sicherstellen, dass eine Bauzone zweckmässig und zielgerichtet in Beachtung des Gebots der haushälterischen Bodennutzung erschlossen wird (
Art. 1 RPG
, Art. 5 des Wohnbau- und Eigentumsförderungsgesetzes [WEG; SR 843]; § 123 Abs. 1 und § 126 Abs. 1 des Zürcher Planungs- und Baugesetzes [PBG];
BGE 119 Ib 124
E. 4a/bb). Mit Blick auf diese Funktionen des Quartierplans war die fragliche Liegenschaft am Stichtag (dazu
BGE 121 II 417
E. 3a) nicht baureif. Die Lage der Parzelle als "Pfortengrundstück" des gesamten Kretenareals lässt die Durchführung eines Quartierplanverfahrens als angezeigt erscheinen. Der Beschwerdeführerin ist zuzustimmen, dass eine systematische Erschliessung des als landschaftliche Einheit in Erscheinung tretenden Moränenhügels sinnvollerweise nur auf planerischem Weg erfolgen kann. Zufolge der beschriebenen Lage der Parzelle Kat.-Nr. .... hätte die Realisierung der für die Erschliessung aller Grundstücke notwendigen Anlagen den Einbezug des streitbetroffenen Grundstücks in die Quartierplanung bedingt, und ein entsprechender Landabzug wäre mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit notwendig gewesen (
§ 138 Abs. 1 und 2 PBG
). Eine vorgängige isolierte Baubewilligung für die Parzelle hätte bei dieser
BGE 122 II 455 S. 462
Sachlage die planungsrechtlichen Festlegungen für den restlichen noch unüberbauten Hügelzug weitgehend präjudiziert; die Baureife muss daher verneint werden (
§ 234 Abs. 1 PBG
).
e) Aus dem Umstand, dass die südlich gelegenen Parzellen ohne Quartierplanverfahren überbaut wurden, kann der Beschwerdegegner nichts zu seinen Gunsten ableiten. Im Gegensatz zu seiner Parzelle sowie den östlich daran anschliessenden unüberbauten Grundstücken befinden sich diese Liegenschaften nicht an einer exponierten Kretenlage. Optisch wie topographisch kommt diesem Hanggelände eine eigenständige Bedeutung zu. Der Augenschein hat bestätigt, dass es sich von den Kretenparzellen abhebt, weshalb das Bedürfnis nach einer die Feinerschliessung einlässlich regelnden Quartierplanung anders beurteilt werden kann (in diesem Sinne auch die in
BGE 118 Ib 38
nicht publizierte E. 5b betreffend das Verhältnis eines Hanggrundstückes zu einer oberhalb bestehenden alten Bebauung im Weiler Fidaz/Flims).
Nichts hilft dem Beschwerdegegner auch der Einwand, die zum Gebiet hinaufführende Torlenstrasse sei in den achtziger Jahren entgegen der Bezeichnung der Strasse im Verkehrsplan als Fussweg in einem privaten Bauverfahren als Erschliessungsstrasse ausgebaut worden. Die im Richtplan eingetragene Signatur "Fussweg" bedeutet nicht, dass die Torlenstrasse ausschliesslich nur noch Fussgängern zugänglich gemacht werden soll. Der Bericht zum kommunalen Gesamtplan vom 16. Mai 1983 verdeutlicht das; danach umfasst das Netz sowohl eigentliche Fusswege als auch Verbindungsstrekken auf oder entlang bestehender oder geplanter Strassen. Insoweit steht die genannte richtplanerische Festlegung einem Ausbau der Torlenstrasse für die Erschliessung der Hanggrundstücke nicht entgegen.
6.
Eine materielle Enteignung könnte somit nur noch bejaht werden, wenn besondere Umstände vorlägen, die es aus Gründen des Vertrauensschutzes geboten hätten, die Liegenschaft einer Bauzone zuzuweisen, oder wenn diese im weitgehend überbauten Gebiet läge (vorne E. 4a).
a) Was die Zugehörigkeit zum weitgehend überbauten Gebiet anbelangt, sind die Voraussetzungen für eine entschädigungspflichtige Nichteinzonung nicht erfüllt. Der Begriff des weitgehend überbauten Gebiets ist eng zu verstehen. Er umfasst im wesentlichen den geschlossenen Siedlungsbereich und eigentliche Baulücken (
BGE 122 II 326
E. 6c/aa;
BGE 121 II 417
E. 5a). Im vorliegenden Fall kann nicht gesagt werden, für die Parzelle von X. treffe das zu. Wie aus
BGE 122 II 455 S. 463
den Akten hervorgeht und am Augenschein erhärtet werden konnte, liegt das Grundstück des Beschwerdegegners am Rande des überbauten Gebiets von Stäfa im Übergang zur nächsten Gelände-kammer. Es gehört nicht zum geschlossenen Siedlungsbereich und kann auch nicht als Baulücke bezeichnet werden.
b) Andere besondere Umstände, die eine Vertrauensposition geschaffen und damit eine Einzonung geboten hätten, sind nicht ersichtlich. Namentlich sind - wie gesagt - die Erschliessungsverhältnisse nicht geeignet, die ausnahmsweise Entschädigungspflicht zu begründen. Im übrigen brachte die Gemeinde Stäfa schon seit einiger Zeit zum Ausdruck, dass die Hangkrete wegen ihrer landschaftlich besonderen Lage nicht oder jedenfalls nur unter einschränkenden Bedingungen überbaut werden sollte (vgl. die in E. 5d zitierte kommunale Richtplanung sowie die anlässlich des Augenscheins erwähnte, von der Gemeinde im Jahre 1980 durchgeführte Umfrage über die weitere planerische Behandlung des Gebietes "Torlen"). Zudem war schon früh erkennbar, dass eine allfällige Überbauung wohl nur auf dem Wege der Quartierplanung hätte erfolgen können. So war die Liegenschaft bereits Mitte der siebziger Jahre Bestandteil eines Quartierplanperimeters (vgl. Quartierplan Fangen Nord, Bericht des Projektverfassers Corrodi vom 25. Juli 1974, wonach alle von der Torlenstrasse her erschlossenen Parzellen zwischen der Geländekante Rütihof und der nördlichen Zonengrenze dem Unterperimeter 4 zugewiesen werden). Dass diese Planung nicht weiterverfolgt wurde, lag primär an der mit Inkrafttreten des PBG einsetzenden Diskussion um die Bauzonenbegrenzung sowie der damit zusammenhängenden Planungszone; im übrigen wurde bereits erwähnt, dass das eigentliche Hanggelände hinsichtlich der Quartierplanrealisierung anders als die Kretengrundstücke behandelt werden kann (vorne E. 5e).
7.
a) Zusammenfassend ergibt sich, dass das Verwaltungsgericht zu Unrecht davon ausging, die Nichteinzonung habe enteignungsähnliche Wirkung. Der Beschwerdegegner durfte unter den gegebenen Umständen nicht mit einer Einzonung seiner Liegenschaft in eine Bauzone rechnen. Die Beschwerde ist somit gutzuheissen, und es ist festzustellen, dass die Umzonung der Parzelle von X. in die kommunale Landwirtschaftszone den Tatbestand der materiellen Enteignung nicht erfüllt. | de |
37fb3bc0-0064-4e4d-bbfc-55dfba7f6bfb | Sachverhalt
ab Seite 250
BGE 122 III 249 S. 250
Im April 1993 machte Frau K. beim Bezirksgericht Zürich eine Klage gegen Herrn B. anhängig, mit der sie ein Feststellungs- und ein Leistungsbegehren (Rückzahlungsforderung) stellte, die sich auf zwei dem Beklagten angeblich im Jahre 1982 gewährte Darlehen im Betrag von US$ 63'000.-- und US$ 111'750.-- bezogen. Die örtliche Zuständigkeit des Bezirksgerichts war nach Auffassung der Klägerin gegeben, weil Zürich als Erfüllungsort zu betrachten sei und der Beklagte Wohnsitz in Rom oder London habe. Der Beklagte bestritt sowohl die örtliche Zuständigkeit des Gerichts wie auch das Bestehen von Darlehensverträgen. Er behauptete insbesondere, der Wohnsitz der Klägerin befinde sich nicht in Zürich, sondern in Italien.
Mit Beschluss vom 17. Februar 1994 wies das Bezirksgericht die Einrede der örtlichen Unzuständigkeit ab. Am 2. August 1994 wies das Obergericht des Kantons Zürich einen Rekurs des Beklagten ab und bestätigte den erstinstanzlichen Entscheid. Diesen Entscheid focht der Beklagte mit Berufung an, die vom Bundesgericht gutgeheissen wird. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Im kantonalen Verfahren war streitig, ob die Klägerin in Zürich oder in Italien Wohnsitz habe. Bestritten war vom Beklagten zudem, dass er mit der Klägerin Darlehensverträge geschlossen und hinsichtlich der Rückzahlung Zürich als Erfüllungsort vereinbart habe.
a) Ausgehend von der Anwendbarkeit des LugÜ (Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen; SR 0.275.11) prüfte die Vorinstanz, ob es für die Bestimmung des Erfüllungsortes gemäss
Art. 5 Ziff. 1 LugÜ
genüge, auf die Sachvorbringen der Klägerin abzustellen, oder ob diese angesichts der Bestreitungen des Beklagten durch ein Beweisverfahren zu erhärten seien. Im Einklang mit den Erwägungen des Bezirksgerichts hielt die Vorinstanz fest, der Gerichtsstand bestimme sich grundsätzlich nach der Natur des eingeklagten Anspruchs. Die Zuständigkeit eines Gerichts könne nicht davon abhängen, ob der eingeklagte Anspruch auch begründet sei. Andernfalls würde der Nachweis der Zuständigkeit mit dem Beweis in der Sache selbst zusammenfallen, was nicht der Sinn der Zuständigkeitsvorschriften sein könne. Für die Zuständigkeit eines Gerichts müsse demgemäss genügen, dass
BGE 122 III 249 S. 251
ein Anspruch behauptet werde, der in dessen Zuständigkeit falle, möge er sich als begründet erweisen oder nicht.
Die Vorinstanz übernahm sodann die Erwägungen des Bezirksgerichts, wonach die Rückzahlung der Darlehenssummen als Bringschuld gemäss
Art. 74 Abs. 2 Ziff. 1 OR
am Wohnsitz der Klägerin in Zürich zu erfolgen habe. Dazu komme, dass die Parteien nach den Vorbringen der Klägerin vereinbart hätten, der Beklagte habe das Darlehen am Geschäftsdomizil des Rechtsvertreters der Klägerin in Zürich zurückzuzahlen. Nach den Darlegungen der Klägerin sei einstweilen davon auszugehen, dass der Erfüllungsort im Sinne von
Art. 5 Ziff. 1 LugÜ
in Zürich liege. Die Frage, ob überhaupt Darlehensverträge bestünden, bilde Gegenstand der später vorzunehmenden materiellen Anspruchsprüfung.
Mit der Berufung wird gerügt, die Betrachtungsweise der Vorinstanz verstosse allgemein gegen Sinn und Zweck des LugÜ sowie speziell gegen dessen Art. 5 Ziff. 1. Nach Auffassung des Beklagten hätte die Vorinstanz nicht einfach auf die bestrittenen Behauptungen der Klägerin abstellen dürfen, sondern darüber ein Beweisverfahren durchführen müssen. Diese Rüge ist im Berufungsverfahren zulässig, denn sie betrifft die Anwendung der bundesrechtlichen Normen des internationalen Zivilprozessrechts.
b) Gemäss
Art. 5 Ziff. 1 LugÜ
kann eine Person, die ihren Wohnsitz in dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaates hat, in einem anderen Vertragsstaat verklagt werden, und zwar vor dem Gericht des Ortes, an dem die Verpflichtung erfüllt worden ist oder zu erfüllen wäre, wenn ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag Gegenstand des Verfahrens bilden.
aa) Der Erfüllungsort kann durch Parteivereinbarung festgelegt werden und vermag die Zuständigkeit nach
Art. 5 Ziff. 1 LugÜ
zu begründen, wenn die massgebliche lex causae solche Vereinbarungen zulässt. Die Einhaltung der für die Gerichtsstandsvereinbarung in
Art. 17 LugÜ
vorgesehenen Form bildet dabei kein Gültigkeitserfordernis (KROPHOLLER, Europäisches Zivilprozessrecht, 5. Auflage, N. 22 zu Art. 5; kritisch BROGGINI, Zuständigkeit am Ort der Vertragserfüllung, in: Das Lugano-Übereinkommen, S. 127 f.). Um der Umgehung der Schutzfunktion von
Art. 17 LugÜ
nicht Tür und Tor zu öffnen, hat die Vereinbarung freilich auf die materiellrechtliche Begründung eines tatsächlichen Leistungsortes abzuzielen, was die klagende Partei gegebenenfalls gleich wie andere Zuständigkeitsvoraussetzungen zu beweisen hat (KROPHOLLER, a.a.O., N. 23 zu Art. 5).
BGE 122 III 249 S. 252
bb) Was die für die Beweislast massgebliche Ausgangslage anbelangt, ist primär auf den vom Kläger eingeklagten Anspruch und dessen Begründung abzustellen; die diesbezüglichen Einwände der Gegenpartei sind in diesem Stadium grundsätzlich nicht zu prüfen (
BGE 119 II 66
E. 2a S. 68,
BGE 91 I 121
E. 5 S. 122,
BGE 66 II 179
E. 2 S. 183 f.; GULDENER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3. Auflage, S. 106; STRÄULI/MESSMER, Kommentar zur Zürcherischen Zivilprozessordnung, 2. Auflage, N. 4 zu § 17).
Der Grundsatz, wonach das Vorliegen der Zulässigkeitstatsachen unterstellt wird, gilt indessen nur, wenn der Gerichtsstand von der Natur des eingeklagten Anspruchs abhängt, wenn sich Zulässigkeitstatsachen und Begründetheitstatsachen decken. Ist eine Tatsache doppelrelevant, das heisst sowohl für die Zulässigkeit der Klage als auch für deren Begründetheit, wird sie nur in einer einzigen Prüfungsstation untersucht, und zwar erst in der Begründetheitsstation (so die Formulierung von SCHUMANN, Internationale Zuständigkeit: Besonderheiten, Wahlfeststellungen, doppelrelevante Tatsachen, in: Beiträge zum internationalen Verfahrensrecht und zur Schiedsgerichtsbarkeit, FS Heinrich Nagel, S. 415; kritisch HARTMANN, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 54. Auflage, N. 15 zu Grundz § 253; vgl. auch
BGE 121 III 495
E. 6d S. 503: betreffend Zuständigkeitsentscheid eines Schiedsgerichts). Zwar ist der von HARTMANN (a.a.O.) erhobene Einwand methodischer Unsauberkeit nicht von der Hand zu weisen. Denn es besteht die Möglichkeit, dass eine vorerst als zulässig betrachtete Klage nach Prüfung der Begründetheit für unzulässig erklärt werden muss. Indes ist der Schutz der beklagten Partei schwerer zu gewichten und ein Interessenausgleich dafür zu schaffen, dass dem Kläger unter Umständen mehrere Wahlgerichtsstände zur Verfügung stehen. Weil die beklagte Partei der Behauptung einer doppelrelevanten Tatsache ohnehin begegnen muss, sei es unter dem materiellen, sei es unter dem prozessualen Aspekt, soll sie zumindest einer zweiten identischen Klage die Einrede der abgeurteilten Sache entgegenhalten können. Darin liegt die innere Rechtfertigung des Vorrangs der materiellen Prüfung (SCHUMANN, a.a.O., S. 421 ff.).
cc) Ergibt sich die Zuständigkeit nicht bereits aus den von der Klägerpartei vorgebrachten anspruchsbegründenden Tatsachen, sondern bedarf es hiezu einer zusätzlichen Sachbehauptung und stellt die Gegenpartei (auch) diese in Abrede, so ist darüber Beweis zu führen. Die Beweislast für diese besonderen kompetenzbegründenden Tatsachen trägt die Klägerpartei (ROSENBERG/SCHWAB/GOTTWALD, Zivilprozessrecht, 15. Auflage, S. 191;
BGE 122 III 249 S. 253
LEUCH/MARBACH/KELLERHALS, Die Zivilprozessordnung für den Kanton Bern, 4. Auflage, N. 3 der Bem. vor Art. 20, N. 2 zu Art. 193; differenzierend für Anhörung beider Parteien gleichermassen SCHWANDER, Zwei Entscheidungen zur Tragweite und zur intertemporalrechtlichen Behandlung von Zuständigkeitsvereinbarungen. IPRG 5, 196, in: AJP 1993, S. 268). Nichts anderes lässt sich aus der von der Vorinstanz zitierten Literaturstelle ableiten (GULDENER, a.a.O., S. 106). Dieser Autor hält einleitend fest, der Gerichtsstand bestimme sich vielfach nach der Natur des eingeklagten Anspruchs, und er behandelt in der Folge ausschliesslich die Frage, wie diesfalls zu verfahren sei, nicht jedoch, was beweismässig zu gelten habe, wenn die örtliche Zuständigkeit auf einer anderen Anknüpfung beruht. Eine unterschiedliche Handhabung der Beweiserhebung vor Fällung des Zuständigkeitsentscheids, je nach dem, ob die von der Klägerpartei vorgetragenen Tatsachen das Gericht zu einem Eintretens- oder Nichteintretensentscheid führen, wie sie SCHWANDER vorschlägt (a.a.O., S. 269), fällt sodann aus prozessualen Gründen ausser Betracht. Zu berücksichtigen ist, dass ein selbständiger Zwischenentscheid über die Zuständigkeit, der notwendig eine Entscheidung über die massgeblichen Tatsachen mitenthält, in Rechtskraft erwächst und mit dem Endentscheid nicht mehr angefochten werden kann (
Art. 48 Abs. 3 OG
). Überdies verbietet der Grundsatz der perpetuatio fori (vgl. zum Beispiel
§ 16 ZPO
/ZH; KROPHOLLER, a.a.O., N. 14 vor Art. 2) eine neue Überprüfung der Zuständigkeit durch das kantonale Gericht, selbst wenn sich die Verhältnisse geändert haben sollten. Aus all diesen Gründen muss beim Vorliegen des eingangs umschriebenen Sachverhalts vor der Fällung des selbständigen Zuständigkeitsentscheids ein Beweisverfahren durchgeführt werden, das heisst, es darf nicht einfach auf die entsprechenden Behauptungen der Klägerpartei abgestellt werden.
c) Die Klage auf Feststellung und Rückzahlung der Darlehen kann im vorliegenden Fall materiell entschieden werden, ohne dass es auf die Richtigkeit der Behauptung ankommt, es sei vereinbart worden, die Rückzahlung habe in Zürich zu erfolgen. Für die Frage, ob ein Zahlungsanspruch besteht, ist ein allfälliger Erfüllungsort irrelevant (vgl. dazu die Beispiele bei SCHUMANN, a.a.O., S. 416 ff., insbes. S. 418). Bei der Behauptung einer Erfüllungsortsvereinbarung handelt es sich klarerweise um eine allein mit Bezug auf die Zuständigkeit relevante Tatsache, über die nach dem Gesagten im Bestreitungsfall Beweis zu führen ist. Indem sie die Vorinstanz als richtig unterstellte, bejahte sie zu
BGE 122 III 249 S. 254
Unrecht das Vorliegen eines Gerichtsstandes am Erfüllungsort nach
Art. 5 Ziff. 1 LugÜ
.
Die Vorinstanz hat mithin eine Vorschrift des internationalen Zivilprozessrechts verletzt, was zur Gutheissung der Berufung führt und zur Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur Prüfung und beweismässigen Abklärung der Frage, ob eine Vereinbarung über den Erfüllungsort, wie sie die Klägerin behauptet, abgeschlossen worden ist. In diesem Prozessstadium braucht vorläufig nicht geklärt zu werden, wo die Klägerin ihren Wohnsitz hat, denn sowohl das schweizerische wie auch das italienische, nach den Parteivorbringen als lex causae in Frage kommende Recht lassen Vereinbarungen über den Erfüllungsort zu (
Art. 74 Abs. 1 OR
; Art. 1182 CCI). Sollte indessen der Beweis über den Abschluss einer Erfüllungsortsvereinbarung scheitern, wird abzuklären sein, ob der Klägerin aufgrund von
Art. 5 Ziff. 1 LugÜ
in Verbindung mit
Art. 74 Abs. 2 Ziff. 1 OR
Zürich als Gerichtsstand des Erfüllungsortes zur Verfügung steht. Das bedingt die beweismässige Ermittlung ihres Wohnsitzes vorab, um gemäss
Art. 117 Abs. 3 lit. b IPRG
(SR 291) über die den Erfüllungsort bestimmende lex causae der behaupteten Darlehen und deren Zuständigkeitsregeln Klarheit zu gewinnen und alsdann die Subsumtion vornehmen zu können. | de |
6f918dc1-7a3b-4464-9381-e5284217d6cf | Sachverhalt
ab Seite 129
BGE 127 V 129 S. 129
A.-
Mit Verfügung vom 15. Oktober 1998 sprach die IV-Stelle Luzern der 1943 geborenen E. bei einem Invaliditätsgrad von 60% eine halbe Invalidenrente ab 1. September 1998 zu.
B.-
Die dagegen erhobene Beschwerde mit dem Antrag auf Gewährung einer ganzen Rente wies das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern nach Einholen eines Berichts von Dr. med. A., Facharzt FMH für Allgemeinmedizin, vom 17. November 1999 mit Entscheid vom 28. Dezember 1999 ab, da E. selbst bei wohlwollender Beurteilung nur einen Invaliditätsgrad von höchstens 65,6% erreiche.
C.-
E. lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und das im kantonalen Prozess gestellte Begehren erneuern. Eventuell sei die Sache an die IV-Stelle zurückzuweisen, damit sie nochmals eine Abklärung im Haushalt durchführe.
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während sich das Bundesamt für Sozialversicherung nicht vernehmen lässt.
BGE 127 V 129 S. 130 Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Es ist nicht bestritten, dass die Beschwerdeführerin in einer Erwerbstätigkeit zu 100% arbeitsunfähig ist. Streitig und zu prüfen ist lediglich die Einschränkung im Haushalt. Dabei ist von der Annahme auszugehen, dass die Versicherte ohne ihre gesundheitlichen Beeinträchtigungen weiterhin zu 50% erwerbstätig wäre, hat sie doch gemäss Auskunft des letzten Arbeitgebers vom 13. Januar 1998 seit dem 1. März 1977 stets in diesem Ausmass gearbeitet.
3.
Die Vorinstanz ermittelte im Haushalt einen Invaliditätsgrad von insgesamt 31,1%, welchen sie zur Hälfte berücksichtigte. Dadurch ergab sich ein Gesamtinvaliditätsgrad von 65,6%, weshalb das kantonale Gericht den Anspruch auf eine ganze Rente verneinte.
Demgegenüber lässt die Beschwerdeführerin einwenden, es sei überspitzt formalistisch, ihr wegen eines einzigen fehlenden Prozentes eine ganze Rente zu versagen. Es sei nicht möglich, die Behinderung in der Haushaltstätigkeit auf ein Prozent genau zu berechnen. Wie schon der Kreisarzt der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) festgehalten habe, sei sie ein Mensch, der seine Leiden demütig ertrage und deshalb die gesundheitlichen Einschränkungen zu wenig deutlich geltend gemacht habe. Dr. A. habe im Bericht vom 17. November 1999 die Arbeitsunfähigkeit im Haushalt mit 50% angegeben, was durchaus der Realität entspreche.
4.
Die Vorbringen der Beschwerdeführerin lassen sich in dem Sinn verstehen, dass eine exakte Berechnung des Invaliditätsgrades stets nur zu einem scheingenauen Resultat führe. Daher könne es sich unter Umständen rechtfertigen, bei einem Invaliditätsgrad, der den Grenzwert für die nächsthöhere Rentenstufe knapp nicht erreicht, aufzurunden und die entsprechend höhere Rente zuzusprechen. Deshalb ist vorab zur Frage des Aufrundens grundsätzlich Stellung zu nehmen.
a) Das Eidg. Versicherungsgericht hatte sich wiederholt mit Fällen zu befassen, in welchen Invaliditätsgrade auf-, ab- oder aber gar nicht gerundet wurden. Teilweise erfolgten die Rundungen stillschweigend, teilweise nahm das Gericht ausdrücklich Stellung dazu. In einigen Fällen waren es Verwaltung oder kantonale Gerichte, welche Invaliditätsgrade auf- oder abrundeten, die das Eidg. Versicherungsgericht bestätigte. Im Folgenden werden zunächst Urteile aus der jüngsten Rechtsprechung aufgeführt, in welchen das Gericht es abgelehnt hat, den einmal errechneten Invaliditätsgrad aufzurunden.
BGE 127 V 129 S. 131
aa) In AHI 2000 S. 302 Erw. 3c wies das Gericht darauf hin, dass der Bundesgesetzgeber mit der in Art. 28 Abs. 1 festgelegten Rentenabstufung klare und unmissverständliche Eckwerte gesetzt hat. An diese sind die Rechtsanwender, darunter auch das Eidg. Versicherungsgericht, kraft Bundesverfassung gebunden (vgl. Art. 191 der am 1. Januar 2000 in Kraft getretenen neuen Bundesverfassung vom 18. April 1999; Gleiches galt nach Art. 113 Abs. 3 und Art. 114bis Abs. 3 der bis Ende 1999 gültig gewesenen Bundesverfassung; dazu RKUV 2000 Nr. K 118 S. 152 Erw. 2a). Daraus folgerte das Gericht, wenn der Gesetzgeber prozentgenaue Eckwerte für die Zusprechung von Renten vorsehe, stehe es nicht im Belieben der Rechtsanwender, bei Unterschreiten derselben in Missachtung des klaren und unmissverständlichen Gesetzeswortlauts eine Rente für einen höheren, im konkreten Fall nicht erreichten Invaliditätsgrad zuzusprechen. Gegenteiliges lasse sich dem Aufsatz von MEYER-BLASER, Zur Prozentgenauigkeit in der Invaliditätsschätzung (in: SCHAFFHAUSER/SCHLAURI [Hrsg.], Rechtsfragen der Invalidität in der Sozialversicherung, Luzern 1999, S. 9 ff.), nicht entnehmen. Dieser Autor knüpfe an das Ergebnis an, dass auf Grund aller von Gesetzes wegen zu berücksichtigenden Wertungsgesichtspunkte die Annahme von Prozentgenauigkeit ausscheide. Daher spreche er sich dafür aus, es sei aus der Sicht der richterlichen Überprüfung unerlässlich, dass die einzelnen Schritte der Invaliditätsbemessung mit aller Sorgfalt erfolgten. Das Ergebnis des Verfahrens laute letztlich rechnerisch auf einen Invaliditätsgrad, der in einer einzelnen Prozentzahl oder sogar in einem Bruchteil davon zu Buche schlage. Dies sei unvermeidlich, und dagegen sei nichts einzuwenden, solange mit dem rechnerisch genauen Ergebnis nicht der Eindruck erweckt werden wolle, dem Resultat liege eine Genauigkeit zu Grunde, die es gar nicht haben könne. Die Aussage ("Folgerung"), wonach Differenzierungen des Invaliditätsgrades im Bereich +/-1% nicht feststellbar seien und die Erfassbarkeit allenfalls bei +/-10% beginne, sei in diesem Zusammenhang zu sehen. Dementsprechend lehnte es das Gericht in diesem Urteil ab, bei einem Invaliditätsgrad von 59,2% eine ganze Rente zuzusprechen.
bb) Im Urteil V. vom 12. Oktober 2000 (I 344/99) verwies das Gericht auf eine Vernehmlassung der am Recht stehenden IV-Stelle, welche sich ihrerseits auf den genannten Aufsatz von MEYER-BLASER abstützte, und wies das Begehren um Zusprechung einer halben Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von 46,5% ab. Die IV-Stelle zitierte neben den bereits erwähnten Passagen zusätzlich
BGE 127 V 129 S. 132
Rz 27 des Aufsatzes von MEYER-BLASER (a.a.O., S. 26), wonach Rundungen auf einzelne Prozentzahlen (oder Teile davon) abzulehnen sind, da gerundeten Werten keine höhere Überzeugungskraft eigne als einzelnen Prozent- oder Bruchzahlen.
cc) Im Urteil S. vom 4. September 2000 (I 551/99) lehnte es das Gericht unter Hinweis auf die in AHI 2000 S. 302 Erw. 3c angestellten Erwägungen ab, bei einem Invaliditätsgrad von 48% auf 50% aufzurunden und eine halbe Rente zu gewähren. Die fehlende Prozentgenauigkeit, die der Invaliditätsberechnung innewohne, sei nicht als Aufforderung an die Rechtsanwender zu verstehen, bei Unterschreiten der gesetzlichen Eckwerte eine Rente für einen höheren, im konkreten Fall nicht erreichten Invaliditätsgrad zuzusprechen.
dd) Im Urteil C. vom 23. Februar 2001 (I 284/00) sah das Gericht angesichts des Wesens der Invaliditätsbemessung - fehlende Prozentgenauigkeit auf Grund der von Gesetzes wegen zu berücksichtigenden Wertungsgesichtspunkte bei rechnerisch genauem Ergebnis - wegen der gesetzlich festgehaltenen Eckwerte keinen Spielraum, bei einem Invaliditätsgrad von rund 65% eine ganze Rente zu gewähren.
ee) In AHI 1999 S. 243 Erw. 4d und im Urteil R. vom 11. Februar 2000 (I 225/99) ermittelte das Gericht einen Invaliditätsgrad von 38% bzw. "rund" 38% und verneinte einen Anspruch auf eine Invalidenrente, ohne sich weiter dazu zu äussern, dass der genannte Invaliditätsgrad nahe an einem der Eckwerte gemäss
Art. 28 Abs. 1 IVG
liegt.
ff) Im Zusammenhang mit der Konstellation des vorliegenden Falles ist auch das nicht veröffentlichte Urteil B. vom 28. September 1998 (I 164/98) von Interesse. Dort ging es ebenfalls um eine Versicherte, die teilweise erwerbstätig war und teilweise im Haushalt arbeitete. Dabei erwog das Gericht, dass der Gesamtinvaliditätsgrad bei der für die Versicherte günstigsten Berechnungsvariante höchstens 65,6% (also exakt gleichviel wie im vorliegenden Fall) betragen könne, weshalb stets nur Anspruch auf eine halbe Rente bestehe.
b) Demgegenüber hat das Gericht in andern Fällen - ausdrücklich oder stillschweigend - selber eine Auf- oder Abrundung vorgenommen oder eine Rundung im vorinstanzlichen Entscheid bestätigt.
aa) In
BGE 125 V 162
Erw. 6 hat es bei einem Invaliditätsgrad von "aufgerundet 50%" eine halbe Invalidenrente zugesprochen.
BGE 127 V 129 S. 133
Das genaue rechnerische Resultat hatte einen Invaliditätsgrad von 49,68% ergeben. Die Aufrundung selbst begründete das Gericht nicht.
bb) Im Urteil L. vom 19. September 2000 (U 66/00) bestätigte das Gericht eine Invalidenrente der Unfallversicherung von 20% bei rechnerisch exakt ermitteltem Invaliditätsgrad von 22%. Dazu führte das Gericht aus, der von dieser Abrundung betroffene Versicherte wende an sich zu Recht ein, dass grundsätzlich keine Auf- und Abrundungen des Invaliditätsgrades auf die nächste runde Zahl zu erfolgen habe, wenn die massgebenden Einkommen ziffernmässig festständen. Im vorliegenden Fall bestehe indessen kein Grund zu einer entsprechenden Korrektur des Invaliditätsgrades, weil das kantonale Gericht dem Beschwerdeführer einen unter den gegebenen Umständen sehr weit gehenden Abzug vom Invalideneinkommen zugestanden habe.
cc) In RKUV 1998 Nr. U 304 S. 373 Erw. 3 ermittelte die SUVA einen Invaliditätsgrad von mathematisch exakt 45,88% und sprach der versicherten Person eine Rente von 50% zu. Das Gericht bestätigte diese Rente, ohne sich zur Frage des (Auf-)Rundens zu äussern.
dd) In der in RKUV 1992 Nr. U 145 S. 85 nicht veröffentlichten Erw. 3c/cc hiess das Gericht eine Rüge gut, mit der ein zu hoher Invaliditätsgrad beanstandet wurde, und setzte diesen von 20% auf 18% herab, wobei das rechnerisch exakte Ergebnis 17,7% betrug.
ee) In RKUV 1988 Nr. U 59 S. 438 f. Erw. 5c bestätigte das Gericht ohne nähere Begründung betreffend das Runden eine von der SUVA wiedererwägungsweise von 33 1/3% auf 10% herabgesetzte Rente, obschon der massgebende Erwerbsvergleich nur noch einen Invaliditätsgrad von 3,85% ergeben hatte.
ff) Im Urteil J. vom 18. Oktober 2000 (I 665/99) bejahte das Gericht einen Anspruch auf berufliche Massnahmen bei einem Invaliditätsgrad von 18,52%, obwohl die üblicherweise geltende Mindestlimite bei etwa 20% liegt (
BGE 124 V 110
Erw. 2b). Bei diesem Eckwert handelt es sich allerdings nicht um eine gesetzlich festgelegte, sondern um eine von der Rechtsprechung eingeführte Grösse. Zudem begründete das Gericht die Zusprechung der beruflichen Massnahmen trotz Unterschreiten des Grenzwertes mit den besonderen Umständen des konkreten Einzelfalles.
gg) In einem andern Fall (nicht veröffentlichtes Urteil A. vom 13. November 1986, I 272/86) reichten hingegen 17,61% Invalidität nicht zur Gewährung beruflicher Massnahmen, da der am Recht
BGE 127 V 129 S. 134
stehende Versicherte im Verweisungsberuf, in welchem diese Erwerbseinbusse resultierte, als in zumutbarer Weise eingegliedert erachtet wurde.
hh) In dem in Plädoyer 2001/1 S. 65 veröffentlichten Urteil Z. vom 13. Oktober 2000 (U 181/99) bestätigte das Gericht eine SUVA-Rente von 10% gestützt auf einen von der Unfallversicherungsanstalt durchgeführten Erwerbsvergleich, welcher je nach Variante zwischen 85% und 93% des vor dem Unfall erzielten Lohnes ergab, somit einem Invaliditätsgrad von zwischen 7% und 15% entsprach, ohne sich näher zur Auf- oder Abrundung zu äussern.
c) Diese Rechtsprechung zeigt auf, dass die Frage, ob bei einem rechnerisch exakt ermittelten Invaliditätsgrad auf einen als geeignet erscheinenden "runden" Wert auf- oder abgerundet werden dürfe, bisher nicht in letzter Konsequenz einheitlich beantwortet worden ist. Während in IV-Fällen (mit Ausnahme von
BGE 125 V 162
Erw. 6, siehe Erw. 4b/aa hievor) ein Aufrunden auf die nächsthöhere Rentenstufe in der Regel ausdrücklich abgelehnt wurde, liess das Gericht in einigen UV-Fällen (Erw. 4b/bb, cc, ee, hh hievor) Auf- oder Abrundungen um mehrere Prozent unbeanstandet. Es drängt sich daher auf, diese Problematik in Zukunft einheitlich und nach klaren Richtlinien zu lösen. Dabei ist im Bereich der Invalidenversicherung von der in AHI 2000 S. 302 (Erw. 4a/aa hievor) angestellten Überlegung auszugehen, dass der Gesetzgeber fixe, unmissverständliche Eckwerte bestimmt hat, an welche die Rechtsanwender gebunden sind. Somit besteht auch bei knappem Verfehlen des für die nächsthöhere Rentenstufe nötigen Mindestinvaliditätsgrades kein Spielraum für Aufrundungen, sobald das rechnerische Resultat einmal feststeht. Dagegen müssen die im jeweiligen Einzelfall massgebenden Faktoren zur Bestimmung des Invaliditätsgrades, wie hypothetisches Validen- und Invalideneinkommen (gegebenenfalls prozentualer Abzug von den Tabellenlöhnen nach den dafür relevanten Gesichtspunkten gemäss
BGE 126 V 75
) beim Erwerbsvergleich, Einschränkung in den verschiedenen massgebenden Arbeiten beim Betätigungsvergleich, mit grosser Sorgfalt festgesetzt werden, wobei hier je nach den Umständen des Falles ein Ermessensspielraum vorhanden ist. Stehen aber diese einzelnen Faktoren einmal fest, hat gestützt darauf die Berechnung des Invaliditätsgrades zu erfolgen, deren Ergebnis notwendigerweise ein mathematisch bis auf die Kommastellen exakter Prozentwert ist. An diesem kann anschliessend nicht mehr gerundet werden, auch wenn eine auf Kommastellen genaue Invaliditätsbemessung
BGE 127 V 129 S. 135
naturgemäss eine gewisse Scheingenauigkeit beinhaltet. Dieses Rundungsverbot ist selbst dann in Kauf zu nehmen, wenn ein Eckwert für eine höhere Rentenstufe nur knapp verpasst wird und das Ergebnis für die Betroffenen hart erscheint.
d) Was für die Invalidenversicherung gesagt wurde, muss auch für die Unfallversicherung und für sämtliche anderen Sozialversicherungszweige gelten, soweit der jeweilige Invaliditätsgrad auf Grund eines Einkommens- oder Betätigungsvergleichs ermittelt wird. Zwar bestehen etwa in der Unfallversicherung zur Zeit noch keine gesetzlichen Eckwerte, wie sie die Invalidenversicherung in
Art. 28 Abs. 1 IVG
kennt. Indessen ist
Art. 18 Abs. 1 UVG
in dem Sinne ergänzt worden, dass Anspruch auf eine Rente erst ab einem Invaliditätsgrad von mindestens 10% besteht (BBl 2000 6110). Diese Gesetzesänderung ist allerdings noch nicht in Kraft (vgl. BBl 2000 6111). Wie die Rechtsprechung sodann wiederholt betont hat, stimmt der Invaliditätsbegriff in der Invalidenversicherung mit demjenigen in der obligatorischen Unfallversicherung (und in der Militärversicherung) grundsätzlich überein, weshalb die Schätzung der Invalidität, auch wenn sie für jeden Versicherungszweig grundsätzlich selbstständig vorzunehmen ist, mit Bezug auf den gleichen Gesundheitsschaden im Regelfall zum selben Ergebnis führen muss (
BGE 126 V 291
Erw. 2a,
BGE 119 V 470
Erw. 2b mit Hinweisen; vgl. auch
BGE 123 V 271
Erw. 2a). Die Rechtsprechung hält hinsichtlich der Invaliditätsbemessung an der koordinierenden Funktion des einheitlichen Invaliditätsbegriffs in den verschiedenen Sozialversicherungszweigen fest (
BGE 126 V 292
Erw. 2c). Daher ist danach zu trachten, unterschiedliche Invaliditätsannahmen verschiedener mit dem selben Fall befasster Versicherer zu vermeiden. Zwar darf sich ein Versicherer nicht ohne weitere eigene Prüfung mit der blossen Übernahme des von einem andern Versicherer festgelegten Invaliditätsgrades begnügen, soll aber auf der andern Seite die eigene Invaliditätsbemessung auch nicht einfach völlig unabhängig von bereits getroffenen Entscheiden anderer Versicherer festlegen (
BGE 126 V 293
Erw. 2d). Nach der Rechtsprechung sind Abweichungen zwar nicht zum Vornherein ausgeschlossen (
BGE 126 V 292
Erw. 2b,
BGE 119 V 471
Erw. 2b mit Hinweisen). Nicht als massgeblich zu betrachten ist die Invaliditätsschätzung des einen Sozialversicherungsträgers etwa dann, wenn ihr ein Rechtsfehler oder eine nicht vertretbare Ermessensausübung zu Grunde liegt. Ohne Bindungswirkung hat der von einem Unfallversicherer angenommene Invaliditätsgrad auch zu bleiben, wenn dieser bloss auf
BGE 127 V 129 S. 136
einem gerichtlichen Vergleich beruht (
BGE 126 V 292
Erw. 2b,
BGE 112 V 175
f. Erw. 2a). Andererseits ist zu beachten, dass eine präzise Bestimmung des Invaliditätsgrades für die Belange der Invalidenversicherung nicht immer nötig ist, genügt es doch wegen der gröberen Rentenabstufung (nur ganze, halbe und Viertelsrenten) für die Leistungsfestsetzung unter Umständen schon, dass das Erreichen der für die Höhe des Anspruches ausschlaggebenden Grenzwerte von 40%, 50% oder 66 2/3% eindeutig feststeht oder aber klar ausgeschlossen werden kann (
BGE 126 V 292
Erw. 2b,
BGE 119 V 473
Erw. 3d;
BGE 104 V 137
Erw. 2b). In solchen Fällen kommt der von den Organen der Invalidenversicherung vorgenommenen Invaliditätsbemessung für andere Sozialversicherungsträger nur in beschränktem Masse Bedeutung zu. Soweit aber in einem konkreten Einzelfall keine Gründe für ein Abweichen von der Schätzung eines andern Versicherers vorliegen, muss die Invaliditätsbemessung bei allen Versicherern übereinstimmen. Dies aber bedingt, nachdem in der Invalidenversicherung nicht auf die nächsthöhere Rentenstufe aufgerundet werden darf, dass auch die Unfallversicherung das einmal mathematisch exakt ermittelte Resultat der Invaliditätsbemessung so stehen lassen muss. Es ist kein sachlicher Grund ersichtlich, der Unfallversicherung dort ein Auf- (oder Ab-)runden zu erlauben, wo es der Invalidenversicherung nicht gestattet ist. Zudem eignet aufgerundeten Werten in der Tat keine höhere Überzeugungskraft als exakt berechneten (MEYER-BLASER, a.a.O., S. 26 Rz 27).
e) Angesichts der Tatsache, dass die Invalidenversicherung eine bloss grobe Rentenabstufung kennt (40%, 50%, 66 2/3%), kann in IV-Fällen, in welchen das Erreichen des für die Höhe des Anspruchs ausschlaggebenden Grenzwertes eindeutig feststeht oder aber klar ausgeschlossen ist (
BGE 119 V 473
Erw. 3d;
BGE 104 V 137
Erw. 2b), aus praktischen Gründen darauf verzichtet werden, den jeweiligen Invaliditätsgrad auf die Kommastelle genau zu ermitteln. Sobald jedoch der Invaliditätsgrad in die Nähe eines Grenzwertes rückt, ist eine genaue Berechnung erforderlich, deren Ergebnis anschliessend nicht noch aufgerundet werden darf. In der Unfallversicherung hingegen, in welcher ein Invaliditätsgrad von selbst ganz wenigen Prozenten die schlussendlich ausgerichtete Rente beeinflusst, hat eine exakte Berechnung des Invaliditätsgrades zu erfolgen, an die sich ein konsequentes Rundungsverbot anschliesst.
f) Zusammenfassend ergibt sich, dass an einem einmal auf Grund von korrekt bestimmten Faktoren mathematisch exakt berechneten Invaliditätsgrad nicht mehr gerundet werden darf. Soweit sich
BGE 127 V 129 S. 137
einzelnen in Erw. 4a und b hievor genannten Urteilen etwas anderes ableiten lässt, kann daran nicht festgehalten werden.
g) Das Gesagte bezieht sich auf den für einen Anspruch auf Renten massgebenden Invaliditätsgrad. Ob das Rundungsverbot auch bei beruflichen Massnahmen der Invalidenversicherung gilt, bei welchen kein vom Gesetzgeber vorgeschriebener, sondern lediglich ein von der Rechtsprechung geschaffener Eckwert von etwa 20% zur Diskussion steht (Erw. 4b/ff und gg), kann im Rahmen des vorliegenden Falles offen gelassen werden.
5.
Im Lichte dieser Ausführungen ist der vorliegende Fall zu prüfen.
a) Die Ermittlung des Invaliditätsgrades im Haushalt erfolgt durch eine Abklärung an Ort und Stelle. Sie beruht weit gehend auf dem Verhalten und den Angaben der versicherten Person selber, welche bis zu einem gewissen Grad durch die Erfahrung der Abklärungsperson kontrolliert werden. Das Ergebnis ist notwendigerweise eine Schätzung, welche von der Verwaltung (und im Beschwerdefall vom Gericht) im Lichte der ärztlichen Stellungnahme zur Arbeitsunfähigkeit im Haushalt zu würdigen ist (MEYER-BLASER, a.a.O., S. 23 Ziff. 3.4). Aus der Sicht der richterlichen Überprüfung kann nicht mehr, aber auch nicht weniger gefordert werden, als dass die einzelnen Schritte der Invaliditätsbemessung mit aller Sorgfalt erfolgen (vgl. auch
BGE 114 V 313
Erw. 3a letzter Absatz). Das Ergebnis lautet rechnerisch unvermeidlicherweise auf eine Prozentzahl oder einen Bruchteil davon. Auch dieses Resultat darf nicht mehr gerundet werden.
b) Vorliegend hat die Vorinstanz ausführlich dargelegt, wie sie versucht hat, die verbliebene Arbeitsfähigkeit im Haushalt so exakt wie möglich zu bestimmen. Es lässt sich nicht sagen, das kantonale Gericht habe dabei sein Ermessen fehlerhaft ausgeübt. Für die Einschätzung der einzelnen massgebenden Faktoren, die sich nicht beanstanden lassen, wird auf den kantonalen Entscheid verwiesen. Als rechnerisches Schlussergebnis ermittelte die Vorinstanz - zusammen mit dem Anteil der Erwerbstätigkeit - einen Invaliditätsgrad von 65,6%. Die Frage, ob die Beschwerdeführerin statt dessen "richtigerweise" zu 66 2/3% invalid einzustufen sei, ist nach dem Gesagten zu verneinen. Es muss deshalb dabei sein Bewenden haben, dass nur Anspruch auf eine halbe Invalidenrente besteht. | de |
75e54dd2-6e8b-456e-b8ca-6f9d66440b1b | Sachverhalt
ab Seite 66
BGE 142 III 65 S. 66
A.
A.A. war mit B.A. unter dem Güterstand der Errungenschaftsbeteiligung verheiratet. Am 13. Juni 2005 hatten die Ehegatten als einfache Gesellschaft für Fr. 800'000.- ein Grundstück erworben und nach erheblichen Investitionen für die Umgestaltung am 9. Juni 2008 für Fr. 950'000.- mit Verlust wieder verkauft. Der nach Ablösung der Schulden verbleibende Erlös von Fr. 413'540.95 wurde auf dem Klientengeldkonto y bei der Bank C. deponiert und von Notar D. treuhänderisch verwaltet. Auf B.A. lauteten sieben weitere Konten bei der Bank C. sowie verschiedene Konten bei der Bank E.
B.
Am 11. April 2008 erstattete F. gegen B.A. Anzeige für Straftaten, welche dieser in Funktion als ihr Angestellter begangen hatte. Die Bundesanwaltschaft leitete ein Verfahren ein und beschlagnahmte seine Konten. Am 5. Mai 2010 verurteilte das Bundesstrafgericht B.A. wegen mehrfacher Veruntreuung sowie mehrfacher Urkundenfälschung zum Nachteil der Schweizerischen Eidgenossenschaft.
Mit Ziff. 3a des Strafurteils wurde aus dem Erlös des Verkaufs der Liegenschaft des Ehepaares A. vom Konto y bei der Bank C. der Betrag von Fr. 349'081.- eingezogen. Bei dessen Berechnung trug das Bundesstrafgericht den Investitionen von A.A. von Fr. 151'019.80 in die Liegenschaft insofern Rechnung, als es nur einen den Investitionen des Ehemannes entsprechenden Anteil des auf dem Konto befindlichen Betrages einzog, unter Berücksichtigung der Verlusttragung im gleichen Verhältnis.
Mit Ziff. 4 des Strafurteils wurde eine Ersatzforderung der Eidgenossenschaft gegenüber B.A. in Höhe von Fr. 400'000.- begründet.
Mit Ziff. 5a des Strafurteils wurde das Konto y bei der Bank C. in dem den Fr. 349'081.- übersteigenden Betrag beschlagnahmt. Die bereits durch die Bundesanwaltschaft erfolgte Beschlagnahmung der weiteren Konten blieb bestehen.
C.
Zwischenzeitlich hatten die Ehegatten A. am 19. Februar 2008 einen gemeinsamen Scheidungsantrag eingereicht. Mit Urteil vom 27. April 2011 wurden sie rechtskräftig geschieden. B.A. anerkannte
BGE 142 III 65 S. 67
in der gerichtlich genehmigten Scheidungskonvention, A.A. total Fr. 425'000.- zu schulden (Fr. 365'000.- "Rückerstattung Eigengut" und Fr. 60'000.- "rückständige Ehegattenunterhaltsbeiträge"). Zur Tilgung dieser Forderungen zedierte er in der Konvention "auf Anrechnung des güterrechtlichen Anspruchs" "ohne Gewähr für Bestand und Einbringlichkeit" "sämtliche Ansprüche/Guthaben an seinem resp. am ehelichen Vermögen", darunter die sieben auf seinen Namen lautenden Konten bei der Bank C. sowie das Klientengeldkonto y.
Die sieben Konten bei der Bank C. wurden in der Folge auf A.A. überführt, welche die Guthaben neu auf vier Konten deponierte (s; t; u; v). Weiterhin besteht unter der ursprünglichen Nummer das Konto y mit der nach Einziehung der Fr. 349'081.- verbliebenen Restanz.
D.
Für die im Strafurteil festgelegte Ersatzforderung von Fr. 400'000.- leitete die Schweizerische Eidgenossenschaft Betreibung ein; diesbezüglich wurden am 16. April 2012 für die Pfändungsgruppe X. das Konto y bei der Bank C. mit einem Guthaben von Fr. 64'756.60 sowie die auf B.A. lautenden Konten bei der Bank E. gepfändet.
In Befürchtung einer ungenügenden Deckung für die Teilnehmer in der Pfändungsgruppe X. leitete die Schweizerische Eidgenossenschaft am 23. August 2012 sodann eine weitere Betreibung ein; diesbezüglich wurden am 7. September 2012 für die Pfändungsgruppe Y. die Konten s, t, u und v mit Guthaben von $ 1'118.87, EUR 5'867.31, Fr. 52'186.65 und Fr. 2'485.- gepfändet (als "Nachpfändung" bezeichnet).
In beiden Verfahren erhob A.A. unter Hinweis auf das Scheidungsurteil (bzw. die Teil des Urteils bildende Konvention) einen Drittanspruch an den gepfändeten Konten, welche auf ihren Namen lauten. Das Betreibungsamt setzte der Schweizerischen Eidgenossenschaft in beiden Verfahren Frist zur Erhebung einer Widerspruchsklage.
E.
Am 3. September 2012 reichte die Schweizerische Eidgenossenschaft eine Klage nach
Art. 108 SchKG
betreffend das Konto y ein mit dem Begehren, es sei in der Pfändungsgruppe X. gegen den Schuldner B.A. das vollumfängliche Recht von A.A. am gepfändeten Vermögenswert Nr. 2 der Pfändungsurkunde vom 24. Mai 2012 abzuerkennen und das Pfändungsverfahren sei unter Einschluss des gepfändeten Vermögenswertes Nr. 2 weiterzuführen.
Am 5. November 2012 reichte die Schweizerische Eidgenossenschaft zudem eine Klage nach
Art. 108 SchKG
betreffend die Konten s, t,
BGE 142 III 65 S. 68
u und v ein mit dem Begehren, es sei in der Pfändungsgruppe Y. das vollumfängliche Recht von A.A. an den gepfändeten Vermögenswerten Nrn. 1-4 der Pfändungsurkunde vom 12. Oktober 2012 abzuerkennen und das Pfändungsverfahren sei unter Einschluss der gepfändeten Vermögenswerte Nrn. 1-4 weiterzuführen.
Im Einverständnis der Parteien wurden die beiden Verfahren vereinigt. An der Hauptverhandlung vom 18. Oktober 2013 schlossen die Parteien eine Vereinbarung, welche die Schweizerische Eidgenossenschaft am 23. Oktober 2013 innert der vereinbarten Frist widerrief. Mit Entscheid vom 10. April 2014 wies das Regionalgericht die beiden Klagen ab.
Dagegen erhob die Schweizerische Eidgenossenschaft Berufung. Mit Entscheid vom 29. Januar 2015 hiess das Obergericht des Kantons Bern die beiden Klagen gut.
F.
Gegen das obergerichtliche Urteil erhob A.A. am 2. März 2015 Beschwerde mit den Begehren um dessen Aufhebung und Abweisung der Widerspruchsklagen.
In teilweiser Gutheissung der Beschwerde stellt das Bundesgericht das bessere Recht von A.A. an den Konten s, t, u, v und y im Umfang von Fr. 60'000.- fest (im Verhältnis der jeweiligen Saldi) und aberkennt ihr besseres Recht im darüber hinausgehenden Umfang.
(Zusammenfassung) Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Das Regionalgericht wies die Klagen ab mit der Begründung, weder die Rücknahme von Vermögenswerten ins Eigengut noch die Begleichung von Unterhaltsansprüchen falle in den Anwendungsbereich von
Art. 193 ZGB
. Im Übrigen sei die Höhe der Ansprüche der Beschwerdeführerin durch die gerichtliche Genehmigung der Scheidungskonvention verbindlich festgelegt.
Berufungsweise machte die Beschwerdegegnerin geltend, es gehe nicht um die Rücknahme von Vermögenswerten, sondern um Ersatzforderungen. Im Übrigen sei das Scheidungsurteil, bei welchem sie nicht Partei gewesen sei, im Widerspruchsverfahren nicht verbindlich. Die Beschwerdeführerin habe somit den Umfang ihres Eigengutes und allfälliger Unterhaltsforderungen nachzuweisen, was ihr nicht gelinge. Dem hielt die Beschwerdeführerin in der Berufungsantwort entgegen, es könnten nur solche Forderungen den Schutz von
Art. 193 ZGB
BGE 142 III 65 S. 69
beanspruchen, welche zeitlich vor den gemäss dieser Norm relevanten Handlungen entstanden seien. Die Auflösung des Güterstandes werde gemäss
Art. 204 Abs. 1 ZGB
auf den Zeitpunkt der Einreichung des Scheidungsbegehrens zurückbezogen, vorliegend also auf den 19. Februar 2008, während die Ersatzforderung der Beschwerdegegnerin erst mit dem Urteil des Bundesstrafgerichts vom 5. Mai 2010 entstanden sei; mithin komme
Art. 193 ZGB
nicht zum Tragen.
Das Obergericht ging davon aus, dass das Jahr 2008 als ehegüterrechtlich relevanter Zeitpunkt anzusehen sei, die Forderungen der Beschwerdegegnerin aber gemäss
BGE 119 Ia 453
E. 4d/aa S. 458 bereits mit den strafbaren Handlungen des Ehemannes und somit mehrere Jahre vor der Auflösung des Güterstandes entstanden seien. Sodann gehe es nicht um eine Rücknahme von Eigengut im Sinn von
Art. 205 Abs. 1 ZGB
, sondern um die Tilgung einer Ausgleichsforderung. Auch bei der Begleichung der Unterhaltsschulden handle es sich nicht um die Rücknahme von Eigengut, sondern um eine Schuld unter Ehegatten, über welche im Zuge der güterrechtlichen Auseinandersetzung abgerechnet worden sei. Die güterrechtlich motivierte Abtretung der Konten bei der Bank C. müsse deshalb in Bezug auf die Beschwerdeführerin wirkungslos bleiben und die Konten s, t, u und v dürften gepfändet werden. Gesonderter Betrachtung bedürfe freilich das Konto y, weil dieses nicht ein Konto des Ehemannes, sondern ein solches der einfachen Gesellschaft zum Zweck des Erwerbs und Umbaus sowie späteren Verkaufs der Liegenschaft gewesen sei. Mit der Scheidung sei auch die gesellschaftsrechtliche Auseinandersetzung vorgenommen worden. Pfändbar sei hier der Liquidationsanteil, wobei die Vorschriften des VVAG (SR 281.41) nicht beachtet werden müssten, weil die Gesellschaft bereits aufgelöst und deshalb nach
Art. 548 ff. OR
vorzugehen sei. Der Kaufpreis habe Fr. 800'000.- (zzgl. Fr. 17'843.20 Notariatskosten) betragen, es sei zur Finanzierung von Investitionen eine Hypothek von Fr. 450'000.- aufgenommen worden und die Ehefrau habe für die Investitionen zusätzlich Fr. 151'019.80 eingebracht. Somit sei von Gestehungskosten von total rund Fr. 1'419'000.- auszugehen, so dass angesichts des Verkaufspreises von Fr. 950'000.- ein Verlust von Fr. 469'000.- resultiert habe, wovon beide Ehegatten je Fr. 234'500.- zu tragen hätten. Die belegte Investition der Ehefrau sei mithin kleiner als der von ihr zu tragende Verlust und folglich habe sie keinen Anspruch mehr auf Geldforderungen aus der Liquidation der Gesellschaft, so
BGE 142 III 65 S. 70
dass ihr nichts vom gepfändeten Betrag auf dem Konto y zustehen könne.
3.
Die Beschwerdeführerin macht in Bezug auf die Unterhaltsschulden eine spezifische Rechtsverletzung geltend, indem die Regelung gegenseitiger Schulden nach der Lehre nicht unter den Gläubigerschutz von
Art. 193 ZGB | de |
18222b7e-8e8e-4fbd-9fcc-abe4d73a4ee4 | Sachverhalt
ab Seite 259
BGE 130 II 258 S. 259
Die Schweizerische Lebensversicherungs- und Rentenanstalt (heute: Swiss Life; im Weiteren: Rentenanstalt) bietet Kollektivversicherungsverträge im Rahmen der beruflichen Vorsorge im Sinne des Bundesgesetzes vom 25. Juni 1982 über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (BVG; SR 831.40) an. Am 31. Mai 2002 beantragte sie dem Bundesamt für Privatversicherungen, die Einführung einer Risikoprämie für die BVG-Mindestzinsgarantie und die BVG-Umwandlungssatzgarantie zu genehmigen. Sie begründete dies damit, dass der gemäss Art. 12 der Verordnung vom 18. April 1984 über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (BVV 2; SR 831.441.1, in der ursprünglichen Fassung) vorgeschriebene Mindestzinssatz von 4 % mit einer auf Sicherheit angelegten Anlagepolitik nicht mehr erzielt werden könne. Der in
Art. 17 BVV 2
festgelegte Mindestumwandlungssatz für die Altersrente von 7,2 % sei seinerseits infolge der erhöhten Lebenserwartung heute zu hoch, so dass im Zeitpunkt der Pensionierung eine Finanzierungslücke entstehe.
Das Bundesamt für Privatversicherungen verweigerte am 4. September 2002 die Genehmigung der Zusatzprämien im obligatorischen Bereich, liess sie indessen für den überobligatorischen Bereich zu. Es begründete dies im Wesentlichen damit, dass der Mindestzinssatz und der Mindestumwandlungssatz im obligatorischen Bereich durch zwingendes öffentliches Recht vorgegeben seien. Die Erhebung einer Zusatzprämie, um diese Sätze zu garantieren, komme einer Umgehung der entsprechenden gesetzlichen Vorgaben gleich. Der vom Bundesrat festgelegte BVG-Mindestzinssatz bilde in Zeiten sinkender Kapitalerträge ein Anlagerisiko und gehöre nicht zu den Versicherungsrisiken, für die das Gesetz Leistungen der obligatorischen beruflichen Vorsorge vorsehe. Hinsichtlich des Umwandlungssatzes, welcher die Tarifierung des Langlebigkeitsrisikos erfasse, müssten die Anbieter im Bereich der beruflichen Vorsorge - Vorsorgeeinrichtungen und Lebensversicherer - das gesetzliche
BGE 130 II 258 S. 260
Minimum garantieren; jede Auferlegung einer Zusatzprämie zu Lasten der Kunden wirke faktisch als Senkung des vom Bundesrat festgelegten minimalen Umwandlungssatzes und sei deshalb unzulässig. Die Eidgenössische Rekurskommission für die Aufsicht über die Privatversicherung bestätigte diesen Entscheid auf Beschwerde hin am 7. August 2003. Das Bundesgericht heisst die von der Rentenanstalt hiergegen eingereichte Verwaltungsgerichtsbeschwerde gut und weist die Sache zu neuem Entscheid im Sinne der Erwägungen an das Bundesamt für Privatversicherungen zurück.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Die Beschwerdeführerin macht geltend, gar nicht dem Bundesgesetz über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge zu unterstehen; die Vorinstanzen hätten dessen Bestimmungen zu Unrecht auf sie angewendet. Ihre entsprechenden Ausführungen überzeugen nicht:
2.1
Gemäss
Art. 67 BVG
können die im Register für die berufliche Vorsorge aufgenommenen Vorsorgeeinrichtungen, auf die das BVG Anwendung findet (vgl. Art. 5 Abs. 2 in Verbindung mit
Art. 48 BVG
), die Deckung der Risiken selber übernehmen oder sie ganz oder teilweise Versicherungseinrichtungen wie der Beschwerdeführerin übertragen. Diese haben, soweit sie die Risikodeckung einer Vorsorgeeinrichtung übernehmen, Tarife in ihre Angebote einzubeziehen, die lediglich die gesetzlich vorgeschriebenen Risiken für Todesfall und Invalidität abdecken (
Art. 68 Abs. 1 BVG
). Die für die Genehmigung der Tarife aufgrund von Art. 20 Versicherungsaufsichtsgesetz vom 23. Juni 1978 (VAG; SR 961.01) zuständige Aufsichtsbehörde prüft, "ob die für die gesetzlich vorgeschriebene berufliche Vorsorge anwendbaren Tarife auch unter dem Gesichtspunkt des Obligatoriums angebracht sind" (
Art. 68 Abs. 2 BVG
). Damit überträgt das BVG dem Bundesamt für Privatversicherungen ausdrücklich die Aufgabe, die Versicherungstarife auch im Hinblick auf das BVG-Obligatorium und die entsprechenden Vorschriften zu prüfen. Es konkretisiert bzw. ergänzt insofern spezialgesetzlich den Prüfungsmassstab von
Art. 17 und
Art. 20 VAG
(Solvenz der Versicherungseinrichtungen und Schutz der Versicherten vor Missbrauch).
2.2
Nichts anderes ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte von
Art. 68 Abs. 2 BVG
: Der Entwurf des Bundesrats zum BVG
BGE 130 II 258 S. 261
ent hielt einen Art. 64, welcher sich mit dem heutigen Art. 67 deckt (BBl 1976 I 307); eine
Art. 68 BVG
entsprechende Regelung war nicht vorgesehen. Der Nationalrat ergänzte Art. 64 des Entwurfs in der Folge dahin gehend, dass "im Genehmigungsverfahren der Tarife nach Artikel 20 des Versicherungsaufsichtsgesetzes" der Bundesrat prüft, "ob die für die gesetzlich vorgeschriebene berufliche Vorsorge anwendbaren Tarife auch unter sozialen Gesichtspunkten angebracht sind" (AB 1981 N 1105 ff.). Damit sollte verhindert werden, dass die Versicherungsgesellschaften, deren Dienste zu beanspruchen die Vorsorgeeinrichtungen durch das Obligatorium praktisch gezwungen waren, übermässige Gewinne auf Kosten der Versicherten machen könnten (AB 1981 N 1106 ff., Voten Reimann, Fischer, Muheim, Barchi). Nachdem der Ständerat diesen Absatz wieder gestrichen hatte (AB 1982 S 22 f.), beschloss der Nationalrat eine neue Formulierung, wonach die Tarife "auch unter dem Gesichtspunkt des Obligatoriums angebracht" sein müssten (AB 1982 N 211 ff.). Der Ständerat sprach sich daraufhin für den heutigen
Art. 68 BVG
aus (AB 1982 S 190), dem sich der Nationalrat schliesslich anschloss (AB 1982 N 769 f.).
2.3
Aus Wortlaut, Systematik und Entstehungsgeschichte von
Art. 68 Abs. 2 BVG
ergibt sich damit klar, dass für Verträge im Bereich des BVG-Obligatoriums zum Schutz der Versicherten ein gegenüber
Art. 20 VAG
verschärfter Prüfungsmassstab gilt (JÜRG BRÜHWILER, Beitragsbemessung in der obligatorischen beruflichen Vorsorge nach BVG, insbesondere Zusatzbeiträge für die Finanzierung des BVG-Mindestzinses und des BVG-Umwandlungssatzes, in: SZS 2003 S. 319 ff., dort S. 333). Namentlich wollte der Gesetzgeber verhindern, dass vorsorglich zu hohe Prämien erhoben und allenfalls entstehende Gewinne erst später zurückerstattet würden (AB 1982 N 212 f. [Fischer], 1982 S 190 [Kündig]). Während
Art. 20 VAG
den Versicherern im Allgemeinen einen gewissen Spielraum belässt, indem die Aufsichtsbehörde lediglich zu prüfen hat, ob sich die Prämien "in einem Rahmen halten, der einerseits die Solvenz der Versicherungseinrichtungen und anderseits den Schutz der Versicherten vor Missbrauch gewährleistet" (vgl. Urteil 2A.61/1993 vom 28. Oktober 1993, E. 3b), soll die Aufsicht über die Tarife im Bereich des BVG-Obligatoriums dichter sein. Wenn Vorsorgeeinrichtungen die Risikoabdeckung einer Versicherungseinrichtung übertragen bzw. diese selber für die Vorsorgekassen verschiedener Arbeitgeber Sammelstiftungen zur Verfügung stellt
BGE 130 II 258 S. 262
(vgl. zu diesen: CARL HELBLING, in: Boemle/Gsell, Geld-, Bank- und Finanzmarktlexikon der Schweiz, Zürich 2002, S. 931 f.), welche alle oder einen Teil der BVG-Risiken bei ihr versichern, darf dies nicht dazu führen, dass im Ergebnis Bestimmungen des BVG verletzt werden, die einzuhalten wären, würde die Vorsorgeeinrichtung die Risiken selber abdecken. Deshalb müssen trotz der Tatsache, dass das BVG an sich nur für die im Register der beruflichen Vorsorge eingetragenen Vorsorgeeinrichtungen gilt (
Art. 5 Abs. 2 BVG
), die Versicherungsverträge bzw. die entsprechenden Tarife jeweils auch im Lichte des BVG überprüft werden.
2.4
Dies gilt auch für das Altersrisiko: Zwar könnte aus der Systematik von
Art. 68 BVG
geschlossen werden, dass dessen Absatz 2 nur die in Absatz 1 genannten Tarife für Todesfall und Invalidität erfassen will, doch lassen sich diese Leistungen von jenen im Alter, welche ihrerseits zumindest zum Teil durch den gesetzlichen Mindestzins- und den Umwandlungssatz bestimmt werden, letztlich nicht trennen, da ihre Berechnung in Abhängigkeit von diesen erfolgt (vgl.
Art. 21 und 24 BVG
; CARL HELBLING, in: Boemle/ Gsell, a.a.O., S. 170 f.). Entstehungsgeschichtlich wurde die
Art. 68 Abs. 2 BVG
entsprechende Bestimmung zunächst an den heutigen
Art. 67 BVG
geknüpft, der sich seinerseits nicht nur auf die Risiken Tod und Invalidität bezieht. Allerdings dachte man offenbar vor allem hieran, da das BVG neu alle Vorsorgeeinrichtungen verpflichtete, auch diese zu versichern, was kleinere oder neue Einrichtungen praktisch zum Abschluss von Versicherungsverträgen zwang und damit das Bedürfnis nach Schutz vor überhöhten Prämien weckte (vgl. AB 1982 N 213 f. [Berichterstatter Muheim und Barchi, Bundesrat Hürlimann], 1982 S 190 [Berichterstatter Kündig], 1982 N 769 [Berichterstatter Muheim und Barchi]). Hinsichtlich der Tarife für das Altersrisiko ist die Lage der Vorsorgeeinrichtungen gegenüber den Versicherungen indessen bloss graduell, nicht aber grundsätzlich eine andere. Die Vorinstanzen haben deshalb zu Recht geprüft, ob die streitigen Zusatzprämien mit dem BVG vereinbar sind.
3.
Bundesamt und Rekurskommission sind davon ausgegangen, der BVG-Mindestzinssatz und der BVG-Umwandlungssatz könnten im obligatorischen Bereich
grundsätzlich
und
systeminhärent
nicht mit zusätzlichen Leistungen der Versicherungsnehmer gedeckt werden; dies zu Unrecht
BGE 130 II 258 S. 263
:
3.1
Das BVG regelt in seinem Zweiten Teil (
Art. 7-47 BVG
) die Versicherung, und darin in einem Ersten Titel die Obligatorische Versicherung der Arbeitnehmer (
Art. 7-41 BVG
). Das 3. Kapitel (
Art. 13-26 BVG
) bestimmt die Versicherungsleistungen, darunter in einem 1. Abschnitt diejenigen im Alter (
Art. 13-17 BVG
). Grundlage hierfür bildet das während der Erwerbstätigkeit geäufnete individuelle Altersguthaben (
Art. 15 Abs. 1 BVG
;
Art. 11 BVV 2
). Dieses besteht aus den Altersgutschriften, die jährlich in Prozenten des koordinierten Lohnes berechnet werden und mindestens den gesetzlich festgelegten Ansätzen entsprechen müssen (
Art. 6 und 16 BVG
), sowie den darauf gutgeschriebenen Zinsen (
Art. 15 Abs. 1 BVG
), wobei der Bundesrat aufgrund der Anlagemöglichkeiten den Mindestzinssatz festlegt (
Art. 15 Abs. 2 BVG
). Bei Erreichen des Rentenalters ergibt sich damit ein individuell berechnetes Altersguthaben, woraus sich die Altersrente auf der Grundlage des vom Bundesrat unter Berücksichtigung der anerkannten technischen Regeln bestimmten Mindestumwandlungssatzes berechnet (
Art. 14 Abs. 1 BVG
); dieser beträgt zurzeit gemäss Art. 17 Abs. 1 BVV 2 7,2 %. Die obligatorische berufliche Vorsorge beruht somit auf einem System der gesetzlichen Mindestleistungsvorgaben (BBl 2003 S. 6402;
BGE 114 V 239
E. 6a S. 246; JÜRG BRÜHWILER, Die betriebliche Personalvorsorge in der Schweiz, Bern 1989, S. 205 ["Primat der Altersgutschriften"]; CARL HELBLING, Personalvorsorge und BVG, 7. Aufl., Bern 2000, S. 151): Die Mindestleistungen (d.h. die Ansprüche der Versicherten bzw. die Verpflichtungen der Vorsorgeeinrichtungen) werden durch die drei Faktoren Altersgutschriften, Mindestzinssatz und Mindestumwandlungssatz definiert. Je höher der Mindestzinssatz und der Mindestumwandlungssatz sind, desto höher fallen die Leistungen aus, welche die Vorsorgeeinrichtungen zu erbringen haben.
3.2
Hiervon zu trennen ist die Frage der Finanzierung der gesetzlich geschuldeten Leistungen bzw. des durch diese ausgelösten Finanzbedarfs.
3.2.1
Im Unterschied zu anderen Zweigen der Sozialversicherung wird die berufliche Vorsorge nicht durch staatliche Beiträge unterstützt. Die Einnahmen der Vorsorgeeinrichtungen bestehen im Wesentlichen aus den Beiträgen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer (
Art. 66 BVG
) sowie aus den Kapitalerträgen (
Art. 71 BVG
;
BGE 128 II 24
E. 3a). Im Rahmen des Gesetzes, welches hierzu kaum Vorschriften enthält, sind die Vorsorgeeinrichtungen frei, wie sie
BGE 130 II 258 S. 264
ihre Finanzierung regeln wollen (
Art. 49 Abs. 1 BVG
). Gewisse Mindestanforderungen ergeben sich jedoch aus dem Kapitaldeckungsverfahren, auf dem die berufliche Vorsorge beruht und nach dem sämtliche gesetzlich und reglementarisch vorgesehenen laufenden und anwartschaftlichen Leistungen durch ein entsprechendes Deckungskapital sichergestellt sein müssen (BBl 2003 S. 6404, 2000 S. 2645;
BGE 128 II 24
E. 3a; BRÜHWILER, 1989, a.a.O., S. 203 f.). Nach
Art. 65 Abs. 1 BVG
haben die Vorsorgeeinrichtungen jederzeit Sicherheit dafür zu bieten, dass sie die übernommenen Verpflichtungen erfüllen können (Grundsatz der kollektiven Äquivalenz; BBl 2003 S. 6404; BRÜHWILER, 1989, a.a.O., S. 204 f.). Dabei besteht kein Unterschied, ob ein Kollektivversicherungsvertrag vorliegt oder ob die Vorsorgeeinrichtung die Risiken selber trägt. Die übernommenen Verpflichtungen müssen jederzeit vollumfänglich abgesichert sein, d.h. es darf auch nicht vorübergehend hierauf verzichtet werden; die Vorsorge- oder Versicherungseinrichtungen haben die hierfür erforderlichen Rückstellungen zu machen (BBl 2003 S. 6404). Die Vorsorgeeinrichtungen regeln das Beitragssystem und die Finanzierung so, dass die Leistungen im Rahmen des Gesetzes bei Fälligkeit erbracht werden können (
Art. 65 Abs. 2 BVG
). Mit Blick auf die Pflicht zur Sicherstellung (BBl 1
BGE 976 I 265
) müssen die Einnahmen mindestens so hoch sein, dass die Vorsorgeeinrichtungen ihre Verbindlichkeiten erfüllen können (Urteil 2A.101/2000 vom 26. November 2001, E. 2a). Ergibt sich eine Unterdeckung, ist die Vorsorgeeinrichtung gestützt auf
Art. 65 BVG
gehalten, diese zu beheben, was nötigenfalls aufsichtsrechtlich durchzusetzen ist (
Art. 62 Abs. 1 lit. d BVG
;
Art. 44 BVV 2
; Weisungen des Bundesrates über Massnahmen zur Behebung von Unterdeckungen in der beruflichen Vorsorge, BBl 2003 S. 4314 ff.; Botschaft vom 19. September 2003 über Massnahmen zur Behebung von Unterdeckungen in der beruflichen Vorsorge, BBl 2003 S. 6399 ff.;
BGE 121 II 198
E. 5c). Da im obligatorischen Bereich die gesetzlich vorgeschriebenen Leistungen nicht reduziert werden dürfen, fällt - nach Erschöpfung der Reserven - zur Behebung von Unterdeckungen praktisch nur die Erschliessung zusätzlicher Einnahmen in Betracht. Die Höhe der Beiträge ist nicht direkt im Gesetz geregelt, sondern wird von den Vorsorgeeinrichtungen grundsätzlich frei festgelegt (vgl.
BGE 121 II 198
E. 3). Die Gesamteinnahmen (d.h. im Wesentlichen die Beiträge und die Kapitalerträge) müssen aber ausreichen, um die
BGE 130 II 258 S. 265
Verbindlichkeiten decken zu können. Je höher die Kapitalerträge sind, desto tiefer dürfen die Beiträge sein. Dasselbe gilt umgekehrt: Gehen die Kapitalerträge zurück, müssen allenfalls - nach Erschöpfung der Reserven - die Beiträge erhöht werden, um gleich bleibende Einnahmen zu erreichen.
3.2.2
Aus diesem gesetzlichen System ergibt sich, dass der gemäss
Art. 15 Abs. 2 BVG
festgelegte Mindestzinssatz nur indirekt etwas mit den effektiv erzielbaren oder erzielten Kapitalerträgen zu tun hat. In erster Linie kommt ihm eine
leistungsseitige
Funktion zu: Er bestimmt (zusammen mit den lohnabhängigen Altersgutschriften) das Altersguthaben, aus welchem sich die Höhe der Altersrente (und damit auch der Hinterlassenen- und Invalidenleistungen,
Art. 21 und 24 BVG
) errechnet. Der Mindestzinssatz beeinflusst die zu erbringenden Leistungen; je höher er ist, desto bedeutender sind diese sowie der zu ihrer Deckung erforderliche Finanzbedarf (BRÜHWILER, 2003, a.a.O., S. 329). Welche Rendite die Vorsorgeeinrichtung auf ihren Aktiven tatsächlich erzielt, hängt hingegen von den Kapitalmarktverhältnissen bzw. ihrer Anlagestrategie sowie den entsprechenden Vorschriften (
Art. 71 BVG
;
Art. 49 ff. BVV 2
) ab und kann durch die gesetzliche Festlegung des Mindestzinssatzes nicht beeinflusst werden. Klaffen die effektiv erzielbaren Kapitalerträge und der Mindestzinssatz während längerer Zeit deutlich auseinander, ist nicht ausgeschlossen, dass es zu einer gesetzwidrigen Unterdeckung kommt, der längerfristig nur mit zusätzlichen Einnahmen begegnet werden kann. Das Gesetz will dies zwar möglichst vermeiden, weshalb es den Bundesrat anhält, den Mindestzinssatz aufgrund der Anlagemöglichkeiten so festzusetzen, wie er längerfristig auf dem Kapitalmarkt auch tatsächlich erwirtschaftet werden kann (vgl.
Art. 15 Abs. 2 BVG
). Tut der Bundesrat dies jedoch nicht, ist nach Erschöpfung allfälliger Reserven gestützt auf das vom Gesetzgeber gewählte System der Komplementarität von Beiträgen und Kapitalerträgen eine Anpassung zu Lasten der Beiträge allenfalls unabdingbar, soll eine gesetzwidrige Unterdeckung vermieden werden.
3.2.3
Analoges gilt für den Umwandlungssatz. Auch dieser definiert (zusammen mit der Höhe des Altersguthabens) die von der Vorsorgeeinrichtung geschuldeten Renten (
Art. 14 BVG
) und ist somit ein Faktor, der die
Leistungsseite
beschlägt, indessen nicht den Finanzierungsaspekt, d.h. die Frage, wie der entsprechende Finanzierungsbedarf gedeckt wird (vgl. BRÜHWILER, 2003, a.a.O.,
BGE 130 II 258 S. 266
S. 331). Das Gesetz geht in diesem Zusammenhang wiederum davon aus, dass der Bundesrat den Umwandlungssatz anhand anerkannter (versicherungstechnischer) Grundlagen festlegt (
Art. 14 Abs. 1 Satz 2 BVG
) und insbesondere aufgrund der statistischen Lebenserwartung bei Erreichen des Rentenalters. Ist der Mindestumwandlungssatz längerfristig mit Blick auf die gestiegene Lebenserwartung nicht mehr realistisch, kann wiederum ein zusätzlicher Finanzbedarf entstehen, der mit den ursprünglich kalkulierten Beiträgen bzw. allenfalls den über dem BVG-Mindestzinssatz liegenden Kapitalerträgen längerfristig nicht mehr finanziert werden kann und zu einer unzulässigen Deckungslücke führt.
3.3
Betreffen die
Art. 14 und 15 BVG
bzw.
Art. 12 und 17 Abs. 1 BVV 2
somit ausschliesslich die
Leistungs-
und nicht die Finanzierungsseite, werden diese Bestimmungen durch die von der Beschwerdeführerin beantragten Zusatzprämien nicht verletzt. Bei einer Versicherung, die auf dem System von Mindestleistungsvorgaben beruht, müssen die Einnahmen allenfalls auch mit Zusatzbeiträgen den Verbindlichkeiten angepasst werden können, soweit allfällige Reserven längerfristig erschöpft sind und keine anderen Einnahmen zur Verfügung stehen (vgl.
Art. 68 Abs. 2 BVG
). Zwar sahen
Art. 17 Abs. 2 und Abs. 3 BVV 2
ursprünglich vor, dass die Aufsichtsbehörde zur Beseitigung bestehender Deckungslücken einen tieferen Umwandlungssatz genehmigen konnte (AS 1984 S. 548), doch wurde diese Regelung 1996, weil vermutlich gesetzwidrig, aufgehoben (BBl 1995 IV 1250, S. 1259; AS 1996 S. 3452);
Art. 14 Abs. 2 BVG
sieht seinerseits die Anwendung eines tieferen Umwandlungssatzes mit Zustimmung des Bundesrats nur vor, wenn die sich hieraus ergebenden Überschüsse zur Leistungsverbesserung verwendet werden. Eine Sanierung im obligatorischen BVG-Bereich ist zurzeit somit nur einnahmeseitig möglich, weshalb in einer entsprechenden Korrektur - entgegen der Ansicht der Vorinstanzen - keine Gesetzesumgehung liegen kann. Es wird damit auch nicht in die bloss die Leistungsseite beschlagende Zuständigkeit des Bundesrats eingegriffen. Diesem steht zwar bei der Festsetzung der beiden Sätze, namentlich beim Mindestzinssatz, ein gewisses Ermessen zu, weil hierfür jeweils eine längerfristige Betrachtung Platz greifen muss und kurzfristige Marktschwankungen nicht berücksichtigt werden können (Urteil B 29/92 vom 4. Dezember 1992, publ. in: SZS 1993 S. 296 ff.; nach
Art. 15 Abs. 3 BVG
in der Fassung der 1. BVG-Revision soll der
BGE 130 II 258 S. 267
Mindest zinssatz nunmehr mindestens alle zwei Jahre überprüft werden [BBl 2003 S. 6656]). Der Bundesrat dürfte aber dennoch nicht einen unrealistischen Mindestzinssatz festlegen, der längerfristig von den auf dem Kapitalmarkt realisierbaren Renditen abwiche (BBl 1995 IV 1248 f.). Täte er dies, verpflichtete er die Vorsorgeeinrichtungen zu Leistungen, die mit den kalkulierten Einnahmen nicht gedeckt werden könnten, was gesetzwidrig wäre und - zumindest von den verwaltungsunabhängigen Rechtsmittelinstanzen - korrigiert werden müsste.
4.
4.1
Zu Unrecht wendet das Bundesamt ein, diese Prinzipien gälten nur für selbständige Vorsorgeeinrichtungen, indessen nicht auch für Versicherungsgesellschaften, die im obligatorischen Bereich der beruflichen Vorsorge tätig sind. Aus
Art. 68 Abs. 2 BVG
ergibt sich, dass die Tarife der Versicherungseinrichtungen nicht den Grundsätzen des BVG zuwiderlaufen dürfen; zudem muss aufsichtsrechtlich die Prämie bzw. das Tarifsystem so ausgestaltet sein, dass sowohl die Solvenz der Versicherungsgesellschaft als auch der Schutz der Versicherten vor Missbrauch gewährleistet bleiben (
Art. 1, 17 und 20 VAG
). Die Erhebung zusätzlicher Beiträge bzw. von Zusatzprämien zur Verhinderung einer Unterdeckung bzw. Beseitigung einer solchen sind im Bereich des BVG-Obligatoriums nach dem Gesagten nicht systemwidrig, falls die vom Bundesrat festgelegten Mindestsätze nach anlage- und versicherungstechnischen Kriterien strukturell zu hoch und nicht anderweitig kompensierbar sein sollten. Tarife, die nicht kostendeckend sind, können
Art. 17 Abs. 1 und
Art. 20 VAG
verletzen. Zwar ist es einer Versicherungseinrichtung, die zahlreiche Vorsorgeeinrichtungen und damit eine grössere Anzahl von BVG-Versicherten erfasst, möglich, ihre Risiken besser zu verteilen als allenfalls einer einzelnen Vorsorgeeinrichtung selber, weshalb eine Situation, die bei einer solchen zu einer Unterdeckung führen würde, ihre Solvenz noch nicht zu bedrohen braucht. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Erhebung einer Zusatzprämie deshalb unzulässig wäre.
Art. 68 Abs. 2 BVG
will vermeiden, dass die Versicherungsgesellschaften mit der obligatorischen beruflichen Vorsorge übermässige Gewinne erzielen, aber nicht Tarife vorschreiben, die nicht kostendeckend sind (AB 1981 N 1108 [Muheim], 1982 N 212 f. [Fischer]).
BGE 130 II 258 S. 268
4.2
Das Bundesamt hat seinen Entscheid auch damit gerechtfertigt, dass es einer Versicherungsgesellschaft unbenommen bleibe, sich aus dem BVG-Geschäft zurückzuziehen, wenn sie die Mindestzinsgarantie nicht mehr zu gewährleisten vermöge. Diese Überlegung erscheint insofern richtig, als nicht überhöhte Tarife genehmigt werden sollen, welche auch unwirtschaftlich arbeitenden Versicherungseinrichtungen ein Überleben ermöglichen. Ist jedoch der Mindestzinssatz längerfristig so angesetzt, dass die daraus resultierenden Verpflichtungen mit den effektiv erwirtschafteten Renditen
generell
nicht mehr gedeckt werden können, so würden die Versicherungsgesellschaften letztlich verpflichtet, höhere Leistungen zu erbringen als sie Einnahmen erzielen, was mit der gesetzgeberischen Absicht, keine Tarife vorschreiben zu wollen, die nicht kostendeckend sind, unvereinbar erschiene. Eine solche Lösung stünde im Widerspruch zu
Art. 17 und 20 VAG
und würde bei einem Rückzug der Versicherungseinrichtungen aus der (obligatorischen) beruflichen Vorsorge deren Realisierung zwar nicht verunmöglichen (vgl.
Art. 60 BVG
), aber doch wesentlich erschweren.
5.
Dies bedeutet nun allerdings nicht, dass die von der Beschwerdeführerin beantragten Zusatzprämien auch ohne weiteres zu genehmigen wären:
5.1
Nach
Art. 1 und
Art. 17 Abs. 2 VAG
hat die Versicherungsaufsicht zum Schutz der Versicherten darüber zu wachen, dass keine missbräuchlichen Tarife eingeführt werden. Die Erhebung der geplanten Zusatzprämien ist nicht - wie die Vorinstanzen angenommen haben - bereits aus systemimmanenten Gründen unzulässig, kann es jedoch sein, falls die Beschwerdeführerin in der Vergangenheit zu Lasten der Versicherten übermässige Gewinne erzielt bzw. über der Mindestzinsgarantie liegende Renditen nicht an diese weitergegeben haben sollte. Zur Beurteilung dieser Frage fehlen die erforderlichen Grundlagen, nachdem die Vorinstanzen fälschlicherweise die Missbräuchlichkeit bereits aus einem anderen Grund bejaht haben. Während langer Zeit konnten auf dem Markt Kapitalrenditen erzielt werden, welche deutlich höher lagen als der Mindestzinssatz (vgl. ANDREAS LUIG, Das grosse Ringen um den "richtigen Zinssatz", und ROBERT JAKOB, Weich gekocht, in: Schweizer Versicherung 9/2002 S. 32 ff.). Wurden solche erwirtschaftet, ohne dass sie den versicherten Vorsorgeeinrichtungen angemessen zugute kamen, erschiene es missbräuchlich, Zusatzprämien zu erheben,
BGE 130 II 258 S. 269
sobald der Mindestzinssatz (allenfalls vorübergehend) nicht mehr erreicht werden kann. Dessen Festlegung seitens des Bundesrats erfolgte unter Berücksichtigung der Raten für den risikofreien Zins, die Lohnentwicklung und die Inflation ("goldene Regel"; vgl. ANDREAS LUIG, a.a.O., S. 33) in einer längerfristigen Optik (vgl. JEAN MARC WANNER, Der minimale BVG-Zinssatz, ein heikler Parameter, in: Schweizer Personalvorsorge 2/2001 S. 14 ff.); kurzfristige Kapitalmarktschwankungen rechtfertigen deshalb die Erhebung von entsprechenden Zusatzprämien nicht. Solche sind nur zulässig, wenn trotz angemessener Rückstellungspolitik mittel- oder längerfristig eine Unterdeckung zu erwarten ist, welche nicht anders als durch Zusatzprämien bzw. Beitragserhöhungen aufgefangen werden kann. Es wird an der Beschwerdeführerin sein, dies im Genehmigungsverfahren darzutun und ihre entsprechenden Rechnungen - einschliesslich der Verwendung der Überschüsse aus den früheren Jahren - im Detail offen zu legen; dabei wird in sachverhaltsmässiger Hinsicht auch zu prüfen sein, wie die einzelnen versicherten Vorsorgeeinrichtungen konkret organisiert sind und wie jeweils die Vermögensverwaltung der angeschlossenen Vorsorgekassen tatsächlich erfolgt (gemeinsam, getrennt, vollumfänglich durch die Versicherung). Nur falls die Beschwerdeführerin in der Vergangenheit keine übermässigen Gewinne aus dem obligatorischen BVG-Geschäft gemacht bzw. solche nicht für andere Zweige verwendet haben sollte, und trotz einer angemessenen Rückstellungspolitik tatsächlich während längerer Zeit die hinreichend sichere Rendite bei einer angemessenen Anlagepolitik tiefer lag als der Mindestzinssatz, und sich der Mindestumwandlungssatz schliesslich als versicherungstechnisch tatsächlich falsch bzw. über eine höhere Rendite als dem Mindestzinssatz nicht mehr finanzierbar erweisen sollte, sind die entsprechenden Zusatzprämien allenfalls zu genehmigen. Bei diesem Entscheid wird das Bundesamt bei seiner Angemessenheitsprüfung auch den Auswirkungen der neuen gesetzlichen Regelungen des Mindestzinssatzes bzw. der inzwischen eingetretenen Entspannung auf den Finanzmärkten Rechnung zu tragen haben (vgl. die zur Zeit laufenden Beratungen in der Bundesversammlung).
5.2
Gemäss den von der Beschwerdeführerin dem Bundesamt vorgelegten Unterlagen erreicht die Zusatzprämie unter Umständen eine erhebliche Höhe. Das Bundesgericht ist aufgrund der vorliegenden Akten nicht in der Lage, zu beurteilen, ob die Annahmen
BGE 130 II 258 S. 270
und Berechnungen der Beschwerdeführerin zutreffen. Sollte dies der Fall sein, würden für die betroffenen Versicherungsnehmer beträchtliche Mehrbelastungen entstehen, welche mit freien Stiftungsmitteln oder - unter Einhaltung der Garantien von
Art. 66 BVG
- zusätzlichen Beiträgen finanziert werden müssten. Diese wären - unter den obgenannten Voraussetzungen - jedoch nicht der Beschwerdeführerin anzulasten, sondern darauf zurückzuführen, dass der Bundesrat in der Vergangenheit durch zu hohe Mindestzins- und Umwandlungssätze die Vorsorge- bzw. Versicherungseinrichtungen im Resultat zu Leistungen verpflichtet hat, die aufgrund der Kapitalmarktverhältnisse und der gestiegenen Lebenserwartung mit den kalkulierten Beiträgen nicht gedeckt werden können. Die Vorinstanzen haben aufgrund ihrer unrichtigen Auslegung des Gesetzes die Berechtigung der von der Beschwerdeführerin beantragten Zusatzprämien nicht im Einzelnen analysiert; die Sache ist hierzu im Sinne der Erwägungen an das Bundesamt zurückzuweisen (
Art. 114 Abs. 2 OG
). Dieses wird erneut zu prüfen haben, ob die beantragten Zusatzprämien im Lichte der Erwägungen sowie der veränderten Umstände mit Blick auf das BVG-Obligatorium als angemessen gelten können. | de |
591d28bb-f39f-4f6f-82ac-52a879f93960 | Sachverhalt
ab Seite 490
BGE 135 III 489 S. 490
K. (Beschwerdeführerin) züchtet Hunde. Sie ist Mitglied im Verein "B." (Beschwerdegegnerin). Deren Zentralvorstand erteilte der Beschwerdeführerin wegen Verstössen gegen Zuchtvorschriften am 10. März 2005 eine Eintragungs- bzw. Zuchtstättensperre von zwei Jahren. Der Rekurs der Beschwerdeführerin blieb erfolglos. Das Verbandsgericht der Beschwerdegegnerin bestätigte die Sperre vom 9. Juni 2005 bis 8. Juni 2007 (Urteil vom 17. Oktober 2005). Am 17. November 2005 focht die Beschwerdeführerin das Urteil vom 17. Oktober 2005 beim Zivilgericht an. Die Gerichtspräsidentin nahm die Klageschrift als Begehren um Ladung zum Aussöhnungsversuch entgegen. An der Verhandlung im Aussöhnungsverfahren wurde der Beschwerdeführerin am 7. Juni 2006 die Klagebewilligung erteilt. Am 6. Dezember 2006 reichte die Beschwerdeführerin die begründete Klage ein. Die kantonalen Gerichte wiesen die Klage wegen Fristversäumnis ab. Die Beschwerdeführerin hat dagegen Beschwerde erhoben, die das Bundesgericht abweist, soweit es darauf eintritt.
(Zusammenfassung) Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Streitig ist die Einhaltung der Monatsfrist gemäss
Art. 75 ZGB
.
3.1
Ein Ladungsgesuch zum Aussöhnungsversuch wahrt die Verwirkungsfrist gemäss
Art. 75 ZGB
, wenn (1.) nach kantonalem Recht vor der gerichtlichen Klage auch tatsächlich ein Aussöhnungsversuch durchgeführt werden muss oder kann, wenn (2.) das Aussöhnungsgericht gemäss kantonalem Recht die Streitsache mangels Aussöhnung von Amtes wegen an das urteilende Gericht weiterzuleiten hat oder wenn zwischen dem Aussöhnungsverfahren und dem eigentlichen Prozessverfahren nach kantonalem Recht ein Zusammenhang wenigstens in dem Sinne besteht, dass der Kläger den Streit innert einer gewissen Frist vor das urteilende Gericht bringen muss, und wenn (3.) der Kläger letztere Frist im konkreten Fall auch wirklich einhält (für
Art. 75 ZGB
:
BGE 85 II 525
E. 3 S. 536 f.; allgemein:
BGE 98 II 176
E. 11 S. 181;
BGE 130 III 515
E. 3 S. 516 f.;
BGE 133 III 645
E. 5.4 S. 655).
BGE 135 III 489 S. 491
3.2
Im ordentlichen Verfahren ist nach Art. 144 Abs. 1 des Gesetzes vom 7. Juli 1918 über die Zivilprozessordnung des Kantons Bern (ZPO/BE; BSG 271.1) vor Einreichung der Klage ein Aussöhnungsversuch durch den Gerichtspräsidenten abzuhalten. Die Regelung in
Art. 153 ZPO
/BE mit der Marginalie "Misslingen des Aussöhnungsversuchs, Klagefrist" genügt den bundesrechtlichen Anforderungen (E. 3.1), zumal sie entsprechende Fristen vorsieht, innert derer der Kläger die Sache vor das urteilende Gericht bringen muss (vgl.
BGE 87 II 364
E. 1 S. 369;
BGE 132 III 406
E. 2.1 S. 409; für Einzelheiten: E. 3.4 sogleich). Neben dem Ladungsgesuch zum Aussöhnungsversuch wahrt die Verwirkungsfrist auch die Einreichung der Klage direkt beim Gericht ohne vorgängige Durchführung des Aussöhnungsversuchs, weil dessen Fehlen einen verbesserlichen Fehler bedeutet, der durch ein Nachholen des Aussöhnungsversuchs behoben werden kann (ZBJV 92/1956 S. 30 f.; vgl. KUMMER, Grundriss des Zivilprozessrechts, 4. Aufl. 1984, S. 172).
3.3
Mit ihrer Klageschrift vom 17. November 2005, die sie direkt beim Gericht eingereicht hat, hätte die Beschwerdeführerin nach dem Gesagten die Verwirkungsfrist gemäss
Art. 75 ZGB
grundsätzlich wahren können. Das Obergericht hat indessen dargelegt, aus welchen - vorab verfahrenstechnischen und prozessökonomischen - Gründen die Gerichtspräsidentin die Eingabe vom 17. November 2005 als blosses Ladungsbegehren zum Aussöhnungsversuch entgegennehmen durfte. Gegen diese Umwandlung der Klageschrift in ein Ladungsgesuch erhebt die Beschwerdeführerin keine Rügen, ganz abgesehen davon, dass sie bzw. ihr damaliger Anwalt nicht opponiert und den Erhalt der Klagebewilligung am 7. Juni 2006 unterschriftlich bestätigt hat, die nach fruchtlosem Aussöhnungsversuch ausgestellt wurde.
3.4
Verfahrensmässig ist somit davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin am 17. November 2005 ein Ladungsgesuch zum Aussöhnungsversuch gestellt und den ersten Schritt zur Wahrung der Verwirkungsfrist gemäss
Art. 75 ZGB
getan hat. Für den zweiten Schritt der Einreichung der Klage beim urteilenden Gericht ist
Art. 153 ZPO
/BE massgebend mit folgendem Wortlaut:
Misslingt der Aussöhnungsversuch, so ist dem Kläger die Klagebewilligung zu erteilen.
Die Klagebewilligung berechtigt zur Anhebung der Klage während der Klagefrist.
Die ordentliche Klagefrist beträgt sechs Monate.
BGE 135 III 489 S. 492
In Streitigkeiten über Ansprüche, für welche eine kürzere als sechsmonatige Verwirkungsfrist gilt, ist die Klagefrist auf die Dauer der entsprechenden Verwirkungsfrist verkürzt.
Nach dem Wortlaut von
Art. 153 ZPO
/BE muss innert sechs Monaten die Klage eingereicht werden (Abs. 3), es sei denn, der Streit betreffe Ansprüche, für welche eine kürzere als die ordentliche sechsmonatige Klagefrist vorgesehen ist (Abs. 4). Die Bedeutung der Regelung ist auf Grund ihres Wortlauts klar und lässt sich auch veröffentlichten und nicht veröffentlichten Urteilen des Bundesgerichts, Grundrissen, Handbüchern und Aufsätzen entnehmen. Beträgt z.B. die Klagefrist gemäss
Art. 706a Abs. 1 OR
zwei Monate, ist das Ladungsgesuch zum Aussöhnungsversuch binnen zwei Monaten zu stellen und die Klage zwei Monate nach Erhalt der Klagebewilligung bei Gericht einzureichen (vgl. KUMMER, a.a.O., S. 171 f.; z.B.
BGE 91 II 153
E. 4 S. 158; Urteil 7B.177/1999 vom 24. August 1999 E. 2, betreffend Frist zur Kollokationsklage). Die ordentliche Klagefrist von sechs Monaten gemäss
Art. 153
Abs. 3
ZPO
/BE verkürzt sich somit gemäss
Art. 153
Abs. 4
ZPO
/BE auf die Dauer der gesetzlich vorgesehenen, weniger als sechs Monate betragenden Klagefristen (vgl. GIGER, Handbuch der schweizerischen Zivilrechtspflege, Zürich 1990, S. 250 bei/in Anm. 31 mit dem Beispiel der zehn - heute: zwanzig - Tage für Aberkennungsklagen gemäss
Art. 83 SchKG
) oder - noch einfacher gesagt - die Klagefrist beträgt ordentlich sechs Monate und bei kürzerer Verwirkungsfrist gleich viel wie diese (vgl. VOGEL, Eintritt der Rechtshängigkeit mit Klageanhebung, recht 18/2000 S. 109; z.B. ZBJV 104/1968 S. 484 f.). Die Kommentierungen stimmen damit überein. Als kürzer denn die sechsmonatige Klagefrist bezeichnen sie "die Monatsfrist des
Art. 75 ZGB
" (LEUCH, Die Zivilprozessordnung für den Kanton Bern, 3. Aufl. 1956, N. 3 zu
Art. 153 ZPO
/BE), oder sie verweisen ausdrücklich auf
Art. 75 ZGB
als Beispiel einer vorbehaltenen kürzeren Verwirkungsfrist (LEUCH/MARBACH/KELLERHALS/STERCHI, Die Zivilprozessordnung für den Kanton Bern, 5. Aufl. 2000, N. 4 zu
Art. 153 ZPO
/BE; KELLERHALS/GÜNGERICH/BERGER, Bernisches Zivilprozessrecht, 2002, S. 134).
3.5
Die Beschwerdeführerin hat die Klagebewilligung am 7. Juni 2006 erhalten und hätte die Klage gemäss
Art. 75 ZGB
binnen Monatsfrist einreichen müssen. Mit ihrer Klage vom 6. Dezember 2006 hat sie die Verwirkungsfrist gemäss
Art. 75 ZGB
nicht wahren können. Die Klage durfte insoweit abgewiesen werden. Die kantonalen Gerichte haben somit weder den bundesrechtlichen
BGE 135 III 489 S. 493
Begriff der Klageanhebung verkannt noch kantonales Recht willkürlich angewendet.
4.
Einen Anspruch der anwaltlich vertretenen Beschwerdeführerin auf Vertrauensschutz gegen die Fristversäumnis hat das Obergericht verneint. Es ist davon ausgegangen, von einem Anwalt könne verlangt werden, dass er die anwendbaren Bestimmungen, insbesondere die Fristen in
Art. 75 ZGB
und
Art. 153 ZPO
/BE kenne. Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen die Verweigerung des geltend gemachten Vertrauensschutzes.
4.1
Die anwaltlich vertretene Beschwerdeführerin hat die Monatsfrist gemäss
Art. 75 ZGB
gekannt und am 17. November 2005 ihre Klage gestützt auf
Art. 75 ZGB
bei Gericht eingereicht, dann aber übersehen, dass die Klagebewilligung ebenfalls nur einen Monat statt der ordentlichen sechs Monate gültig ist (E. 3 hiervor). Darin besteht die Ausgangslage, von der abzuweichen die Schilderungen der Beschwerdeführerin, namentlich zur angeblichen Unbedarftheit ihres früheren Anwalts keinen Grund geben. Im vorliegenden Verfahren ist die Einhaltung der Klagefrist zu prüfen und nicht die Verantwortlichkeit des früheren Anwalts der Beschwerdeführerin zu beurteilen.
4.2
Das Aussöhnungsverfahren mit dem Versuch einer gütlichen Einigung der Parteien vor Einreichung der Klage steht ausserhalb des eigentlichen Prozessverfahrens und endet entweder in einer Verständigung der Parteien oder mit der Erteilung der zeitlich befristet gültigen Klagebewilligung (vgl. KUMMER, a.a.O., S. 170 f.). Die Klagebewilligung entspricht dem Protokoll der Verhandlung im Aussöhnungsverfahren, nennt die Parteien, die Rechtsbegehren und den Gang der Verhandlung und schliesst mit der Verfügung, wonach der Aussöhnungsversuch als fruchtlos erklärt und die Klagebewilligung erteilt wird. Eine Pflicht zur Belehrung über die Klagefrist ist im kantonalen Recht nicht vorgesehen (anders als z.B. in
§ 100 Ziff. 9 ZPO
/ZH [LS 271]). Die Rechtsmittelbelehrungspflicht besteht nur für Urteile, die einem ordentlichen Rechtsmittel unterliegen (vgl.
Art. 205a ZPO
/BE). Äussert sich die Gerichtspräsidentin zur Klagefrist, liegt nach kantonaler Praxis keine förmliche Rechtsmittelbelehrung, sondern eine blosse Auskunft vor (ZBJV 104/1968 S. 486 E. 2).
4.3
Die Beschwerdeführerin macht eine derartige Auskunftserteilung geltend und behauptet, die Gerichtspräsidentin habe an der
BGE 135 III 489 S. 494
Verhandlung im Aussöhnungsverfahren bekannt gegeben, die Klagefrist betrage sechs Monate. Mangels Rechtserheblichkeit hat das Obergericht beweismässig nicht geklärt, ob die Aussöhnungsrichterin auf die Klagefrist von sechs Monaten verwiesen habe. Es ist davon ausgegangen, selbst im Falle einer unrichtigen Belehrung über die Klagefrist greife der Vertrauensschutz nicht, weil der Anwalt der Beschwerdeführerin allein schon durch Konsultierung des massgebenden Gesetzestextes die Mängel der Belehrung hätte ersehen können.
4.4
Nur derjenige kann Vertrauensschutz geltend machen, der die Unrichtigkeit der Rechtsmittelbelehrung nicht kennt und sie auch bei gebührender Aufmerksamkeit nicht hätte erkennen können. Rechtsuchende geniessen keinen Vertrauensschutz, wenn der Mangel für sie bzw. ihren Rechtsvertreter allein schon durch Konsultierung der massgeblichen Verfahrensbestimmung ersichtlich ist. Dagegen wird nicht verlangt, neben den Gesetzestexten auch noch die einschlägige Rechtsprechung oder Literatur nachzuschlagen (vgl.
BGE 134 I 199
E. 1.3.1 S. 202 f.). Auch gegenüber behördlichen Auskünften kann keinen Vertrauensschutz anrufen, wer die Unrichtigkeit des Bescheides ohne weiteres hat erkennen können (vgl.
BGE 131 V 472
E. 5 S. 480;
BGE 131 II 627
E. 6.1 S. 637).
4.5
In verfahrensmässiger Hinsicht ist davon auszugehen, dass die anwaltlich vertretene Beschwerdeführerin die Monatsfrist gemäss
Art. 75 ZGB
gekannt und am 17. November 2005 ihre Klage gestützt auf
Art. 75 ZGB
bei Gericht eingereicht hat. Sie hat sodann der Entgegennahme ihrer Klageschrift als Ladungsgesuch zum Aussöhnungsversuch nicht opponiert, an der Verhandlung im Aussöhnungsverfahren teilgenommen und den Empfang der Klagebewilligung am 7. Juni 2006 unterschriftlich bestätigt (E. 3.3 hiervor). Spätestens nach deren Erhalt hätte der Anwalt der Beschwerdeführerin sich über Wirkung und Geltungsdauer der Klagebewilligung vergewissern können und müssen, und zwar um so mehr, als er in einem Kanton als Anwalt aufgetreten ist, dessen Prozessrecht ihm angeblich nicht geläufig war. Die sich stellenden Fragen hätten mit einem einfachen Lesen von
Art. 153 ZPO
/BE beantwortet werden können, wonach die Klagefrist sechs Monate beträgt (Abs. 3), ausser es gelte eine kürzere als die sechsmonatige Verwirkungsfrist (Abs. 4). Dass letztere Voraussetzung im Fall des
Art. 75 ZGB
erfüllt ist, kann und muss einem an Gerichten zugelassenen Anwalt klar gewesen sein. Dass das Obergericht die Berufung der
BGE 135 III 489 S. 495
Beschwerdeführerin auf verfassungsmässigen Vertrauensschutz abgelehnt hat, ist deshalb nicht zu beanstanden.
(...)
6.
Die Beschwerdeführerin erblickt in
Art. 153 Abs. 4 ZPO
/BE eine eigentliche Überraschungsklausel und rügt einen Verstoss gegen das Verbot des überspitzten Formalismus. Das Obergericht hat beide Einwände verworfen.
6.1
Art. 153 Abs. 4 ZPO
/BE verkürzt die sechsmonatige Klagefrist gemäss
Art. 153 Abs. 3 ZPO
/BE auf die Dauer gesetzlich vorgesehener Verwirkungsfristen, die weniger als sechs Monaten betragen. Die Regelung verwirklicht die Absicht des Gesetzgebers, durch die Festsetzung kurzer Verwirkungsfristen eine rasche Entscheidung herbeizuführen (vgl. KUMMER, a.a.O., S. 171). Sie lässt sich insoweit sachlich begründen und durch schutzwürdige Interessen rechtfertigen und entgeht deshalb dem Vorwurf des überspitzten Formalismus.
6.2
Eine Überraschungsklausel im Sinne einer regelrechten Prozessfalle (z.B.
BGE 95 I 1
E. 2b S. 5) kann nicht angenommen werden. Zwar ist der Begriff der Klageanhebung ein solcher des Bundesrechts, doch wird ihre Form durch das kantonale Prozessrecht bestimmt (E. 3.1 hiervor). Wo der Aussöhnungsversuch hierzu genügt, besteht in den verschiedenen Kantonen eine Vielzahl unterschiedlicher Bestimmungen über die Gültigkeitsdauer der Klagebewilligung (vgl. für eine Übersicht: BERTI, Zürcher Kommentar, 3. Aufl. 2002, N. 71 zu
Art. 135 OR
). Hinzu kommen die Kantone, die einen Aussöhnungsversuch für innert Verwirkungsfrist anzuhebende Klagen ausschliessen und für nichtig erklären, wenn er gleichwohl durchgeführt wird (z.B.
Art. 113 Abs. 1 lit. e und Abs. 2 ZPO
/VS [SGS 270.1]). Praktisch wörtlich gleiche Regelungen wie
Art. 153 Abs. 4 ZPO
/BE enthalten die Zivilprozessordnungen der Kantone Solothurn (
§ 122 Abs. 2 ZPO
/SO [BGS 221.1]) und Jura (Art. 151 Abs. 4 CPC/JU [RSJU 271.1]) sowie die von der Bundesversammlung beschlossene, aber noch nicht in Kraft getretene Schweizerische Zivilprozessordnung (
Art. 209 Abs. 4 ZPO
; BBl 2009 21, 67). Von Überraschungen kann im fraglichen Bereich nicht die Rede sein. Auf Grund der bekannten Vielfalt an kantonalen Lösungen darf von einem Anwalt um so mehr verlangt werden, dass er sich kundig macht, ist es doch eine seiner wesentlichsten Aufgaben, Fristen richtig zu berechnen (vgl.
BGE 135 III 489 S. 496
FRANK/STRÄULI/MESSMER, Kommentar zur Zürcherischen Zivilprozessordnung, Ergänzungsband, 2000, N. 3 zu
§ 52 ZPO
/ZH).
6.3
Aus den dargelegten Gründen erweist sich das angefochtene Urteil insgesamt weder als willkürlich (
Art. 9 BV
; vgl.
BGE 134 I 140
E. 5.4 S. 148;
BGE 134 II 124
E. 4.1 S. 133) noch als überspitzt formalistisch (
Art. 29 Abs. 1 BV
; vgl.
BGE 132 I 249
E. 5 S. 253;
BGE 135 I 6
E. 2.1 S. 9). | de |
cfc93138-96cf-4e63-9a79-27bd4854bafa | Sachverhalt
ab Seite 625
BGE 143 III 624 S. 625
A. (1952, Schweizer Bürger) und C.B. (Jahrgang 1981, kosovarische Staatsangehörige) heirateten 2004 im Kosovo. Die Ehefrau reiste darauf in die Schweiz ein und erhielt die Niederlassungsbewilligung. Mit Urteil vom 2. Februar 2010 wurde die (kinderlose) Ehe geschieden. C.B. gebar im September 2010 den Knaben B.B, den A. beim Zivilstandsamt Winterthur als sein Kind anerkannte. B.B. erhielt das Bürgerrecht des Vaters von Flums-Dorf.
Mit Verfügung vom 8. August 2011 widerrief das Migrationsamt die Niederlassungsbewilligung von C.B. Die dagegen eingelegten kantonalen Rechtsmittel blieben erfolglos, doch hiess das Bundesgericht die Beschwerde von C.B. gut. Es bejahte zwar das Vorliegen einer Scheinehe und damit eines Grundes für den Widerruf der Niederlassungsbewilligung, beliess C.B. aber das Aufenthaltsrecht, weil ihr Sohn B.B. als Schweizer Bürger gilt, solange keine erfolgreiche Anfechtung der Vaterschaftsanerkennung stattgefunden hat, und weil keine Gründe dafür bestanden, C.B. als sorgeberechtigter Mutter eines Schweizer Kindes die Anwesenheit zu verweigern (Urteil 2C_303/2013 vom 13. März 2014). Während des ausländerrechtlichen Verfahrens ersuchten C.B. und A. das Zivilstandsamt um
BGE 143 III 624 S. 626
Durchführung des Vorbereitungsverfahrens für eine erneute Eheschliessung. Das Zivilstandsamt verweigerte seine Mitwirkung am Eheschliessungsverfahren. Die dagegen eingelegten kantonalen Rechtsmittel blieben erfolglos. Zuletzt wies das Bundesgericht eine Beschwerde ab, soweit darauf eingetreten werden konnte (Urteil 5A_30/2014 vom 15. April 2014).
Am 7. Oktober 2013 klagten das Gemeindeamt des Kantons Zürich, die Stadt Winterthur und die Gemeinde Flums-Dorf gegen A. und B.B. auf Anfechtung der Anerkennung und verlangten die Aufhebung des Kindesverhältnisses zwischen A. und B.B. Das Bezirksgericht verfügte ein DNA-Gutachten zur Abklärung der Vaterschaft. A. focht die Beweisverfügung bis vor Bundesgericht an, das seine Beschwerde abwies, soweit darauf eingetreten werden konnte (Urteil 5A_745/2014 vom 16. März 2015). B.B. blieb dem Termin zur Begutachtung unentschuldigt fern. A. verweigerte seine Mitwirkung an der DNA-Begutachtung ausdrücklich und wurde wegen Ungehorsams gegen eine amtliche Verfügung mit einer Busse bestraft. Das Bezirksgericht verneinte die Aktivlegitimation der Kläger und wies die Klage ab. Auf Berufung hin bejahte das Obergericht die Aktivlegitimation, hielt hingegen eine zwangsweise Durchführung der DNA- Begutachtung für ausgeschlossen und den Beweis auch sonst nicht für erbracht, dass A. nicht der Vater von B.B. ist. Es wies die Klage ab.
Das Gemeindeamt des Kantons Zürich (Beschwerdeführer 1), die Stadt Winterthur (Beschwerdeführerin 2) und die Gemeinde Flums- Dorf (Beschwerdeführerin 3) sind an das Bundesgericht gelangt. Sie beantragen, das Kindesverhältnis zwischen A. (Beschwerdegegner 1) und B.B. (Beschwerdegegner 2) aufzuheben, eventuell die Sache an die Vor- oder die erste Instanz zurückzuweisen. Die Beschwerdegegner schliessen auf Abweisung. Das Bundesgericht hat die Angelegenheit an der Sitzung vom 12. Oktober 2017 öffentlich beraten. Es tritt auf die Beschwerde des Beschwerdeführers 1 nicht ein, heisst die Beschwerde der Beschwerdeführerinnen 2 und 3 teilweise gut, soweit es darauf eintritt, hebt das angefochtene Urteil auf und weist das Bezirksgericht an, ein DNA-Gutachten zwecks Aufklärung des Kindesverhältnisses zwischen den Beschwerdegegnern unter Androhung der zwangsweisen Durchführung anzuordnen und im Weigerungsfall einen Wangenschleimhautabstrich bei den Beschwerdegegnern durch die kantonal zuständige Behörde vollziehen zu lassen.
(Zusammenfassung)
BGE 143 III 624 S. 627 Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Die Anerkennung kann gemäss
Art. 260a Abs. 1 ZGB
von jedermann, der ein Interesse hat ("par tout intéressé"; "da ogni interessato"), beim Gericht angefochten werden, namentlich von der Mutter, vom Kind und nach seinem Tode von den Nachkommen sowie von der Heimat- oder Wohnsitzgemeinde des Anerkennenden ("en particulier par ... la commune d'origine ou la commune de domicile de l'auteur de la reconnaissance"; "segnatamente ... dal Comune di origine o di domicilio dell'autore del riconoscimento").
3.1
Ein gleich formuliertes "Klagerecht" (Marginalie zu
Art. 260a ZGB
) findet sich in
Art. 269a Abs. 1 ZGB
für schwerwiegende Mängel der Adoption und in
Art. 259 Abs. 2 Ziff. 3 ZGB
zugunsten der Heimat- oder Wohnsitzgemeinde des Ehemannes, der nach der Heirat mit der Mutter deren vorher geborenes Kind anerkennt. Die Anfechtung durch Dritte sah bereits
Art. 306 ZGB
in der Fassung von 1907/12 vor, wonach die Anerkennung von der zuständigen Behörde des Heimatkantons des Vaters sowie von jedermann, der ein Interesse hat, angefochten werden kann (BS 2 S. 56). Vom Gesetzeswortlaut her besteht ein bedingungsloses Klagerecht der Heimat- oder Wohnsitzgemeinde des Anerkennenden. Im Gegensatz zum "jedermann, der ein Interesse hat," macht das Gesetz das Klagerecht ("namentlich") der Heimat- oder Wohnsitzgemeinde von keinem unmittelbaren Interesse an der Beseitigung der unwahren Anerkennung abhängig.
3.2
Das Klagerecht gemäss
Art. 260a Abs. 1 ZGB
geht auf die ZGB- Revision von 1976/78 zurück (AS 1977 237 S. 240). Aus der Entstehungsgeschichte ergibt sich Folgendes:
3.2.1
Ob das bisherige Klagerecht des Gemeinwesens im neuen Recht noch Platz haben sollte, war in der Expertenkommission umstritten. Es wurde für die Anfechtung der Vaterschaftsvermutung zugunsten des Ehemannes ersatzlos gestrichen, in Bezug auf das freiwillig begründete Kindesverhältnis aber beibehalten, weil die Anerkennung vom Gesetz an keine besonderen Voraussetzungen geknüpft wird und damit die Gefahr missbräuchlicher Anerkennungen besteht (z.B. zur Umgehung der Vorschriften der Adoption oder der erbrechtlichen Pflichtteilsschranken oder zur Verschaffung des Bürgerrechts). In der Expertenkommission scheiterte der Vorschlag, die Aktivlegitimation des Gemeinwesens davon abhängig zu machen, dass kein
BGE 143 III 624 S. 628
überwiegendes Interesse des Kindes an der Aufrechterhaltung seiner Rechtsbeziehung zum Vater besteht. Die neue gesetzliche Regelung nahm deshalb keine Rücksicht darauf, ob eine Anfechtung im konkreten Fall den Kindesinteressen widerspricht, und stellte es damit auch nicht dem Ermessen des Gerichts anheim, im konkreten Fall die einzelnen Interessen gegeneinander abzuwägen (für eine Zusammenfassung der Ergebnisse: BERNHARD SAGER, Die Begründung des Kindesverhältnisses zum Vater durch Anerkennung und seine Aufhebung, 1979, S. 148 f.).
3.2.2
Der Entwurf für eine Revision der Bestimmungen über das eheliche und aussereheliche Kindesverhältnis übernahm alsdann eine mit dem heutigen
Art. 260a Abs. 1 ZGB
wörtlich übereinstimmende Regelung des Klagerechts (BBl 1974 II 117). Gemäss Botschaft kann die Anfechtungsklage wie bisher von jedermann, der ein Interesse hat (aArt. 306 ZGB), und überdies - nach dem Vorbild der Nichtigerklärung der Ehe (aArt. 121 Abs. 2 ZGB) und der Anfechtung der Adoption (
Art. 269a Abs. 1 ZGB
) - auch von der Heimat- und Wohnsitzgemeinde des Anerkennenden erhoben werden (Botschaft vom 5. Juni 1974 über die Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches [Kindesverhältnis], BBl 1974 II 1 S. 40). Der verwiesene
Art. 269a Abs. 1 ZGB
lehnt sich seinerseits an aArt. 306 ZGB und aArt. 121 ZGB an (Botschaft vom 12. Mai 1971 über die Änderung des Zivilgesetzbuches [Adoption und
Art. 321 ZGB
], BBl 1971 I 1200 S. 1241). Das Klagerecht gemäss aArt. 121 Abs. 2 ZGB (AS 1952 1087 S. 1100: "von jedermann, der ein Interesse hat, namentlich auch von der Heimat- oder Wohnsitzgemeinde") wurde zur Bekämpfung von sog. Bürgerrechtsehen geschaffen, d.h. von Eheschliessungen, die nicht eine Lebensgemeinschaft begründen, sondern bloss der Ausländerin das Schweizerbürgerrecht vermitteln sollen und offenkundig die Umgehung der Einbürgerungsvorschriften bezwecken (Botschaft vom 9. August 1951 zum Entwurf zu einem Bundesgesetz über Erwerb und Verlust des Schweizerbürgerrechts, BBl 1951 II 669 S. 706), und die Drittanfechtung der Anerkennung gemäss aArt. 306 ZGB wollte den Gefahren begegnen, die die Erleichterung der Form der Anerkennung (Erklärung vor dem Zivilstandsbeamten oder mit einer öffentlichen Urkunde oder Verfügung von Todes wegen) in sich schliesst (Botschaft vom 28. Mai 1904 zu einem Gesetzesentwurf enthaltend das Schweizerische Zivilgesetzbuch, BBl 1904 IV 1 S. 39; vgl. EUGEN HUBER, Schweizerisches Zivilgesetzbuch. Erläuterungen zum Vorentwurf des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartementes, Bd. I, 2. Aufl. 1914, S. 263 f.).
BGE 143 III 624 S. 629
3.2.3
Dem Entwurf zu
Art. 260a Abs. 1 ZGB
stimmten Stände- und Nationalrat diskussionslos zu (AB 1975 S 118 und AB 1975 N 1758).
3.3
Während sich die Rechtsprechung zum Klagerecht der Heimat- und Wohnsitzgemeinde nur punktuell geäussert hat, nimmt die Lehre dazu wie folgt Stellung:
3.3.1
Ungeachtet des Gesetzeswortlautes und -zweckes wird in der Lehre gefordert, dass die Gemeinde beim Entscheid über die Anfechtung auch die Interessen des Kindes bedenken soll (CYRIL HEGNAUER, Berner Kommentar, 1984, N. 84 f. zu
Art. 260a ZGB
) und von sich aus auf das Klagerecht verzichten soll, wenn das öffentliche Interesse an der Beseitigung des Kindesverhältnisses geringer wiegt als das Interesse des Kindes an der Vaterschaft, die mit der Anerkennung begründet wurde (MARTIN STETTLER, Das Kindesrecht, SPR Bd. III/2, 1992, § 13/II/D S. 204; vgl. auch OLIVIER GUILLOD, in: Commentaire romand, Code civil, Bd. I, 2010, N. 7 zu
Art. 260a ZGB
; MEIER/STETTLER, Droit de la filiation, 5. Aufl. 2014, S. 74 Rz. 123; grundsätzlich ablehnend gegenüber dem Klagerecht der Gemeinde: SCHWENZER/COTTIER, in: Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch, Bd. I, 5. Aufl. 2014, N. 17 zu Art. 259 und N. 5 zu
Art. 260a ZGB
).
3.3.2
Im Lichte des Übereinkommens vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes (KRK; SR 0.107), in Kraft getreten für die Schweiz am 26. März 1997, vertritt die Lehre, dass eine Anfechtung durch Dritte ausgeschlossen werden müsse, wenn damit in eine gelebte Vater-Kind-Beziehung eingegriffen wird. Nur so könne
Art. 3 Abs. 1 KRK
verwirklicht werden, wonach bei allen Massnahmen, die Kinder betreffen, das Wohl des Kindes vorrangig zu berücksichtigen ist (INGEBORG SCHWENZER, Die UN-Kinderrechtskonvention und das schweizerische Kindesrecht, AJP 1994 S. 817 ff., 820; KURT SIEHR, Grosseltern im Privatrecht, in: Festschrift für Heinz Hausheer [...], 2002, S. 159 ff., 161).
3.3.3
Auch unter dem Blickwinkel von
Art. 8 EMRK
wird das gesetzliche Klagerecht Dritter, das Kindesinteressen weder einbezieht noch berücksichtigt, kritisch beurteilt (WYTTENBACH/GROHSMANN, Welche Väter für das Kind?, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und die Vielfalt von Elternschaft, AJP 2014 S. 149 ff., 165).
3.4
Für die Auslegung sind folgende Elemente entscheidend:
3.4.1
Nach dem Wortlaut von
Art. 260a Abs. 1 ZGB
und dem gesetzgeberischen Konzept haben die Heimatgemeinde und die
BGE 143 III 624 S. 630
Wohnsitzgemeinde des Anerkennenden nebeneinander ein selbstständiges Klagerecht, das es ihnen ermöglichen soll, gegen missbräuchliche Kindesanerkennungen einzuschreiten. Der Missbrauch kann in der Erschleichung des Anwesenheits- oder Bürgerrechts und der damit verbundenen Vorteile (z.B. Unterstützungsleistungen, Burgernutzen, Wahl- und Stimmrecht usw.) bestehen. Am Gesetzeszweck misst sich das schutzwürdige Interesse der Gemeinden an der Anfechtung einer Kindesanerkennung. Dass die Ausübung des von weitergehenden Bedingungen unabhängigen Klagerechts der Gemeinden unter Umständen dem Interesse des Kindes an der Vaterschaft des Anerkennenden widersprechen kann, war dem Gesetzgeber mit Blick auf die Entstehungsgeschichte bewusst oder musste ihm aufgrund der Formulierung der Bestimmung zumindest bewusst sein. Insofern kann davon ausgegangen werden, dass der damalige Gesetzgeber die Interessenabwägung im Gesetz selber vornehmen wollte und dem öffentlichen Interesse an der Missbrauchsbekämpfung gegenüber dem Interesse des Kindes an der Aufrechterhaltung des Kindesverhältnisses den Vorrang eingeräumt hat.
3.4.2
Es fällt auf, dass der Gesetzgeber das Klagerecht der Gemeinde mit der Genehmigung der UNO-Kinderrechtekonvention nicht eingeschränkt oder aufgehoben hat, wie es die Lehre fordert. Dieser Umstand darf freilich nicht überbewertet werden. Entscheidend ist vielmehr, dass der Gesetzgeber in jüngeren Gesetzgebungsprojekten der Verhinderung des Missbrauchs im Ausländerrecht grosses Gewicht beigemessen hat. Dieser Wille des Gesetzgebers zeigt sich namentlich in
Art. 97a ZGB
, in Kraft seit 1. Januar 2008 (AS 2007 5437), demzufolge die Zivilstandsbeamtin oder der Zivilstandsbeamte auf das Gesuch um Durchführung des Vorbereitungsverfahrens nicht eintritt, wenn die Braut oder der Bräutigam offensichtlich keine Lebensgemeinschaft begründen, sondern die Bestimmungen über Zulassung und Aufenthalt von Ausländerinnen und Ausländern umgehen will. Die Umgehungsabsicht gilt ausserdem als unbefristeter Eheungültigkeitsgrund (
Art. 105 Ziff. 4 ZGB
), ebenfalls in Kraft seit 1. Januar 2008, der, wenn er zur gerichtlichen Ungültigerklärung der Ehe führt, auch die Vaterschaftsvermutung des Ehemannes entfallen lässt (
Art. 109 Abs. 3 ZGB
; AS 2007 5437). Insofern hat der Gesetzgeber seinen Willen, wie er ihn schon 1974 im Wortlaut von
Art. 260a Abs. 1 ZGB
deutlich zum Ausdruck brachte, wiederholt und bestätigt, so dass weder veränderte Umstände noch ein gewandeltes Rechtsverständnis die Gerichte davon abzuweichen berechtigen.
BGE 143 III 624 S. 631
3.4.3
Triftige Gründe für ein Abweichen vom Gesetzeswortlaut sind nicht ersichtlich. Der Gesetzgeber setzt das "Kindeswohl" gezielt ein (z.B. in der Gestaltung der Elternrechte und -pflichten, der elterlichen Sorge, prozessualer Mitwirkungspflichten usw.), aber nicht in der Beurteilung der Aktivlegitimation, die an Eigenschaften der klagenden Partei anknüpft und nicht an ebensolche Dritter. Ob - anders gesagt - ein subjektives Recht oder ein Rechtsverhältnis klageweise geltend gemacht werden soll, ist im Allgemeinen der freien Entschliessung seiner Träger anheimgestellt (vgl. MAX GULDENER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3. Aufl. 1979, S. 139). Was aber für die Aktivlegitimation allgemein gilt, trifft auch auf deren Sonderfall zu, wo der Gesetzgeber zur Wahrung öffentlicher Interessen eine Behörde für berechtigt erklärt, eine Klage zu erheben, die in ein fremdes Rechtsverhältnis eingreift. Ihre Befugnis, frei und unabhängig von entgegenstehenden Interessen Dritter das gesetzlich eingeräumte Klagerecht auszuüben, wird einzig durch das Rechtsschutzinteresse begrenzt (
Art. 59 Abs. 2 lit. a ZPO
), das sich am Gesetzeszweck misst und bereits im Falle der blossen Möglichkeit einer missbräuchlichen Kindesanerkennung zu bejahen ist (vgl.
BGE 41 II 425
S. 427;
77 II 193
E. 2b S. 199). Nicht durch eine Einschränkung des Klagerechtes, sondern auf der Ebene des schutzwürdigen Interesses begegnet der Gesetzgeber somit der behaupteten Gefahr, Behörden könnten beliebig Kindesanerkennungen anfechten.
3.4.4
Die Berücksichtigung grundrechtlicher Garantien (BV, EMRK oder KRK) führt die Auslegung hier nicht weiter, wobei dahingestellt bleiben mag, welche Ansprüche auf eine rechtliche Eltern-Kind-Beziehung bestehen, wenn das genetische Abstammungsverhältnis fraglich ist (vgl. die weiterführenden Nachweise in
BGE 141 III 312
E. 6 S. 323 ff. und 328 E. 7 S. 347 ff.). Denn das Sachgericht hat in seinem Urteil von Gesetzes wegen das öffentliche Interesse der klagenden Gemeinden an der Aufhebung des Kindesverhältnisses und das private Interesse des beklagten Kindes an der Beibehaltung des Kindesverhältnisses gegeneinander abzuwägen. Das Zivilgesetzbuch verlangt nicht, dass die genetische zwingend der sozialen Elternschaft vorgeht (vgl. THOMAS GEISER, Kind und Recht - von der sozialen zur genetischen Vaterschaft?, FamPra.ch 2009 S. 41 ff., mit Beispielen). Die Interessenabwägung hat deshalb zu erfolgen, sobald erwiesen ist, dass der Anerkennende als genetischer Vater des Kindes tatsächlich ausscheidet. Erst in diesem
BGE 143 III 624 S. 632
Zeitpunkt wird die Frage nach den auf dem Spiele stehenden Interessen aktuell. Gleichzeitig ist damit der Anspruch des Kindes auf Kenntnis der genetischen Herkunft in einem gerichtlichen Verfahren erfüllt. Auch verfahrensrechtlich ist die gerichtliche Interessenabwägung gewährleistet. Die Parteien im Anfechtungsprozess, der nach den Bestimmungen des vereinfachten Verfahrens durchgeführt wird (
Art. 295 ZPO
), können nach Abschluss der Beweisabnahme zum Beweisergebnis und zur Sache Stellung nehmen (Art. 232 i.V.m.
Art. 219 ZPO
). Da das Gericht den Sachverhalt von Amtes wegen abzuklären hat (
Art. 296 Abs. 1 ZPO
), berücksichtigt es zudem neue Tatsachen und Beweismittel bis zur Urteilsberatung (Art. 229 Abs. 3 i.V.m.
Art. 219 ZPO
). Dass das Kindeswohl in der Beurteilung der Aktivlegitimation keine Rolle spielt, bedeutet für die Parteien somit keinen Nachteil. Es wird unter vorgängiger Wahrung der Parteirechte im Sachurteil verwirklicht.
3.4.5
Schliesslich gilt es als entscheidend zu beachten, dass schon EUGEN HUBER den Gefahren missbräuchlicher Kindesanerkennungen mit der Möglichkeit ihrer Anfechtung durch Dritte begegnen wollte. Denn die Gesellschaft als Ganzes hat ein starkes Interesse daran, die missbräuchliche Inanspruchnahme staatlicher Leistungen zu bekämpfen. Schliesslich beruht jede funktionierende Rechtsordnung auf einem Grundkonsens der Rechtsunterworfenen, die von der - berechtigten - Annahme ausgehen, dass sich alle nach Treu und Glauben verhalten. Staatliche Leistungen stehen denjenigen zu, die die explizit oder implizit vorausgesetzten Bedingungen erfüllen. Wer durch unlautere Methoden den Eintritt einer Bedingung herbeiführt, hat keinen Anspruch auf die staatliche Leistung. Wenn einer solchen Situation nicht der Riegel geschoben würde, würde gleichsam die Anspruchsbasis erweitert, die aber vom Grundkonsens der Rechtsunterworfenen nicht mehr gedeckt wäre. Letztlich würde auch die rechtsgleiche Anwendung des Gesetzes darunter leiden; die Rechtssicherheit und damit der Rechtsfrieden wären in Gefahr. Die Bekämpfung der missbräuchlichen Inanspruchnahme staatlicher Leistungen ist ein gewichtiges staatliches Gesamtinteresse; dass in diesem Kontext Interessen des Einzelnen an der Durchsetzung unlauter herbeigeführter Anspruchsgrundlagen gleichwertig sein oder überwiegen könnten, ist kaum, allenfalls nur in absoluten Ausnahmefällen vorstellbar.
3.5
Als Auslegungsergebnis ist aus den dargelegten Gründen festzuhalten, dass das Interesse des Kindes, das Kindesverhältnis zum
BGE 143 III 624 S. 633
Anerkennenden aufrechtzuerhalten, das Klagerecht der Heimat- und der Wohnsitzgemeinde des Anerkennenden, missbräuchliche Kindesanerkennungen gerichtlich anzufechten, nicht einschränkt.
4.
Die Beschwerdeführer begründen ihr Anfechtungsinteresse - wie schon vor Obergericht - damit, dass der Beschwerdeführer 1 als Aufsichtsbehörde im Zivilstandswesen der Registerwahrheit verpflichtet sei und fehlerhafte Personenstandsdaten bereinigen lassen müsse, dass die Beschwerdeführerin 2 als Wohnsitzgemeinde beider Beschwerdegegner zu Fürsorgeleistungen an den Beschwerdegegner 1 verpflichtet werden könne und dass die Beschwerdeführerin 3 als Heimatgemeinde des Beschwerdegegners 1 verhindern müsse, mit dem Beschwerdegegner 2 einen falschen Bürger in das Bürgerrecht aufzunehmen.
4.1
Die Heimatgemeinde (Beschwerdeführerin 3) hat ein Anfechtungsinteresse, weil der Beschwerdegegner 2 als minderjähriges Kind einer ausländischen Mutter zufolge der Anerkennung durch den Beschwerdegegner 1 als schweizerischen Vater dessen Bürgerrecht erworben hat (
Art. 1 Abs. 2 des Bundesgesetzes vom 29. September 1952 über Erwerb und Verlust des Schweizer Bürgerrechts [Bürgerrechtsgesetz, BüG; SR 141.0]
). Das Klagerecht soll ermöglichen, gegen missbräuchliche Anerkennungen, insbesondere zwecks Erlangung des Anwesenheits- oder Bürgerrechts vorzugehen. Da der Beschwerdegegner 1 mit der Mutter des Beschwerdegegners 2 nachweislich eine Scheinehe eingegangen ist (Urteil 2C_303/2013 vom 13. März 2014 E. 3.4) und eine zweite Scheinehe eingehen wollte (Urteil 5A_30/2014 vom 15. April 2014 E. 3.4, in: FamPra.ch 2014 S. 696 ff.), besteht die ernsthafte Möglichkeit einer missbräuchlichen Anerkennung, um unmittelbar dem Beschwerdegegner 2 und mittelbar der Mutter des Schweizer Kindes das Bleiberecht zu sichern. Damit hat die Heimatgemeinde (Beschwerdeführerin 3) ein schützenswertes Interesse an der Anfechtungsklage.
4.2
Die Wohnsitzgemeinde (Beschwerdeführerin 2) hat ein Anfechtungsinteresse, weil der Anerkennende dem Kind und der Mutter zufolge des vermittelten Bürgerrechts einen Aufenthaltstitel verschafft und aufgrund seiner Unterhaltspflicht gegenüber dem Kind unterstützungsbedürftig werden kann. Die Unterstützung obliegt dem Wohnkanton, der das unterstützungspflichtige Gemeinwesen - in der Regel die Wohnsitzgemeinde - und die zuständige Fürsorgebehörde bezeichnet (
Art. 12 des Bundesgesetzes vom 24. Juni 1977
BGE 143 III 624 S. 634
über die Zuständigkeit für die Unterstützung Bedürftiger [Zuständigkeitsgesetz, ZUG; SR 851.1]
). Dass im Kanton Zürich eine vom Normalfall abweichende Regelung bestehe, wird nicht behauptet und trifft auch nicht zu. Gemäss § 32 des kantonalen Sozialhilfegesetzes vom 14. Juni 1981 (SHG; LS/ZH 851.1) obliegt die Pflicht zur Leistung persönlicher und wirtschaftlicher Hilfe der Wohngemeinde des Hilfesuchenden. Es besteht hier zudem nicht bloss eine theoretische Möglichkeit, dass künftig eine Unterstützungsbedürftigkeit eintreten könnte, zumal der Beschwerdegegner 1 gemäss eigenen Angaben und Belegen von der Wohnsitzgemeinde heute Ergänzungsleistungen bezieht. Nachweislich werden auch die Kindesmutter und der Beschwerdegegner 2 von der Wohnsitzgemeinde unterstützt. Damit hat die Wohnsitzgemeinde (Beschwerdeführerin 2) ebenfalls ein schützenswertes Interesse an der Anfechtungsklage.
4.3
Der Beschwerdeführer 1 als kantonale Aufsichtsbehörde im Zivilstandswesen wird in
Art. 260a Abs. 1 ZGB
nicht namentlich als klageberechtigt aufgeführt. Eine zusätzliche Klage einer zuständigen Behörde - wie heute in
Art. 106 Abs. 1 ZGB
und früher in aArt. 121 Abs. 1 und aArt. 306 ZGB vorgesehen - besteht nicht (BERNHARD SCHNYDER, "... jedermann, der ein Interesse hat", in: Festschrift für Cyril Hegnauer [...], 1986, S. 453 ff., 457 bei Anm. 23). Unter den Begriff des klageberechtigten "jedermann, der ein Interesse hat", kann indessen auch das Gemeinwesen fallen, wenn es ein besonderes eigenes Interesse nachzuweisen vermag und nicht bloss das allgemeine Interesse anruft (
BGE 77 II 193
E. 1b S. 196). Nach der Lehre kann das Interesse materieller oder ideeller, aktueller oder virtueller Art sein. Der Kläger muss durch das unrichtige Kindesverhältnis unmittelbar und ernstlich betroffen sein (HEGNAUER, a.a.O., N. 102 zu
Art. 260a ZGB
; STETTLER, a.a.O., § 13/II/F S. 207 f.). Dass der Beschwerdeführer 1, wie er es selber vorträgt, der Registerwahrheit verpflichtet sei, trifft zu und berechtigt ihn zur Klage auf Berichtigung von Angaben im Personenstandsregister (
Art. 42 Abs. 2 ZGB
). Eine solche Klage betrifft aber die Gültigkeit der Anerkennung und nicht deren Wahrhaftigkeit; diese und nur diese ist Gegenstand des Anfechtungsverfahrens (HEGNAUER, a.a.O., N. 60 zu
Art. 260a ZGB
). Mithin begründet der Beschwerdeführer 1 an der Anfechtung der Kindesanerkennung kein eigenes, über ein allgemeines rechtsstaatliches hinausgehendes Interesse. Er ist folglich nicht klageberechtigt, und ihm gegenüber hat das Obergericht die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen.
BGE 143 III 624 S. 635
5.
Ihren Hauptantrag, die Kindesanerkennung aufzuheben, begründen die Beschwerdeführerinnen mit den Ergebnissen des durchgeführten Beweisverfahrens und der Weigerung der Beschwerdegegner, an der DNA-Begutachtung teilzunehmen.
5.1
Die Beschwerdeführerinnen als Klägerinnen haben zu beweisen, dass der Anerkennende nicht der Vater des Kindes ist (
Art. 260b Abs. 1 ZGB
). Zur Aufklärung der Abstammung haben Parteien und Dritte an Untersuchungen mitzuwirken, die nötig und ohne Gefahr für die Gesundheit sind (
Art. 296 Abs. 2 ZPO
). Sicheres Beweismittel ist - sog. Bruderfälle vorbehalten (Urteil 5A_506/2007 vom 28. Februar 2008 E. 4.2.2, nicht veröffentlicht in:
BGE 134 III 241
) - das DNA-Gutachten (Urteil 5A_745/2014 vom 16. März 2015 E. 2.1, in: FamPra.ch 2015 S. 740). Andere Beweismittel werden dadurch nicht ausgeschlossen. Jedes Beweismittel, das zum Beweis der Vaterschaft oder Nichtvaterschaft objektiv geeignet ist und in der gegebenen Aktenlage eine relevante Aussage erwarten lässt, ist zuzulassen und zu erheben (HEGNAUER, a.a.O., N. 59 zu aArt. 254 ZGB). Zulässig und notwendig ist auch blosse Indizienbeweiswürdigung (GUILLOD, a.a.O., N. 7 zu aArt. 254 ZGB).
5.2
Die Beschwerdeführerinnen machen geltend, ihre Behauptung, der Beschwerdegegner 1 sei nicht der Vater des Beschwerdegegners 2, müsse bereits deshalb für bewiesen gehalten werden, weil der Beschwerdegegner 1 seine Mitwirkung an der DNA-Begutachtung unberechtigt verweigert habe.
5.2.1
Eine Partei ist zur Mitwirkung bei der Beweiserhebung verpflichtet (
Art. 160 Abs. 1 ZPO
), ausser sie könne sich auf ein gesetzliches Verweigerungsrecht berufen (
Art. 163 ZPO
). Gemäss
Art. 164 ZPO
berücksichtigt das Gericht bei der Beweiswürdigung, wenn eine Partei die Mitwirkung unberechtigterweise verweigert. Eine beachtliche Lehrmeinung will die Regelung im Abstammungsprozess anwenden und aus der unberechtigten Weigerung einer Partei, bei der Abstammungsbegutachtung mitzuwirken, beweiswürdigend auf das Bestehen der Vaterschaft dieser Partei schliessen (MEIER/STETTLER, a.a.O., S. 110 Rz. 219 a.E.; ausführlich und mit Hinweisen: PHILIPPE MEIER, L'enfant en droit suisse, FamPra.ch 2012 S. 255 ff., 280/281).
5.2.2
Für Kinderbelange in familienrechtlichen Angelegenheiten schreibt
Art. 296 ZPO
vor, dass das Gericht den Sachverhalt von Amtes wegen erforscht (Abs. 1) und ohne Bindung an die
BGE 143 III 624 S. 636
Parteianträge entscheidet (Abs. 3). Es gelten damit die uneingeschränkte Untersuchungsmaxime und die Offizialmaxime. Im Einklang mit der Untersuchungsmaxime wird für Statusprozesse - entsprechend dem bisherigen Recht (aArt. 254 Ziff. 2 ZGB) - präzisiert, dass die Parteien und Dritte an allen Untersuchungen mitzuwirken haben, die zur Aufklärung der Abstammung nötig und ohne Gefahr für die Gesundheit sind (
Art. 296 Abs. 2 ZPO
). Im öffentlichen Interesse ist somit die Verfügungsbefugnis der Parteien eingeschränkt und das Gericht gehalten, nach der materiellen Wahrheit zu forschen (Urteile 5A_745/2014 vom 16. März 2015 E. 2.3, in: FamPra.ch 2015 S. 741; 5A_492/2016 vom 5. August 2016 E. 3.1, in: FamPra.ch 2016 S. 1015).
5.2.3
Gewährleisten der Untersuchungsgrundsatz (
Art. 296 Abs. 1 ZPO
) und als dessen Konkretisierung die Mitwirkungspflichten von Parteien und Dritten im Abstammungsprozess (
Art. 296 Abs. 2 ZPO
) die Erforschung der materiellen Wahrheit im öffentlichen Interesse, wird letztlich auch klar, dass der Gesetzgeber die Bestimmungen über die Verweigerungsrechte der Parteien und von Dritten für nicht anwendbar erklärt hat (
Art. 296 Abs. 2 Satz 2 ZPO
). Damit sollte ausgeschlossen sein, dass aufgrund der unberechtigten Weigerung einer Partei oder einer Drittperson, an der DNA-Begutachtung mitzuwirken, beweiswürdigend auf jener Vaterschaft geschlossen wird (vgl. Botschaft vom 28. Juni 2006 zur Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO], BBl 2006 7221, 7317 zu Art. 160 und 161 des Entwurfs). Die gegenteilige Ansicht der Beschwerdeführerinnen kann nicht geteilt werden. Wie bis anhin (
BGE 95 II 77
E. 3 S. 83) zulässig bleibt hingegen, die Verweigerungshaltung als Indiz neben anderen Indizien in der Beweiswürdigung zu berücksichtigen (HEGNAUER, a.a.O., N. 94 ff., und GUILLOD, a.a.O., N. 19, je zu aArt. 254 ZGB).
5.3
Die Beschwerdeführerinnen haben im kantonalen Verfahren auf verschiedene Indizien hingewiesen und wenden sich gegen deren Würdigung durch das Obergericht.
5.3.1
Aus einem Bericht des Vertrauensanwaltes der Schweizer Vertretung in Pristina vom 14. Februar 2013 soll sich ergeben, dass E. schon zur Zeit der Geburt des Beschwerdegegners 2 im Kosovo als Ehemann der Kindesmutter gegolten habe und deshalb der Beschwerdegegner 2 als sein Kind zu gelten habe. Das Obergericht hat den Bericht als nicht verwertbares Beweismittel bezeichnet, aber auch festgehalten, selbst wenn auf den Bericht abgestellt werden
BGE 143 III 624 S. 637
wollte, ergebe sich daraus kein genügender Beweis der Nichtvaterschaft des Beschwerdegegners 1, habe doch insbesondere der angebliche Vater E. ausdrücklich von sich gewiesen, Vater des Beschwerdegegners 2 zu sein. Ob das Obergericht das Beweismittel willkürfrei für nicht verwertbar halten durfte, kann dahingestellt bleiben, hält doch seine Beweiswürdigung der Willkürprüfung stand. Aussagen vom blossen Hörensagen schaffen keinen Beweis der Vaterschaft, selbst wenn sie in einem schriftlichen Bericht wiederholt werden. Auch zur beantragten Auswertung der Reisepässe der Kindesmutter und des Beschwerdegegners 2 hat das Obergericht festgehalten, daraus lasse sich kaum etwas bezüglich der Vaterschaft des Beschwerdegegners 1 ableiten, selbst wenn die Kindesmutter mit dem Beschwerdegegner 2 regelmässig in den Kosovo gereist sein sollte. Im Reiseverhalten der Kindesmutter und des Beschwerdegegners 2 erblicken die Beschwerdeführerinnen ein Indiz für die Bestätigung des weiteren Indizes, dass E. der Ehemann der Kindesmutter und der Vater des Beschwerdegegners 2 sei. Aus den Vermerken in Reisepässen kann sich ergeben, dass und wohin die Passinhaberin gereist ist. Wen sie am Zielort der Reise getroffen haben könnte, ergibt sich daraus nicht. Dazu bedürfte es in der Indizienkette hin zur Vaterschaft einer Person weiterer Glieder, deren Bestehen die Beschwerdeführerinnen weder behaupten noch belegen.
5.3.2
Schliesslich weisen die Beschwerdeführerinnen darauf hin, sie hätten vor Obergericht vorgeschlagen, die Zeugungsfähigkeit des Beschwerdegegners 1 von November 2009 bis März 2010 zu untersuchen, zumal sich der Beschwerdegegner 1 während der fraglichen Zeit einer Chemotherapie unterzogen habe und deshalb zeugungsunfähig gewesen sein dürfte. Dass sich das Obergericht damit nicht eigens befasst hat, kann nicht beanstandet werden. Da der Beschwerdegegner 1 einen körperlich harmlosen Eingriff wie den Wangenschleimhautabstrich ausdrücklich verweigert hat, durfte davon ausgegangen werden, er würde sich einer ärztlichen Begutachtung seiner Zeugungsfähigkeit (z.B. durch ein Spermiogramm) ebenso wenig stellen.
5.3.3
Die obergerichtliche Indizienbeweiswürdigung erweist sich nach dem Gesagten nicht als willkürlich (
Art. 9 BV
; vgl. zum Begriff:
BGE 129 I 8
E. 2.1 S. 9;
BGE 140 III 264
E. 2.3 S. 266). Dass der Beschwerdegegner 1 seine Mitwirkung an der DNA-Begutachtung verweigert hat, musste neben den weiteren Indizien unter Willkürgesichtspunkten nicht zwingend schliessen lassen, er sei nicht der Vater des Beschwerdegegners 2.
BGE 143 III 624 S. 638
6.
Schliesslich stellt sich die Frage nach der zwangsweisen Durchsetzung der gerichtlich verfügten DNA-Begutachtung. Die kantonalen Gerichte haben die Anwendung von Polizeigewalt abgelehnt. Die Beschwerdeführerinnen rügen den Untersuchungsgrundsatz im Abstammungsprozess (
Art. 296 Abs. 1 ZPO
) wie auch ihren Beweisführungsanspruch (
Art. 8 ZGB
) als verletzt. Sie beantragen deshalb die Rückweisung der Sache an eine kantonale Instanz.
6.1
In tatsächlicher Hinsicht steht fest, dass der Beschwerdegegner 1 sich gegenüber dem Gericht schriftlich der DNA-Begutachtung widersetzt hat und androhungsgemäss wegen Ungehorsams gegen eine amtliche Verfügung verurteilt wurde. Der Beschwerdegegner 2 ist dem Termin zur Begutachtung unentschuldigt ferngeblieben. Dass die DNA-Begutachtung zur Aufklärung nötig ist, belegen die Umstände des zu beurteilenden Falls (E. 5 oben). Die Beschwerdegegner behaupten auch keine aussergewöhnlichen gesundheitlichen Risiken, die eine Gefahr für ihre Gesundheit bedeuten und deshalb dem angeordneten Wangenschleimhautabstrich entgegenstehen könnten (
BGE 134 III 241
E. 5.4.3 S. 247). Streitig ist einzig die Zulässigkeit der zwangsweisen Durchsetzung des Wangenschleimhautabstrichs. Das Bundesgericht hat die Streitfrage bejaht (Urteil 5A_492/2016 vom 5. August 2016 E. 3, in: FamPra.ch 2016 S. 1015 ff.; vgl. die Besprechungen des Urteils von BÜCHLER/RAVEANE, in: FamPra.ch 2017 S. 343 ff., und von REGINA E. AEBI-MÜLLER, in: Die privatrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichts im Jahr 2016, Familienrecht, Kindesrecht, ZBJV 153/2017 S. 501 f.).
6.2
In rechtlicher Hinsicht ergibt sich Folgendes:
6.2.1
Die Zulässigkeit körperlichen Zwangs wird in der Lehre unterschiedlich beantwortet (ablehnend z.B. TUOR/SCHNYDER/JUNGO, Das Schweizerische Zivilgesetzbuch, 14. Aufl. 2015, § 39 Rz. 22 S. 416; befürwortend z.B. MEIER/STETTLER, a.a.O., S. 110 Rz. 219). Es fällt auf, dass die Standpunkte - soweit sie begründet werden - sich wesentlich auf das frühere Recht stützen (
Art. 254 Ziff. 2 ZGB
in der Fassung von 1976/78, AS 1977 237 S. 238). Unter dessen Herrschaft hat das Bundesgericht die Streitfrage zunächst verneint (Urteil 5P.472/2000 vom 15. März 2001 E. 2a), zuletzt aber trotz scheinbar einhellig ablehnender Haltung in der Lehre ausdrücklich offengelassen, zumal es im zu beurteilenden Fall ohnehin an einer gesetzlichen Grundlage im kantonalen Recht gefehlt hatte (Urteil 5P.444/2004 vom 2. Mai 2005 E. 3.3 Abs. 3, in: FamPra.ch 2005 S. 944 f.). Die
BGE 143 III 624 S. 639
rechtliche Ausgangslage hat sich mit Inkrafttreten der Schweizerischen Zivilprozessordnung (ZPO; SR 272) am 1. Januar 2011 geändert, indem
Art. 254 ZGB
ersatzlos aufgehoben und durch
Art. 296 ZPO
ersetzt wurde (AS 2010 1739, S. 1836 und 1839). Laut Botschaft zur Schweizerischen Zivilprozessordnung kann die Mitwirkung bei der Abklärung der Abstammung eines Kindes - sofern ohne Gefahr für die Gesundheit - zwangsweise durchgesetzt werden (BBl 2006 7221, 7317 zu Art. 160 und 161 des Entwurfs).
6.2.2
Gemäss
Art. 161 Abs. 1 ZPO
klärt das Gericht die Parteien und Dritte über ihre Mitwirkungspflicht, das Verweigerungsrecht und die Säumnisfolgen auf. Im Falle der Abklärung der Abstammung ergibt sich die Mitwirkungspflicht unmittelbar aus dem Gesetz (
Art. 160 Abs. 1 lit. c und
Art. 296 Abs. 2 Satz 1 ZPO
). Da die Bestimmungen über die Verweigerungsrechte der Parteien und von Dritten gemäss
Art. 296 Abs. 2 ZPO
(Satz 2) nicht anwendbar sind, kann lediglich darüber aufgeklärt werden, dass keine Verweigerungsrechte (
Art. 163-167 ZPO
) bestehen. Die Aufklärung über die Säumnisfolgen bezieht sich deshalb nicht auf die bloss prozessualen Nachteile im Falle unberechtigter Verweigerung der Mitwirkung als Partei (
Art. 164 ZPO
) oder die Vollstreckungsmassnahmen im Falle unberechtigter Verweigerung der Mitwirkung als Drittperson (
Art. 167 ZPO
). Die Säumnisfolgen, d.h. die im konkreten Fall nachteiligen Folgen einer Verweigerung der Mitwirkung bei der Abklärung der Abstammung des Kindes, ergeben sich unmittelbar und mit der von Verfassungs wegen geforderten Bestimmtheit aus dem Vollstreckungsrecht, zumal der Entscheid auf Mitwirkung und damit auf eine Verpflichtung zu einem Tun, Unterlassen oder Dulden lautet. Die Säumnisfolgen können in einer Strafdrohung nach
Art. 292 StGB
, in einer Ordnungsbusse oder in einer Zwangsmassnahme bestehen (
Art. 343 Abs. 1 lit. a-d ZPO
).
6.2.3
Die Gesetzesgrundlage für die Mitwirkungspflicht zur Abklärung der Abstammung und für die Androhung der Realvollstreckung des Wangenschleimhautabstrichs (nötigenfalls mit Polizeigewalt) ist damit vorhanden. Eine Sonderregelung für die zwangsweise Durchsetzung, wie sie in früheren kantonalen Prozessgesetzen teilweise bestanden hat (z.B.
Art. 181 Abs. 2 ZPO
/VS;
Art. 264a Abs. 4 ZPO
/BE; Art. 378d CPC/VD), diente zwar der Klarheit, ist jedoch nicht vorausgesetzt, wenn der Eingriff in die körperliche Integrität als geringfügig erscheint, wenn das Interesse an der Wahrheitsfindung im Abstammungsprozess allfällige Geheimhaltungsinteressen des
BGE 143 III 624 S. 640
Betroffenen nicht nur im Allgemeinen, sondern auch im konkreten Fall überwiegt, und wenn die Androhung der Polizeigewalt verhältnismässig ist, d.h dem Betroffenen vorgängig bereits weniger weit gehende Vollstreckungsmittel angedroht wurden.
6.3
Die Voraussetzungen für eine zwangsweise Durchsetzung der DNA-Begutachtung sind im zu beurteilenden Fall erfüllt. Angedroht wird ein Wangenschleimhautabstrich, der keinen unerträglichen körperlichen Eingriff bewirkt. Da bereits die Strafandrohung gemäss
Art. 292 StGB
erfolglos verfügt wurde und der Hinweis auf eine Ordnungsbusse den mittellosen Beschwerdegegner 1 nicht beeindrucken dürfte, erscheint die Androhung der Polizeigewalt zudem als verhältnismässig. Zu diesem Zweck ist die Sache an das Bezirksgericht zurückzuweisen. Dasselbe gilt für den Beschwerdegegner 2, sollte ihn seine Mutter nicht zum Begutachtungstermin bringen und diesem vielmehr erneut unentschuldigt fernbleiben. Für diesen Fall bezeichnet das Bezirksgericht eine geeignete Behörde, die den Wangenschleimhautabstrich abnimmt, z.B. die Lehrerin oder die Beiständin in Anwesenheit des Gemeindeammanns. | de |
df93b4de-8267-4945-890e-59c150b21a9d | Sachverhalt
ab Seite 425
BGE 142 III 425 S. 425
A.
A.a
Die Liquidatoren der A. AG in Nachlassliquidation hinterlegten die Vermögenswerte der Nachlassschuldnerin bei der Zuger Kantonalbank als kantonaler Depositenanstalt. Mit Schreiben vom 19. Mai 2015 teilte die Zuger Kantonalbank den Liquidatoren mit, dass für die Guthaben der A. AG in Nachlassliquidation auf dem Kontokorrent ab dem 1. Juni 2015 ein Negativzins von 0,75 % p.a. eingeführt werde.
A.b
Hiergegen reichten die Liquidatoren, handelnd für die A. AG in Nachlassliquidation sowie in eigenem Namen, betreibungsrechtliche
BGE 142 III 425 S. 426
Beschwerde bei der kantonalen Aufsichtsbehörde über Schuldbetreibung und Konkurs ein. Sie beantragten, es sei die Verfügung der Zuger Kantonalbank vom 19. Mai 2015 aufzuheben.
B.
Das Obergericht des Kantons Zug, II. Beschwerdeabteilung, Aufsichtsbehörde über Schuldbetreibung und Konkurs, ist mit Beschluss vom 30. Juni 2015 auf die Beschwerde nicht eingetreten.
C.
Mit Eingabe vom 13. Juli 2015 ist die A. AG in Nachlassliquidation an das Bundesgericht gelangt. Die Beschwerdeführerin verlangt die Aufhebung des obergerichtlichen Beschlusses vom 30. Juni 2015 und der Verfügung der Zuger Kantonalbank (Beschwerdegegnerin) vom 19. Mai 2015. Eventuell sei die Sache zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. (...)
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
(Auszug) Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Anlass zur vorliegenden Beschwerde gibt die Festsetzung des Kontokorrent-Zinssatzes durch die Beschwerdegegnerin als kantonaler Depositenanstalt, bei welcher die Liquidatoren Vermögenswerte der Nachlassschuldnerin hinterlegt haben. Die Vorinstanz hat im Vorgehen der Depositenanstalt keine Verfügung eines Zwangsvollstreckungsorganes erblickt und ist daher auf die betreibungsrechtliche Beschwerde nicht eingetreten. Streitpunkt ist im Wesentlichen, wie die Hinterlegung von Vermögenswerten durch Zwangsvollstreckungsorgane bei der kantonalen Depositenanstalt mit Blick auf die Anfechtung des Zinssatzes durch betreibungsrechtliche Beschwerde einzuordnen ist.
3.1
Zu Recht steht nicht in Frage, dass die Betreibungs- und Konkursämter Geld oder Wertsachen, über welche nicht binnen drei Tagen nach dem Eingang verfügt wird, der Depositenanstalt zu übergeben haben (
Art. 9 SchKG
). Die Pflicht gilt auch für Nachlassliquidatoren (
Art. 320 Abs. 3 SchKG
), für deren Handlungen bzw. Unterlassungen der Kanton haftet (
Art. 5 SchKG
; vgl. MÖCKLI, in: SchKG, 2. Aufl. 2014, N. 1, 2 zu
Art. 9 SchKG
).
3.2
Der Kanton Zug hat die Zuger Kantonalbank und die übrigen dem Bankengesetz (Bundesgesetz vom 8. November 1934 über die Banken und Sparkassen; SR 952.0) unterstellten und im Kanton niedergelassenen Institute als Depositenanstalten bezeichnet (
Art. 24 SchKG
;
BGE 142 III 425 S. 427
§ 20 des Einführungsgesetzes zum Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs vom 30. Januar 1997 [BGS 231.1]). Die Depositenanstalt ist ein Hilfsorgan in der Zwangsvollstreckung, weil sie in den gesetzlich vorgesehenen Fällen Depositen von den Zwangsvollstreckungsorganen anzunehmen hat (
Art. 24 SchKG
; BLUMENSTEIN, Handbuch des Schweizerischen Schuldbetreibungsrechts, 1911, S. 122/123; FAVRE, Droit des poursuites, 3. Aufl. 1974, S. 85/86; KREN KOSTKIEWICZ, Schuldbetreibungs- und Konkursrecht, 2. Aufl. 2014, Rz. 121 f.).
3.3
Unbestritten ist sodann, dass Anfechtungsobjekt der betreibungsrechtlichen Beschwerde gemäss Art. 17 f. SchKG nur Verfügungen eines Vollstreckungsorgans sein können. Darunter ist eine bestimmte behördliche Handlung in einem konkreten zwangsvollstreckungsrechtlichen Verfahren zu verstehen, die in Ausübung amtlicher Funktion ergeht und die fragliche Zwangsvollstreckung in rechtlicher Hinsicht beeinflusst; sie wirkt nach aussen und bezweckt, das Zwangsvollstreckungsverfahren voranzutreiben oder abzuschliessen (
BGE 129 III 400
E. 1.1 S. 401;
BGE 128 III 156
E. 1c S. 157 f.;
BGE 116 III 91
E. 1 S. 93, mit Hinweisen).
3.4
Die Rechtsprechung hat sich verschiedentlich mit der Anfechtbarkeit von Handlungen von Hilfsorganen befasst, welche zur Zwangsvollstreckung beigezogen werden. So beruht die Zustellung des Zahlungsbefehls durch die Post (
Art. 72 Abs. 1 SchKG
) auf einer Delegation der Kompetenz des Betreibungsamtes, weshalb die postalische Zustellung - durch ein Hilfsorgan - ohne weiteres der Beschwerde nach
Art. 17 SchKG
unterliegt (
BGE 40 III 429
S. 430;
BGE 119 III 8
E. 2b S. 10). Nichts anderes gilt, wenn das Betreibungs- oder Konkursamt die Polizei als Hilfsorgan in Anspruch nimmt: Die Anordnung der bzw. Überprüfung der Rechtmässigkeit der Massnahme (z.B. die polizeiliche Vorführung des Schuldners) liegt seit jeher im Zuständigkeitsbereich der Zwangsvollstreckungsorgane bzw. der Aufsichtsbehörden (BGE 22 S. 994 E. 2 S. 997;
BGE 87 III 87
E. 4 S. 96; Urteil 7B.72/2004 vom 29. April 2003 E. 2.2). Hinsichtlich der Art und Weise der Ausführung handelt die Polizei aber selbständig und auf eigene Verantwortung gemäss den die polizeiliche Tätigkeit beherrschenden Grundsätzen (
BGE 87 III 87
E. 4 S. 96 und 97). Hilfsorgan ist auch der Dritte, dem das Betreibungsamt die Verwaltung und Bewirtschaftung einer gepfändeten Liegenschaft überträgt (Art. 16 Abs. 2 der Verordnung des Bundesgerichts vom 23. April 1920 über die Zwangsverwertung von Grundstücken [VZG;
BGE 142 III 425 S. 428
SR 281.42]). Der betreffende Auftrag ist inhaltlich präzise durch das Zwangsvollstreckungsrecht mittels Verwaltungshandlungen (Art. 17 f. VZG) - welche als Verfügungen anfechtbar sind - geregelt; die Entschädigung wird im Streitfall nicht vom Richter, sondern von der kantonalen Aufsichtsbehörde festgesetzt (
Art. 20 Abs. 2 VZG
), weshalb dem Dritten als Hilfsperson sogar die Beschwerdelegitimation gegen den Widerruf des Auftrags zugestanden wird (
BGE 129 III 400
E. 1.2 S. 401, E. 1.3 S. 403).
3.5
Vorliegend gibt nicht der Entscheid der Nachlassliquidatoren zur Hinterlegung von Vermögenswerten bei der Depositenanstalt Anlass zur Beschwerde, sondern die Mitteilung der Depositenanstalt über die Zinskonditionen für die auf dem Kontokorrent deponierten Gelder (Verwertungserlös). Mit Bezug auf die Hinterlegung von Vermögenswerten durch die Zwangsvollstreckungsorgane bei der kantonalen Depositenanstalt hat das Bundesgericht - soweit ersichtlich - zur Anfechtbarkeit des Zinssatzes durch betreibungsrechtliche Beschwerde noch nicht Stellung genommen, weshalb die Frage zu prüfen ist.
3.5.1
Die Pflicht zur Übergabe von Vermögenswerten an die Depositenanstalt gemäss
Art. 9 SchKG
hat zum Zweck, einerseits die Zwangsvollstreckungsorgane vor Versuchungen zu behüten, die durch längeren Besitz von fremden Geldern entstehen könnten (Botschaft vom 7. Dezember 1888 betreffend den [...] definitiven Entwurf des Bundesgesetzes über Schuldbetreibung und Konkurs, BBl 1888 IV 1137, 1144 zu Art. 9;
BGE 53 III 10
S. 11), sowie den Schutz der Vermögenswerte vor Diebstahl und Brandschaden zu gewährleisten (Richtlinien der Schuldbetreibungs- und Konkurskammer für das konkursamtliche Rechnungswesen vom 30. August 1972 Ziff. 2,
BGE 98 III 1
ff.; GILLIÉRON, Commentaire de la loi fédérale sur la poursuite pour dettes et la faillite, Bd. I, 1999, N. 7 zu
Art. 9 SchKG
). Andererseits sollen Geldbeträge z.B. der Konkursmasse ohne langes Zuwarten an die Depositenanstalt hinterlegt werden, damit das Geld gegebenenfalls verzinst werden kann (
BGE 55 III 92
E. 3 S. 94/95).
3.5.2
Art. 9 SchKG
sieht keine Zinspflicht vor (PETER, in: Basler Kommentar, Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs, Bd. I, 2. Aufl. 2010, N. 9 zu
Art. 9 SchKG
); es sind diejenigen Zinsen, welche tatsächlich erzielt werden, zur hinterlegten Summe hinzuzuschlagen (PETER, a.a.O.; bereits BLUMENSTEIN, a.a.O., S. 48; vgl.
BGE 127 III 182
E. 2b S. 185;
BGE 118 III 1
E. 2b S. 3, sowie Richtlinien der Schuldbetreibungs- und Konkurskammer, a.a.O., Ziff. 2).
BGE 142 III 425 S. 429
Die Festlegung des Zinses liegt in der Hand der Kantone, weil ihnen obliegt, als Depositenanstalt das Institut bzw. mehrere Institute zu bezeichnen (
Art. 24 SchKG
), welche für die Hinterlegung eine angemessene Vergütung anbieten (GILLIÉRON, a.a.O., N. 15 zu
Art. 9 SchKG
). Sieht das Gesetz aber keine Regelung über den Depotzins vor und ist die angemessene Vergütung für die Hinterlegung durch die kantonalrechtliche Bezeichnung der Depositenanstalt geregelt, besteht aus zwangsvollstreckungsrechtlicher Hinsicht keine Grundlage, dass die Aufsichtsbehörde über die Höhe des Zinses entscheidet. Nicht ausschlaggebend ist daher, ob auf dem Kontokorrent-Guthaben bei der Depositenanstalt Zinsen als Vergütung (
BGE 115 II 349
E. 3 S. 355) geleistet werden, oder negative Zinsen als entsprechende Kosten anfallen. Die Beschwerdeführerin behauptet selber zu Recht nicht, dass für die Festlegung des Zinssatzes eine besondere Bestimmung (wie
Art. 20 Abs. 2 VZG
: Zuständigkeit zum Entscheid über die Entschädigung des Hilfsorganes bei Liegenschaftenverwaltung) bestehe, oder die Hinterlegungskonditionen durch das Zwangsvollstreckungsrecht im Einzelnen geregelt seien.
3.5.3
Wenn die Beschwerdeführerin sich gegen die Unangemessenheit des tatsächlich erzielten bzw. erzielbaren Zinses auf dem Kontokorrent bei der kantonalen Depositenanstalt wendet, läuft dies auf die Kritik am kantonalen Recht hinaus, welches die Zuger Kantonalbank als eine der Depositenanstalten bezeichnet hat. Eine Verfügung gemäss
Art. 17 SchKG
kann indes nur vorliegen, wenn die Kompetenz zu einer (allfälligen) behördlichen Handlung durch das SchKG oder einen Neben- oder Vollzugserlass eingeräumt wird (bereits
BGE 31 I 764
E. 3 S. 770 und JAEGER, Das Bundesgesetz betreffend Schuldbetreibung und Konkurs, 3. Aufl. 1911, Bd. I, N. 3 a.E. zu
Art. 17 SchKG
; u.a. COMETTA/MÖCKLI, in: Basler Kommentar, Schuldbetreibung und Konkurs, Bd. I, 2. Aufl. 2010, N. 18 zu
Art. 17 SchKG
; STOFFEL/CHABLOZ, Voies d'exécution, 3. Aufl. 2016, Rz. 66). Diese Voraussetzung ist für das Schreiben der Beschwerdegegnerin betreffend Zinskonditionen nicht erfüllt, weshalb keine Verfügung im Sinne von
Art. 17 SchKG
vorliegt.
3.6
Was die Beschwerdeführerin im Übrigen vorbringt, vermag am Ergebnis nichts zu ändern.
3.6.1
Die Beschwerdeführerin kritisiert die Auffassung der Vorinstanz, wonach es sich bei der Hinterlegung von Vermögenswerten bei der Beschwerdegegnerin um ein privatrechtliches Verhältnis handle.
BGE 142 III 425 S. 430
Wohl hält sie zu Recht fest, dass die Funktion einer Bank als gesetzliche Depositenanstalt öffentliche Zweckverfolgung darstellt (Urteil 2A.254/2000 vom 2. April 2001 E. 3a, in: ASA 70 S. 299). Daraus lässt sich nicht schliessen, dass die Gewährung bzw. Erhebung des Zinses zwingend zwangsvollstreckungsrechtlicher Natur ist. Selbst die Annahme, dass die Beschwerdegegnerin durch die Festlegung des Zinses vom öffentlichen (kantonalen) Recht eingeräumte Hoheitsbefugnisse wahrgenommen hat, würde - wie betreffend die Art und Weise der polizeilichen Hilfestellung (E. 3.4) - nichts daran ändern, dass keine Verfügung vorliegt, welche auf Zwangsvollstreckungsrecht beruht (u.a. BLUMENSTEIN, a.a.O., S. 75).
3.6.2
Die Beschwerdeführerin leitet aus
Art. 24 SchKG
bzw. dem Umstand, dass die Kantone für die bei den Depositenanstalten verwahrten Vermögenswerte haften, ein "öffentlichrechtliches Verhältnis" zwischen der Depositenanstalt und dem hinterlegenden Zwangsvollstreckungsorgan ab. Es ist nicht ersichtlich, inwiefern aus der Haftungsnorm - eine Art "bundesrechtliche Staatsgarantie der Kantone" (GASSER, in: Basler Kommentar, Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs, Bd. I, 2. Aufl. 2010, N. 26 zu
Art. 5 SchKG
) - mit Bezug auf die Festlegung des Kontokorrentzinses auf das Vorliegen einer Verfügung im Sinne von
Art. 17 SchKG
zu schliessen ist.
3.6.3
Entgegen der Darstellung der Beschwerdeführerin lässt sich die Regelung des Kontokorrentzinses bei der Depositenanstalt nicht auf die Gebührenverordnung vom 23. September 1996 zum Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs [GebV SchKG; SR 281.35] stützen. Darin wird einzig bestimmt, dass die Einzahlungen des Amtes bzw. Zwangsvollstreckungsorganes auf ein Depot sowie Abhebungen gebührenfrei sind (
Art. 19 Abs. 2 GebV SchKG
; BOESCH, in: Kommentar SchKG Gebührenverordnung, 2008, N. 4 zu
Art. 19 GebV SchKG
). Es gibt sodann keinen Grund, für die Regelung des Zinses der Depositenanstalt
Art. 26 Abs. 1 GebV SchKG
in analoger Weise anzuwenden. Nach dieser Bestimmung wird für die Verwahrung beweglicher Sachen wie gepfändeten oder verarrestierten Wertschriften monatlich 0,3 Promille vom Kurs- bzw. Schätzungswert, höchstens Fr. 500.- erhoben. Die Gebühr - d.h. das Entgelt für die besondere Inanspruchnahme amtlicher Tätigkeit (
BGE 136 III 155
E. 3.3 S. 157) - liegt u.a. darin begründet, dass die Überwachung des Depots (auch bei der Depositenanstalt) einen gewissen Aufwand verursacht, weil es kontrolliert und u.a. die allfälligen
BGE 142 III 425 S. 431
Zinsen geltend gemacht werden können (BOESCH, a.a.O., N. 2 und 4 zu
Art. 26 GebV SchKG
). Dass die Zinsen durch Gebühr gemäss GebV SchKG geregelt oder als solche zu verstehen sind, lässt sich daraus nicht ableiten. Schliesslich kann weder von einer nicht tarifierten Verrichtung im Sinne von
Art. 1 Abs. 2 GebV SchKG
, noch von einer Lücke gesprochen werden, denn andere als die in der GebV SchKG vorgesehenen Gebühren und Entschädigungen dürfen nicht erhoben werden (
BGE 136 III 155
E. 3.3 S. 157)
3.7
Nach dem Dargelegten ist nicht zu beanstanden, wenn die Aufsichtsbehörde mangels eines Anfechtungsobjekts auf die Beschwerde gemäss
Art. 17 SchKG
nicht eingetreten ist. (...) | de |
91763889-12b0-4920-8a47-9fc1208e4daf | Sachverhalt
ab Seite 65
BGE 115 III 65 S. 65
Am 30. Juni 1983 mietete G. von der A. AG, die er beherrschte, ein Garagengebäude. Es wurde ein monatlicher Mietzins von Fr. 3'000.-- inkl. Nebenkosten vereinbart. Weiter bestimmten die Parteien:
"Dem Mieter wird das Recht zugestanden, den Mietzins mit seiner Konto-Korrent-Forderung gegenüber der A. AG zu verrechnen, soweit und solange dieser gegenüber der A. AG Guthaben hat."
Am 22. März 1984 wurde über die Aktiengesellschaft letztinstanzlich der Konkurs eröffnet. G., der ab Juni 1984 keine Mietzinsen
BGE 115 III 65 S. 66
mehr bezahlt hatte, wurde auf Begehren der Konkursverwaltung gemäss
Art. 265 OR
im Verfahren nach
Art. 282 SchKG
aus dem Mietobjekt ausgewiesen.
Der Rechtsöffnungsrichter erteilte der Konkursmasse am 29. Oktober 1985 provisorische Rechtsöffnung für Fr. 33'000.-- nebst Zins. Diese Summe entspricht den vertraglichen Mietzinsen der Monate August 1984 bis Juni 1985. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
In der Sache selbst macht der Kläger geltend, das Obergericht habe bundesrechtswidrig einen Untergang der im Rechtsöffnungsverfahren geschützten Mietzinsforderung verneint. Bereits bei Abschluss des Mietvertrages habe er gestützt auf die ausdrücklich vereinbarte Befugnis die Verrechnung sämtlicher Mietzinsschulden während der festen Vertragsdauer von drei Jahren mit seiner Kontokorrentforderung erklärt.
Das Obergericht hat diesen Standpunkt mit den voneinander unabhängigen Begründungen verworfen, einerseits sei eine entsprechende Verrechnungserklärung unbewiesen geblieben, anderseits wäre sie gegenüber den nach Konkurseröffnung auflaufenden Mietzinsen ohnehin rechtsunwirksam gewesen. Die erste Begründung hat das Kassationsgericht wegen formeller Rechtsverweigerung (Verletzung des Gehörsanspruchs durch Beweisverstellung) gestrichen; die zweite war im kantonalen Nichtigkeitsverfahren nicht zu prüfen (
§ 285 ZPO
/ZH). Insoweit steht die Berufung an das Bundesgericht offen.
a) Der Konkurs des Vermieters nach Besitzantritt des Mieters berührt das Mietverhältnis als solches vorerst nicht. Einerseits hat die Konkursverwaltung dem Mieter das Objekt zum Gebrauch zu überlassen, anderseits steht diesem kein voraussetzungsloses, d. h. über
Art. 269 OR
hinausgehendes Recht zur vorzeitigen Kündigung des Vertrages zu. Eine vorzeitige Beendigung des Vertrages wird erst bewirkt, wenn dem Mieter die Mietsache nach deren Veräusserung gemäss
Art. 259 OR
entzogen wird.
Die Fortführung des Mietverhältnisses bedarf im Falle der Konkurseröffnung nach Besitzantritt keiner Erklärung der Konkursverwaltung im Sinne von
Art. 211 SchKG
. Diese hat nach heute wohl herrschender Auffassung weder ein Recht noch eine Pflicht, den "Eintritt" in den Vertrag zu erklären (SCHMID, N. 41 zu
Art. 259 OR
). Allfällige Rechtswirkungen eines solchen
BGE 115 III 65 S. 67
"Eintritts" in die Schadenersatzforderung des Mieters nach
Art. 259 Abs. 1 OR
(Konkurs- oder Massaschuld) stehen hier nicht zur Beurteilung.
b) Sieht der Vertrag - wie im vorliegenden Fall - die periodische Leistung eines Mietzinses vor, so stellt sich der Anspruch des Vermieters auf dieses Entgelt nicht als eine im Moment des Vertragsschlusses für die ganze vereinbarte Mietdauer begründete Forderung dar, die bloss hinsichtlich ihrer Fälligkeit in einzelne Raten zerfallen würde, sondern die Mietzinsforderung entsteht mit dem Ablauf oder dem Beginn einer jeden Zahlungsperiode von neuem (
BGE 41 III 230
E. 2). Die Umwandlung des schuldnerischen Vermögens zur Konkursmasse mit Eröffnung des Konkurses aber hat in diesem Zeitpunkt einen Wechsel in der Rechtszuständigkeit zur Folge. Der Schuldner des Konkursiten bleibt nicht mehr diesem, sondern der Konkursmasse gegenüber verpflichtet. Wie demnach bei Eintritt der Masse in den Vertrag des konkursiten Mieters die nach Eröffnung fälligen Mietzinse zu Massaforderungen werden (
BGE 104 III 91
), so wird ab jenem Zeitpunkt im Konkurs des Vermieters die Schuld des Mieters für den laufenden Zins zu einer Massaschuld (
BGE 41 III 231
). Folge davon ist der Ausschluss der Verrechnung nach
Art. 213 Abs. 2 Ziff. 2 SchKG
.
Der Wechsel in der Rechtszuständigkeit hat weiter zur Folge, dass Vorausverfügungen des Vermieters, d. h. des Gemeinschuldners, mit welchen dieser über künftige Mietzinsforderungen verfügt, lediglich bis und mit dem im Zeitpunkt der Konkurseröffnung laufenden Mietzins rechtswirksam sein können: weitergehend fehlt die Verfügungsmacht (
BGE 41 III 231
/2).
c) Die Verrechnung einer künftigen Mietzinsforderung aber stellt in ihrer Wirkung nichts anderes dar als eine solche Vorausverfügung. Soweit eine Einziehung oder Abtretung künftiger Mietzinse daher gegenüber der Konkursmasse nicht rechtsverbindlich ist, sowenig kann es eine Verrechnungserklärung des Mieters nach Massgabe eines Verrechnungsvertrages der Parteien sein. Mit
Art. 213 SchKG
lässt sich nicht vereinbaren, dass ein Schuldner durch vertragliche Vereinbarung mit dem Gläubiger sich zum voraus die Möglichkeit der Kompensation seiner Gegenforderung und damit deren Deckung im späteren Konkurs des Gläubigers verschafft und dadurch die Wirkung der Konkurseröffnung bezüglich seiner Person illusorisch macht. Der Mieter kann sich daher im Konkurs des Vermieters seiner Schuldpflicht der Masse gegenüber nicht durch vorgängigen Verrechnungsvertrag mit dem späteren
BGE 115 III 65 S. 68
Gemeinschuldner entziehen. Der angefochtene Entscheid des Obergerichts erweist sich damit als bundesrechtskonform. | de |
6e471a6d-bc59-4b0a-8c3c-baeef411611d | 721.101.1 1 / 14 Stauanlagenverordnung (StAV) vom 23. November 2022 (Stand am 1. Januar 2023) Der Schweizerische Bundesrat, gestützt auf die Artikel 4, 5 Absatz 3, 12 Absatz 2, 22 Absatz 3, 31 Absatz 3 und 33 des Stauanlagengesetzes vom 1. Oktober 20101 (StAG) und Artikel 72 Absatz 1 des Wasserrechtgesetzes vom 22. Dezember 19162 (WRG), verordnet: 1. Kapitel: Allgemeine Bestimmungen Art. 1 Begriffe (Art. 3 StAG) 1 Eine Stauanlage besteht aus: a. dem Absperrbauwerk; b. dem zugehörigen Stauraum; c. den sicherheitsrelevanten Nebenanlagen. 2 Als Absperrbauwerke gelten: a. Beton- oder Natursteinmauern; b. Schüttdämme; c. Wehre einer Flussstauhaltung mit den zugehörigen Seitendämmen. 3 Als Stauraum gelten künstlich angelegte Speicher, die durch Absperrbauwerke ge- bildet werden. 4 Das Stauraumvolumen ist dasjenige Volumen einer Stauanlage, das im Falle eines totalen Bruchs der zugehörigen Absperrbauwerke bei vollem Stauraum entweichen kann. 5 Die Stauhöhe einer Stauanlage ist die bei vollem Stauraum durch das höchste Ab- sperrbauwerk gestaute Höhe. 6 Als sicherheitsrelevante Nebenanlagen gelten die für den sicheren Betrieb einer Stauanlage notwendigen Bauten und Einrichtungen beim Stauraum und beim Ab- sperrbauwerk, insbesondere die Entlastungs- und Ablassvorrichtungen. 7 Als Betreiberin einer Stauanlage gilt die Inhaberin der Inbetriebnahmebewilligung. AS 2022 821 1 SR 721.101 2 SR 721.80 721.101.1 Wasserbau und Wasserwirtschaft 2 / 14 721.101.1 Art. 2 Stauanlagen mit besonderem Gefährdungspotenzial (Art. 2 Abs. 2 Bst. a StAG) 1 Ein besonderes Gefährdungspotenzial besteht, wenn im Falle eines Bruches des Ab- sperrbauwerks Menschenleben gefährdet oder grössere Sachschäden verursacht wer- den können. 2 Die betroffenen Kantone melden der Aufsichtsbehörde des Bundes (Bundesamt für Energie, BFE) Stauanlagen, die aufgrund ihrer Grösse nicht dem StAG unterstehen, aber voraussichtlich ein besonderes Gefährdungspotenzial aufweisen. 3 Die Betreiberinnen dieser Stauanlagen müssen dem BFE sämtliche zur Prüfung not- wendigen Unterlagen zur Verfügung stellen. 4 Das BFE holt vor seinem Entscheid die Stellungnahme der weiteren betroffenen Kantone ein. Art. 3 Stauanlagen ohne besonderes Gefährdungspotenzial (Art. 2 Abs. 2 Bst. b StAG) 1 Die Betreiberin muss dem Antrag, ihre Stauanlage vom Geltungsbereich des StAG auszunehmen, sämtliche zur Prüfung des Gefährdungspotenzials notwendigen Unter- lagen beilegen. 2 Das BFE holt vor seinem Entscheid die Stellungnahme der betroffenen Kantone ein. Art. 4 Stauanlagen an Grenzgewässern (Art. 4 StAG) 1 Das BFE übt die direkte Aufsicht über Stauanlagen an Grenzgewässern aus. 2 Es legt die sicherheitstechnischen Anforderungen an den Bau und den Betrieb von Stauanlagen an Grenzgewässern im Einzelfall fest, insbesondere um den Gefahren zu begegnen, die entstehen aus: a. dem Bruch eines Absperrbauwerks; b. Schwall und Sunk im Stauraum oder im Unterlauf; c. Schäden an den Triebwasserwegen. 3 Es nimmt seine Aufgaben in Zusammenarbeit mit den zuständigen ausländischen Aufsichtsbehörden wahr. Soweit möglich hält es sich an die schweizerische Stauan- lagengesetzgebung; es sorgt in jedem Fall für ein gleichwertiges Sicherheitsniveau. Stauanlagenverordnung 3 / 14 721.101.1 2. Kapitel: Anforderungen an die technische Sicherheit von Stauanlagen Art. 5 Konstruktive Sicherheit (Art. 5 Abs. 1) 1 Wer eine Stauanlage bauen, ändern oder betreiben will, muss die Sicherheit des Ab- sperrbauwerks, der sicherheitsrelevanten Nebenanlagen und des Stauraumes unter normalen, ausserordentlichen und extremen Lastfällen gewährleisten. 2 Normale Lastfälle sind Kombinationen von Einwirkungen, welche die Stauanlage ständig oder regelmässig, insbesondere bei vollem und leerem See, beanspruchen. Unter diesen Lastfällen sind keine Schäden an der Stauanlage zulässig. 3 Ausserordentliche Lastfälle sind temporäre Kombinationen von Einwirkungen, wie sie insbesondere in einer ausserordentlichen Hochwassersituation, durch Lawinen oder Murgänge, durch Eisdruck oder durch Porenwasserdruckzustände aufgrund des Bauvorgangs oder rascher Absenkung entstehen können. Unter diesen Lastfällen sind leichte Schäden an der Stauanlage zulässig. 4 Extreme Lastfälle sind insbesondere eine extreme Hochwassersituation und Erdbe- ben. Unter diesen Lastfällen sind Schäden an der Stauanlage zulässig; diese dürfen jedoch keinen unkontrollierten, schadenverursachenden Wasserabfluss aus dem Stau- raum verursachen. 5 Das BFE erarbeitet Richtlinien und weitere technische Grundlagen zu den normalen, ausserordentlichen und extremen Lastfällen. Es berücksichtigt dabei insbesondere die Besonderheiten der Stauanlagen zum Schutz vor Naturgefahren. Art. 6 Überwachung (Art. 8 Abs. 2 StAG) Die Betreiberin muss während des Baus, der Inbetriebnahme und des Betriebs einer Stauanlage mittels Kontrollen und Messungen die frühzeitige Erkennung von Zu- stands- oder Verhaltensmerkmalen, die auf eine Beeinträchtigung der Sicherheit der Stauanlage hinweisen können, gewährleisten. Art. 7 Notfallkonzept (Art. 10 StAG) Die Betreiberin muss während des Baus, der Inbetriebnahme und des Betriebs einer Stauanlage Vorkehrungen treffen für den Fall, dass die Sicherheit der Stauanlage nicht mehr gewährleistet werden kann. Wasserbau und Wasserwirtschaft 4 / 14 721.101.1 3. Kapitel: Bau und Betrieb 1. Abschnitt: Plangenehmigung und Bau Art. 8 Plangenehmigung (Art. 5 Abs. 3 und Art. 6 Abs. 5 StAG) 1 Die Aufsichtsbehörde prüft die ihr vorgelegten Unterlagen hinsichtlich der Erfüllung der Anforderungen an die technische Sicherheit der Stauanlage. Bei Rückhaltebecken und Bauwerken zur Sohlenstabilisierung kann auf den Einbau von Grundablässen und Tiefschützen verzichtet werden. 2 In der Plangenehmigung wird festgelegt, welche Unterlagen die Inhaberin der Plan- genehmigung der Aufsichtsbehörde vor und während der Bauausführung sowie nach Abschluss der Bauarbeiten zustellen muss. 3 Während der Bauausführung können insbesondere die folgenden Unterlagen einver- langt werden: a. die Ergebnisse der geologischen Aufnahmen und der geotechnischen Unter- suchungen; b. die Ergebnisse der Injektionen oder sonstiger geotechnischer Massnahmen, die zur Verfestigung und Abdichtung des Untergrundes vorgenommen wor- den sind; c. die Ergebnisse der Materialprüfungen; d. die Ergebnisse der Überwachung; e. die Bauberichte; f. die Berichte zu besonderen Ereignissen. 4 Nach Abschluss der Bauarbeiten können insbesondere die folgenden Unterlagen ein- verlangt werden: a. eine Zusammenfassung und Bewertung der geologischen Aufnahmen und der geotechnischen Untersuchungen; b. eine Zusammenfassung und Bewertung der Injektionen oder sonstiger geo- technischer Massnahmen, die zur Verfestigung und Abdichtung des Unter- grundes vorgenommen worden sind; c. eine Zusammenstellung der beim Bau verwendeten Materialien und der Ma- terialprüfungen; d. die Änderungen gegenüber dem Bauprojekt; e. die Pläne des ausgeführten Bauwerks; f. die Typen und Standorte der Überwachungsinstrumente. Art. 9 Bauausführung (Art. 6 Abs. 8 und Art. 25 Bst. a StAG) 1 Die Aufsichtsbehörde begleitet die Bauausführung. Sie kontrolliert insbesondere, ob diese den genehmigten Plänen entspricht. Stauanlagenverordnung 5 / 14 721.101.1 2 Die Inhaberin der Plangenehmigung muss der Aufsichtsbehörde während der Bau- ausführung die in der Plangenehmigung festgelegten Unterlagen zustellen (Art. 8 Abs. 2 und 3). Art. 10 Projektänderungen Projektänderungen müssen der Aufsichtsbehörde gemeldet und von dieser im Sinne von Artikel 6 StAG genehmigt werden. Art. 11 Abschluss der Bauarbeiten (Art. 6 Abs. 8 und Art. 25 Bst. a StAG) 1 Nach Abschluss der Bauarbeiten muss die Inhaberin der Plangenehmigung der Auf- sichtsbehörde einen Bauabschlussbericht zustellen. 2 Der Bauabschlussbericht muss die in der Plangenehmigung festgelegten Unterlagen enthalten (Art. 8 Abs. 2 und 4). 3 Die Aufsichtsbehörde prüft, ob die Bauarbeiten nach den genehmigten Plänen und den angeordneten Auflagen ausgeführt worden sind. Sie hält das Resultat ihrer Prü- fung in einem Abnahmeprotokoll fest. Art. 12 Rückbau (Art. 6 Abs. 1 StAG) Der Rückbau von Stauanlagen ist einer Änderung gleichgesetzt. 2. Abschnitt: Inbetriebnahme Art. 13 Reglemente (Art. 7, 8, 10 und 25 Bst. a StAG) 1 Die Betreiberin muss vor der Inbetriebnahme die folgenden Reglemente erstellen und der Aufsichtsbehörde zur Genehmigung unterbreiten: a. ein Reglement zur Bedienung der Entlastungs- und Ablassvorrichtungen mit beweglichen Verschlüssen, die für die Bewältigung eines Hochwassers nötig sind (Wehrreglement); b. ein Reglement zur Alarmierung der Behörden und der Bevölkerung im Notfall und zu dessen Bewältigung (Notfallreglement). 2 Sie muss nach Abschluss der Inbetriebnahme ein Reglement für die Überwachung der Stauanlage im normalen Betrieb und bei ausserordentlichen Ereignissen erstellen und der Aufsichtsbehörde zur Genehmigung unterbreiten (Überwachungsreglement). 3 Sie muss die Reglemente laufend überprüfen und allfällige Nachführungen der Auf- sichtsbehörde zur Genehmigung unterbreiten. Nachführungen von nicht sicherheits- relevanten Einzelheiten wie den Adressen der Kontaktpersonen oder Änderungen be- treffend die Bedienung der Entlastungs- und Ablassvorrichtungen mit beweglichen Wasserbau und Wasserwirtschaft 6 / 14 721.101.1 Verschlüssen im normalen Betrieb müssen der Aufsichtsbehörde gemeldet werden, bedürfen aber keiner Genehmigung. Art. 14 Inbetriebnahme (Art. 7 StAG) 1 Bei Anlagen, bei denen der Ersteinstau kontrolliert erfolgen kann, muss die Betrei- berin das Verhalten und den Zustand der Stauanlage insbesondere mit Hilfe von Mes- sungen und visuellen Kontrollen überwachen. Sie teilt der Aufsichtsbehörde das Re- sultat ihrer Beobachtungen mit. 2 Die Aufsichtsbehörde begleitet den Ablauf der Inbetriebnahme und kontrolliert, ob diese gemäss Bewilligung durchgeführt wird. 3 Eine Stauerhöhung nach einem Umbau und der Wiedereinstau nach einer sicher- heitsrelevanten Instandsetzung sind dem Ersteinstau gleichgesetzt. Art. 15 Abschluss der Inbetriebnahme (Art. 7, 8 und 25 Bst. a StAG) 1 Nach Abschluss des Ersteinstaus oder des Wiedereinstaus muss die Betreiberin der Aufsichtsbehörde einen Inbetriebnahmebericht zustellen. 2 Der Bericht muss insbesondere enthalten: a. eine Übersicht über den Ablauf des Ersteinstaus oder des Wiedereinstaus; b. eine Analyse des Verhaltens der Stauanlage während der Inbetriebnahme oder der Wiederinbetriebnahme; c. die Ergebnisse der Funktionskontrollen der Entlastungs- und Ablassvorrich- tungen. 3 Eine Stauanlage darf nur betrieben werden, wenn das Resultat des Ersteinstaus oder des Wiedereinstaus auf einen sicheren Betrieb schliessen lässt. Art. 16 Aktensammlung über die Stauanlage (Art. 25 Bst. a StAG) 1 Die Betreiberin muss ab Inbetriebnahme eine Aktensammlung über die Stauanlage führen und diese laufend aktualisieren. Sie gewährt der Aufsichtsbehörde jederzeit Einsicht in die Aktensammlung. 2 Die Aktensammlung enthält insbesondere: a. die wichtigsten Pläne des ausgeführten Bauwerks und Angaben über die Bau- ausführung; b. die Vereinbarung zwischen der Bauherrschaft und den Projektplanerinnen und Projektplanern über die geplante Nutzung (Nutzungsvereinbarung); c. die Darstellung der technischen Umsetzung der Nutzungsvereinbarung (Pro- jektbasis); d. die Nachweise der konstruktiven Sicherheit (Hochwassersicherheit, statische Sicherheit, Erdbebensicherheit); Stauanlagenverordnung 7 / 14 721.101.1 e. die geologischen Gutachten; f. den Inbetriebnahmebericht; g. die Jahresberichte und die Berichte über die geodätischen Deformationsmes- sungen; h. die Fünfjahresberichte; i. die Berichte über Störfälle und Betriebsanomalien; j. das Überwachungs-, das Wehr- und das Notfallreglement. 3. Abschnitt: Betrieb und Überwachung Art. 17 Laufende Kontrolle (Art. 8 Abs. 2 StAG) 1 Die Betreiberin muss Messungen, visuelle Kontrollen und Prüfungen der Betriebs- tüchtigkeit der Ablass- und Entlastungsvorrichtungen gemäss dem Überwachungsreg- lement (Art. 13 Abs. 2) durchführen. 2 Sie muss in der Periode, in der eine grosse Anlage eingestaut ist, fernübertragene Messdaten mindestens einmal monatlich mit Handmessungen vor Ort nachprüfen. 3 Bei den übrigen Anlagen muss sie die fernübertragenen Messdaten mindestens ein- mal jährlich mit Handmessungen vor Ort nachprüfen. Art. 18 Jahreskontrolle (Art. 8 Abs. 2 und Art. 25 Bst. a StAG) 1 Die Betreiberin muss dafür sorgen, dass eine erfahrene Fachperson die Messresultate fortlaufend beurteilt, einmal pro Jahr eine visuelle Kontrolle der Stauanlage durch- führt und die Ergebnisse in einem jährlichen Mess- und Kontrollbericht festhält (Jah- resbericht). 2 Sie muss der Aufsichtsbehörde den Jahresbericht einschliesslich der Resultate der Prüfungen der beweglichen Verschlüsse, der visuellen Kontrollen und der Messungen spätestens sechs Monate nach Abschluss der Berichtsperiode zustellen. 3 Die Aufsichtsbehörde kann Ausnahmen vom Jahresrhythmus und der Frist zur Ein- reichung des Jahresberichts gewähren, sofern der gleiche Grad an Sicherheit gewähr- leistet ist. Art. 19 Fünfjahreskontrolle (Art. 8 Abs. 2 und Art. 25 Bst. a StAG) 1 Die Betreiberin muss dafür sorgen, dass ausgewiesene Expertinnen oder Experten für Bau und Geologie alle fünf Jahre eine umfassende Sicherheitsüberprüfung durch- führen, wenn die betreffende Stauanlage: a. eine Stauhöhe von mindestens 40 m aufweist; oder Wasserbau und Wasserwirtschaft 8 / 14 721.101.1 b. eine Stauhöhe von mindestens 10 m und einen Stauraum von mehr als 1 Mil- lion m3 aufweist. 2 Sie muss der Aufsichtsbehörde die Berichte der Sicherheitsüberprüfungen spätes- tens neun Monate nach Abschluss der Berichtsperiode zustellen (Fünfjahresberichte). 3 Die Aufsichtsbehörde kann auf eine regelmässige umfassende Sicherheitsüberprü- fung verzichten und Ausnahmen von der Frist zur Einreichung der Fünfjahresberichte gewähren, sofern der gleiche Grad an Sicherheit gewährleistet ist. 4 Sie kann ausserordentliche Überprüfungen und die Fünfjahreskontrolle von Stauan- lagen mit geringeren Ausmassen anordnen. Art. 20 Fachperson sowie Expertinnen und Experten (Art. 8 Abs. 2 und Art. 25 Bst. a StAG) 1 Die Betreiberin muss der Aufsichtsbehörde die Wahl ihrer Fachperson (Art. 18) melden. Die Aufsichtsbehörde kann die Fachperson ablehnen, falls begründete Zwei- fel an deren Eignung bestehen. 2 Die Betreiberin muss der Aufsichtsbehörde die Wahl ihrer Expertinnen und Exper- ten (Art. 19) zur Genehmigung unterbreiten. 3 Die Expertinnen und Experten müssen von der Fachperson, der Betreiberin und der Eigentümerin der Anlage unabhängig sein. Art. 21 Prüfung der Entlastungs- und Ablassvorrichtungen (Art. 8 Abs. 2 StAG) 1 Die Betreiberin muss jedes Jahr die Betriebstüchtigkeit der Entlastungs- und Ablass- vorrichtungen mit beweglichen Verschlüssen prüfen. Der Ablauf und die Resultate der Prüfung sind in einem Protokoll festzuhalten. 2 Die Prüfung muss bei hohem Stauspiegel und mit Wasserablass erfolgen (Nass- probe). 3 Die Entlastungsvorrichtungen können auch trocken oder auf andere Weise geprüft werden, wenn der normale Stauspiegel unter dem für eine Öffnung notwendigen Was- serspiegel liegt. 4 Die Ablassvorrichtungen von Rückhaltebecken und von Bauwerken zur Sohlensta- bilisierung können trocken geprüft werden. Art. 22 Meldepflichten (Art. 8, 25 Bst. a und 26 StAG) 1 Die Betreiberin muss der Aufsichtsbehörde Ereignisse im Zusammenhang mit der Stauanlagensicherheit melden; gemeldet werden müssen insbesondere: a. unverzüglich: sicherheitsrelevante Ereignisse von grosser Bedeutung mit massiven Schäden an der Stauanlage oder an Gütern Dritter oder schweren oder tödlichen Verletzungen von Drittpersonen; Stauanlagenverordnung 9 / 14 721.101.1 b. innert 24 Stunden: sicherheitsrelevante Ereignisse von mittelgrosser Bedeu- tung mit erheblichen Schäden an der Stauanlage oder an Gütern Dritter oder leichten Verletzungen von Drittpersonen; c. innert 5 Tagen: sicherheitsrelevante Ereignisse von geringer Bedeutung mit geringen Schäden an der Stauanlage oder an Gütern Dritter und ohne Verlet- zung von Drittpersonen. 2 Die Betreiberin muss der Aufsichtsbehörde rechtzeitig die Termine melden für: a. die Prüfung der Entlastungs- und Ablassvorrichtungen; b. die Begehung der Stauanlage im Rahmen der Jahres- und der Fünfjahreskon- trollen; c. die Entleerung der Anlage. Art. 23 Revision (Art. 8 Abs. 3 Bst. a StAG) 1 Die Betreiberin muss der Aufsichtsbehörde Revisionsarbeiten rechtzeitig melden. 2 Sie muss während Arbeiten an Entlastungs- und Ablassvorrichtungen: a. eine ausreichende Hochwassersicherheit gewährleisten; und b. die Absenkung des Stausees bei drohender Gefahr innerhalb kurzer Frist wie- der ermöglichen. Art. 24 Beeinflussung der Sicherheit durch andere Bauten und Anlagen (Art. 9 StAG) 1 Die Behörde, die über die Errichtung oder die Änderung einer Baute oder einer An- lage entscheidet, die sich auf die Sicherheit einer bestehenden Stauanlage nachteilig auswirken könnte (Genehmigungsbehörde), stellt der Aufsichtsbehörde sämtliche zur Prüfung der technischen Sicherheit der Stauanlage notwendigen Unterlagen zu. 2 Die Aufsichtsbehörde prüft die ihr vorgelegten Unterlagen hinsichtlich der techni- schen Sicherheit der Stauanlage im Sinne des 2. Kapitels. Soweit die technische Si- cherheit der Stauanlage es erfordert, teilt sie der Genehmigungsbehörde Nebenbestim- mungen für den Bau mit. 3 Haben die Betreiberinnen der beeinflussten Stauanlagen nicht selber das Gesuch gestellt, so sorgt die Aufsichtsbehörde dafür, dass sie über die Nebenbestimmungen in-formiert werden. 4. Abschnitt: Notfallkonzept Art. 25 Vorkehrungen für den Notfall (Art. 10 StAG) 1 Das Notfallreglement gemäss Artikel 13 Absatz 1 Buchstabe b muss mindestens die folgenden Unterlagen enthalten: Wasserbau und Wasserwirtschaft 10 / 14 721.101.1 a. Karten mit denjenigen Gebieten, die durch ein Versagen des Absperrbauwerks oder der Nebenanlagen überflutet werden können (Überflutungsflächen) sowie Angaben zur Zeit bis zur Überflutung und zum Ausmass der Überflu- tung; b. ein Dossier für den Einsatz im Notfall (Einsatzdossier). 2 Die Aufsichtsbehörde übermittelt eine Kopie der Unterlagen an die betroffenen Kan- tone und an das Bundesamt für Bevölkerungsschutz (BABS). Art. 26 Wasseralarmsystem (Art. 11 StAG) 1 Das BFE bestimmt nach Anhörung der Betreiberin, der betroffenen Kantone und des BABS, welche Stauanlagen mit weniger als 2 Millionen m3 Stauraum mit einem Was- seralarmsystem ausgerüstet sein müssen. 2 Eine hohe Gefahr gemäss Artikel 11 Absatz 2 StAG besteht, wenn im Falle eines plötzlichen totalen Bruches des Absperrbauwerkes mindestens 1000 Personen, die sich regelmässig während längerer Zeit in der Nahzone aufhalten, gefährdet sind. 3 Die Konzeption und die technischen Systeme des Wasseralarmsystems bedürfen der Genehmigung durch das BABS. Art. 27 Evakuierungspläne für die Bevölkerung (Art. 12 Abs. 1 StAG) 1 Basierend auf den Unterlagen gemäss Artikel 25 erstellen die betroffenen Kantone die für die Evakuierung der Bevölkerung notwendigen Pläne (Evakuierungspläne). 2 Sie informieren die Bevölkerung über die Evakuierungspläne und gewähren ihr je- derzeit Einsicht in die Karten der Überflutungsflächen. 3 Sie übermitteln eine Kopie der Evakuierungspläne an das BFE und an das BABS. 4 Sie überprüfen die Evakuierungspläne laufend und übermitteln allfällige Nachfüh- rungen an das BFE und an das BABS. 5 Das BABS beaufsichtigt den Vollzug dieser Bestimmung. Art. 28 Anordnungen im Falle einer militärischen Bedrohung (Art. 12 Abs. 2 StAG) Für besondere Anordnungen im Fall einer militärischen Bedrohung ist der Bundesstab Bevölkerungsschutz gemäss Artikel 2 Absatz 1 der Verordnung vom 2. März 20183 über den Bundesstab Bevölkerungsschutz zuständig. 3 SR 520.17 Stauanlagenverordnung 11 / 14 721.101.1 4. Kapitel: Aufsicht Art. 29 Aufsichtsbehörde des Bundes (Art. 22 StAG) 1 Aufsichtsbehörde des Bundes ist das BFE. 2 Das BFE hat insbesondere die folgenden Aufgaben: a. die direkte Aufsicht über grosse Stauanlagen und Stauanlagen an Grenzge- wässern; b. die Oberaufsicht über die der Aufsicht der Kantone unterstehenden Stauanla- gen; c. den Erlass von Richtlinien und die Erarbeitung von weiteren technischen Grundlagen in Zusammenarbeit mit den Kantonen, den Hochschulen, den Fachorganisationen und der Wirtschaft; d. die Förderung der Forschung; e. die Sicherung des Fachwissens in Zusammenarbeit mit Hochschulen, Kanto- nen und Fachorganisationen, insbesondere die Sicherstellung der Aus- und Weiterbildung von Fachpersonen sowie von Expertinnen und Experten; f. die Sicherstellung des Informationsaustausches mit dem Ausland. 3 Es stellt den betroffenen Kantonen insbesondere die folgenden Unterlagen zu: a. die Verfügungen, mit denen es Stauanlagen dem StAG unterstellt (Art. 2) oder von dessen Geltungsbereich ausnimmt (Art. 3); b. die Liste der Stauanlagen unter seiner direkten Aufsicht, die in Betrieb sind (Art. 22 Abs. 2 und Art. 24 StAG); c. die Plangenehmigungen für den Bau und die Änderung von Anlagen unter seiner direkten Aufsicht, sofern keine Genehmigung nach einem anderen Ge- setz erfolgt (Art. 6 StAG); d. die nach Abschluss der Bauarbeiten erstellten Abnahmeprotokolle von Anla- gen unter seiner direkten Aufsicht (Art. 11 Abs. 3); e. die Inbetriebnahmebewilligungen von Anlagen unter seiner direkten Aufsicht (Art. 7 StAG); f. die weiteren Verfügungen, die es zur Gewährleistung der Sicherheit von Anlagen unter seiner direkten Aufsicht erlässt (Art. 32; Art. 8 StAG). Art. 30 Aufsichtsbehörden der Kantone (Art. 23 StAG) Die Aufsichtsbehörden der Kantone haben insbesondere die folgenden Aufgaben: a. Sie beaufsichtigen die Stauanlagen, die nicht der direkten Aufsicht des Bun- des unterstehen. b. Sie melden dem BFE insbesondere die folgenden Angaben der unter ihrer Aufsicht stehenden Stauanlagen: Wasserbau und Wasserwirtschaft 12 / 14 721.101.1 1. die Betreiberin; 2. den Zweck; 3. die Standortkoordinaten, den Typ und das Baujahr des Absperrbauwerks; 4. das Jahr der Inbetriebnahme; 5. die geometrischen Daten. c. Sie erstellen zuhanden des BFE jährlich bis zum 30. Juni des Folgejahres einen Bericht über ihre Aufsichtstätigkeit. d. Sie melden dem BFE unverzüglich alle ausserordentlichen Ereignisse, die einen Einfluss auf die Sicherheit der unter ihrer Aufsicht stehenden Stauanla- gen haben könnten. Art. 31 Kontrollen durch die Aufsichtsbehörde (Art. 8 Abs. 4 StAG) 1 Die Aufsichtsbehörde nimmt an den Fünfjahreskontrollen (Art. 19) teil und inspi- ziert die betreffenden Anlagen in der Regel zusätzlich einmal in fünf Jahren. 2 Sie inspiziert die grossen, nicht den Fünfjahreskontrollen unterliegenden Stauanla- gen in der Regel einmal alle drei Jahre. 3 Sie inspiziert die weiteren Stauanlagen in der Regel einmal alle fünf Jahre. Art. 32 Massnahmen der Aufsichtsbehörde (Art. 5 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 3 und 5 StAG) 1 Erfüllt die Betreiberin ihre Pflichten gemäss dem StAG und dieser Verordnung nicht, so ordnet die Aufsichtsbehörde die notwendigen Massnahmen an, insbesondere: a. Sanierungsmassnahmen oder Betriebseinschränkungen zur Gewährleistung der konstruktiven Sicherheit; b. Unterhaltsmassnahmen, eine verstärkte Überwachung oder Betriebsein- schränkungen, wenn die Resultate der Überwachung auf einen unsicheren Betrieb schliessen lassen. 2 Ist die Betreiberin mit einer Unterhalts- oder Sanierungsmassnahme im Verzug, so ordnet die Aufsichtsbehörde die notwendigen Massnahmen und nach erfolgloser Mahnung die Entleerung der Stauanlage an. 5. Kapitel: Schlussbestimmungen Art. 33 Zuständige Behörde für Verwaltungsstrafverfahren (Art. 31 StAG) Verfolgende und urteilende Verwaltungsbehörde gemäss Artikel 31 Absatz 3 StAG ist das BFE. Stauanlagenverordnung 13 / 14 721.101.1 Art. 34 Aufhebung eines anderen Erlasses Die Stauanlagenverordnung vom 17. Oktober 20124 wird aufgehoben. Art. 35 Übergangsbestimmungen Die bei Inkrafttreten dieser Verordnung bestehenden Genehmigungen und Bewilli- gungen bleiben rechtsgültig. Art. 36 Inkrafttreten Diese Verordnung tritt am 1. Januar 2023 in Kraft. 4 [AS 2012 5995; 2018 1093 Anhang 3 Ziff. II 3] Wasserbau und Wasserwirtschaft 14 / 14 721.101.1 1. Kapitel: Allgemeine Bestimmungen Art. 1 Begriffe Art. 2 Stauanlagen mit besonderem Gefährdungspotenzial Art. 3 Stauanlagen ohne besonderes Gefährdungspotenzial Art. 4 Stauanlagen an Grenzgewässern 2. Kapitel: Anforderungen an die technische Sicherheit von Stauanlagen Art. 5 Konstruktive Sicherheit Art. 6 Überwachung Art. 7 Notfallkonzept 3. Kapitel: Bau und Betrieb 1. Abschnitt: Plangenehmigung und Bau Art. 8 Plangenehmigung Art. 9 Bauausführung Art. 10 Projektänderungen Art. 11 Abschluss der Bauarbeiten Art. 12 Rückbau 2. Abschnitt: Inbetriebnahme Art. 13 Reglemente Art. 14 Inbetriebnahme Art. 15 Abschluss der Inbetriebnahme Art. 16 Aktensammlung über die Stauanlage 3. Abschnitt: Betrieb und Überwachung Art. 17 Laufende Kontrolle Art. 18 Jahreskontrolle Art. 19 Fünfjahreskontrolle Art. 20 Fachperson sowie Expertinnen und Experten Art. 21 Prüfung der Entlastungs- und Ablassvorrichtungen Art. 22 Meldepflichten Art. 23 Revision Art. 24 Beeinflussung der Sicherheit durch andere Bauten und Anlagen 4. Abschnitt: Notfallkonzept Art. 25 Vorkehrungen für den Notfall Art. 26 Wasseralarmsystem Art. 27 Evakuierungspläne für die Bevölkerung Art. 28 Anordnungen im Falle einer militärischen Bedrohung 4. Kapitel: Aufsicht Art. 29 Aufsichtsbehörde des Bundes Art. 30 Aufsichtsbehörden der Kantone Art. 31 Kontrollen durch die Aufsichtsbehörde Art. 32 Massnahmen der Aufsichtsbehörde 5. Kapitel: Schlussbestimmungen Art. 33 Zuständige Behörde für Verwaltungsstrafverfahren Art. 34 Aufhebung eines anderen Erlasses Art. 35 Übergangsbestimmungen Art. 36 Inkrafttreten | de |
fe3fa1b1-7609-471c-a80d-a4a5a009e3fa | Sachverhalt
ab Seite 341
BGE 145 II 339 S. 341
A.
Die A. Ltd., X. wird für die direkte Bundessteuer ordentlich besteuert. Für die Kantons- und Gemeindesteuern hatte sie für das vorliegend relevante Steuerjahr 2011 den steuerlichen Status einer Holdinggesellschaft. Die A. Ltd. vereinnahmte und verbuchte im Jahr 2011 Lizenzeinnahmen von insgesamt Fr. 295'347'005.-. Davon entfallen Fr. 96'374'721.- auf Länder, mit denen die Schweiz Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) abgeschlossen hat und in welchen die Quellensteuerbelastung zwischen 5 % und 12,5 % betrug. Mit Antrag pauschale Steueranrechnung DA-3 vom 18. August 2014 machte die
BGE 145 II 339 S. 342
A. Ltd. einen Anspruch auf pauschale Steueranrechnung im Betrage von Fr. 8'281'057.- geltend.
Mit Entscheid vom 13. April 2015 gewährte das kantonale Steueramt eine Steueranrechnung von insgesamt Fr. 3'755'804.-. Dabei berechnete es das Total der nicht rückforderbaren ausländischen Steuern in Anwendung von
Art. 12 Abs. 2 der Verordnung des Bundesrates vom 22. August 1967 über die pauschale Steueranrechnung (SR 672.201; nachfolgend: PStAV oder Anrechnungsverordnung)
mit Fr. 3'755'804.-, und den Maximalbetrag nach Art. 8 Abs. 2 PStAV mit Fr. 4'733'777.-.
B.
Mit Entscheid vom 4. August 2015 wies das kantonale Steueramt die gegen den Entscheid vom 13. April 2015 erhobene Einsprache ab.
Mit Entscheid vom 31. Januar 2017 wies das Steuerrekursgericht des Kantons Zürich die gegen den Einspracheentscheid vom 4. August 2015 erhobene Beschwerde ab.
C.
Mit Eingabe vom 16. März 2017 erhebt die A. Ltd. beim Bundesgericht Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Sie beantragt, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben, der Rückzahlungsbetrag 2011 sei auf Fr. 8'281'057.- festzulegen und die Differenz zum bereits bezahlten Betrag von Fr. 3'755'804.- sei zu erstatten, somit im Betrag von Fr. 4'525'253.-. Am 17. März 2017 reicht sie eine "Ergänzung der Beschwerde" ein.
Die Vorinstanz verzichtet auf eine Vernehmlassung. Das Steueramt beantragt in formeller Hinsicht, die Beschwerde sei aufgrund übermässiger Weitschweifigkeit i.S.v. Art. 42 Abs. 2 i.V.m.
Art. 42 Abs. 6 BGG
zur Änderung zurückzuweisen. In materieller Hinsicht beantragt es die Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei. Die Eidgenössische Steuerverwaltung (ESTV) beantragt die Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei.
Das Bundesgericht hat am 3. Juli 2019 eine öffentliche Beratung durchgeführt. Es weist die Beschwerde ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
2.1
Vorliegend stehen Lizenzeinkünfte im Bruttobetrag von Fr. 104'655'777.92 aus folgenden Ländern zur Diskussion: Ägypten, Algerien, Australien, Chile, China, Côte d'Ivoire, Ecuador, Estland,
BGE 145 II 339 S. 343
Frankreich, Griechenland, Indien, Indonesien, Iran, Israel, Italien, Japan, Kanada, Kasachstan, Republik Korea, Lettland, Litauen, Malaysia, Marokko, Mexiko, Neuseeland, Pakistan, Philippinen, Portugal, Singapur, Slowakei, Spanien, Thailand, Tschechische Republik, Tunesien und Vietnam.
2.2
Ist eine Person in der Schweiz aufgrund persönlicher Zugehörigkeit steuerpflichtig (Art. 3 und Art. 50 des Bundesgesetzes vom 14. Dezember 1990 über die direkte Bundessteuer [DBG; SR 642.11] sowie Art. 3 und Art. 20 des Bundesgesetzes vom 14. Dezember 1990 über die Harmonisierung der direkten Steuern der Kantone und Gemeinden [StHG; SR 642.14]; ebenso § 3 und § 55 des Steuergesetzes des Kantons Zürich vom 8. Juni 1997 [StG/ZH; LS 631.1]), ist ihre Steuerpflicht unbeschränkt (
Art. 6 Abs. 1 und
Art. 52 Abs. 1 DBG
;
§ 5 und
§ 57 StG
/ZH). Von der unbeschränkten Steuerpflicht erfasst werden auch Lizenzeinnahmen, die aus ausländischer Quelle stammen. Regelmässig unterliegen solche Kapitalerträgnisse schon einer Besteuerung im Quellenstaat, was zu einer Doppelbesteuerung führt.
2.3
Die Beschwerdeführerin hat für die genannten Lizenzeinkünfte pauschale Steueranrechnung im Betrage von Fr. 8'281'058.84 verlangt. Die Vorinstanzen haben den Betrag, soweit er nicht die - voll besteuerten - Lizenzerträge aus Frankreich (Fr. 211'340.25) und Italien (Fr.1'281'838.55) betrifft, also von Fr. 6'787'880.04, um zwei Drittel auf Fr. 2'262'626.68 gekürzt. Dies ergibt einen Betrag von Fr. 3'755'805.48 (gekürzter Betrag plus Anteile Frankreich und Italien).
Streitig und zu prüfen ist, ob sich der Umstand, dass ausländische Lizenzeinnahmen in der Schweiz aufgrund des Holdingstatus der Beschwerdeführerin nur mit der direkten Bundessteuer besteuert werden, auf die pauschale Steueranrechnung auswirkt bzw. ob die anwendbaren DBA die vorgenommene Kürzung der nicht rückforderbaren ausländischen Steuern um zwei Drittel gestatten. Zu diesem Zweck ist zunächst die Kürzung des Anspruchs auf pauschale Steueranrechnung bei Nichtbesteuerung durch Kanton und Gemeinde nach internem Recht darzustellen (E. 3), bevor die Verträglichkeit mit den DBA untersucht wird (E. 4 und 5).
3.
3.1
Gemäss Art. 2 Abs. 1 lit. e des allgemeinverbindlichen Bundesbeschlusses - seit dem 1. Februar 2013: des Bundesgesetzes (AS 2013
BGE 145 II 339 S. 344
231) - vom 22. Juni 1951 über die Durchführung von zwischenstaatlichen Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung (SR 672.2; nachfolgend: DBAG) bestimmt der Bundesrat, wie eine staatsvertraglich vereinbarte Anrechnung von Steuern des andern Vertragsstaates auf die in der Schweiz geschuldeten Steuern durchzuführen ist. In Ausübung dieser delegierten Kompetenz hat der Bundesrat im Jahr 1967 die Anrechnungsverordnung (PStAV) erlassen.
3.2
Nach Art. 1 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 PStAV können in der Schweiz ansässige natürliche und juristische Personen für die in Übereinstimmung mit einem DBA in einem Vertragsstaat erhobene begrenzte Steuer beantragen, dass ihnen auf den aus diesem Vertragsstaat stammenden Erträgnissen eine pauschale Steueranrechnung gewährt wird (vgl. Urteil 2A.559/2006 vom 2. August 2007 E. 2.2). Voraussetzung der pauschalen Steueranrechnung ist, dass die quellensteuerbelasteten Erträgnisse den Einkommens- oder Gewinnsteuern des Bundes, der Kantone und der Gemeinden unterliegen (Art. 3 Abs. 1 PStAV). Die Entlastung erfolgt für die von Bund, Kantonen und Gemeinden erhobenen Steuern gesamthaft und wird in einem einheitlichen Betrag vergütet, der entweder ausbezahlt oder mit den Steuern des Bundes, des Kantons oder der Gemeinde verrechnet wird (Art. 8 Abs. 1 i.V.m. Art. 19 Abs. 1 PStAV).
3.3
Dem System der pauschalen Steueranrechnung nach der Anrechnungsverordnung liegt die Überlegung zugrunde, dass angesichts der unter Bund, Kantonen und Gemeinden aufgeteilten Steuerhoheit über Einkommen und Gewinn der hierzulande steuerpflichtigen Personen auch die finanziellen Auswirkungen der Entlastung quellensteuerbelasteter Erträgnisse auf die verschiedenen föderalen Ebenen des Bundesstaats verteilt werden müssen. Bund, Kantone und Gemeinden müssen sich mithin also eine anteilsmässige Belastung gefallen lassen (vgl. Art. 20 f. PStAV, wobei die Belastung der Gemeinden Sache der Kantone ist; vgl. Art. 21 PStAV). Weil die Kantone und Gemeinden in Tariffragen weiterhin Autonomie geniessen (vgl.
Art. 129 Abs. 2 BV
) und bis zur Steuerharmonisierung überdies auch die Bemessungsgrundlage und -periode unter Vorbehalt gewisser verfassungsrechtlicher Vorgaben frei bestimmen konnten, hielt es der Bundesrat nicht für möglich, in der Anrechnungsverordnung die Lasten nach Massgabe der Steuern zu verteilen, welche Bund, Kantone und Gemeinden auf den quellensteuerbelasteten ausländischen Erträgnissen effektiv erheben. Stattdessen legte er den Verteilschlüssel unter
BGE 145 II 339 S. 345
den Gemeinwesen annäherungsweise und pauschal auf ein Drittel zu Lasten des Bundes und zwei Drittel zu Lasten der Kantone fest (Art. 20 PStAV; vgl. MAX WIDMER, Die pauschale Steueranrechnung, StR 38/1983 S. 59 f.; kritisch zu diesem Verteilschlüssel ROBERT WALDBURGER, Aus der Rechtsprechung im Jahr 2014, FStR 2015 S. 351).
3.4
Diese Lastenverteilung gilt nicht nur zwischen den Gemeinwesen, sondern wirkt sich auch auf den Steuerpflichtigen aus. Verzichtet ein Gemeinwesen auf die Besteuerung eines quellensteuerbelasteten Erträgnisses, haben die anderen Gemeinwesen gegenüber dem Steuerpflichtigen nicht solidarisch für den Anteil dieses Gemeinwesens an den ausländischen Quellensteuern aufzukommen. Der Anspruch des Steuerpflichtigen auf pauschale Steueranrechnung reduziert sich deshalb um zwei Drittel, wenn die quellensteuerbelasteten Erträgnisse nur der Einkommens- bzw. Gewinnsteuer des Bundes unterliegen (Art. 3 Abs. 2 i.V.m. Art. 12 Abs. 2 PStAV), und um ein Drittel, wenn sie nur den Einkommens- bzw. Gewinnsteuern der Kantone und der Gemeinden unterliegen (Art. 3 Abs. 2 i.V.m. Art. 12 Abs. 1 PStAV). Bei der Berechnung der zu gewährenden Entlastung wirkt sich diese Anspruchskürzung dahingehend aus, dass der Betrag der pauschalen Steuerrechnung pro Fälligkeitsjahr auf ein bzw. auf zwei Drittel der in sämtlichen DBA-Staaten erhobenen und potenziell pauschal anrechenbaren residualen Quellensteuern begrenzt ist, wenn der Steuerpflichtige nur den Einkommens- oder Gewinnsteuern des Bundes bzw. der Kantone und Gemeinden unterliegt (Art. 12 Abs. 1 und Abs. 2 PStAV).
3.5
Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin schliesst die Delegationsnorm von Art. 2 Abs. 1 lit. e DBAG für sich genommen die vom Bundesrat in Art. 3 Abs. 2 i.V.m. Art. 12 Abs. 2 PStAV vorgesehene Kürzung des Entlastungsanspruchs nicht aus (vgl. WALDBURGER, a.a.O., S. 351). Diese weite Delegationsnorm weist den Bundesrat lediglich an umzusetzen, wozu sich die Schweiz staatsvertraglich verpflichtet hat (vgl.
BGE 110 Ib 246
E. 3.b S. 251). Daraus kann nicht abgeleitet werden, dass der Bundesrat selbst dann eine steuerliche Entlastung ausländischer Kapitalerträgnisse vorsehen muss, wenn keine völkerrechtliche Pflicht hierzu besteht. Entscheidend ist somit alleine, ob sich die Kürzung um zwei Drittel nach Art. 3 Abs. 2 i.V.m. Art. 12 Abs. 2 PStAV mit den staatsvertraglichen Pflichten der Schweiz vereinbaren lässt.
BGE 145 II 339 S. 346
4.
4.1
Die Beschwerdeführerin macht geltend, dass die Kürzung der pauschalen Steueranrechnung nach Art. 3 Abs. 2 i.V.m. Art. 12 PStAV die einschlägigen DBA und namentlich deren Methodenartikel verletze.
4.2
Die DBA der Schweiz mit den erwähnten Ländern (auf Frankreich und Italien ist hier nicht einzugehen) sehen in den im Jahre 2011 gültigen Fassungen bezüglich Lizenzgebühren - abweichend vom Musterabkommen der OECD (OECD-MA) 2010, aber analog zu dessen Regelung der Besteuerung von Dividenden und Zinsen - eine geteilte Steuerhoheit vor. Danach unterliegen Lizenzgebühren der unbeschränkten Steuerhoheit des Ansässigkeitsstaates (vgl. Art. 12 Abs. 1 der DBA), während dem Quellenstaat ein beschränktes Besteuerungsrecht zukommt (vgl. Art. 12 Abs. 2 der DBA). Übersteigt der unilaterale Steuersatz im Quellenstaat den abkommensrechtlich zulässigen Höchstsatz, kann der überschiessende Steuerbetrag im Quellenstaat zurückgefordert werden (sog. Erstattungsverfahren). Im Umfang, in welchem die Steuer dem Quellenstaat abkommensgemäss definitiv zusteht, scheidet das Erstattungsverfahren aus und verbleibt im Quellenstaat eine Sockel- oder Residualsteuer.
4.3
Die hier einschlägigen DBA bestimmen mit teilweise leicht unterschiedlichen Formulierungen, dass die Schweiz hierzulande ansässigen Personen, welche Lizenzgebühren aus dem anderen Vertragsstaat beziehen, auf Antrag eine Entlastung gewährt. Stellvertretend sei hier die für die Steuerperiode 2011 gültige Bestimmung des DBA mit Japan wiedergegeben (vgl. aArt. 23 Abs. 3 des Abkommens vom 19. Januar 1971 zwischen der Schweiz und Japan zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen [DBA CH-JP; SR 0.672.946.31]; inzwischen geändert mit Wirkung per 1. Januar 2012, vgl. Art. 21 Abs. 2 des Protokolls vom 21. Mai 2010 zur Änderung des Abkommens zwischen der Schweiz und Japan zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen [AS 2011 6381]):
"Bezieht eine in der Schweiz ansässige Person Dividenden, Zinsen oder Lizenzgebühren, die nach Artikel 10, 11 oder 12 in Japan besteuert werden können, so gewährt die Schweiz dieser ansässigen Person auf Antrag eine Entlastung. Die Entlastung besteht
a) in der Anrechnung der nach den Artikeln 10, 11 und 12 in Japan erhobenen Steuer auf die vom Einkommen dieser ansässigen Person geschuldete Steuer, wobei der anzurechnende Betrag jedoch den Teil der
BGE 145 II 339 S. 347
vor der Anrechnung ermittelten schweizerischen Steuer nicht übersteigen darf, der auf die Einkünfte entfällt, die in Japan besteuert werden können, oder
b) in einer pauschalen nach festgelegten Normen ermittelten Ermässigung der schweizerischen Steuer, die den Grundsätzen der in Buchstabe a erwähnten Entlastung Rechnung trägt, oder
c) in einer teilweisen Befreiung der betreffenden Einkünfte von der schweizerischen Steuer, mindestens aber im Abzug der in Japan erhobenen Steuer vom Bruttobetrag der aus Japan bezogenen Einkünfte.
Die Schweiz wird gemäss den Vorschriften über die Durchführung von zwischenstaatlichen Abkommen des Bundes zur Vermeidung der Doppelbesteuerung die Art der Entlastung bestimmen und das Verfahren ordnen."
4.4
Die Schweiz hat die Methode der pauschalen Ermässigung gewählt (aArt. 23 Abs. 3 Bst. b DBA CH-JP und analoge Bestimmungen der anderen einschlägigen DBA; vgl. Urteil 2C_750/2013 / 2C_796/ 2013 vom 9. Oktober 2014 E. 3.3.1, in: StE 2015 A 42 Nr. 4, StR 69/2014 S. 875: vgl. auch WIDMER, a.a.O., S. 59; WALDBURGER, a.a.O., S. 351). Ob die DBA und namentlich der Begriff der pauschalen Ermässigung der Schweiz verbieten, den Entlastungsanspruch nach Art. 3 Abs. 2 i.V.m. Art. 12 Abs. 2 PStAV um zwei Drittel zu kürzen, ist auf dem Wege der Auslegung zu ermitteln.
4.4.1
Bei der Auslegung und Anwendung von Abkommen wie den vorliegend einschlägigen DBA sind die völkerrechtlichen Auslegungsgrundsätze zu beachten, wie sie namentlich das Wiener Übereinkommen vom 23. Mai 1969 über das Recht der Verträge (VRK; SR 0.111) vorgibt (
BGE 143 II 136
E. 5.2.1 S. 148,
BGE 143 II 202
E. 6.3.1 S. 207 f.;
BGE 142 II 161
E. 2.1.3 S. 167;
BGE 139 II 404
E. 7.2.1 S. 422). Jedenfalls soweit vorliegend relevant, stellen die Grundsätze des Wiener Übereinkommens zur Vertragsauslegung kodifiziertes Völkergewohnheitsrecht dar (Gutachten des Internationalen Gerichtshofs vom 9. Juli 2004, Conséquences juridiques de l'édification d'un mur dans le territoire palestinien occupé, C.I.J. Recueil 2004 S. 174 § 94;
BGE 125 II 417
E. 4.d S. 424 f.;
BGE 122 II 234
E. 4.c S. 238;
BGE 120 Ib 360
E. 2.c S. 365). Sie sind daher für die Auslegung der hier interessierenden DBA durch hiesige rechtsanwendende Behörden zu beachten, obschon zahlreiche der hier betroffenen DBA-Staaten das Wiener Übereinkommen nicht unterzeichnet oder nicht ratifiziert haben (namentlich Côte d'Ivoire, Indien, Indonesien, Iran, Israel, Pakistan, Singapur und Thailand).
BGE 145 II 339 S. 348
4.4.2
Gemäss
Art. 26 VRK
bindet ein Abkommen die Vertragsparteien und ist von ihnen nach Treu und Glauben zu erfüllen. Somit haben die Vertragsstaaten nach
Art. 31 Abs. 1 und 2 VRK
eine zwischenstaatliche Übereinkunft nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, ihren Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte ihres Zieles und Zweckes auszulegen. Den Ausgangspunkt der Auslegung von DBA bildet der Wortlaut der vertraglichen Bestimmung. Der Text der Vertragsbestimmung ist aus sich selbst heraus gemäss seiner gewöhnlichen Bedeutung zu interpretieren. Diese gewöhnliche Bedeutung ist in Übereinstimmung mit ihrem Zusammenhang, dem Ziel und Zweck des Vertrags und gemäss Treu und Glauben zu eruieren. Ziel und Zweck des Vertrags ist dabei, was die Parteien mit dem Vertrag erreichen wollen. Der auszulegenden Bestimmung eines DBA ist unter mehreren möglichen Interpretationen demnach derjenige Sinn beizumessen, welcher ihre effektive Anwendung gewährleistet ("effet utile") und nicht zu einem Ergebnis führt, das dem Ziel und Zweck der eingegangenen Verpflichtungen widerspricht. Gemäss
Art. 31 Abs. 3 VRK
sind, ausser dem Zusammenhang, in gleicher Weise zu berücksichtigen jede spätere Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien über die Auslegung des Vertrags oder die Anwendung seiner Bestimmungen (Bst. a), jede spätere Übung bei der Anwendung des Vertrags, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht (Bst. b), sowie jeder in den Beziehungen zwischen den Vertragsparteien anwendbare einschlägige Völkerrechtssatz (Bst. c). Die vorbereitenden Arbeiten und die Umstände des Vertragsabschlusses sind nach
Art. 32 VRK
(lediglich) ergänzende Auslegungsmittel und können herangezogen werden, um die sich in Anwendung von
Art. 31 VRK
ergebende Bedeutung zu bestätigen oder die Bedeutung zu bestimmen, wenn diese Auslegung die Bedeutung mehrdeutig oder dunkel lässt (Art. 32 Bst. a VRK) oder zu einem offensichtlich sinnwidrigen oder unvernünftigen Ergebnis führt (Art. 32 Bst. b VRK; zum Ganzen siehe
BGE 144 II 130
E. 8.2 S. 139;
BGE 143 II 136
E. 5.2; je mit Hinweisen).
4.5
Aus der gewöhnlichen Bedeutung der Wendung "eine pauschale [...] Ermässigung der schweizerischen Steuer" (in den teilweise massgebenden französischen und englischen Sprachfassungen der DBA: "une réduction forfaitaire de l'impôt suisse", "a lump-sum reduction of the Swiss tax") wird nicht unmittelbar klar, ob es der Schweiz gestattet ist, die Ermässigung nach Art. 3 Abs. 2 i.V.m.
BGE 145 II 339 S. 349
Art. 12 Abs. 2 PStAV im Falle der alleinigen Besteuerung durch den Bund nur anteilsmässig zu gewähren. Es ist auch nicht erwiesen, dass die Vertragsstaaten der DBA beabsichtigt haben, diesem Ausdruck eine besondere Bedeutung in die eine oder die andere Richtung beizulegen (vgl.
Art. 31 Abs. 4 VRK
). Sprachlogisch klar ist aber immerhin, dass nur ermässigt werden kann, was auch tatsächlich erhoben wird (vgl. Duden, der Ermässigung definiert als a) Herabsetzung, Senkung oder b) [Preis]Nachlass; vgl. auch die ähnlichen Definitionen von "réduction" in Le Grand Robert de la langue française und für "reduction" in Oxford Dictionary).
4.6
In systematischer Hinsicht besteht ein Zusammenhang zwischen der Wendung "eine pauschale [...] Ermässigung der schweizerischen Steuer" und der Definition des Begriffs der "schweizerischen Steuer" in Art. 2 der DBA (vgl. wiederum stellvertretend Art. 2 Abs. 1 Bst. b DBA CH-JP: "die von Bund, Kantonen und Gemeinden erhobenen Steuern vom Einkommen (Gesamteinkommen, Erwerbseinkommen, Vermögensertrag, Geschäftsertrag, Kapitalgewinn und andere Einkünfte) (im folgenden als 'schweizerische Steuer' bezeichnet"). Angesichts dieser Definition kann offenkundig nicht gesagt werden, die Vertragsstaaten seien nicht über die föderale Struktur der Schweiz und die Aufteilung der Steuerhoheit auf Bund, Kantone und Gemeinden unterrichtet worden (vgl. auch Botschaft vom 24. Februar 1971 an die Bundesversammlung über die Genehmigung des zwischen der Schweiz und Japan abgeschlossenen Abkommens zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen, BBl 1971 I 665). Der Abkommenszusammenhang legt somit nahe, dass es der Schweiz nicht verboten ist, die Ermässigung nur anteilsmässig zu gewähren, wenn zwei der drei Gemeinwesen auf die Besteuerung des quellensteuerbelasteten Erträgnisses verzichten.
4.7
DBA dienen üblicherweise der Vermeidung von internationaler juristischer Doppelbesteuerung in den Vertragsstaaten (vgl. Kommentar der OECD zu OECD-MA, N. 1 zu Introduction OECD-MA; MATTEOTTI/HORN, in: Internationales Steuerrecht, 2015, N. 12 und 17 zu Einleitung OECD-MA; XAVIER OBERSON, Précis de droit fiscal international, 4. Aufl. 2014, N. 24). Die Erhebung von schweizerischen Steuern auf Erträgen beim hierzulande ansässigen Empfänger bewirkt eine internationale juristische Doppelbesteuerung, wenn diese Erträge in derselben Periode bereits einer ausländischen residualen Quellensteuer unterlegen haben, für die der Empfänger in der
BGE 145 II 339 S. 350
Schweiz keine oder nur eine unvollständige Entlastung erhält (vgl. Urteil 2C_750/2013 / 2C_796/2013 vom 9. Oktober 2014 E. 3.3.5, in: StE 2015 A 42 Nr. 4, StR 69/2014 S. 875; vgl. auch Kommentar der OECD zum OECD-MA, N. 3 lit. b zu Art. 23 A und 23 B OECD-MA). Die anteilsmässige Kürzung des Anspruchs der Beschwerdeführerin auf pauschale Steueranrechnung bedeutet, dass Kapitalerträgnisse sowohl im Quellenstaat als auch in der Schweiz besteuert werden, ohne dass die Beschwerdeführerin nach internem Recht für die residualen Quellensteuern Entlastung bis zur Höhe der schweizerischen Steuer beanspruchen kann. Es ist zu prüfen, ob und inwiefern sich diese internationale juristische Doppelbesteuerung mit dem Ziel und Zweck der hier relevanten DBA vereinbaren lässt.
4.7.1
Auf der Ebene der einzelnen Bestimmungen bezweckt der Methodenartikel, juristische Doppelbesteuerungen durch die Vertragsstaaten zu beseitigen (vgl. Kommentar der OECD zum OECD-MA, N. 1 und 12 zu Art. 23 A und Art. 23 B OECD-MA; ROLAND ISMER, in: DBA, Vogel/Lehner [Hrsg.], 6. Aufl. 2015, N. 2 zu Art. 23 OECD-MA; ALEXANDER RUST, in: Klaus Vogel on Double Taxation Conventions, Reimer/Rust [Hrsg.], 4. Aufl. 2015, N. 3 zu Art. 23 OECD-MA; JESSICA SALOM, in: Modèle de Convention fiscale OCDE concernant le revenu et la fortune, Commentaire, Danon und andere [Hrsg.], 2014, N. 1 ff. zu Rem. intro. art. 23 A, 23 B OECD-MA). Vertragsstaat der DBA ist auf schweizerischer Seite die Eidgenossenschaft, für welche der Bundesrat diese völkerrechtlichen Verträge abschliesst (vgl. Art. 184 Abs. 1 und 54 Abs. 1 BV) und welche die Kantone mitumfasst (vgl.
Art. 1 BV
). Die Kantone haben die DBA zwar umzusetzen, soweit diese Aufgabe nicht ausschliesslich dem Bund übertragen ist (vgl. BERNHARD EHRENZELLER, in: St. Galler Kommentar, Die schweizerische Bundesverfassung, 3. Aufl. 2014, N. 14 zu
Art. 54 BV
). Sie werden dadurch aber nicht selbst zu Vertragsparteien der DBA.
Wenn die Schweiz es nun in ihren DBA unterlassen hätte, den Methodenartikel zu modifizieren und den Vertragspartner über ihre föderale Struktur zu unterrichten, könnte sich der Bund der vollständigen Entlastung kaum unter Hinweis auf die föderale Struktur der Eidgenossenschaft widersetzen. Indessen hat die Schweiz die Vertragspartner der vorliegend relevanten DBA über ihre föderale Struktur informiert und sind die Vertragsstaaten dieser DBA in Bezug auf die Entlastung in der Schweiz gerade von den Methoden nach Art. 23 A
BGE 145 II 339 S. 351
OECD-MA abgewichen (vgl. oben E. 4.5 und 4.6). Man könnte sich daher fragen, ob dadurch die Zielsetzung der hier einschlägigen DBA dahingehend abgeändert wurde, dass internationale juristische Doppelbesteuerungen nur noch insoweit zu beseitigen sind, als dies mit der Steuerautonomie der verschiedenen Gemeinwesen im schweizerischen Bundesstaat vereinbar ist.
4.7.2
4.7.2.1
Zu beachten ist ausserdem, dass die Vermeidung von Doppelbesteuerung im internationalen Verhältnis kein Selbstzweck ist. Sie beruht wesentlich auf der Erkenntnis, dass Doppelbesteuerung schädliche - d.h. insbesondere wettbewerbsverzerrende, volkswirtschaftlich ineffiziente und potentiell wohlfahrtmindernde - Auswirkungen auf den grenzüberschreitenden Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr und die Bewegungsfreiheit von Personen haben kann (vgl. Kommentar der OECD zu OECD-MA, N. 1 zu Introduction OECD-MA; HARALD SCHAUMBURG, in: Internationales Steuerrecht, Harald Schaumburg [Hrsg.], 4. Aufl. 2017, N. 17.13; VOGEL/RUST, in: Klaus Vogel on Double Taxation Conventions, Reimer/Rust [Hrsg.], 4. Aufl. 2015, N. 16 zu Introduction OECD-MA). DBA dienen also letztlich dem Postulat der Wettbewerbsneutralität der Steuer (vgl. MADELEINE SIMONEK, in: Internationales Steuerrecht, 2015, N. 11 zu Art. 23 A, B OECD-MA). Dieses Postulat verletzt die internationale juristische Doppelbesteuerung etwa, wenn dadurch Kapitalerträgnisse aus dem Quellenstaat insgesamt stärker besteuert werden als vergleichbare Erträgnisse aus Investitionen im Ansässigkeitsstaat. Umgekehrt verzerrt der Ansässigkeitsstaat nach international vorherrschender Auffassung potentiell den Wettbewerb, wenn er Einkünfte aus dem Quellenstaat gegenüber vergleichbaren inländischen Einkünften steuerlich privilegiert (sog. Ring-Fencing; vgl. OECD, Harmful Tax Competition, 1998, N. 23 und 62).
4.7.2.2
Die Beschwerdeführerin profitiert von einem Steuerregime, welches Einkünfte aus ausländischer Geschäftstätigkeit auf kantonaler und kommunaler Stufe von der Gewinnsteuer befreit, solange keine Geschäftstätigkeit im Inland ausgeübt wird (vgl.
Art. 28 Abs. 2 StHG
). Nach Auffassung der Europäischen Union (EU) handelt es sich dabei um ein Steuerregime, welches den Wettbewerb verzerrt (vgl. Rat der Europäischen Union, Schlussfolgerungen des Rates zu den Beziehungen zwischen der EU und den EFTA-Ländern, 14. Dezember 2010, N. 44; Entscheidung der Kommission vom 13. Februar
BGE 145 II 339 S. 352
2007 über die Unvereinbarkeit bestimmter schweizerischer Körperschaftssteuerregelungen mit dem Abkommen vom 22. Juli 1972 zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Schweizerischen Eidgenossenschaft, C(2007) 411 final, N. 51 ff.; vgl. auch Gemeinsame Erklärung des Bundesrats und der Regierungen der Mitgliedstaaten der EU vom 14. Dezember 2014). Auch in anderen internationalen Foren wird der Holdingstatus aus diesem Grund seit längerer Zeit kritisch hinterfragt (vgl. OECD, The OECD's Project on Harmful Tax Practices: The 2004 Progress Report, 2004, N. 15).
4.7.2.3
Die bloss anteilsmässige Entlastung der quellenbesteuerten Lizenzgebühren hat für die Beschwerdeführerin zur Konsequenz, dass sich ihre länderübergreifende Steuerbelastung auf diesen Erträgnissen jener Steuerbelastung annähert, die sie ohne Holdingstatus auf vergleichbaren inländischen Kapitalerträgnissen zu tragen hätte. Wenn nun aber international ohnehin Zweifel an der Wettbewerbsneutralität des Holdingstatus bestehen, lässt sich kaum sagen, die Kürzung der Entlastung beeinträchtige die Wettbewerbsneutralität. Diese Kürzung mag zwar eine internationale juristische Doppelbesteuerung bewirken. Solange die gesamte Steuerbelastung auf den quellensteuerbelasteten Lizenzgebühren die Steuerbelastung nicht übersteigt, welche bei Besteuerung durch alle drei Gemeinwesen resultiert hätte, läuft die internationale juristische Doppelbesteuerung im vorliegenden Fall dem übergelagerten Ziel der DBA aber nicht zuwider.
4.7.3
Folglich lässt sich auch bei teleologischer Auslegung von aArt. 23 Abs. 3 Bst. b DBA CH-JP und der analogen Bestimmungen der übrigen einschlägigen DBA keine völkerrechtliche Verpflichtung der Schweiz ausmachen, welche der anteilsmässigen Kürzung der Entlastung im vorliegenden Fall entscheidend entgegenstehen würde.
4.8
Ob die vorstehende Auslegung nach grammatikalischen, systematischen und teleologischen Gesichtspunkten gemäss
Art. 31 VRK
jeden Zweifel an der völkerrechtlichen Zulässigkeit der Kürzung des Entlastungsanspruchs bei Nichtbesteuerung auf Kantons- und Gemeindestufe ausräumt, kann letztlich offenbleiben. Falls noch ein Rest an Unklarheit verbliebe, wären nach Art. 32 Bst. a VRK ergänzende Auslegungsmittel zu Rate zu ziehen. Dazu gehören etwa die Umstände des Vertragsabschlusses. Diese Umstände bestätigen, dass es gerade die föderale Struktur der Schweiz war, welche am Ursprung der Methode der pauschalen Ermässigung stand, und es der Schweiz folglich nicht verboten sein kann, den Entlastungsanspruch anteilsmässig
BGE 145 II 339 S. 353
zu kürzen, wenn zwei der drei Gemeinwesen auf dem betreffenden Kapitalerträgnis keine Steuer erheben (vgl. die Ausführungen des früheren Chefs der damals für die Verhandlung von DBA zuständigen Abteilung der ESTV WIDMER, a.a.O., S. 59).
4.9
Die Auslegung der relevanten DBA nach Art. 31 f. VRK ergibt, dass sie der Schweiz nicht verbieten, den Entlastungsanspruch der Beschwerdeführerin auf den residual quellensteuerbelasteten Lizenzgebühren wegen der Nichtbesteuerung auf Kantons- und Gemeindeebene anteilsmässig zu kürzen.
Dieses Ergebnis gilt gleichermassen für alle hier relevanten DBA. Die geringfügigen Abweichungen in gewissen DBA fallen nicht ins Gewicht. So drückt etwa der Zusatz, dass die Ermässigung den Grundsätzen der Anrechnungsmethode Rechnung zu tragen habe (vgl. z.B. aArt. 23 Abs. 3 Bst. b DBA CH-JP), lediglich aus, dass auch im Rahmen der pauschalen Ermässigung für die ausländischen Steuern nur insoweit Entlastung gewährt wird, als sie den Betrag der schweizerischen Steuer auf dem betreffenden Kapitalerträgnis nicht übersteigen (sog. "ordinary credit", keine Gewährung von "excess tax credits"; vgl. dazu STEFAN OESTERHELT, Pauschale Steueranrechnung bei Teilbesteuerung, StR 69/2014 S. 835). Dieser Anforderung kommt das schweizerische System der pauschalen Steueranrechnung nach, indem es die Entlastung auf den Maximalbetrag gemäss Art. 8 Abs. 2 und 9 ff. PStAV begrenzt (vgl. dazu FROHOFER/KOCHER, Die pauschale Steueranrechnung, ASA 73 S. 533 f.). | de |
515b8390-734a-4069-a8d2-051590bd2ef6 | Sachverhalt
ab Seite 186
BGE 147 III 185 S. 186
A.
Am 20. Oktober 2013 erschien auf dem von der Ringier AG herausgegebenen Blick-Online-Portal (www.blick.ch) ein Artikel mit folgender Schlagzeile:
"A.B. aus Rafz ZH
Dieser Schweizer hilft Kinderquäl-Sekte"
Der Untertitel lautete wie folgt:
"Die deutsche Justiz ermittelt gegen 'Zwölf Stämme'. Die Sekte quält Kinder - mit Unterstützung aus der Schweiz."
Vor dem eigentlichen Berichtsteil wurde eine Fotografie eingefügt, die A.B. identifizierbar im Zentrum der Aufnahme zeigt. Später wurde A.B.s voller Name aus dem Onlineartikel entfernt und durch die Initialen seines Vor- und Nachnamens ersetzt. In dieser Form ist der Artikel bis zum heutigen Tag im Internet abrufbar.
B.
Mit Klage vom 8. November 2017 stellte A.B. beim Bezirksgericht Zofingen das Begehren, die Ringier AG zur Löschung aller Daten zu verurteilen, die mit der Veröffentlichung vom 20. Oktober 2013 zu tun haben, und die Widerrechtlichkeit festzustellen. Das Bezirksgericht wies die Klage ab. Auf A.B.s Berufung hin hob das Obergericht des Kantons Aargau diesen Entscheid auf und urteilte in der Sache wie folgt:
"1.
In teilweiser Gutheissung der Klage wird
a) festgestellt, dass die Beklagte im Onlinebericht 'Dieser Schweizer hilft Kinderquäl-Sekte' auf der Website www.blick.ch vom 20. Oktober 2013 den Kläger durch die Nennung seines vollständigen Namens (nur in der ursprünglichen Version des Berichts) und das angefügte Bild (in der ursprünglichen und aktuellen Version des Berichts) sowie durch den zweiten Satzteil des zweiten Satzes des Untertitels '... - mit Unterstützung aus der Schweiz' (in der ursprünglichen und aktuellen Version des Berichts) widerrechtlich in seiner Persönlichkeit verletzt hat, und
BGE 147 III 185 S. 187
b) die Beklagte verpflichtet, im Onlinebericht 'Dieser Schweizer hilft Kinderquäl-Sekte' auf der Website www.blick.ch vom 20. Oktober 2013 (aktuell abrufbar unter
www.blick.ch/news/schweiz/a-r-aus-rafz-zh-dieser-schweizer-hilft-kinderquael-sekte-id7652113.html
) den zweiten Satzteil des Untertitels '... - mit Unterstützung aus der Schweiz' zu löschen und auf der angefügten Fotografie den Kopf des Klägers so zu verpixeln, dass dieser gestützt darauf nicht mehr identifiziert werden kann.
2.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen."
C.
Mit Beschwerde vom 1. April 2020 wendet sich die Ringier AG (Beschwerdeführerin) an das Bundesgericht. Sie beantragt, den angefochtenen Entscheid aufzuheben, soweit das Obergericht die Berufung gutheisst, und die Klage abzuweisen. A.B. (Beschwerdegegner) bestreitet den Standpunkt der Beschwerdeführerin; das Obergericht verzichtete auf eine Vernehmlassung. Das Bundesgericht hat die Sache am 18. Februar 2021 öffentlich beraten.
(Zusammenfassung) Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Der Streit dreht sich auch um die Vorgabe, wonach sich die Persönlichkeitsverletzung weiterhin störend auswirken muss, damit die Feststellung ihrer Widerrechtlichkeit verlangt werden kann (
Art. 28a Abs. 1 Ziff. 3 ZGB
).
3.1
Das Obergericht konstatiert, die von der Beschwerdeführerin herausgegebene Tageszeitung "Blick" habe den fraglichen Onlinebericht in seiner ersten Version (mit Nennung des vollständigen Namens des Beschwerdegegners) am 20. Oktober 2013 im Internet publiziert. Es handle sich um eine klassische Presseäusserung eines periodisch erscheinenden Mediums, die von einer unbestimmten Vielzahl von Lesern konsumiert werde. Daher sei gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung davon auszugehen, dass ein allfälliger, dadurch einmal geschaffener persönlichkeitsverletzender Eindruck nachhaltig wirke, auch wenn dies vom Beschwerdegegner nicht konkret nachgewiesen worden sein sollte. Die Vorinstanz erklärt, auch die ursprüngliche Version des Onlineartikels bleibe aufgrund der heutigen Archivierungstechniken unbefristet zugänglich; insofern werde ein Störungszustand fortbestehen. Dass der Name des Beschwerdegegners in der zweiten, nach wie vor online einsehbaren Version durch dessen Initialen ersetzt wurde, vermöge daran nichts zu ändern. Ein schutzwürdiges Interesse an der gerichtlichen
BGE 147 III 185 S. 188
Feststellung der Widerrechtlichkeit könnte dem Beschwerdegegner nur abgesprochen werden, wenn sich die Verhältnisse derart geändert hätten, dass die Äusserung jede Aktualität eingebüsst oder eine beim Durchschnittsleser hervorgerufene Vorstellung jede Bedeutung verloren hätte und deshalb auch auszuschliessen wäre, dass die verletzende Äusserung bei einem neuen aktuellen Anlass (auch in der ursprünglichen Fassung) wieder aufgegriffen und erneut verbreitet würde. Solche Umstände sind laut Vorinstanz nicht ersichtlich. Infolgedessen sei ein Interesse des Beschwerdegegners an der Feststellung der Widerrechtlichkeit der ersten Version des fraglichen Onlineberichts nicht schon deshalb zu verneinen, weil diese erste Version aktuell im Internet nicht mehr einsehbar ist.
3.2
Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung von Bundesrecht. Sie erinnert daran, dass der ursprüngliche Onlinebericht vom 20. Oktober 2013 im Internet nicht mehr abrufbar ist, und argumentiert, dass bezüglich eines gelöschten Berichts kein Feststellungsanspruch möglich sei. Der angefochtene Entscheid laufe darauf hinaus, dass aus einer irgendwann erfolgten Internetpublikation ein zeitlich unbeschränkter Feststellungsanspruch folge, was nicht bundesrechtskonform sein könne. Der Beschwerdegegner habe vor den kantonalen Instanzen nicht bewiesen, dass der Bericht noch zugänglich ist. Soweit die Vorinstanz trotzdem davon ausgehe, stelle sie den Sachverhalt willkürlich fest. In der Folge beklagt sich die Beschwerdeführerin darüber, dass sich die Vorinstanz auf die Störungswirkung bzw. auf den blossen Störungszustand verlege, der nach der Bundesgerichtspraxis ausreichend sei. Auch dafür habe der Beschwerdegegner keinen Beweis erbracht. Das Obergericht verkenne dies und behandle den Störungszustand fälschlicherweise als Rechtsfrage. In einer Kaskade beweisloser Annahmen erkläre es, dass ein Artikel als solcher einen Eindruck schaffe, dieser erhalten bleibe und nachwirke, auch wenn dies nicht konkret nachweisbar ist.
Die Beschwerdeführerin wirft dem Obergericht vor, von der theoretischen Existenz moderner Archivierungstechniken und Speichermöglichkeiten auf ein schutzwürdiges Feststellungsinteresse zu schliessen. Anstatt vom Beschwerdegegner einen entsprechenden Beweis zu fordern, unterstelle es die fortgesetzte Aktualität der Verletzung. Die Aktualität folge jedoch weder aus der blossen Publikation des Artikels vor über sechs Jahren und der Tatsache seiner Existenz als historisches Faktum, noch ergebe sie sich allein aus der technischen Möglichkeit, dass der Bericht irgendwo gespeichert
BGE 147 III 185 S. 189
sein könnte. Die Störung dürfe nicht mit "Speichermöglichkeit" und/oder "Aktualität" gleichgesetzt, sondern müsse als Tatsache bewiesen werden, die von der eigentlichen Verletzung unabhängig ist und im Urteilszeitpunkt fortwirkt. Im konkreten Fall sei nicht einmal erwiesen, dass es noch einen Äusserungsträger mit der ursprünglichen Meldung gibt; noch weniger sei erwiesen, dass der Bericht heute bei irgendwem irgendwelche Eindrücke hinterlassen hätte, das heisst sich im Sinne von
Art. 28a Abs. 1 Ziff. 3 ZGB
weiter störend auswirkt. Die Vorinstanz ersetze die gesetzlich vorausgesetzte Störungswirkung durch die blosse Annahme einer Störung, indem sie ohne Beweisverfahren und ohne empirischen Beleg einfach behaupte, dass eine einst erschienene Publikation störe, bloss weil sie erschienen ist und gespeichert worden sein könnte.
Ungeklärt bleibt gemäss der Beschwerdeführerin auch, warum die Ersetzung des Namens des Beschwerdegegners durch seine Initialen den angeblichen Störungszustand nicht beseitigt habe. Die Beschwerdeführerin wirft der Vorinstanz vor, blosse Annahmen über ein gesetzliches Tatbestandsmerkmal zu wiederholen. Der Störungszustand sei aber keine Rechts-, sondern eine Tatfrage, die sich als solche nicht durch Ableitungen aus irgendwelchen Annahmen oder Bundesgerichtsurteilen ergeben könne, sondern immer nur als Folge von Parteibehauptungen und von einem Beweisergebnis. Auch gegenüber dem online noch zugänglichen Artikel, in dem der Name des Beschwerdegegners durch seine Initialen ersetzt ist, könne kein Feststellungsanspruch bestehen, da der Beschwerdegegner auch diesbezüglich keinen Beweis für die Störungswirkung geliefert habe.
3.3
Wer in seiner Persönlichkeit widerrechtlich verletzt ist, kann dem Gericht beantragen, die Widerrechtlichkeit der Verletzung festzustellen, wenn sich diese weiterhin störend auswirkt (
Art. 28a Abs. 1 Ziff. 3 ZGB
). Besteht ein durch eine Verletzung in den persönlichen Verhältnissen hervorgerufener Störungszustand, nimmt das Begehren um gerichtliche Feststellung einer widerrechtlichen Persönlichkeitsverletzung eine dem Verletzten dienende Beseitigungsfunktion wahr. Ein Störungszustand, der mit der auf Beseitigung zielenden Feststellungsklage behoben werden soll, ist dabei im Fortbestand der verletzenden Äusserung auf einem Äusserungsträger zu erblicken, der geeignet ist, die Verletzung fortwährend kundzutun und hierdurch Persönlichkeitsgüter des Verletzten unablässig oder erneut zu beeinträchtigen. Nach der Rechtsprechung meint die in
Art. 28a Abs. 1 Ziff. 3 ZGB
vorausgesetzte weiterhin störende Auswirkung
BGE 147 III 185 S. 190
nichts anderes als den eben umschriebenen Störungszustand. Hierbei fällt ins Gewicht, dass der Störungszustand nicht im Laufe der Zeit von selbst verschwindet. Wohl mag seine relative Bedeutung mit fortschreitender Zeit abnehmen. Indessen können persönlichkeitsverletzende Äusserungen selbst nach einer erheblichen Zeitdauer beispielsweise ansehensmindernd nachwirken. Hinzu kommt, dass Medieninhalte heutzutage angesichts neuer, elektronischer Archivierungstechniken auch nach ihrem erstmaligen, zeitgebundenen Erscheinen allgemein zugänglich bleiben und eingesehen werden können (
BGE 127 III 481
E. 1c/aa S. 484 f. mit Hinweis). Will der Verletzte nach Massgabe von
Art. 28a Abs. 1 Ziff. 3 ZGB
eine Feststellungsklage erheben, so hat er aufzuzeigen, dass sich der negative Eindruck, der von einer in der Vergangenheit erschienenen Publikation herrührt, weiterhin störend auswirkt, mithin die Tatsache, dass der verletzende Artikel weiterhin abrufbar ist, einem fortbestehenden Störungszustand gleichkommt (Urteile 5A_100/2015 vom 29. Oktober 2015 E. 6.1 und 5A_93/2010 vom 16. Dezember 2010 E. 6.1). Darin liegt das schutzwürdige Interesse an der Beseitigung eines fortbestehenden Störungszustandes, das der Kläger zu beweisen hat (zit. Urteil 5A_100/2015). Das so verstandene Interesse an der gerichtlichen Feststellung der Widerrechtlichkeit einer Verletzung kann dem Verletzten nur abgesprochen werden, wenn sich die Verhältnisse derart geändert haben, dass die persönlichkeitsverletzende Äusserung jede Aktualität eingebüsst oder eine beim Durchschnittsleser hervorgerufene Vorstellung jede Bedeutung verloren hat, und deshalb auch auszuschliessen ist, dass die verletzende Äusserung bei neuem aktuellem Anlass wieder aufgegriffen und neuerdings verbreitet wird (
BGE 127 III 481
E. 1c/aa S. 485 mit Hinweis).
Mit Bezug auf im Internet publizierte Medieninhalte folgt aus dem Gesagten, dass der Grundsatz, wonach Veröffentlichungen im Internet im Allgemeinen immer abrufbar sind, im spezifischen Fall der Konkretisierung bedarf. Mit anderen Worten genügt es nicht, die geschehene Veröffentlichung zu behaupten (Urteil 5A_100/2015 vom 29. Oktober 2015 E. 6.4). Der zitierte Entscheid schützt die Abweisung der Klage durch die Vorinstanz und verweist auf deren Feststellungen, wonach der Beschwerdeführer nie behauptete, dass die Öffentlichkeit den streitigen Artikel in papierenen oder digitalen Archiven noch immer hätte finden können. Auf derselben Linie liegt die Rechtsprechung, wonach allein die Tatsache, dass die Quelle der Persönlichkeitsverletzung noch aufgefunden werden kann, nicht zur
BGE 147 III 185 S. 191
Begründung eines Feststellungsinteresses im Sinne von
Art. 28a Abs. 1 Ziff. 3 ZGB
genügt, es sei denn, die Verbreitung dauere an, beispielsweise im Internet (Urteil 5A_328/2008 vom 26. November 2008 E. 6.2). Zur Begründung, weshalb die kantonalen Instanzen auf die Feststellungsklage zu Recht nicht eintraten, führt das zitierte Urteil aus, die beklagte Tageszeitung habe ihren Fehler in einer später veröffentlichten Berichtigung eingestanden und korrigiert, womit die ursprüngliche Verletzung weggefallen sei. Demgegenüber bejahte das Bundesgericht das Feststellungsinteresse in einem Fall, in welchem als Tatsache feststand, dass der Medienbericht mit den persönlichkeitsverletzenden Aussagen aus dem Plädoyer eines Anwalts nach wie vor im Internet aufgerufen werden konnte (Urteil 5A_605/2007 vom 4. Dezember 2008 E. 3.2).
3.4
Im Lichte dieser Erwägungen erweckt der angefochtene Entscheid jedenfalls insofern Bedenken, als er dem Beschwerdegegner ein Interesse an der Feststellung der Widerrechtlichkeit der ersten Version des fraglichen Onlineberichts zugesteht, obwohl diese Version - den vorinstanzlichen Feststellungen zufolge - gar nicht mehr im Internet einsehbar ist. Die Überlegung des Obergerichts, dass die ursprüngliche Version des Artikels "aufgrund der heutigen Archivierungstechniken" unbefristet zugänglich bleibe (s. E. 3.1), hat keinen Bezug zum konkreten Fall. Sie ist - wie die Beschwerdeführerin zutreffend beanstandet - abstrakter Natur. Ein allgemeiner Hinweis auf nicht näher bezeichnete Technologien genügt gemäss der erläuterten Rechtsprechung aber gerade nicht, um einen fortbestehenden Störungszustand zu bejahen. Konkrete Anhaltspunkte dafür, auf welche Art und Weise die Öffentlichkeit auch heute noch ungehindert und ohne besondere Anstrengungen an die ursprüngliche Version des Onlineartikels vom 20. Oktober 2013 gelangen kann, sind dem angefochtenen Entscheid nicht zu entnehmen. In tatsächlicher Hinsicht stellt die Vorinstanz vielmehr fest, dass die erste Version, die den Beschwerdegegner mit Vor- und Nachnamen nennt, aktuell im Internet nicht mehr einsehbar ist. Angesichts dessen trotzdem von einem fortbestehenden Störungszustand auszugehen, verträgt sich nicht mit
Art. 28a Abs. 1 Ziff. 3 ZGB
.
Nichts anderes gilt, soweit die Vorinstanz in ihren theoretischen Erwägungen unter Hinweis auf ein Urteil des Bundesgerichts als "offenkundig" unterstellt, "dass das, was einmal im Internet publiziert ist, dort grundsätzlich unbefristet zugänglich bleibt" (Urteil 2C_372/2018 vom 25. Juli 2018 E. 3.3). Ob es sich dabei um eine bekannte
BGE 147 III 185 S. 192
Tatsache im Sinne von
Art. 151 ZPO
handelt, erscheint fraglich, kann jedoch offenbleiben. Im zitierten Urteil hatte das Bundesgericht nicht die Zulässigkeit einer Feststellungsklage nach
Art. 28a Abs. 1 Ziff. 3 ZGB
zu beurteilen. Vielmehr ging es um die Frage, in welchem Zeitpunkt der durch eine Internetpublikation Geschädigte ein Haftungsbegehren gegen die Schweizerische Eidgenossenschaft stellen (und damit die Frist nach Art. 20 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 14. März 1958 über die Verantwortlichkeit des Bundes sowie seiner Behördemitglieder und Beamten [VG; SR 170.32] einhalten) kann. Vor allem aber verkennt die Vorinstanz mit ihrem Hinweis auf das zitierte Urteil 2C_372/2018, dass sich ein fortbestehender Störungszustand, wie ihn
Art. 28a Abs. 1 Ziff. 3 ZGB
voraussetzt, nicht allein gestützt auf allgemeine Aussagen über die dauerhafte Zugänglichkeit von Internetpublikationen bejahen lässt, sondern hierfür im konkreten Fall in tatsächlicher Hinsicht erstellt sein muss, dass der verletzende Artikel weiterhin im Netz abrufbar ist (zit. Urteil 2C_372/ 2018 E. 3.3). Soweit das Obergericht hinsichtlich der ersten Version des streitigen Onlineartikels einen fortbestehenden Störungszustand bejaht, verletzt der angefochtene Entscheid somit
Art. 28a Abs. 1 Ziff. 3 ZGB
. Die Beschwerde ist in diesem Punkt begründet.
Auch mit Bezug auf die zweite Version des streitigen Berichts, in welcher der volle Name des Beschwerdegegners durch seine Initialen ersetzt wurde, wirft die Beschwerdeführerin der Vorinstanz sinngemäss vor, einen fortbestehenden Störungszustand zu bejahen. Hinsichtlich dieser Fassung steht laut Vorinstanz in tatsächlicher Hinsicht fest, dass der Artikel nach wie vor im Internet abrufbar ist (s. Sachverhalt Bst. A). Weshalb sich die von der Beschwerdeführerin bestrittenen (s. dazu unten E. 4) Persönlichkeitsverletzungen trotzdem nicht (mehr) im Sinne von
Art. 28a Abs. 1 Ziff. 3 ZGB
störend auswirken sollen, ist der Beschwerde nicht zu entnehmen. Die Beschwerdeführerin erklärt, es sei eine "unbewiesene Annahme", dass der Bericht im Internet noch zugänglich oder irgendwo archiviert sei. Allein mit dieser Gegenbehauptung vermag sie die erwähnte vorinstanzliche Feststellung nicht umzustossen. Unbehelflich ist auch ihr Einwand, wonach die Aktualität der Verletzung nicht aus der Tatsache der Verletzung selbst folgen könne. Die Beschwerdeführerin bestreitet, die "Nicht-Aktualität" als negative Tatsache begründen zu müssen; vielmehr sei es am Beschwerdegegner als Kläger, die Aktualität zu beweisen. Bei alledem übersieht sie, dass sich die Vorinstanz mit der Frage der Aktualität der Verletzung befasst, und
BGE 147 III 185 S. 193
zwar auch bezogen auf den konkreten Fall: Sie kommt zur Erkenntnis, es seien keine Umstände ersichtlich, die den Schluss zuliessen, dass die Äusserung jede Aktualität eingebüsst oder eine beim Durchschnittsleser hervorgerufene Vorstellung jede Bedeutung verloren hätte, und aufgrund derer deshalb auszuschliessen wäre, dass die verletzende Äusserung bei neuem aktuellem Anlass wieder aufgegriffen und erneut verbreitet würde. Dieser Erkenntnis hat die Beschwerdeführerin nichts Substantielles entgegenzusetzen. Allein mit der Mutmassung, es sei "nicht anzunehmen", dass ein alter Bericht über die Störung einer Mahnwache noch für irgendwen aktuell ist, vermag sie nichts auszurichten. Soweit die Vorinstanz mit Bezug auf die zweite, aktuell abrufbare Fassung des umstrittenen Onlineartikels ein im Sinne von
Art. 28a Abs. 1 Ziff. 3 ZGB
schutzwürdiges Feststellungsinteresse des Beschwerdegegners bejaht, hat es mit dem angefochtenen Entscheid somit sein Bewenden.
4.
(...)
4.2
Was die eigentliche Persönlichkeitsverletzung angeht, gibt zunächst die vorinstanzliche Beurteilung des Untertitels des umstrittenen Onlineartikels (s. Sachverhalt Bst. A) Anlass zur Beschwerde.
4.2.1
Das Obergericht widerspricht dem erstinstanzlichen Entscheid, wonach Titel und Untertitel nur im Gesamtzusammenhang betrachtet werden können. Auch einzelne Teile einer Gesamtaussage, zum Beispiel einzelne Teile eines Presseerzeugnisses (etwa ein Titel oder Bilder) könnten für sich allein betrachtet persönlichkeitsverletzend sein. Dies gelte umso mehr, als mancher Leser eines Presseerzeugnisses nur Titel überfliegt und sich nicht zwingend die Mühe nimmt, den Artikel durchzulesen. Nicht überzeugend ist laut Vorinstanz auch die erstinstanzliche Einschätzung, wonach sich aus dem eigentlichen Bericht, das heisst aus dem Kontext, ergebe, dass mit "Unterstützung" bloss die verbale Verteidigung der Gemeinschaft der Zwölf Stämme und das von ihr proklamierte Züchtigungsrecht gemeint ist. Diese Schlussfolgerung möge zwar auf den Haupttitel zutreffen, wo das konjugierte Verb "hilft" für sich alleine steht, das heisst ohne Konkretisierung, worin die Hilfe besteht. Anders verhalte es sich beim Untertitel. Dessen erster Satz erscheine, isoliert betrachtet, in Bezug auf den Kläger noch unproblematisch. Im zweiten Satz werde das Wort "Unterstützung" nicht für sich alleine verwendet und damit die Unterstützungsleistung an sich in den Vordergrund gestellt oder etwas Unbestimmtes ausgedrückt, das durch einen Folgetext erst erläutert werden müsste. Vielmehr beziehe sich die
BGE 147 III 185 S. 194
Unterstützung auf den ersten Teilsatz, in welchem die Aussage gemacht werde, die Sekte "quäle" Kinder, was grundsätzlich eine Tatsachenbehauptung darstelle. Mit der "Sekte" werde ohne Zweifel auf die Gemeinschaft der Zwölf Stämme und mit "aus der Schweiz" auf den Kläger Bezug genommen. Der Gedankenstrich zeige sodann an, dass der zweite Teilsatz am ersten anknüpft. Der Inhalt des zweiten Teilsatzes des zweiten Satzes des Untertitels beziehe sich daher auf jenen des ersten Teilsatzes und könne aufgrund seiner klaren Formulierung - auch unter Berücksichtigung des Haupttextes - nicht anders verstanden werden als ein Vorwurf an den Beschwerdegegner, die Gemeinschaft der Zwölf Stämme in einer Weise zu unterstützen, die das Quälen von Kindern ermögliche oder erleichtere. Mit anderen Worten beziehe sich die Unterstützung nicht auf die Gemeinschaft der Zwölf Stämme als solche, sondern auf das von ihr (angeblich) praktizierte Quälen der eigenen Kinder. Anders könne ein Durchschnittsleser diesen Satz nicht verstehen, so die Beurteilung des Obergerichts.
In der Folge erinnert der angefochtene Entscheid daran, dass nach allgemeiner Auffassung kein charakterlich anständiger Mensch Dritte beim Quälen ihrer Kinder unterstütze. In dieser Unterstellung liege eine klare Verletzung der Ehre des Beschwerdegegners. Ferner handle es sich bei der fraglichen Aussage nicht bloss um eine journalistische Ungenauigkeit. Vielmehr werde der Beschwerdegegner in ein falsches Licht gerückt, denn es sei nicht nachgewiesen (und werde von der Beschwerdeführerin auch nicht behauptet), dass der Beschwerdegegner einen tatsächlich erfolgten Akt des Quälens bzw. der Züchtigung von Kindern unterstützt hat. Soweit er sich auf den Beschwerdegegner beziehe, enthalte der zweite Satz des Untertitels falsche Informationen. Weil an falschen Informationen von vornherein kein öffentliches Interesse bestehe, sei mangels Vorliegens eines Rechtfertigungsgrundes in teilweiser Gutheissung der Feststellungsklage festzustellen, dass die Beschwerdeführerin das Persönlichkeitsrecht des Beschwerdegegners mit der Aussage "[d]ie Sekte quält Kinder - mit Unterstützung aus der Schweiz" widerrechtlich verletzt. Ferner verpflichtet die Vorinstanz in teilweiser Gutheissung des Beseitigungsbegehrens die Beschwerdeführerin, den Passus "mit Unterstützung aus der Schweiz" zu löschen.
4.2.2
Die Beschwerdeführerin wirft dem Obergericht vor, die Inhalte des Hauptartikels auszublenden und sich bundesrechtswidrig und den Regeln der Interpretation eines Medien-Textes widersprechend
BGE 147 III 185 S. 195
einzig auf die Formulierung des Untertitels zu beschränken. Der Untertitel bzw. allein das darin verwendete Hauptwort "Unterstützung" besage nach einem vernünftigen Verständnis aber gerade nicht, dass der Beschwerdegegner fremde Kinder geschlagen oder dabei geholfen (solches "unterstützt") habe, und der Passus "aus der Schweiz" sei eine rein geografische Angabe ohne jeden Bezug zu einem konkreten Akt der körperlichen Misshandlung. Es gehe nicht an, einen zufolge seiner relativen Offenheit auf vielfältige konkrete Inhalte passenden Titel gestützt auf eine absolut nicht naheliegende, völlig verengte Sachverhaltsvariante, die er auch noch abdecken könnte, als rechtswidrig zu beurteilen. Gerade deshalb stelle die Bundesgerichtspraxis auf den Gesamtzusammenhang einer Äusserung ab.
Die Beschwerdeführerin argumentiert, wenn sich das Obergericht unbegründeterweise auf eine isolierte Betrachtung einlasse, müsse es die Unbestimmtheit des Untertitels auch gelten lassen. Warum sich die Unterstützung des Beschwerdegegners konkret aufs Kinderquälen und nicht (bloss) auf die Gemeinschaft der Zwölf Stämme beziehen soll, bleibe vollkommen ungeklärt; unter Beizug des Haupttextes werde aber klar, dass niemand die Beschwerdeführerin so verstehen kann, als lege der Beschwerdegegner selbst Hand an die Kinder der Sektenmitglieder. Indem die Vorinstanz genau dies als einzigen Sinn des zweiten Satzes des Untertitels darstelle, verfalle sie "in schon ziemlich krasse Willkür". Die Beschwerdeführerin pocht darauf, dass das Zeitwort "quälen" einen weiten Bedeutungsinhalt habe und der Leser des Untertitels gerade nicht eindeutig erkennen könne, was es mit dem Quälen genau auf sich hat. Dass mit dem Untertitel eine konkrete Mithilfe des Beschwerdegegners beim tatsächlichen Schlagen ausgedrückt werde, sei "nach allen Regeln der deutschen Sprache ausgeschlossen". Das vom Obergericht behauptete Verständnis des Durchschnittslesers sei "seine Erfindung", so der Tadel der Beschwerdeführerin.
Besonders vehement bestreitet die Beschwerdeführerin, im Titel oder Untertitel des streitigen Artikels geschrieben zu haben, dass der Beschwerdegegner die Gemeinschaft der Zwölf Stämme "beim" Quälen ihrer Kinder unterstütze. Entgegen den unbelegten Behauptungen der Vorinstanz habe sie lediglich gesagt, dass der Beschwerdegegner die Erziehungsmethoden vorbehaltlos unterstützt und öffentlich verteidigt, nicht jedoch, dass er fremde Kinder schlage oder dabei helfe. Mit dem Wort "beim" nehme das Obergericht eine nicht vom Untertitel getragene inhaltliche Ergänzung vor; das konkret auf
BGE 147 III 185 S. 196
den Akt des Schlagens, den direkten Vollzug von Gewaltanwendung bezogene Verständnis der Vorinstanz sei eine unzulässige Verdrehung des Artikelinhalts und eine willkürliche Deutung von Titel und Untertitel. Angesichts dieser unhaltbaren Deutung des zweiten Teils des zweiten Satzes des Untertitels sei dem Vorwurf des Obergerichts, dass sie über den Beschwerdegegner falsche Informationen verbreitet habe, der Boden entzogen. Unzutreffend sei in der Folge auch der Vorwurf, dass damit ein öffentliches Interesse entfalle, denn eine verkehrte Prämisse könne nicht die daraus gezogenen Folgerungen tragen. Die Frage nach dem Rechtfertigungsgrund stelle sich nicht so wie im angefochtenen Entscheid dar.
4.2.3
Die Persönlichkeit umfasst alles, was zur Individualisierung einer Person dient und im Hinblick auf die Beziehung zwischen den einzelnen Individuen und im Rahmen der guten Sitten als schutzwürdig erscheint (
BGE 70 II 127
E. 2 S. 130;
45 II 623
E. 1 S. 625). Das Persönlichkeitsrecht verschafft seinem Träger die privatrechtliche Befugnis, über die persönlichen Güter grundsätzlich frei von fremder Einwirkung zu herrschen (
BGE 143 III 297
E. 6.4.2 S. 308).
Art. 28 ZGB
enthält keine Umschreibung des rechtserheblichen unerlaubten Verhaltens, das die Verletzung der Persönlichkeit begründet. Das Zivilrecht bietet Schutz gegen verschiedenste Arten und Modalitäten von Verletzungen. Eingriffe durch Informationstätigkeiten von Medienschaffenden und Medien können beispielsweise dadurch erfolgen, dass die Presse die verbreiteten Informationen mit verbotenen Mitteln oder auf unfaire oder sonstwie unerlaubte Weise beschafft, dass sie grundsätzlich nicht öffentliche Personeninformationen verbreitet oder dass sie jemanden in den Medien blossstellt und lächerlich macht. Wie für jede Persönlichkeitsverletzung gilt auch für die Beeinträchtigungen der Persönlichkeit durch Informationstätigkeiten der Medien, dass das rechtserhebliche Verhalten eine gewisse Intensität erreichen muss, so dass ein eigentliches "Eindringen" vorliegt (
BGE 143 III 297
E. 6.4.3 S. 309 f. mit Hinweisen). Für die Beurteilung des Eingriffes in die Persönlichkeit muss darauf abgestellt werden, wie der Pressebericht bei einem durchschnittlichen Leser ankommt (
BGE 127 III 481
E. 2b/aa S. 487;
BGE 126 III 209
E. 3a S. 213;
BGE 111 II 209
E. 2 S. 211;
BGE 106 II 92
E. 2a S. 96 f.). Dessen Eindruck und Verständnis einer Presseäusserung behandelt das Bundesgericht nicht als Tatsachenfeststellung, sondern als Rechtsfrage bzw. als ihr gleichgestellte Folgerung aus der
BGE 147 III 185 S. 197
allgemeinen Lebenserfahrung (Urteil 5A_376/2013 vom 29. Oktober 2013 E. 3.2 mit Hinweisen).
Die Persönlichkeitsverletzung kann sich aus einzelnen Behauptungen oder Passagen eines Medienberichts, aus dem Zusammenhang einer Darstellung oder auch aus dem Zusammenspiel mehrerer Meldungen ergeben (vgl.
BGE 126 III 209
E. 3a S. 212; ANDREAS MEILI, in: Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch, Bd. I, 6. Aufl. 2018, N. 42 zu
Art. 28 ZGB
; NOBEL/WEBER, Medienrecht, 3. Aufl. 2007, S. 207). Speziell im Zusammenhang mit der (schriftlichen) Wortberichterstattung ist sodann zu beachten, dass Leser den ausführlichen (Haupt-)Text eines Medienberichts oft nicht in allen Einzelheiten von A bis Z durchlesen, sondern ihre Aufmerksamkeit vor allem oder gar ausschliesslich den Schlagzeilen, Unter- und Zwischentiteln oder Bildlegenden zuwenden (vgl.
BGE 116 IV 31
E. 5b S. 42). Dies gilt in besonderem Mass für die Art und Weise, wie Medienberichte für die Veröffentlichung auf Onlineportalen aufbereitet und von der Leserschaft über diese Kanäle konsumiert werden. Auch dieser Umstand ist - als allgemeine Erfahrungstatsache - zu berücksichtigen, wenn zur Beurteilung steht, wie ein Durchschnittsleser den fraglichen Bericht wahrnimmt. Entsprechend können durchaus auch einzelne Bestandteile eines Presseerzeugnisses für sich allein betrachtet persönlichkeitsverletzend sein, soweit nach der allgemeinen Lebenserfahrung damit zu rechnen ist, dass die fraglichen Elemente mitunter losgelöst von den übrigen Inhalten zur Kenntnis genommen werden. Beschränkt sich die zu erwartende Wahrnehmung des Durchschnittslesers aber auf einzelne Teile eines Presseerzeugnisses, so "schrumpft" damit auch der Gesamteindruck des Durchschnittslesers, auf den es nach der Rechtsprechung (s.
BGE 126 III 209
) bei der Beurteilung der Widerrechtlichkeit ankommt, denn diesen Gesamteindruck vermag der Durchschnittsleser unweigerlich nur aus dem Wahrgenommenen zu gewinnen.
4.2.4
Angesichts der vorstehenden Erläuterungen erweisen sich die in der Beschwerde erhobenen Beanstandungen als unbegründet. Zwar reklamiert die Beschwerdeführerin unablässig, dass der Haupttext des streitigen Onlineartikels in die Beurteilung des Untertitels einzubeziehen ist, weil erst dieser klar aufzeige, wie der Beschwerdegegner die Gemeinschaft der Zwölf Stämme unterstützt. Die Erkenntnis des Obergerichts, wonach sich mancher Leser eines Presseerzeugnisses nur die Titel ansieht und nicht notwendigerweise den gesamten Artikel durchliest, stellt sie nicht in Abrede. Sie
BGE 147 III 185 S. 198
argumentiert aber, dass ein Titel gar nicht mehr als ein grober Inhaltshinweis sein könne. Was ein flüchtiger Leser zu verstehen meint, könne gerade nicht massgeblich sein. Ein flüchtiger Leser habe keinen Anspruch darauf, mit dem blossen Titel einen differenzierten Inhalt vollständig zu erfassen; umgekehrt könne sich ohne Bezugnahme auf den Inhalt eines Artikels gar nicht entscheiden, was mit einem Titel eigentlich genau gemeint ist. Allein damit vermag sie die vorinstanzliche Erklärung, weshalb auch bloss einzelne Titel oder Bilder in einem Medienbericht für sich allein betrachtet persönlichkeitsverletzend sein können, nicht zu Fall zu bringen. Soweit sie geltend macht, dass die Bundesgerichtspraxis auf den "Gesamtzusammenhang" einer Äusserung abstelle, übersieht sie, dass sich dieser Gesamtzusammenhang nicht unbedingt aus der Summe aller Inhalte des fraglichen Medienberichts ergibt, sondern wesentlich davon beeinflusst wird, welche Inhalte der Durchschnittsleser überhaupt erfasst. Gewiss sind in der Wortberichterstattung gebräuchliche Textelemente wie Spitzmarken, Schlagzeilen, Untertitel und Lead darauf angelegt, die Aufmerksamkeit des Lesers zu erhaschen und ihn zur Lektüre des eigentlichen Haupttextes zu motivieren, ohne dessen Inhalt in allen Feinheiten vermitteln zu können. Allein daraus folgt entgegen der Meinung der Beschwerdeführerin aber nicht, dass die bundesrechtskonforme Beurteilung einer Publikation zwingend eine Gesamtschau von Titel, Untertitel und Artikel erfordert. Um die Neugier ihrer Leserschaft zu wecken und Spannung aufzubauen, bedient sich die Presse nicht immer prägnanter und aufschlussreicher Informationen. Bisweilen greift sie zu diesem Zweck auch auf Anspielungen und Vieldeutigkeiten zurück. Ist - wie mit Bezug auf die fraglichen Textbestandteile - aber damit zu rechnen, dass Leser den Haupttext trotz allen Werbens nicht in seiner Gesamtheit zur Kenntnis nehmen, so kann sich ein Medienunternehmen nicht darauf berufen, dass die vollständige Lektüre des Berichts allfällige, in den einleitenden Teilen enthaltene Doppelbödigkeiten oder Andeutungen ausgeräumt hätte. Lässt sich die Presse bei der Gestaltung von Schlagzeilen und (Unter-)Titeln auf das Spiel mit der relativen Offenheit der verwendeten Formulierungen ein, so geht sie mit anderen Worten auch unter dem Blickwinkel des Persönlichkeitsschutzes ein Risiko ein: Entgegen dem, was die Beschwerdeführerin glauben machen will, muss sie sich auch Lesarten entgegenhalten lassen, die vielleicht nicht ganz so naheliegend erscheinen beziehungsweise nicht beabsichtigt waren, aber trotzdem in den beschränkten
BGE 147 III 185 S. 199
Wahrnehmungshorizont eines Durchschnittslesers fallen, der sich mit den Textinhalten nur flüchtig oder summarisch beschäftigt.
Soweit die Beschwerdeführerin die vorinstanzliche Analyse der streitigen Passage des Untertitels des Onlineartikels in Frage stellt, begnügt sie sich damit, dem angefochtenen Entscheid ihre eigene Interpretation gegenüber zu stellen. Wie die resümierten Erwägungen des Obergerichts zeigen (E. 4.2.1), ist insbesondere auch der Vorwurf unbegründet, wonach die Vorinstanz nicht erkläre, inwiefern sich der Untertitel vom Haupttitel unterscheidet. Bloss zu behaupten, es lasse sich kein rechtlich und sachlich relevanter Unterschied darlegen, genügt nicht. Weiter meint die Beschwerdeführerin, wenn "Unterstützung" etwas anderes als "Helfen" sei, dann sei damit auch nicht gesagt, dass die Unterstützung "aus der Schweiz" diejenige des Beschwerdegegners ist, denn die fragliche Passage laute nicht "mit seiner Unterstützung aus der Schweiz". Inwiefern es für die Deutung von "Dieser Schweizer" (Titel) bzw. "aus der Schweiz" (Untertitel) darauf ankommt, dass im Titel von "helfen" und im Untertitel von "Unterstützung" die Rede ist, mag die Beschwerdeführerin nicht erklären. Ihrem Schriftsatz ist auch nicht zu entnehmen, warum ein Durchschnittsleser bei der Lektüre der einleitenden Elemente des Artikels ausgerechnet zum Schluss kommen soll, dass sich die im Untertitel erwähnte Unterstützung nicht auf den Beschwerdegegner bezieht, nachdem die Oberzeile den Beschwerdegegner mit den Initialen konkret benennt und der Titel mit "Dieser Schweizer" eindeutig auf den identifizierten Beschwerdegegner Bezug nimmt. Im Dunkeln bleibt auch, weshalb es für die Beurteilung der streitigen Stelle im Untertitel darauf ankommen soll, ob die Gemeinschaft der Zwölf Stämme eigene oder fremde Kinder quält.
Wortreich wehrt sich die Beschwerdeführerin schliesslich dagegen, dass mit dem Untertitel aus der Sicht eines Durchschnittslesers eine konkrete Mithilfe (des Beschwerdegegners) beim tatsächlichen Schlagen der Kinder ausgedrückt werde. Entgegen dem, was die Beschwerdeführerin behauptet, kann der angefochtene Entscheid gerade nicht in diesem Sinn verstanden werden. Die Vorinstanz stellt klar, mit der verwendeten Formulierung werde "nicht zwingend ausgedrückt", dass der Beschwerdegegner beim "Akt des Quälens an sich" helfe, sondern dem Beschwerdegegner lediglich vorgeworfen, die Gemeinschaft in einer Weise zu unterstützen, die das Quälen von Kindern ermögliche oder erleichtere. Soweit ihre Erörterungen um die vorinstanzliche Ausdrucksweise "beim Quälen" kreisen,
BGE 147 III 185 S. 200
übersieht die Beschwerdeführerin, dass hier der tatsächliche Wortlaut des streitigen Untertitels zur Beurteilung steht und nicht die Art und Weise, wie das Obergericht die umstrittene Passage aus dem Onlineartikel wiedergibt oder zusammenfasst. Inwiefern der Formulierung "beim Quälen" eine andere Bedeutung als diejenige einer blossen Paraphrase des bereits Gesagten beizumessen ist, vermag die Beschwerdeführerin bei aller Breite ihres Vortrags nicht nachvollziehbar darzulegen. Die Vorinstanz erblickt in der streitigen Passage die Unterstellung, dass der Beschwerdegegner einen tatsächlich erfolgten Akt des Quälens bzw. der Züchtigung von Kindern unterstützt habe. Dass sie den Beschwerdegegner an der fraglichen Stelle des Untertitels bezichtigt hätte, selbst "Hand angelegt", also in tätlicher Weise beim Schlagen von Kindern mitgeholfen zu haben, wirft das Obergericht der Beschwerdeführerin damit nicht vor.
4.3
Zu prüfen bleibt, ob der Onlineartikel die Persönlichkeit des Beschwerdegegners deshalb verletzt, weil er diesen mit den Initialen seines Vor- und Nachnamens nennt und eine Fotografie verwendet, die ihn erkennbar in Nahaufnahme zeigt (s. Sachverhalt Bst. A).
4.3.1
Die Vorinstanz erinnert daran, dass der Beschwerdegegner eine von Dritten organisierte öffentliche Kundgebung gestört hat. Deshalb müsse er sich eine Berichterstattung über die Kundgebung und deren Störung durch ihn gefallen lassen. Hingegen sei grundsätzlich kein schützenswertes Interesse ersichtlich, den nicht prominenten Urheber einer solchen Aktion, zumal wenn er nicht namentlich auftritt, zuhanden einer weiteren Öffentlichkeit (Leserschaft) zu identifizieren. Ein Interesse einer Person, trotz Exponierung für eine Sache möglichst anonym zu bleiben, bestehe umso mehr, als im Zeitalter des Internets sich jederzeit ein medial (aber auch privat) veranlasster Sturm der Entrüstung über Individuen ergiessen könne. Das gelte namentlich dann, wenn die Person eine (Aussenseiter-) Meinung vertritt bzw. sich für Aussenseiter einsetzt und ihr Engagement geeignet erscheint, ihre Stellung in ihrem engeren oder weiteren Umfeld (etwa mit Blick auf künftige Stellenbewerbungen) in tiefgreifender Weise zu verändern. Im konkreten Fall setze sich der Beschwerdegegner für die von der Beschwerdeführerin ausdrücklich als Sekte bezeichnete religiöse Gemeinschaft der Zwölf Stämme ein, die (angeblich) Körperstrafen an Kindern praktiziere und sich insoweit "seltsam" verhalte. Das Obergericht folgert, dass eine personifizierte Berichterstattung über den Beschwerdegegner für diesen erhebliche negative Konsequenzen haben könne, beispielsweise
BGE 147 III 185 S. 201
"Shitstorms" auf sozialen Medien oder Absagen bei Stellenbewerbungen. Die Interessenabwägung zugunsten des Beschwerdegegners ergebe sich nicht zuletzt aus der zur Gerichtsberichterstattung entwickelten Rechtsprechung und der Rechtsprechung zu relativen Personen der Zeitgeschichte, denn in beiden Fällen müsse die Berichterstattung grundsätzlich anonymisiert sein.
Für das Obergericht steht fest, dass der Beschwerdegegner auch in der aktuell online abrufbaren Version des Onlineartikels identifizierbar sei, wenn auch für einen beschränkteren Leserkreis (Verwandte und Bekannte). Zwar sei der volle Name durch die Initialen ersetzt worden. Dem Artikel sei aber noch immer die Fotografie beigefügt, in deren Zentrum der Beschwerdegegner klar erkennbar sei. Darin liege eine Verletzung des Rechts am eigenen Bild, denn grundsätzlich dürfe eine sich in der Öffentlichkeit (Gemeinbereich) aufhaltende Person (ohne Einwilligung zu einer Grossaufnahme) nur als Teil der Umgebung abgebildet werden. Zwar könne eine Wortberichterstattung, die einen Rechtfertigungsgrund in Anspruch nehmen kann, ein legitimer Grund sein, eine der Illustration dienende Fotografie des Portraitierten mit zu veröffentlichen, doch habe immer eine sorgfältige Interessenabwägung zu erfolgen. Hier müsse diese Abwägung zugunsten des Beschwerdegegners ausfallen, denn im Unterschied zum Fall, der
BGE 127 III 481
zugrunde liegt, handle es sich bei ihm nicht um eine "relativ prominente Persönlichkeit". Der Beschwerdegegner sei - soweit ersichtlich - einzig an der Mahnwache in U. (D) öffentlich aufgetreten, dazu noch "seltsam", das heisst wenig vorteilhaft. Dies rechtfertige keine ihn individualisierende Abbildung, so die Schlussfolgerung der Vorinstanz. Gestützt auf diese Erwägungen stellt das Obergericht in teilweiser Gutheissung des klägerischen Feststellungsbegehrens fest, dass die Beschwerdeführerin im Onlineartikel vom 20. Oktober 2013 mit dem verwendeten Bild des Beschwerdegegners dessen Persönlichkeit (sein Recht am eigenen Bild bzw. auf informationelle Privatheit) verletzt hat. Zudem verpflichtet es die Beschwerdeführerin in teilweiser Gutheissung des Beseitigungsbegehrens, die im Onlinebericht verwendete Fotografie so zu verpixeln, dass der Beschwerdegegner nicht mehr individualisiert werden kann.
4.3.2
Die Beschwerdeführerin rügt, die verquere Logik der Vorinstanz schütze unvorteilhafte Aktionen von Unprominenten vor Berichterstattung. Die Medien- und Meinungsfreiheit sei nicht darauf verwiesen, über Unprominente nur Vorteilhaftes und über
BGE 147 III 185 S. 202
Prominente nur Unvorteilhaftes berichten zu dürfen. Die vorbestehende Prominenz zum entscheidenden Kriterium zu erheben, sei falsch; warum die Prominenz hier eine Rolle spielen könnte, sei nicht ersichtlich. Der unprominente Beschwerdegegner verdiene keinen Schutz vor identifizierender Berichterstattung, da er durch seine Aktion erst zum relativ Prominenten im Sinne der Rechtsprechung werde und sein Handeln den Bericht überhaupt erst rechtfertige. Dazu komme, dass der Beschwerdegegner auf öffentlichem Grund, also in der Gemeinsphäre gehandelt und seine Handlung nichts mit seiner Privat- oder Geheimsphäre zu tun habe. Wer öffentlich seine Überzeugungen erkläre, verzichte auf jeden Schutz in diesem Zusammenhang. Nachdem der Beschwerdegegner als einzelner und einziger mit einem Megafon eine öffentliche Veranstaltung gestört habe, könne er nicht in Anspruch nehmen, in der Masse zu verbleiben, aus der er ja bewusst und gewollt herausgetreten sei. Weil er allein, als einzelner Schweizer gehandelt habe, mache ihn sein Handeln in der Öffentlichkeit in Deutschland relativ prominent und bilde gerade den Anlass für die Berichterstattung. Die Beschwerdeführerin besteht darauf, dass es im fraglichen Artikel allein um die Störung der Mahnwache durch den Beschwerdegegner gehe. Dessen Auftritt sei Ausdruck einer gelebten und bis heute aufrecht erhaltenen Haltung und bette sich in weitere Unterstützungshandlungen zugunsten der Gemeinschaft der Zwölf Stämme ein. Als einziger Anlass der Berichterstattung müsse sich der Beschwerdegegner die Namensnennung und Abbildung gefallen lassen, denn jemand, der sich öffentlich exponiere, könne mit seiner Exponierung nicht wiederum Persönlichkeitsschutz beanspruchen.
Die Beschwerdeführerin insistiert, dass Aussenseitermeinungen nicht deshalb "mehr geschützt" seien, weil sie Aussenseitermeinungen sind. Wer öffentlich Unsinn vertrete, müsse damit leben, dass man darüber berichtet. Setze sich der Beschwerdegegner entgegen dem allgemeinen Konsens für einen gewaltsamen Erziehungsstil ein, so müsse er sich das auch entgegenhalten lassen, wenn er nicht prominent ist. Der Persönlichkeitsschutz gehe nicht so weit, dass ein wahrheitsgemässer und nicht herabsetzender Bericht über abwegige Auftritte in der Öffentlichkeit allein deshalb widerrechtlich ist, weil der Protagonist keine absolute Person der Zeitgeschichte ist. Ausserdem übergehe die Vorinstanz in ihrer Interessenabwägung, dass der Beschwerdegegner im Jahr 2014 im Internet unbestrittenermassen den Beitrag "D." publiziert habe, in welchem er sich zustimmend zum Einsatz
BGE 147 III 185 S. 203
von Schlaginstrumenten in der Kindererziehung äussere. Auch der bloss mögliche, nicht bewiesene "Shitstorm" ist für die Beschwerdeführerin kein Argument, weil niemand Anrecht darauf habe, für seine umstrittenen, geradezu abwegigen Auffassungen nicht kritisiert zu werden. Dass der Bericht keine negativen Folgen für den Beschwerdegegner hatte - die Vorinstanz erwähne den "Sturm der Entrüstung" und die "Shitstorms" nur als möglich - bestätige die Richtigkeit ihres Standpunkts, so die Beschwerdeführerin.
Schliesslich wehrt sich die Beschwerdeführerin dagegen, dass der Fall mit Gerichtsberichterstattung zu tun habe. Sie habe dem Beschwerdegegner "an keiner Stelle ihrer Rechtsschriften" vorgehalten, dass die Störung der Mahnwache eine Straftat sei. Dem Obergericht wirft sie vor, von einer gar nicht behaupteten, erfundenen und insbesondere nicht bewiesenen Straftat ausgehend auf nicht einschlägige Argumente bezüglich Gerichtsberichterstattung zurückzugreifen. Das Bundesrecht erlaube nicht, jede denkbare Assoziation in die Interessenabwägung einzubeziehen. Schliesslich sei die Tatsache, dass sich jemand einem Medienunternehmen gegenüber äussert, selbstverständlich ein ausreichender Grund, ihn zu nennen. Wer mit Medien spreche, müsse mit der Veröffentlichung dessen rechnen, was er sagt; ja meist wolle er es sogar. Deshalb dürfe er auch genannt und gezeigt werden. Da eine identifizierende Berichterstattung in jedem Fall zulässig sei, komme es auch nicht darauf an, ob der Beschwerdegegner vom Durchschnittsleser oder - infolge der Ersetzung seines Namens durch die Initialen - von seinem sozialen Umfeld erkannt wird. Gemäss
BGE 127 III 481
liege auch keine Verletzung des Rechts am eigenen Bild vor, denn wer auf öffentlichem Grund eine Störaktion vornehme, müsse sich die Berichterstattung auch mit Bild gefallen lassen. Das Obergericht verkenne den Begriff der "relativ prominenten Person", weil es die "Anlassgebundenheit der relativen Prominenz" nicht zu begreifen scheine und offenbar glaube, die Prominenz müsse vorbestehend sein und den Grad der "absoluten Person der Zeitgeschichte" erreicht haben. Indem es die Einmaligkeit der Aktion plötzlich zum Schutzfaktor erhebe und ausblende, dass der Beschwerdegegner die Gemeinschaft der Zwölf Stämme auch vorher und nachher unterstützte, verletze es die bundesrechtlich massgebenden Kriterien in der Interessenabwägung. Und indem es auch die Seltsamkeit der klägerischen Position zum Schutz des Beschwerdegegners nehme, wiederhole es den gleichen Fehler.
BGE 147 III 185 S. 204
4.3.3
Die Figur der absoluten bzw. relativen Person der Zeitgeschichte umschreibt in typisierter Weise den Rechtfertigungsgrund des öffentlichen Interesses, dem insbesondere dort eine gewichtige Funktion zukommt, wo die Medien unter Namensnennung über eine Person berichten, ohne dass diese dazu ihre Einwilligung gegeben hat. Nach der Unterscheidung, welche die Rechtsprechung von der Lehre übernommen hat, sind absolute Personen der Zeitgeschichte solche, die kraft ihrer Stellung, ihrer Funktion oder ihrer Leistung derart in das Blickfeld der Öffentlichkeit getreten sind, dass ein legitimes Informationsinteresse an ihrer Person und ihrer gesamten Teilnahme am öffentlichen Leben zu bejahen ist, was etwa für Politiker, Spitzenbeamte, berühmte Sportler, Wissenschaftler oder Künstler zutrifft. Merkmal der relativen Person der Zeitgeschichte ist es demgegenüber, dass ein zur Berichterstattung legitimierendes Informationsbedürfnis nur vorübergehend, aufgrund und in Zusammenhang mit einem bestimmten aussergewöhnlichen Ereignis besteht (
BGE 127 III 481
E. 2c/aa S. 488 f.). Als Beispiele solch aussergewöhnlicher Ereignisse werden im Schrifttum Naturkatastrophen, spektakuläre Unfälle, aufsehenerregende Verbrechen, Wettbewerbe oder hervorragende Leistungen genannt (s. etwa ANNE-SOPHIE MORAND, Die Person der Zeitgeschichte, Medialex 2015 S. 51; STEINAUER/FOUNTOULAKIS, Droit des personnes physiques et de la protection de l'adulte, 2014, S. 192 Rz. 538a; GÉRALDINE AUBERSON, Personnalités publiques et vie privée, Etude de droit privé suisse à la lumière du droit privé américain, 2013, S. 28 f.; NOBEL/WEBER, a.a.O., S. 186). Über daran beteiligte Personen darf ohne deren Einwilligung nur im Zusammenhang mit dem betreffenden Ereignis resp. Anlass - demnach punktuell - berichtet werden. Ohne den Ereignisbezug ist eine Berichterstattung nicht durch das öffentliche Interesse zu rechtfertigen und demnach unzulässig (MORAND, a.a.O.). Wie das Bundesgericht im zitierten Entscheid klarstellt, vermag die strikte Zweiteilung in absolute und relative Personen der Zeitgeschichte nicht die gesamte Wirklichkeit sachgerecht zu erfassen. Den verschiedenen Abstufungen ist deshalb mit einer die Umstände des Einzelfalles würdigenden Abwägung gerecht zu werden, indem jeweils zu fragen ist, ob an der Berichterstattung über die betroffene, relativ prominente Person ein schutzwürdiges Informationsinteresse besteht, das deren Anspruch auf Privatsphäre überwiegt (
BGE 127 III 481
E. 2c/bb S. 490; vgl. auch STEINAUER/FOUNTOULAKIS, a.a.O.). Gehört eine Person nicht zum Kreis der Personen des
BGE 147 III 185 S. 205
öffentlichen Interesses, so kann sie grundsätzlich Anonymität in der Berichterstattung beanspruchen (vgl. Urteile 5A_658/2014 vom 6. Mai 2015 E. 5.6; 1B_87/2018 vom 9. Mai 2018 E. 3.5). Aber auch in der Öffentlichkeit stehende Personen der Zeitgeschichte brauchen sich nach der erörterten Rechtsprechung nicht gefallen zu lassen, dass die Massenmedien mehr über sie berichten, als durch ein legitimes Informationsbedürfnis gerechtfertigt ist (
BGE 127 I 145
E. 5c/bb S. 161). Denn in jedem Fall gilt der Grundsatz der Verhältnismässigkeit (
BGE 126 III 305
E. 4b/aa S. 307).
Das Recht am eigenen Bild ist als Konkretisierung des in
Art. 28 Abs. 1 ZGB
verankerten Persönlichkeitsrechtes in Rechtsprechung und Lehre anerkannt. Eine Verletzung dieses Rechts ist zu bejahen, wenn jemand ohne seine Zustimmung um seiner Person willen fotografiert (oder auf andere Weise abgebildet) oder eine bestehende Abbildung ohne seine Einwilligung veröffentlicht wird (s. zu den verschiedenen Arten von Abbildungen Urteil 5C.26/2003 vom 27. Mai 2003 E. 2.2). Nicht anders verhält es sich dort, wo eine Aufnahme, die mit dem Einverständnis der abgebildeten Person gemacht wurde, ohne deren Einwilligung in einem nicht vorgesehenen Zusammenhang verwendet wird (
BGE 129 III 715
E. 4.1 S. 723 f. mit Hinweisen). Erfolgt die Veröffentlichung durch die Presse, ist deren Interesse auf Information der Allgemeinheit, wozu auch die Illustrierung der Wortberichterstattung mit Bildmaterial gehört, gegen dasjenige des Individuums auf Unversehrtheit seiner Person sorgsam abzuwägen (
BGE 127 III 481
E. 3a/aa S. 492). Es gilt derselbe Massstab wie bei der Beurteilung der Frage, ob sich die (Wort-)Berichterstattung an sich mit einem überwiegenden öffentlichen Informationsinteresse rechtfertigen lässt. In der Regel stellt zudem eine Wortberichterstattung, die einen Rechtfertigungsgrund in Anspruch nehmen kann, ihrerseits einen legitimen Grund dar, eine der Illustration dienende Fotografie des Portraitierten mitzuveröffentlichen (
BGE 127 III 481
E. 3b S. 493).
4.3.4
Im Lichte dieser Vorgaben vermag die Beschwerde den angefochtenen Entscheid nicht zu erschüttern. Die Beschwerdeführerin verstrickt sich in Widersprüche, wenn sie zum einen darauf pocht, dass die Prominenz keine Rolle spiele, zum andern aber argumentiert, der Beschwerdegegner habe sich durch seinen öffentlichen Auftritt an der Mahnwache in U. (D) "relativ prominent" gemacht. Entgegen dem, was die Beschwerdeführerin unterstellt, beruht der angefochtene Entscheid auch nicht auf der Vorstellung, dass die
BGE 147 III 185 S. 206
Prominenz einer Person der Zeitgeschichte "vorbestehend" sein müsse, zieht die Vorinstanz doch ausdrücklich in Betracht, dass sich der Beschwerdegegner durch die Störung der Mahnwache - also durch das die Berichterstattung auslösende Ereignis - zu einer relativen Person der Zeitgeschichte gemacht haben dürfte. Daran ändert auch die vorinstanzliche Erwägung nichts, wonach der Beschwerdegegner keine "relativ prominente Persönlichkeit" sei, denn in der fraglichen Passage stellt das Obergericht lediglich klar, dass der Beschwerdegegner anders als der Rechtsanwalt, um den es in
BGE 127 III 481
ging, nicht als Person gelten kann, die sich in gewissen Kreisen "eines beträchtlichen Bekanntheitsgrads" erfreut (vgl.
BGE 127 III 481
E. 2c/bb S. 489). Dass sie im kantonalen Verfahren - entgegen der diesbezüglichen Feststellung des Obergerichts - Gegenteiliges aufgezeigt hätte, macht die Beschwerdeführerin jedenfalls nicht in einer Weise geltend, die den Anforderungen an Sachverhaltsrügen genügen würde (vgl. dazu
BGE 140 III 16
E. 1.3.1 S. 17 f.). Hierzu genügt es nicht, einfach zu behaupten, der Auftritt des Beschwerdegegners in Deutschland sei kein isolierter "Akt der Verblendung", sondern Ausdruck einer Haltung, die der Beschwerdegegner "vorher und nachher auch in anderer Weise vertreten" habe.
Ebenso täuscht sich die Beschwerdeführerin, wenn sie meint, der Beschwerdegegner verwirke mit seiner Einordnung als relative Person der Zeitgeschichte bzw. dadurch, dass er durch die fragliche Störung der öffentlichen Mahnwache den alleinigen Anlass für die Berichterstattung gesetzt habe, jeden Schutz "in diesem Zusammenhang", insbesondere auch seinen Anspruch auf anonyme Berichterstattung. Wie oben ausgeführt, verbietet sich im Recht des Persönlichkeitsschutzes eine schematische Betrachtungsweise, die sich allein an abstrakten Konzepten wie demjenigen der (absoluten oder relativen) Person der Zeitgeschichte orientiert. Das Gericht hat im konkreten Einzelfall zu prüfen, ob an der fraglichen Berichterstattung ein schutzwürdiges Interesse besteht, das den Anspruch der betroffenen Person auf Privatsphäre überwiegt. Die Beantwortung der Frage, ob das Interesse des Urhebers der Persönlichkeitsverletzung dem grundsätzlich schutzwürdigen Interesse des Verletzten mindestens gleichwertig ist, bedingt eine Abwägung der auf dem Spiel stehenden Interessen. Das Gericht muss eruieren, ob sowohl die Ziele, die der Urheber verfolgt, als auch die Mittel, derer er sich bedient, schutzwürdig sind. Damit verbunden ist ein gewisses Ermessen (
Art. 4 ZGB
;
BGE 132 III 641
E. 3.1 S. 644;
BGE 129 III 529
E. 3.1 S. 531;
BGE 147 III 185 S. 207
BGE 126 III 305
E. 4a S. 306). Die geschilderten Richtlinien gelten nicht nur für die Prüfung, ob eine Berichterstattung als solche persönlichkeitsverletzend ist, sondern auch mit Blick auf die Frage, ob jemand eine individualisierende Berichterstattung mit Namensnennung und Abbildung dulden muss. Die Befürchtung der Beschwerdeführerin, dass den angefochtenen Entscheid diesbezüglich der Makel einer Bundesrechtsverletzung treffe, ist unbegründet.
So stört sich die Beschwerdeführerin daran, dass das Obergericht auf die Gerichtsberichterstattung in Strafsachen zu sprechen kommt. Dass ihr vom Obergericht vorgehalten wird, die Störung der Mahnwache in ihren Rechtsschriften als Straftat bezeichnet zu haben, stimmt jedoch nicht. Denn überhaupt stehen hier nicht die Rechtsschriften der Beschwerdeführerin zur Beurteilung, sondern der von ihr veröffentlichte Online-Artikel vom 20. Oktober 2013 (in der heute noch abrufbaren Version). Dass ihr die Vorinstanz vorwirft, den Beschwerdegegner in diesem Artikel einer Straftat bezichtigt zu haben, macht die Beschwerdeführerin zu Recht nicht geltend. Im Übrigen geht es der Vorinstanz darum, die im Zusammenhang mit der Gerichtsberichterstattung entwickelte Rechtsprechung auf den konkreten Streit um das Recht des Beschwerdegegners auf anonymisierte Berichterstattung anzuwenden. Inwiefern dies das Bundesrecht verletzen soll, ist der Beschwerde nicht zu entnehmen und auch nicht ersichtlich. In der Folge beruft sich die Beschwerdeführerin darauf, dass jemand, der mit Medien spreche, dies auch wolle und deshalb genannt und gezeigt werden dürfe. Sie begnügt sich jedoch mit der pauschalen Behauptung, dies sei eine Selbstverständlichkeit. Allein damit vermag sie die vorinstanzliche Interessenabwägung nicht als bundesrechtswidrig auszuweisen. Der angefochtene Entscheid beruht auf der Überlegung, dass sich die Presse unter bestimmten Umständen (auch ohne entsprechende Bitte der betroffenen Person) veranlasst sehen muss, von einer identifizierenden Berichterstattung abzusehen. Dem Grundsatz nach stellt die Beschwerdeführerin dies nicht in Abrede. Bezogen auf den konkreten Fall macht sie aber geltend, allein die Befürchtung erheblicher negativer Konsequenzen für den Beschwerdegegner rechtfertige keine anonymisierte Berichterstattung. Dabei übersieht sie, dass die Vorinstanz durchaus nicht mit blossen Hypothesen arbeitet, verweist sie in diesem Zusammenhang doch ausdrücklich auf diejenige Stelle in der Klageschrift, wo der Beschwerdegegner konkrete Beispiele dafür präsentiert, wie sich der streitige Artikel ungünstig für ihn
BGE 147 III 185 S. 208
auswirkte. Damit setzt sich die Beschwerdeführerin nicht auseinander. Nicht anders verhält es sich mit der vorinstanzlichen Einsicht, wonach ein überwiegendes öffentliches Interesse, das Gebaren des Beschwerdegegners in Gestalt einer personifizierten Berichterstattung an die Öffentlichkeit zu tragen, insbesondere deshalb zu verneinen ist, weil die fragliche Aktivität den Beschwerdegegner in den Augen der Öffentlichkeit in ein ungünstiges Licht rückt. Bloss zu reklamieren, die "Seltsamkeit der klägerischen Position" werde zum Schutz des Beschwerdegegners ins Feld geführt, genügt nicht. Ins Leere läuft schliesslich der Vorwurf, die Vorinstanz erhebe die Einmaligkeit der Aktion des Beschwerdegegners zum Schutzfaktor. Die Beschwerdeführerin äussert sich nicht dazu, weshalb die Unterstützung, die der Beschwerdegegner der Gemeinschaft der Zwölf Stämme (angeblich) auch vor und nach seinem Auftritt an der Mahnwache in U. (D) zukommen liess, eine identifizierende Berichterstattung als geradezu zwingend erscheinen lässt. Mag der Beschwerdegegner durch seine öffentliche Exponierung für eine Sache - entsprechend den von Rechtsprechung und Lehre entwickelten Kriterien - auch relative Prominenz errungen haben: Dieser Umstand allein verschafft der Beschwerdeführerin nicht notwendigerweise auch ein überwiegendes schützenswertes Interesse daran, den Beschwerdegegner mittels eines Porträtbildes jedenfalls in seinem Bekanntenkreis zu identifizieren. In diesem Sinne hält der angefochtene Entscheid vor Bundesrecht stand. | de |
772d2e60-192f-4a66-9e11-c0ad12afbd66 | Sachverhalt
ab Seite 284
A.
Auf das entsprechende Betreibungsbegehren von B. vom 13. August 2018 hin wurde A. mit Zahlungsbefehl Nr. x des Betreibungsamts Basel-Stadt vom 21. August 2018 aufgefordert, den Unterhaltsbeitrag für den Monat August 2018 von Fr. 20'000.- nebst Zins zu 5 % seit 1. August 2018 zu begleichen. Als Forderungsurkunde nannte der Zahlungsbefehl den Eheschutzentscheid des Zivilgerichts Basel-Stadt vom 8. Februar 2013. Bei der Zustellung des Zahlungsbefehls erhob A. Rechtsvorschlag.
B.
Mit Entscheid vom 30. Januar 2019 wies das Zivilgericht Basel-Stadt das Rechtsöffnungsgesuch von B. ab.
C.
In weitgehender Gutheissung der Beschwerde von B. hob das Appellationsgericht Basel-Stadt am 7. August 2019 den Entscheid des Zivilgerichts auf und erteilte B. definitive Rechtsöffnung für Fr. 20'000.- nebst Zins zu 5 % seit dem 13. August 2018.
BGE 146 III 284 S. 285
D.
Mit Beschwerde in Zivilsachen vom 16. September 2019 ist A. an das Bundesgericht gelangt. Der Beschwerdeführer beantragt, der Entscheid des Appellationsgerichts sei aufzuheben und das Rechtsöffnungsgesuch von B. (Beschwerdegegnerin) abzuweisen. Der Beschwerdegegnerin seien die Prozesskosten für alle Instanzen aufzuerlegen.
Das Appellationsgericht beantragt die Abweisung der Beschwerde, soweit auf sie einzutreten sei. Die Beschwerdegegnerin schliesst auf Nichteintreten, eventuell auf Abweisung.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
(Zusammenfassung) Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Anlass zur Beschwerde gibt die Frage, ob gestützt auf den Eheschutzentscheid vom 8. Februar 2013 für den in Betreibung gesetzten Unterhaltsbeitrag des Monats August 2018 die definitive Rechtsöffnung erteilt werden durfte oder nicht. Dies vor dem Hintergrund, dass das Appellationsgericht mit Berufungsentscheid vom 3. Juli 2018, eröffnet am 18. Juli 2018, erkannt hat, dass der Betreibenden kein Anspruch auf nachehelichen Ehegattenunterhalt zusteht. Strittig ist mithin, ob die Betreibende zum massgeblichen Zeitpunkt im Besitz eines vollstreckbaren Titels im Sinne von
Art. 80 SchKG
war. Das Appellationsgericht hat dies mit der Begründung bejaht, dass der Entscheid vom 3. Juli 2018 aufgrund der von der Betreibenden dagegen erhobenen Beschwerde in Zivilsachen nicht in Rechtskraft erwachsen sei und der im Eheschutzentscheid angeordnete Ehegattenunterhalt daher während der Dauer des bundesgerichtlichen Verfahrens fortgelte. Demgegenüber stellt sich der Beschwerdeführer mit der Erstinstanz auf den Standpunkt, der Entscheid vom 3. Juli 2018 sei spätestens mit dessen Eröffnung in Rechtskraft erwachsen; gleichzeitig sei damit der im Eheschutzentscheid angeordnete Ehegattenunterhalt mit Wirkung ex nunc dahingefallen.
2.1
Das Rechtsöffnungsgericht hat von Amtes wegen zu prüfen, ob ein vollstreckbarer Entscheid vorliegt (
Art. 80 Abs. 1 und
Art. 81 Abs. 1 SchKG
). Das Urteil muss vor der Ausfällung des Rechtsöffnungsentscheids vollstreckbar sein (Urteile 5A_1023/2018 vom 8. Juli 2019 E. 6.2.1; 5D_37/2018 vom 8. Juni 2018, in: SJ 2019 I S. 73; DANIEL STAEHELIN, in: Basler Kommentar, Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs, Bd. I, 2. Aufl. 2010, N. 13 zu
Art. 80
BGE 146 III 284 S. 286
SchKG
; STÉPHANE ABBET, in: La mainlevée de l'opposition, 2017, N. 72 zu
Art. 80 SchKG
).
2.2
Eheschutzmassnahmen oder vorsorgliche Massnahmen, die im Rahmen eines Scheidungsverfahrens angeordnet wurden, gelten als resolutiv bedingt (Urteile 5D_37/2018 vom 8. Juni 2018 E. 4; 5A_217/2012 vom 9. Juli 2012 E. 5.1, nicht publ. in:
BGE 138 III 583
). Als Grundsatz gilt, dass der mit Eheschutz- oder vorsorglichem Massnahmeentscheid festgesetzte Ehegattenunterhalt dahinfällt und durch eine allfällige Scheidungsrente ersetzt wird, sobald das Scheidungsurteil bezüglich der Unterhaltsregelung formell rechtskräftig wird (vgl. Urteile 5A_19/2019 vom 18. Februar 2020 E. 1; 5A_807/2018 vom 28. Februar 2019 E. 2.2, in: FamPra.ch 2019 S. 592; 5A_659/2014 vom 31. Oktober 2014 E. 2.3.2; 5P.121/2002 vom 12. Juni 2002 E. 3.1, in: Pra 2002 Nr. 169 S. 916).
2.3
2.3.1
Entscheide werden nach der klassischen Terminologie formell rechtskräftig, wenn gegen sie kein ordentliches Rechtsmittel mehr zur Verfügung steht (MAX GULDENER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3. Aufl. 1979, S. 362; MAX KUMMER, Grundriss des Zivilprozessrechts, 4. Aufl. 1984, S. 145;
BGE 139 III 486
E. 3 S. 487 f.; so auch die Botschaft vom 28. Juni 2006 zur Schweizerischen Zivilprozessordnung, BBl 2006 7382). Als ordentlich werden herkömmlicherweise diejenigen Rechtsmittel bezeichnet, die sich gegen noch nicht formell rechtskräftige Entscheide richten, während ausserordentliche Rechtsmittel gegen rechtskräftige Entscheide ergriffen werden können und deren formelle Rechtskraft beseitigen sollen (GULDENER, a.a.O., S. 485; KUMMER, a.a.O., S. 189). In der Lehre wird mitunter darauf hingewiesen, dass hier letztlich ein Zirkelschluss vorliegt und die klassischen Definitionen insofern nicht zielführend sind (STAEHELIN/BACHOFNER, in: Zivilprozessrecht, Staehelin/Staehelin/Grolimund [Hrsg.], 3. Aufl. 2019, § 25 Rz. 3). Die Problematik sollte jedoch nicht überschätzt werden. Letztlich ist es Aufgabe des Gesetzgebers, den Eintritt der Rechtskraft festzulegen und damit zu bestimmen, welche Urteile mit ihrer Ausfällung bzw. Eröffnung rechtskräftig werden und welche nicht. Gestützt auf diesen Entscheid ist dann auch die vorerwähnte Definition ordentlicher Rechtsmittel eindeutig (zum Ganzen: ANNE SABINE ZOLLER, Vorläufige Vollstreckbarkeit im Schweizer Zivilprozessrecht, 2008, § 1 Rz. 11).
2.3.2
Das BGG enthält keine Legaldefinition der ordentlichen Rechtsmittel. Die Bezeichnung der Beschwerde in Zivilsachen als "ordentliche
BGE 146 III 284 S. 287
Beschwerde" in
Art. 119 BGG
dient nach allgemeiner Auffassung nur der Abgrenzung zur subsidiären Verfassungsbeschwerde und ist deshalb kein Anhaltspunkt für die Qualifikation der Beschwerde in Zivilsachen als ordentliches bzw. ausserordentliches Rechtsmittel (BERNARD CORBOZ, in: Commentaire de la LTF, 2. Aufl. 2014, N. 13 zu
Art. 103 BGG
; MARCO CHEVALIER, Die Beschwerde in Zivilsachen an das Bundesgericht, 2009, § 7 Rz. 460; BENEDIKT SEILER, Die Berufung nach ZPO, 2013, § 18 Rz. 1679).
2.3.3
In erster Linie hat die Vorinstanz die Qualifikation der Beschwerde in Zivilsachen als ordentliches Rechtsmittel aus einer Gesamtbetrachtung der Eigenschaften des Rechtsmittels abzuleiten versucht. Aufgrund der sehr weiten Beschwerdegründe, insbesondere Verletzung des gesamten Bundesrechts, sowie der reformatorischen Kompetenz des Bundesgerichts sei die Beschwerde in Zivilsachen trotz des grundsätzlich fehlenden Suspensiveffekts auch betreffend Leistungs- und Feststellungsklagen als ordentliches - d.h. den Eintritt der Rechtskraft hemmendes - Rechtsmittel einzustufen. Auch in der Lehre wird die Beschwerde in Zivilsachen teilweise unabhängig davon, ob sie sich gegen ein Gestaltungs-, Leistungs- oder Feststellungsurteil richtet, generell als ordentliches Rechtsmittel bezeichnet (FRANZ KELLERHALS, in: Berner Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, Bd. II, 2012, N. 3 zu
Art. 336 ZPO
; ZOLLER, a.a.O., § 3 Rz. 138 ff.; GÜNGERICH/COENDET, Das Bundesgerichtsgesetz - erste Erfahrungen und offene Fragen, in: Aktuelle Anwaltspraxis 2007, S. 26 f.; REETZ/HILBER, in: Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO], Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger [Hrsg.], 3. Aufl. 2016, N. 22 f. zu
Art. 315 ZPO
; JOHANNA DORMANN, in: Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 3. Aufl. 2018, N. 5 zu
Art. 103 BGG
; implizit gl.M.
BGE 139 III 466
E. 3.4 S. 469).
2.3.4
Demgegenüber hat sich das Bundesgericht in zahlreichen Entscheiden auf den Standpunkt gestellt, dass die Beschwerde in Zivilsachen, sofern sie sich nicht gegen ein Gestaltungsurteil richtet (
Art. 103 Abs. 2 lit. a BGG
), die formelle Rechtskraft eines angefochtenen Beschwerde- oder Berufungsentscheids von Gesetzes wegen nicht hemmt. Freilich könne das Bundesgericht neben der Vollstreckbarkeit auch die Rechtskraft eines kantonalen Leistungsurteils von Amtes wegen oder auf Antrag einer Partei hin aufschieben (vgl.
Art. 103 Abs. 3 BGG
). Solange dies nicht geschehen sei, bleibe das kantonale Urteil jedoch rechtskräftig und vollstreckbar (vgl.
BGE 142 III 738
E. 5.5.4 S. 745; Urteile 5A_841/2018 vom 12. Februar
BGE 146 III 284 S. 288
2020 E. 2.2.2; 5A_866/2012 vom 1. Februar 2013 E. 4.1; 5A_217/ 2012 vom 9. Juli 2012 E. 5.2, nicht publ. in:
BGE 138 III 583
; 5A_346/2011 vom 1. September 2011 E. 3.1; 5A_3/2009 vom 13. Februar 2009 E. 2.3). Diese Rechtsprechung wird von einem bedeutenden Teil der Lehre als massgeblich erachtet (vgl. DANIEL STAEHELIN, in: Zivilprozessrecht, Staehelin/Staehelin/Grolimund [Hrsg.], 3. Aufl. 2019, § 24 Rz. 7d; BAUMGARTNER/DOLGE/MARKUS/SPÜHLER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 10. Aufl. 2018, § 36 Rz. 199; LEUENBERGER/UFFER-TOBLER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 2. Aufl. 2016, Rz. 12.132; SUTTER-SOMM/LÖTSCHER/SCHENK/SENN, Tafeln zum Schweizerischen Zivilprozessrecht, 2. Aufl. 2017, Tafel 11c; FREIBURGHAUS/AFHELDT, in: Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO], Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger [Hrsg.], 3. Aufl. 2016, N. 5 zu
Art. 328 ZPO
; LORENZ DROESE, in: Basler Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, 3. Aufl. 2017, N. 10 zu
Art. 336 ZPO
; FABIENNE HOHL, Procédure civile, Bd. II, 2. Aufl. 2010, Rz. 2641; SEILER, a.a.O., § 18 Rz. 1684; CHEVALIER, a.a.O., § 7 Rz. 460 ff.).
2.3.5
Ausgehend von der Prämisse, dass das Rechtsmittelsystem des schweizerischen Zivilprozesses (einschliesslich der Beschwerde in Zivilsachen an das Bundesgericht) ein stimmiges Ganzes ergeben soll, besteht kein Anlass, von der vorstehend dargelegten Praxis abzurücken. So knüpft auch die Botschaft vom 28. Juni 2006 zur Schweizerischen Zivilprozessordnung für die Unterscheidung zwischen ordentlichen und ausserordentlichen Rechtsmitteln bei der Frage an, ob von Gesetzes wegen Suspensiveffekt (aufschiebende Wirkung) gegeben ist oder nicht. Die Berufung wird darin ausdrücklich deshalb der Kategorie der ordentlichen Rechtsmittel zugeordnet, weil sie grundsätzlich aufschiebende Wirkung hat (BBl 2006 7374). Demgegenüber wird die Beschwerde nach
Art. 319 ff. ZPO
, welche gemäss
Art. 325 ZPO
von Gesetzes wegen keine aufschiebende Wirkung hat, in der Botschaft als ausserordentliches Rechtsmittel bezeichnet (BBl 2006 7370 oben), was denn auch der in der Lehre vorherrschenden Auffassung entspricht (s. für viele JEANDIN/ PEYROT, Précis de procédure civile, 2015, § 18 Rz. 784). Weil nun die Beschwerde gemäss
Art. 319 ff. ZPO
und die gegen Leistungs- oder Feststellungsurteile ergriffene Beschwerde in Zivilsachen an das Bundesgericht hinsichtlich ihrer Eigenschaften sehr ähnlich sind, erscheint die vorinstanzliche Argumentation als nicht stichhaltig. Zu denken ist dabei neben der nicht von Gesetzes wegen bestehenden
BGE 146 III 284 S. 289
aufschiebenden Wirkung (
Art. 325 Abs. 1 ZPO
bzw.
Art. 103 Abs. 1 BGG
) nämlich gerade auch an die weitgehend identische Prüfungsbefugnis (vgl.
Art. 320 lit. a ZPO
bzw.
Art. 95 BGG
betreffend Rechtsfragen und
Art. 320 lit. b ZPO
bzw.
Art. 97 Abs. 1 BGG
betreffend Tatfragen) und die sowohl im Rahmen der Beschwerde nach
Art. 319 ff. ZPO
als auch im Rahmen der Beschwerde in Zivilsachen an das Bundesgericht bestehende Befugnis des Gerichts, (auch) reformatorisch zu entscheiden (
Art. 327 Abs. 3 ZPO
bzw.
Art. 107 Abs. 2 BGG
). Ausserdem ist darauf hinzuweisen, dass eine ganze Reihe erstinstanzlicher Entscheide streitwertunabhängig ausschliesslich mit der Beschwerde nach
Art. 319 ff. ZPO
anfechtbar sind (vgl. Liste in
Art. 309 lit. a und b ZPO
); dazu gehören insbesondere die Rechtsöffnung, das Konkurserkenntnis und der Arrest. Solche nicht mit Berufung anfechtbaren Entscheide werden bereits dann rechtskräftig, wenn erstinstanzlich entschieden worden ist (
Art. 325 Abs. 1 ZPO
). Es wäre von der Rechtsmittelsystematik her nicht logisch, wenn zweitinstanzlich lediglich ein ausserordentliches, im Verfahren vor Bundesgericht dann aber plötzlich ein ordentliches Rechtsmittel gegeben wäre.
2.4
Aus den dargelegten Gründen bleibt festzuhalten, dass die Verpflichtung zur Zahlung von Unterhalt gemäss Eheschutzentscheid vom 8. Februar 2013 mit dem bereits der Erstinstanz vorgelegten Entscheid des Appellationsgerichts vom 3. Juli 2018 (eröffnet am 18. Juli 2018) dahingefallen ist. Für den gestützt auf den Eheschutzentscheid in Betreibung gesetzten Unterhalt betreffend August 2018 lag im massgeblichen Zeitpunkt daher kein vollstreckbarer Titel im Sinne des
Art. 80 SchKG
vor. Dass das Appellationsgericht die Rechtsöffnung auf Beschwerde der Betreibenden hin gleichwohl erteilt hat, hält vor Bundesrecht nicht stand. | de |
97881f63-368a-49df-8959-38059252da4c | Sachverhalt
ab Seite 551
BGE 108 II 550 S. 551
A.-
V. N., ein in Zürich wohnhafter italienischer Staatsangehöriger, stellte am 9. März 1977 bei der Basler Lebens-Versicherungs-Gesellschaft einen Antrag auf Abschluss einer Rentenversicherung. Danach sollte er im Falle der Arbeitsunfähigkeit Anspruch auf eine jährliche Rente von Fr. 12'000.-- haben, und zwar nach einer Wartefrist von 90 Tagen. Unter den gleichen Voraussetzungen sollte er auch von der Bezahlung der Prämien befreit sein. Die Versicherung sollte am 15. März 1977 beginnen und eine Dauer von 20 Jahren haben. Zur Prüfung des Antrages verlangte die Versicherungsgesellschaft eine ärztliche Untersuchung. Sie liess dem Antragsteller zu diesem Zweck ein in deutscher Sprache abgefasstes Formular mit dem Titel "Bericht des Vertrauensarztes" zukommen und stellte ihm die Wahl des Arztes frei. N. begab sich damit zu seinem Hausarzt, Dr. med. V. Dieser übersetzte ihm die im Formular unter der Rubrik "Erklärungen der zu versichernden Person" aufgeführten Fragen in die italienische Sprache und setzte die Antworten auf deutsch ein. Dieser Teil des Fragebogens wurde von beiden unterzeichnet, währenddem der Arzt die Antworten auf die unter der Überschrift "Ärztliche Untersuchung" enthaltenen Fragen allein unterzeichnete. Nach Erhalt des Arztberichtes stellte die Versicherungsgesellschaft am 7. April 1977 die Versicherungspolice Nr. 330 557 aus, die in allen Teilen dem von N. gestellten Antrag entsprach.
Am 26. August 1977 meldete N. der Versicherungsgesellschaft einen Unfall an, den er am 12. April 1977 erlitten habe. Für die dadurch bedingte Arbeitsunfähigkeit erhielt er einen Betrag von Fr. 1'712.90 ausbezahlt. Ein am 18. Oktober 1977 angemeldeter Anspruch auf Versicherungsleistungen wegen erneuter Arbeitsunfähigkeit veranlasste die Versicherungsgesellschaft zu Nachforschungen betreffend eine allfällige Verletzung der Anzeigepflicht. Mit Schreiben vom 10. April 1978 teilte sie N. mit, dass dieser schon vor dem Abschluss des Versicherungsvertrages in ärztlicher Behandlung gestanden sei, wovon sie bisher keine Kenntnis gehabt habe; unter diesen Umständen habe sie das Risiko beim Vertragsschluss nicht richtig abschätzen können. Sie sehe sich deshalb veranlasst, jegliche Leistungen zu verweigern und gestützt auf
Art. 6 VVG
vom Vertrag zurückzutreten; der von ihr bereits früher ausbezahlte Betrag von Fr. 1'712.90 sei ihr zurückzuerstatten.
BGE 108 II 550 S. 552
B.-
Am 24. Januar 1979 reichte V. N. beim Bezirksgericht Zürich gegen die Basler Lebens-Versicherungs-Gesellschaft Klage ein, mit der er vorerst das Begehren um Zusprechung einer Forderung stellte. Im Laufe des Verfahrens wandelte er das ursprüngliche Begehren in eine Feststellungsklage um. Er verlangte nunmehr, es sei festzustellen, dass er gegenüber der Beklagten auf Grund des Rentenversicherungsvertrages anspruchsberechtigt sei. Das Bezirksgericht schrieb hierauf die ursprüngliche Klage als durch Rückzug erledigt ab. Die Feststellungsklage hiess es mit Urteil vom 11. Dezember 1980 gut.
Das Obergericht des Kantons Zürich wies am 9. Februar 1982 eine von der Beklagten gegen dieses Urteil eingereichte Berufung ab und stellte fest, dass der Kläger gegenüber der Beklagten aus dem in der Police Nr. 330 557 verurkundeten Rentenversicherungsvertrag vom März/April 1977 anspruchsberechtigt sei.
C.-
Gegen das obergerichtliche Urteil hat die Beklagte Berufung an das Bundesgericht erhoben, mit dem Antrag, die Klage sei vollumfänglich abzuweisen.
Der Kläger beantragt die Abweisung der Berufung und die Bestätigung des angefochtenen Entscheids.
Das Bundesgericht weist die Berufung ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
In der Berufung wird in erster Linie gerügt, dass die Vorinstanz das Recht der Beklagten verneinte, gestützt auf
Art. 6 VVG
vom Versicherungsvertrag zurückzutreten.
a) Im angefochtenen Urteil wird festgestellt, dass verschiedene, im Formular "Bericht des Vertrauensarztes" enthaltene Fragen, die an den Kläger als zu versichernde Person gerichtet waren, falsch beantwortet wurden. So fehlte nicht nur eine Angabe über die ärztliche Behandlung des Klägers wegen Lumboischialgie, sondern es wurde die Frage nach einem allfälligen Spitalaufenthalt des Klägers zu Unrecht verneint. Der Kläger war seit Februar 1974 wegen Rückenbeschwerden in der Orthopädischen Universitätsklinik Balgrist in Behandlung gestanden; es war ihm dort eine physikalische Therapie verordnet worden, und vom 18. Mai bis 5. Juni 1976 war er sogar dort hospitalisiert gewesen. Im Zeitpunkt der Fragenbeantwortung lag dieser Klinikaufenthalt weniger als ein Jahr zurück, so dass der Kläger und sein Arzt sich damals zweifellos noch daran erinnerten oder erinnern mussten.
BGE 108 II 550 S. 553
Was die Ausfüllung des Formulars "Bericht des Vertrauensarztes" anbetrifft, wird im angefochtenen Urteil ausgeführt, dass der Arzt dem Kläger die im Fragebogen auf deutsch formulierten Fragen in dessen italienischer Muttersprache wiedergegeben habe, wobei nicht sicher sei, ob dies auch hinsichtlich der unrichtig beantworteten Fragen geschehen sei. Die Glaubwürdigkeit des Arztes sei mehr als fragwürdig. Dieser hätte bei der Ausfüllung des Fragebogens die Krankengeschichte des Klägers konsultieren müssen, habe dies aber zugegebenermassen nicht getan. Ein Arzt, der derart unsorgfältig vorgehe, sei im höchsten Grad unglaubwürdig, besonders wenn seine Aussagen wie im vorliegenden Fall unsicher und teilweise widersprüchlich seien. Auf Grund der lückenhaften und unglaubwürdigen Aussagen des Arztes könne nicht mehr festgestellt werden, ob der Kläger die Erkrankung und Hospitalisierung verschwiegen oder ob er den Arzt darauf hingewiesen habe. Was die Sprachkenntnisse des Klägers anbelange, sei auf Grund von Zeugenaussagen davon auszugehen, dass der Kläger nicht Deutsch verstehe.
Über die Rechtsbeziehungen zwischen dem Arzt und den beiden Parteien wird im angefochtenen Urteil folgendes ausgeführt: Obwohl der Arzt vom Kläger ausgewählt worden sei, habe er mit der Übergabe des Formulars "Bericht des Vertrauensarztes" die Stellung eines unabhängigen Gutachters erhalten, der eine selbständige Aufgabe zu erfüllen gehabt habe. Die Beantwortung der von der Beklagten gestellten Fragen sei zu deren Handen und mindestens vorwiegend auch in deren Interesse erfolgt. Sei aber der Arzt nicht Hilfsperson des Klägers, sondern ein unabhängiger Dritter gewesen, so müsse sich der Kläger dessen Fehlleistungen nicht anrechnen lassen. Dies sei um so mehr gerechtfertigt, als es nicht angehe, dass die Versicherungsgesellschaft es dem Versicherungsnehmer freistelle, einen von ihm gewählten Arzt beizuziehen, und auf diese Weise die Verantwortung auf den Versicherungsnehmer abschiebe; die Versicherungsgesellschaft müsse sich vielmehr den Titel des Formulars entgegenhalten lassen.
Die Vorinstanz gelangte zum Schluss, es sei nicht sicher, ob der Kläger sich über den Sinn und die Bedeutung der Fragestellung überhaupt im klaren gewesen sei. Habe er aber die Tragweite seiner Erklärungen nicht verstanden oder lasse sich wenigstens nicht nachweisen, dass er sie verstanden habe, so könne von einer wissentlichen Verletzung der Deklarationspflicht nicht die Rede sein.
BGE 108 II 550 S. 554
b) Das Rücktrittsrecht des Versicherers setzt nach
Art. 6 VVG
voraus, dass der Anzeigepflichtige eine erhebliche Gefahrstatsache, die er kannte oder kennen musste und die Gegenstand einer schriftlichen Frage des Versicherers im Sinne von
Art. 4 VVG
bildete, unrichtig mitgeteilt oder verschwiegen hat. Soweit in der Berufung ausgeführt wird, der Kläger wäre verpflichtet gewesen, dem Arzt gegenüber die "Erklärungen der zu versichernden Person" richtig zu beantworten, und es stehe fest, dass er dies nicht getan habe, handelt es sich um eine unzulässige Kritik an dem für das Bundesgericht verbindlich festgestellten Sachverhalt (
Art. 63 Abs. 2 und
Art. 55 Abs. 1 lit. c OG
). Die Vorinstanz ist in Würdigung der Aussagen des Zeugen Dr. V. zum Schluss gelangt, es lasse sich nicht mehr feststellen, ob der Kläger den Arzt auf die Erkrankung und Hospitalisierung hingewiesen habe. Sie hat somit den Beweis dafür, dass der Kläger dem Arzt falsche Angaben gemacht oder etwas verschwiegen habe, als nicht geleistet betrachtet. Diese Beweiswürdigung könnte in einer Berufung an das Bundesgericht selbst dann nicht in Frage gestellt werden, wenn sie geradezu willkürlich wäre. Für einen solchen Fall bleibt ausschliesslich die staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von
Art. 4 BV
vorbehalten. Auf die Ausführungen der Beklagten zur Würdigung der Aussagen des Zeugen Dr. V. ist daher nicht näher einzugehen. Unbeachtlich ist auch der Einwand, der Kläger habe nie behauptet, den Arzt auf die Erkrankung und Hospitalisierung hingewiesen zu haben. Es ist eine Frage des kantonalen Prozessrechts, inwieweit der Richter auf Umstände abstellen darf, die von keiner Partei behauptet worden sind. Eine ungerechtfertigte Anwendung der Offizialmaxime könnte höchstens auf dem Wege einer staatsrechtlichen Beschwerde wegen willkürlicher Anwendung des kantonalen Prozessrechts gerügt werden. Und was schliesslich die Beweislast für die Verletzung der Anzeigepflicht anbetrifft, geht die Beklagte fehl, wenn sie ausführt, diese habe den Kläger getroffen. Da die Beklagte aus der von ihr geltend gemachten Anzeigepflichtverletzung Rechte ableitet, obliegt ihr der Beweis dafür, dass der Kläger die Deklarationspflicht verletzte (ROELLI-KELLER, Kommentar zum VVG, Bd. I, S. 125F f.).
c) Ist es aber nach der im vorliegenden Verfahren nicht überprüfbaren Auffassung des kantonalen Richters möglich, dass die Falschbeantwortung der im "Bericht des Vertrauensarztes" enthaltenen Fragen auf ein Versehen des Arztes, der den Fragebogen ausfüllte, zurückzuführen war, so ist zu prüfen, ob ein allfälliges
BGE 108 II 550 S. 555
Fehlverhalten des Arztes dem Kläger anzurechnen sei. Dies wird in der Berufung im Gegensatz zum angefochtenen Urteil bejaht. Es wird geltend gemacht, der Arzt habe als Beauftragter des Klägers bzw. als dessen Hilfsperson gehandelt.
Der in diesem Zusammenhang erfolgte Hinweis der Beklagten auf
BGE 52 II 297
f. ist nicht stichhaltig. Im dort beurteilten Fall hatte der Arzt die im Fragebogen des Versicherers enthaltenen Fragen im Einverständnis des Antragstellers diesem vorgelesen und die Antworten niedergeschrieben. Wenn das Bundesgericht den Arzt diesbezüglich als Beauftragten des Antragstellers bezeichnete, so deshalb, weil der Arzt eine Aufgabe übernommen hatte, die normalerweise dem Antragsteller oblag. Im vorliegenden Fall verhielt es sich jedoch anders. Aus dem Formular, das die Beklagte dem Kläger zuhanden des Arztes zukommen liess, geht hervor, dass nicht nur die Antworten auf die Fragen im Zusammenhang mit der ärztlichen Untersuchung, sondern auch jene, die unter dem Titel "Erklärungen der zu versichernden Person" einzusetzen waren, vom Arzt niederzuschreiben waren. Es war somit der Wille der Beklagten, dass der Arzt den Fragebogen ausfülle. Wenn Dr. V. dieser Aufforderung nachkam, handelte er diesbezüglich im Auftrag der Beklagten. Dass die Beklagte die Auswahl des Arztes dem Kläger überlassen hatte, vermag daran nichts zu ändern. Dr. V. ist trotzdem als Vertrauensarzt der Beklagten tätig geworden. Die Vorinstanz hat deshalb die Ausführungen in
BGE 72 II 130
f. E. 4 über die Rechtsstellung des Vertrauensarztes des Versicherers zu Recht auch im vorliegenden Fall als massgebend betrachtet. Dem Arzt kam somit in bezug auf die Ausfüllung des Formulars die gleiche Rechtsstellung zu wie einem vom Versicherer beauftragten Vermittlungsagenten (vgl. auch ROELLI-KELLER, a.a.O., S. 95 oben). Dies führt dazu, dass sich die Beklagte allfällige Fehler des Arztes grundsätzlich anrechnen lassen muss.
d) Nun hat der Kläger den vom Arzt ausgefüllten Fragebogen allerdings mitunterzeichnet, und zwar unterhalb folgender Erklärung, die auf dem Formular enthalten war:
"Ich erkläre hiermit, dass ich die vorstehenden Fragen in Gegenwart des Arztes wahrheitsgetreu beantwortet und nichts verschwiegen habe. ..."
Nach der Rechtsprechung hat sich der Befragte über die richtige Ausfüllung des Fragebogens durch den Arzt zu vergewissern und darf die Augen vor einer unrichtigen Angabe nicht verschliessen (
BGE 72 II 132
). Diese Pflicht setzt jedoch voraus, dass dem
BGE 108 II 550 S. 556
Befragten eine solche Nachkontrolle überhaupt möglich ist, d.h. dass er die Fragen und die vom Arzt eingesetzten Antworten lesen und verstehen kann (vgl. KIENTSCH, Die Auskunfts- und Mitwirkungspflicht des Arztes gegenüber dem privaten Versicherer, Diss. Bern 1967, S. 76). Im vorliegenden Fall ist auf Grund der für das Bundesgericht verbindlichen Feststellung der Vorinstanz davon auszugehen, dass der Kläger der deutschen Sprache nicht mächtig war. Unter diesen Umständen war es ihm aber nicht möglich, eine Nachprüfung vorzunehmen und die falsche Beantwortung einzelner Fragen zu erkennen. Die Beklagte kann deshalb aus dem Umstand, dass der Kläger den Fragebogen unterschrieb, nichts zu ihren Gunsten ableiten. In einem solchen Fall trifft den Vertrauensarzt oder Agenten des Versicherers die alleinige Verantwortung für die richtige Ausfüllung des Fragebogens. Eine Verletzung der Anzeigepflicht läge nur vor, wenn nachgewiesen wäre, dass der Antragsteller die ihm vom Arzt oder Agenten gestellten Fragen diesem gegenüber falsch beantwortet hätte. Das ist hier nicht der Fall. Mit der von ihm unterzeichneten Erklärung bescheinigte der Kläger nur, die im Fragebogen enthaltenen Fragen in Gegenwart des Arztes wahrheitsgetreu beantwortet und nichts verschwiegen zu haben. Den Nachweis, dass der Kläger die ihm vom Arzt gestellten Fragen nicht wahrheitsgemäss beantwortet habe, konnte die Beklagte nicht erbringen. Aus seiner Unterschrift konnte sie unter den gegebenen Umständen nicht ableiten, dass der Kläger die vom Arzt eingesetzten Antworten als richtig bestätige. Die vorgedruckte Erklärung enthielt übrigens auch keine dahingehende Aussage.
Fehlt es aus den dargelegten Gründen am Nachweis einer Verletzung der Anzeigepflicht durch den Kläger, hat die Vorinstanz
Art. 6 VVG
nicht verletzt, wenn sie feststellte, dass die Beklagte nicht berechtigt war, von dem mit dem Kläger abgeschlossenen Versicherungsvertrag zurückzutreten. | de |
85d27bfc-70a5-413f-8ff5-289474ed22b4 | Sachverhalt
ab Seite 129
BGE 127 III 129 S. 129
A.-
K.L.-S. und M.L. heirateten am 12. Juni 1997. Die Ehe blieb kinderlos. In der Nacht vom 23./24. November 1997 kam es zu einer Auseinandersetzung, im Zuge derer M.L. seine Ehefrau über mehrere Stunden hinweg immer wieder schlug. K.L.-S. verliess am Morgen des 24. November 1997 die eheliche Wohnung und lebt seither von ihrem Ehemann getrennt. Am 26. November 1997 suchte sie einen Arzt auf, welcher mehrere Hämatome an den Armen sowie Schwellungen mit Bluterguss am linken Auge feststellte. Vom 8. bis 17. Dezember 1997 wurde sie in einer psychiatrischen Klinik stationär
BGE 127 III 129 S. 130
behandelt; danach begab sie sich wegen ihrer posttraumatischen Belastungsstörung in ambulante psychiatrische Nachbehandlung.
B.-
Mit Klage vom 30. September 1998 beantragte K.L.-S. dem Bezirksgericht die Ehescheidung unter Bestimmung der rechtlichen Folgen. Mit Urteil vom 29. Juni 1999 hiess das Bezirksgericht das Scheidungsbegehren gestützt auf Art. 142 aZGB gut; es sprach keiner Partei Unterhaltsbeiträge zu und erklärte die Parteien als güterrechtlich auseinandergesetzt. Der Beklagte legte gegen dieses Urteil Berufung an das Obergericht des Kantons Zürich, I. Zivilkammer, ein. An der Berufungsverhandlung vom 9. März 2000 gab das Obergericht den Parteien Gelegenheit, ihre Anträge zum zwischenzeitlich in Kraft getretenen neuen Scheidungsrecht zu stellen. Die Klägerin stützte ihr Begehren nunmehr auf
Art. 115 ZGB
. Mit Urteil vom 30. Mai 2000 schützte das Obergericht das Scheidungsbegehren und bestätigte unter Vormerknahme, dass der Beklagte den Antrag auf Ausgleichung der Pensionskassenguthaben der Parteien zurückgezogen habe, den erstinstanzlichen Entscheid auch hinsichtlich der Nebenfolgen.
C.-
Gegen das Urteil des Obergerichts hat der Beklagte sowohl kantonale Nichtigkeitsbeschwerde als auch eidgenössische Berufung eingelegt. Das Kassationsgericht des Kantons Zürich hat die Nichtigkeitsbeschwerde mit Beschluss vom 31. Oktober 2000 abgewiesen, soweit es darauf eintrat. Mit der Berufung beantragt der Beklagte sinngemäss die Aufhebung des angefochtenen Urteils und die Abweisung der Scheidungsklage, eventuell die Rückweisung des Verfahrens an die Vorinstanz. Die Klägerin beantragt Abweisung der Berufung und Bestätigung des angefochtenen Urteils.
Das Bundesgericht weist die Berufung ab Erwägungen
aus folgenden Erwägungen:
2.
a) Die Vorinstanz hat das Scheidungsbegehren der Klägerin gestützt auf
Art. 7b Abs. 1 SchlT ZGB
nach neuem Scheidungsrecht beurteilt. Da sich der Beklagte der Scheidung widersetze und die Parteien erst seit 23. (recte: 24.) November 1997 getrennt lebten, komme nur der Scheidungsgrund der Unzumutbarkeit gemäss
Art. 115 ZGB
, auf den sich die Klägerin neu berufe, in Betracht. Die nicht allzu schweren körperlichen Verletzungen, welche der Beklagte der Klägerin zugefügt habe, seien für sich allein nicht so schwerwiegend, dass der Klägerin die Fortsetzung der Ehe nicht zugemutet werden könne. Zeitige aber eine körperliche Misshandlung
BGE 127 III 129 S. 131
derart gravierende Nachwirkungen, dass sich der misshandelte Ehepartner über längere Zeit intensiv psychiatrisch behandeln lassen müsse, könne diesem nicht zugemutet werden, nur aus formellen Gründen in einer in den Grundfesten zerstörten Verbindung auszuharren. Am Scheidungsanspruch der Klägerin ändere auch nichts, dass sie allenfalls einer vorbestehenden psychischen Belastung unterstanden habe. Im Gegenteil wäre es dem Beklagten umso mehr anzulasten, wenn er gegen die Klägerin im Wissen um eine gegebene psychische Beeinträchtigung tätlich geworden wäre. Angesichts der anhaltenden psychischen Folgen des Vorfalls vom 23./24. November 1997 würde daran auch nichts ändern, dass die Klägerin, wie der Beklagte einwende, zunächst selbst noch an die Rettung der Ehe geglaubt habe. Unerheblich sei schliesslich die bestrittene Behauptung, dass die Klägerin eine andere Beziehung eingegangen sei.
b) Der Beklagte führt aus, es treffe zu, dass die nicht allzu schweren körperlichen Verletzungen, welche er der Klägerin zugefügt habe, keine Scheidung nach
Art. 115 ZGB
rechtfertigten. Die einschlägige Literatur gehe davon aus, dass ein einmaliger handgreiflicher Übergriff für eine Anwendung des
Art. 115 ZGB
nicht ausreiche; ein Scheidungsanspruch bestehe nur, wenn auch mit der Möglichkeit des Getrenntlebens Übergriffe nicht verhindert werden könnten. Es sei aber während des Getrenntlebens nie zu irgendwelchen Übergriffen des Beklagten gekommen. Die psychische Befindlichkeit der Klägerin vermöge keinen Scheidungsanspruch zu begründen. Die Vorinstanz habe aus der psychischen Verfassung der Klägerin geschlossen, sie sei psychisch misshandelt worden, obwohl die Klägerin dies nie behauptet habe; damit habe die Vorinstanz in unzulässiger Weise von der subjektiven Befindlichkeit auf das Vorhandensein objektiver Kriterien geschlossen. Es gehe auch nicht an, die psychische Vorbelastung der Klägerin zum Anlass zu nehmen, an den Beklagten überhöhte Anforderungen zu stellen. Gerade psychisch angeschlagene Menschen verlangten ihrem Ehepartner oft ein Übermass an Geduld und Einfühlungsvermögen ab, was bei der Beurteilung dessen Verhaltens zu berücksichtigen sei. Es hätte daher abgeklärt werden müssen, ob eine starke psychische Belastung der Klägerin bereits vor der Eheschliessung bestanden habe. Sollte das Bundesgericht auch in einer einmaligen tätlichen Auseinandersetzung einen Scheidungsgrund erblicken, wenn die Klägerin dadurch psychische Probleme erlitten habe, wäre die Sache an die Vorinstanz zur entsprechenden Sachverhaltsergänzung zurückzuweisen.
BGE 127 III 129 S. 132
3.
a) Nach neuem Scheidungsrecht soll nach Möglichkeit verhindert werden, dass die Ehegatten dem Gericht zum Nachweis des Scheiterns der Ehe Tatsachen aus ihrem Privat- und Intimbereich darlegen und einander Schuld und Verantwortung zuweisen müssen (Botschaft, BBl 1996 I 27 ff., S. 90). Obwohl weiterhin die Zerrüttung als Grundlage des Scheidungsanspruchs betrachtet wird, soll sich dieser neu grundsätzlich nach formalisierten Kriterien bestimmen, bei deren Vorhandensein die Zerrüttung als gegeben betrachtet wird, so namentlich, wenn beide Ehegatten die Scheidung beantragen. Widersetzt sich ein Ehegatte der Scheidung, kann der andere gemäss
Art. 114 ZGB
nach vier Jahren des Getrenntlebens ohne weiteres die Scheidung verlangen, da damit das endgültige Scheitern der Ehe zu vermuten ist (Botschaft, a.a.O., S. 83, S. 90). Wann die endgültige Zerrüttung tatsächlich eingetreten ist, braucht aufgrund dieser gesetzlichen Vermutung nicht geklärt zu werden; tritt sie schon vor Ablauf der vierjährigen Trennungszeit ein, wird den Ehepartnern grundsätzlich zugemutet, mit der Klageeinreichung bis zum Ablauf der Vierjahresfrist zuzuwarten.
Schematisches Abstellen auf die Dauer des Getrenntlebens ohne Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalles hätte indessen unzumutbare Härten zur Folge. Daher sieht
Art. 115 ZGB
vor, dass ein Ehegatte, dem aus schwerwiegenden Gründen ("motifs sérieux"), die ihm nicht zuzurechnen sind, die Fortsetzung der Ehe nicht zugemutet werden kann, bereits vor Ablauf der Vierjahresfrist die Scheidung verlangen kann.
Art. 115 ZGB
sei indessen, hielt das Bundesgericht in Übereinstimmung mit der überwiegenden Lehrmeinung fest, einschränkender auszulegen als Art. 142 Abs. 1 aZGB (
BGE 126 III 404
E. 4c-g S. 408 ff. mit Hinweisen). Dies bedarf der Präzisierung. In dem
BGE 126 III 404
ff. zu Grunde liegenden Fall hatte die Vorinstanz den neuen
Art. 115 ZGB
mit dem altrechtlichen
Art. 142 ZGB
gleichsetzen wollen, was unzutreffend war. Ging es nämlich beim altrechtlichen Scheidungsgrund der ehelichen Zerrüttung (Art. 142 aZGB) darum, dass einem Ehegatten die Fortsetzung der (auf unbestimmte Dauer angelegten) ehelichen Gemeinschaft nicht zugemutet werden durfte, wird in Art. 115 nZGB vorausgesetzt, dass die sich bei Getrenntleben noch (während vier Jahren) rechtlich auswirkende eheliche Bande unzumutbar ist. Unter neuem Recht geht es nicht mehr um die Unzumutbarkeit des Zusammenlebens, sondern um die seelisch begründete Unzumutbarkeit der rechtlichen Verbindung. Aus diesem Grunde eignen sich die beiden Tatbestände schlecht zum Vergleich und besagt die ohnehin
BGE 127 III 129 S. 133
fragwürdige Regel restriktiver Auslegung letztlich wenig.
Art. 115 ZGB
ist in erster Linie aus sich selbst heraus auszulegen.
b) In den Materialien, aber auch der Literatur wird der rechtspolitische Hintergrund der neuen Regelung hervorgehoben. Unter dem alten Scheidungsrecht stützten sich - jedenfalls während der letzten Jahre - die meisten Scheidungsklagen auf den allgemeinen Scheidungsgrund der tiefen Zerrüttung; im Jahre 1997 waren es 90% der Scheidungsklagen (SUTTER/FREIBURGHAUS, Kommentar zum neuen Scheidungsrecht, Zürich 1999, N. 13 zu
Art. 115 ZGB
). Unter der Herrschaft des Art. 142 aZGB waren die Anforderungen an den Nachweis des Zerrüttungstatbestandes von der Praxis laufend herabgesetzt worden. Für den Schluss auf den Tatbestand der unheilbaren Zerrüttung konnte u.U. genügen, dass die Ehegatten während einer bestimmten Zeit, beispielsweise während eines Jahres, getrennt gelebt hatten und der Wille, das eheliche Zusammenleben wieder aufzunehmen, fehlte. Nicht nur im Fall des beidseitigen Einverständnisses mit der Auflösung der Ehe führte dies zur Scheidung, sondern auch dann, wenn den einseitig klagenden Teil kein überwiegendes Verschulden traf.
Genügten unter dem neuen Recht blosses Getrenntleben während einer gewissen Dauer und Entfremdung oder Unvereinbarkeit der Charaktere usw., um einseitig die Scheidung wegen Unzumutbarkeit der Fortsetzung der Ehe (
Art. 115 ZGB
) verlangen zu können, führte dies wohl dazu, dass in den Fällen, da die Scheidung nicht auf gemeinsames Begehren (Art. 111 f. ZGB) verlangt wird,
Art. 115 ZGB
als Scheidungsgrund angerufen würde und nicht der formalisierte Scheidungsgrund des vierjährigen Getrenntlebens (
Art. 114 ZGB
). Da die Scheidung wegen Unzumutbarkeit demjenigen Ehegatten vorbehalten ist, dem die Zerrüttungsgründe nicht zuzurechnen sind, könnte das Scheidungsverfahren, sollte die Scheidung wegen Unzumutbarkeit zum wichtigsten Scheidungsgrund avancieren, wiederum vom Verschuldensprinzip beherrscht werden, womit das gesetzgeberische Ziel eines möglichst verschuldensunabhängigen Scheidungsrechts infrage gestellt wäre.
Je höher hingegen die Hürde der Unzumutbarkeit aus wichtigem Grund gesetzt wird, desto eher werden sich Scheidungsklagen auf die formalisierten bzw. verschuldensunabhängigen Scheidungsgründe stützen. Allein gesetzgebungspolitische Zielsetzungen rechtfertigen es aber nicht, an das Vorliegen eines schwerwiegenden Grundes übertriebene Anforderungen zu stellen mit der Folge, dass ein scheidungswilliger Ehegatte, obwohl ihm keine Zerrüttungsgründe
BGE 127 III 129 S. 134
zuzurechnen sind, abgesehen von extrem gelagerten und entsprechend seltenen Fällen gezwungen wäre, in einer längst nicht mehr gelebten Ehe während vier Jahren auszuharren. Es ist nicht einzusehen, weshalb dieser Zielkonflikt so einseitig zu Gunsten eines letztlich abstrakten Prinzips zu lösen wäre und dabei menschliche Schicksale ausser Acht bleiben sollten. Es gilt auch zu bedenken, dass die fortbestehende eheliche Bande, die sogenannte Ehe "auf dem Papier", durchaus weiterhin ihre gesetzlichen Wirkungen zeitigt, namentlich bezüglich des Unterhalts und der Erbansprüche. Es darf auch nicht übersehen werden, dass, je grösser das Interesse eines Ehegatten an der raschen Scheidung einer zerrütteten Ehe ist, dem durchaus legitime Motive zu Grunde liegen können, desto grösser die Gefahr ist, dass ihn der andere Ehegatte zu finanziellen Konzessionen nötigt, die sachlich nicht gerechtfertigt sind. Eine restriktive Handhabung des
Art. 115 ZGB
würde solchen "Erpressungen" Vorschub leisten. Es ist fraglich, ob die auf offensichtliche Unangemessenheit beschränkte Prüfungsbefugnis des Richters hinsichtlich der Vereinbarungen über die Scheidungsfolgen (
Art. 140 Abs. 2 ZGB
) ein hinreichendes Gegengewicht zu solchen Machenschaften darstellt.
Wenn in
BGE 126 III 404
ff. zu Recht betont wurde, dass es weder möglich noch wünschenswert sei, feste Kategorien von schwerwiegenden Gründen zu definieren, so gilt es auch zu verhindern, dass es zufolge einer restriktiven Praxis doch zu diesem Ergebnis kommt.
Art. 115 ZGB
ist bewusst offen formuliert, damit die Gerichte den Umständen des Einzelfalles Rechnung tragen können. Der Richter wird auf eine Entscheidung nach Recht und Billigkeit verwiesen (
Art. 4 ZGB
). Es geht, wie bereits gesagt, darum, ob das Fortbestehen der rechtlichen Verbindung seelisch zumutbar ist, oder ob die geistig-emotionale Reaktion, das Fortbestehen der rechtlichen Bindungen während vier Jahren als unerträglich zu betrachten, objektiv nachvollziehbar ist (FANKHAUSER, in: Schwenzer [Hrsg.], Praxiskommentar Scheidungsrecht, Basel/Genf/München 2000, S. 78 f.). Unerheblich ist, ob die zur Scheidung Anlass gebenden Gründe objektiver Natur sind oder ob sie dem anderen Ehegatten zuzurechnen sind. Übersteigerte Reaktionen infolge besonderer Empfindlichkeiten können allerdings keine Berücksichtigung finden.
c) Nach den Feststellungen der Vorinstanz und des Bezirksgerichts, auf die ebenfalls verwiesen wird, wurde die Klägerin vom Beklagten in der Nacht vom 23./24. November 1997 geweckt, aus dem Bett gezerrt und während Stunden geschlagen, körperlich misshandelt.
BGE 127 III 129 S. 135
Der Beklagte hat eingestanden, die Klägerin aus dem Bett gezerrt zu haben, "weil sie nicht freiwillig aufgestanden sei". Die Klägerin erlitt zwar keine schweren körperlichen Verletzungen, musste aber intensiv und über längere Zeit hinweg - zunächst stationär, dann ambulant - psychiatrisch behandelt werden. Die Vorinstanz begründete den Scheidungsanspruch der Klägerin damit, dass es verfehlt wäre, ihr zuzumuten, nur aus formellen Gründen in einer in den Grundfesten zerstörten Verbindung zu beharren, wenn eine körperliche Misshandlung derart gravierende Nachwirkungen zeitige.
Der Hinweis auf die Nachwirkungen mag insoweit etwas missverständlich sein, als er den Eindruck aufkommen lassen könnte, es käme vorab auf Dauer und Ausmass derselben an. Entscheidend kann indessen nicht sein, ob eine Misshandlung Nachwirkungen der vorliegenden Art zeitigt, so dass im umgekehrten Fall, wären solche ausgeblieben, die Unzumutbarkeit von vornherein zu verneinen wäre. Massive Nachwirkungen können aber ein Indiz für die Schwere, für den Ernst eines Vorfalls sein. Nach den Feststellungen der Vorinstanz erklärte der die Klägerin behandelnde Arzt deren posttraumatische Belastungsstörung als psychische Erkrankung nach einem Trauma, "nach Misshandlungen, Folterungen und anderen Ereignissen in der Richtung".
Der Übergriff des Beklagten erfolgte nicht etwa im Rahmen eines Handgemenges; es handelte sich auch nicht um eine spontane Retorsion, wie sie sich im Verlaufe einer zunächst verbal geführten, dann eskalierenden Auseinandersetzung ergeben kann, wenn beispielsweise eine Beschimpfung mit einer Tätlichkeit erwidert wird. Nach den Feststellungen der Vorinstanz zerrte der Beklagte die Klägerin nachts ohne ersichtlichen unmittelbaren Anlass aus dem Bett und misshandelte sie körperlich stundenlang. Wer seine Partnerin derart malträtiert, verletzt sie selbstredend auch psychisch in gravierender Weise. Mit seinem Verhalten bekundete der Beklagte gegenüber der Persönlichkeit der Klägerin ein so grosses Mass an Verachtung, dass objektiv ohne weiteres nachvollziehbar ist, dass das Fortbestehen der rechtlichen Bindung für sie unerträglich gemacht wurde. Ist aber die Fortsetzung der Ehe für die Klägerin aus schwerwiegendem Grund unzumutbar geworden, ist ihrem Scheidungsanspruch vor Ablauf der vierjährigen Trennungsfrist stattzugeben (
Art. 115 ZGB
). Irrelevant ist, ob die Klägerin allenfalls psychisch vorbelastet war und, gegebenenfalls, der Vorfall sich deshalb auf die psychische Gesundheit der Klägerin besonders nachhaltig auswirkte. Misshandelt
BGE 127 III 129 S. 136
jemand seine Partnerin derart, wie es der Beklagte gemacht hat, erweist sich dessen der Vorinstanz gemachte Vorhaltung, die psychische Vorbelastung der Klägerin zum Anlass genommen zu haben, an ihn überhöhte Anforderungen zu stellen, als blanker Zynismus. | de |
0509360b-47b4-4f58-ad54-a02bbecd4708 | Sachverhalt
ab Seite 17
BGE 95 IV 17 S. 17
A.-
Zusammen mit andern hatte Ernst Hallauer das Jagdrevier Obersiggenthal/AG gepachtet. Er war Präsident, Aktuar und Kassier der Jagdgesellschaft. Jagdaufseher war Karl Scherer. Dieser machte am 20. Dezember 1965 bei der Gemeindekasse eine Forderung von Fr. 1'405.35 geltend. Die kantonale Finanzdirektion prüfte die Rechnung, fand sie angemessen und verfügte die Auszahlung des Betrages zu Lasten der Jagdpächter.
Am 25. Juli 1966 schrieb Hallauer dem Bezirksamt Baden als der für das Jagdwesen des Bezirkes zuständigen Behörde einen Brief, mit welchem er die Abrechnung des Jagdaufsehers beanstandete. Insbesondere rügte er das Fehlen von Rapporten über den in Rechnung gestellten Zeitaufwand, ferner das Nichtaufführen von teils vermutlichem, teils sicherem Wildbreterlös und von neun Rehtrophäen. Wegen "Veruntreuung und Unterschlagung dieser Einnahmen" verlangte er den Entzug der an Scherer ausgestellten Jagdkarte, Rückzahlung des geleisteten Rechnungsbetrages und Ablieferung aller widerrechtlich angeeigneten Einnahmen und Trophäen.
Die Staatsanwaltschaft erhob Anklage gegen Hallauer wegen falscher Anschuldigung, begangen dadurch, dass er im Schreiben vom 25. Juli 1966 den Jagdaufseher Scherer wider besseres Wissen der Veruntreuung und Unterschlagung von Einnahmen in der Höhe von Fr. 1'405.-- bezichtigt habe.
B.-
Am 10. Januar 1968 sprach das Bezirksgericht Baden den Angeklagten der falschen Anschuldigung im Sinne von
Art. 303 Ziff. 1 StGB
schuldig, verurteilte ihn zu einer bedingt vollziehbaren Gefängnisstrafe von 14 Tagen, setzte die Probezeit auf zwei Jahre fest und verpflichtete ihn, dem Zivilkläger Scherer eine Genugtuungssumme von Fr. 150.-- zu bezahlen.
BGE 95 IV 17 S. 18
Mit Urteil vom 5. Juli 1968 wies das Obergericht des Kantons Aargau die Berufung des Angeklagten ab.
C.-
Hallauer führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag auf Rückweisung der Strafsache an die Vorinstanz zur Freisprechung. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
Das Obergericht erklärt im angefochtenen Urteil, beim Brief des Beschwerdeführers vom 25. Juli 1966 handle es sich nicht um eine eigentliche Strafanzeige im Sinne von
Art. 303 Ziff. 1 Abs. 1 StGB
, sondern um eine arglistige Veranstaltung nach Ziff. 1 Abs. 2, die der Beschwerdeführer getroffen habe, um eine Strafverfolgung gegen Scherer herbeizuführen; denn nach
BGE 85 IV 81
sei die bewusst unwahre Anschuldigung eines Nichtschuldigen bereits arglistig.
Die Vorinstanz scheint demnach zwischen eigentlichen Strafanzeigen nach
Art. 303 Ziff. 1 Abs. 1 StGB
und sogenannten andern Veranstaltungen nach Abs. 2 unterscheiden und aus der genannten Rechtsprechung ableiten zu wollen, auch "andere Veranstaltungen" seien bereits arglistig im Sinne von Abs. 2, wenn es sich um die bewusst unwahre Anschuldigung eines Nichtschuldigen handle. Nur so erklärt sich, warum sie im vorliegenden Falle die Frage der Arglist nicht weiter prüft, sondern dieses Tatbestandsmerkmal ohne weiteres damit für gegeben hält, dass der Beschwerdeführer bewusst unwahr einen Nichtschuldigen beschuldigte. Das entspricht jedoch den in
BGE 85 IV 81
gemachten Ausführungen nicht. Dass die Arglist nicht noch als besonderes Merkmal hinzutreten müsse, wurde ausdrücklich nur für den in Abs. 1 umschriebenen Hauptfall gesagt. Die Ausdehnung auf Tatbestände nach Abs. 2 wäre mit dem Wortlaut dieser Bestimmung schlechthin unvereinbar.
Entgegen der Auffassung der Vorinstanz besteht der Unterschied zwischen Abs. 1 und Abs. 2 nicht darin, dass Abs. 1 die eigentlichen Strafanzeigen und Abs. 2 alle andern arglistigen Veranstaltungen umfasst. Unter Abs. 1 fällt jede unmittelbare Beschuldigung eines Nichtschuldigen zum Zwecke der Strafverfolgung, sei es bei der für die Verfolgung zuständigen Behörde oder bei einer andern Amtsstelle, von der erwartet wird, dass sie die Beschuldigung an die in Frage kommende Behörde weiterleite. Andere Veranstaltungen im Sinne von
BGE 95 IV 17 S. 19
Abs. 2 dagegen sind solche, bei denen nicht durch ausdrückliche Beschuldigung, sondern mittelbar, z.B. durch Schaffung falscher Indizien, darauf ausgegangen wird, eine Strafverfolgung gegen einen Nichtschuldigen herbeizuführen (THORMANN-OVERBECK, N. 4 und LOGOZ, Nr. 3 und 4 zu
Art. 303 StGB
; HAFTER, Bes. Teil, S. 792). | de |
80c1c3aa-beb4-4b74-80c6-0d023f9c38ba | Sachverhalt
ab Seite 4
BGE 102 V 4 S. 4
Aus dem Tatbestand:
A.-
Anna Salzmann, geboren 1893, wohnt seit Februar 1969 in einem Alters- und Pflegeheim. Zu ihrer AHV-Altersrente erhält sie seit dem 1. Januar 1973 eine Hilflosenentschädigung nach
Art. 43bis AHVG
. Sie ist bei der Bezirkskrankenkasse Pfäffikon ZH für Krankenpflege und zusätzlich für Spitalkosten versichert.
Am 2. Mai 1972 gewährte ihr die Krankenkasse Kostengutsprache für einen täglichen Krankenpflegebeitrag "ab 1.05.1972 für längstens 720 Tage". Diese Gutsprache wurde am 7. Januar 1974 erneuert und gleichzeitig ausdrücklich auf den 20. April 1974 befristet. Vom 11. Juni bis 3. August 1974 und wiederum vom 30. September bis 21. Oktober 1974 war Anna Salzmann im Kantonsspital hospitalisiert. Die Kasse weigerte sich, an diesen Spitalaufenthalt Leistungen zu erbringen, weil ihre Leistungspflicht am 20. April 1974 erloschen sei.
B.-
Anna Salzmann gelangte am 22. Dezember 1974 mit
BGE 102 V 4 S. 5
dem Begehren an das Versicherungsgericht des Kantons Zürich, die auf den 20. April 1974 erfolgte Aussteuerung sei aufzuheben und es sei die Kasse zu verpflichten, für die Rechnungen des Kantonsspitals "im Rahmen der ordentlichen Krankenkassen-Leistungen" und der Spitalkosten-Zusatzversicherung aufzukommen.
In ihrem Entscheid vom 29. Mai 1975 vertritt die Vorinstanz die Auffassung, Anna Salzmann beziehe eine Hilflosenentschädigung der Invalidenversicherung. Somit gelange
Art. 12 Abs. 4 Satz 2 KUVG
zur Anwendung mit der Folge, dass die Versicherte am 20. April 1974 noch nicht ausgesteuert gewesen sei. Der kantonale Richter verhielt daher die Kasse, Anna Salzmann die gesetzlichen bzw. vertraglichen Leistungen aus der Krankenpflege- und Spitalkosten-Zusatzversicherung ab 1. Mai 1972 über den 20. April 1974 hinaus weiterhin zu erbringen.
C.-
Die Bezirkskrankenkasse lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde erheben und dem Eidg. Versicherungsgericht beantragen, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei festzustellen, dass sie über den 20. April 1974 hinaus keine Versicherungsleistungen mehr erbringen müsse.
Die Versicherte lässt die Bestätigung des angefochtenen Entscheides beantragen mit der Begründung: Die Hilflosenentschädigung sei ihr von der Invalidenversicherungs-Kommission zugesprochen worden, weshalb es sich um eine Leistung der Invalidenversicherung handle. Deshalb dürfe die Genussberechtigung im Sinne von
Art. 12 Abs. 4 KUVG
nicht beschränkt werden.
Das Bundesamt für Sozialversicherung beantragt die Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Erwägungen
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Gemäss
Art. 12 Abs. 4 KUVG
sind die Krankenkassen bei Aufenthalt des Versicherten in einer Heilanstalt verpflichtet, die Krankenpflegeleistungen für eine oder mehrere Krankheiten während wenigstens 720 Tagen innerhalb 900 aufeinanderfolgenden Tagen zu gewähren (Satz 1). Auf die Bezugsdauer dürfen keine Leistungen angerechnet werden, solange der Versicherte eine Rente oder Hilflosenentschädigung der Invalidenversicherung bezieht (Satz 2).
BGE 102 V 4 S. 6
Streitig ist, ob es sich bei der Hilflosenentschädigung, welche die Beschwerdegegnerin seit dem 1. Januar 1973 erhält, um eine Leistung der AHV oder der Invalidenversicherung handelt.
Art. 43bis Abs. 1 AHVG
räumt Männern, welche das 65., und Frauen, welche das 62. Altersjahr zurückgelegt haben und in schwerem Grad hilflos sind, einen Anspruch auf Hilflosenentschädigung ein. In der Invalidenversicherung dagegen ist der Anspruch auf Hilflosenentschädigung in zeitlicher Hinsicht auf das Ende des Monats beschränkt, in welchem Männer das 65. und Frauen das 62. Altersjahr zurücklegen (
Art. 42 Abs. 1 IVG
). Diese Bestimmung behält
Art. 43bis Abs. 4 AHVG
ausdrücklich vor. Nach dieser Vorschrift haben jener Mann, der bis zur Vollendung seines 65. Altersjahres, und jene Frau, die bis zur Vollendung ihres 62. Altersjahres eine Hilflosenentschädigung der Invalidenversicherung bezogen haben, Anspruch darauf, dass ihnen diese Entschädigung mindestens im bisherigen Betrag weiter gewährt wird, auch wenn sie nicht in schwerem Grad hilflos sind. Bei dieser Vorschrift handelt es sich um eine Ausnahmebestimmung zu Abs. 1 des
Art. 43bis AHVG
, mit der im Sinn der Wahrung des Besitzstandes vermieden werden soll, dass Bezüger von Hilflosenentschädigungen der Invalidenversicherung infolge Erreichung der ahv-rechtlichen Altersgrenze eine Leistungseinbusse erleiden. Die Weitergewährung der bisherigen Hilflosenentschädigung nach Erreichung der Altersgrenze geht aber seit dem 1. Januar 1969 (Inkrafttreten der 7. AHV-Revision) nicht mehr zulasten der Invalidenversicherung, sondern zu Lasten der AHV, wie schon in der bundesrätlichen Botschaft zur 7. AHV-Revision ausgeführt wurde (BBl 1968 I 661). Bei den Hilflosenentschädigungen gemäss Abs. 4 des
Art. 43bis AHVG
handelt es sich also eindeutig um Leistungen der AHV. Umso eher gilt dies für jene Hilflosenentschädigung, die gestützt auf Abs. 1 des
Art. 43bis AHVG
einem AHV-Rentner erstmals nach Erreichen der Altersgrenze wegen schwerer Hilflosigkeit zugesprochen wird. In dieser Richtung weist auch die bereits erwähnte bundesrätliche Botschaft, worin bei den Darlegungen über die Höhe dieser Hilflosenentschädigung mit der Formulierung "ähnlich wie die gleichartige Leistung der IV" deutlich zwischen Hilflosenentschädigungen der Invalidenversicherung und Hilflosenentschädigungen der AHV unterschieden wird.
BGE 102 V 4 S. 7
Daraus ergibt sich, dass namentlich jener Versicherte, der erstmals nach Erreichen des Rentenalters eine Hilflosenentschädigung erhält, nicht den Bezügern von Hilflosenentschädigungen der Invalidenversicherung gemäss
Art. 12 Abs. 4 KUVG
gleichgestellt werden darf.
2.
Es bleibt zu prüfen, ob darin, dass in
Art. 12 Abs. 4 KUVG
nur von Hilflosenentschädigungen der Invalidenversicherung und nicht auch von solchen der AHV die Rede ist, eine echte Gesetzeslücke erblickt werden kann, die vom Richter ausgefüllt werden müsste (vgl.
BGE 99 V 21
). Dies wäre insofern nicht zum vornherein ausgeschlossen, als die Hilflosenentschädigung an Altersrentner erst lange nach Inkrafttreten des
Art. 12 Abs. 4 Satz 2 KUVG
geschaffen wurde. Indessen muss das Vorliegen einer echten Gesetzeslücke verneint werden, wie sich aus folgendem ergibt:
Im Zusammenhang mit der Einführung der Hilflosenentschädigung an hochgradig hilflose Altersrentner hat der Bundesrat im Blick auf
Art. 12 Abs. 4 KUVG
die Frage aufgeworfen, "ob auch dieser stark erweiterte Versichertenkreis in den Genuss zeitlich unbegrenzter Krankenpflegeleistungen gelangen soll", und sie wie folgt beantwortet:
"Wir halten dafür, dass das Problem der Krankenversicherung der Altersrentner und namentlich dasjenige der Dauer der Pflegeleistungen an alte Versicherte finanziell von grosser Bedeutung ist und daher einer einlässlichen Prüfung bedarf. Um dem Ergebnis dieser Prüfung in keiner Hinsicht vorzugreifen, möchten wir von einer Ausdehnung der Leistungsdauer der Krankenversicherung bei hilflosen Altersrentnern absehen. Damit jedoch Personen, die schon bisher im Genuss dieser Begünstigung standen, nicht benachteiligt werden, soll für sie mit der vorliegenden Bestimmung der Besitzstand gewahrt bleiben" (BBl 1968 I 667).
Demgemäss haben National- und Ständerat seinerzeit der vom Bundesrat vorgeschlagenen Ziffer VIII der Gesetzesnovelle vom 4. Oktober 1968 unwidersprochen zugestimmt, wonach für die Anwendung von
Art. 12 Abs. 4 Satz 2 KUVG
nur solche Hilflosenentschädigungen als Leistungen der Invalidenversicherung zu gelten haben, die beim Inkrafttreten der Gesetzesnovelle Altersrentnern gewährt wurden. Das heute streitige Problem ist also bei der 7. AHV-Revision dem Gesetzgeber nicht entgangen. Doch liess er es absichtlich offen. Es liegt, mit andern Worten, ein qualifiziertes Schweigen, somit keine echte Gesetzeslücke vor. Daher darf der Richter auch aus diesen Überlegungen den Anwendungsbereich von
BGE 102 V 4 S. 8
Art. 12 Abs. 4 Satz 2 KUVG
nicht auf jene Versicherten ausdehnen, die zu ihrer Altersrente eine Hilflosenentschädigung der AHV beziehen.
3.
Demzufolge gelangt Anna Salzmann, die seit dem 1. Mai 1972 Krankenpflegeleistungen bezog und der erstmals in ihrem 80. Lebensjahr eine Hilflosenentschädigung zugesprochen wurde, nicht in den Genuss unbegrenzter Krankenpflegeleistungen im Sinne von
Art. 12 Abs. 4 Satz 2 KUVG
. Nach Gesetz und Statuten war die 720tägige Bezugsdauer am 20. April 1974 abgelaufen und der Anspruch auf Krankenpflegeleistungen zu diesem Zeitpunkt erschöpft. | de |
bc9159c5-a179-467c-828d-6f9995811408 | Sachverhalt
ab Seite 609
BGE 134 III 608 S. 609
Am 21. November 2007 vollzog das Betreibungsamt A. in den beiden Betreibungen Nrn. 1 und 2 gegen X. (Beschwerdeführer) die Pfändung für Forderungen von insgesamt CHF 19'896.25 nebst Zins und Kosten. Dabei verfügte es eine Einkommenspfändung in dem das Existenzminimum von CHF 4'104.10 bzw. (unter Herabsetzung der Kosten für die Wohnung) ab 1. April 2008 von CHF 3'591.10 übersteigenden Betrag. Zum Einkommen des Beschwerdeführers hielt das Betreibungsamt in der am 20. März 2008 versandten Pfändungsurkunde fest, der Schuldner und seine Ehefrau erhielten neben einer AHV-Rente von je CHF 339.- und den Ergänzungsleistungen von CHF 1'392.- eine Alterspension des Beschwerdeführers aus Österreich im Sinne von § 130 des gewerblichen Sozialversicherungsgesetzes von monatlich CHF 2'413.65 (EUR 1'466.37).
Dagegen reichte der Beschwerdeführer Beschwerde bei der Justizkommission des Obergerichts des Kantons Zug ein und machte die Unpfändbarkeit seiner österreichischen Altersrente geltend. Am 28. Mai 2008 wies die Justizkommission als Aufsichtsbehörde über Schuldbetreibung und Konkurs die Beschwerde ab.
Der Beschwerdeführer hat die Sache an das Bundesgericht weitergezogen. Er beantragt unter anderem, das angefochtene Urteil und die vorgängige Pfändung seien insoweit aufzuheben, als die österreichische Rente teilweise gepfändet worden sei. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit darauf einzutreten ist. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
2.1
Der Beschwerdeführer vertritt die Auffassung, nicht nur seine AHV-Rente und die Ergänzungsleistungen, sondern auch die Rente, die er aus Österreich von der Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft erhalte, sei absolut unpfändbar, denn die Höhe der Ergänzungsleistungen sei auch von der Höhe seiner
BGE 134 III 608 S. 610
österreichischen Rente abhängig. Daraus ergebe sich, dass die österreichische Rente gleichwertig mit der unstrittig unpfändbaren AHV-Rente und den Ergänzungsleistungen sei. Seine österreichische Rente sei Teil der Leistungen der 1. Säule. Der Unterschied zwischen seiner sehr niedrigen AHV-Rente und der höheren österreichischen Rente sei darauf zurückzuführen, dass sein Arbeitsleben zum Grossteil in Österreich stattgefunden habe. Die im angefochtenen Urteil vorgenommene Unterscheidung von in- und ausländischen Renten der 1. Säule würde eine Diskriminierung von Personen bedeuten, die im Ausland gearbeitet hätten. Die Diskriminierung treffe sowohl Schweizer Bürger als auch österreichische Staatsangehörige in gleicher Weise. Eine derartige Unterscheidung finde sich im Gesetz nicht.
2.2
Die Aufsichtsbehörde für Schuldbetreibung und Konkurs führte demgegenüber im angefochtenen Entscheid aus, gemäss
Art. 92 Abs. 1 Ziff. 9a SchKG
seien ausschliesslich die dort ausdrücklich aufgezählten Renten und Leistungen unpfändbar. Damit würden die Leistungen der so genannten 1. Säule (AHV/IV/EL) sowie die Leistungen der Familienausgleichskassen gänzlich von der Pfändung ausgenommen. Sie seien dem Zugriff der Gläubiger selbst dann entzogen, wenn sie einmal das Existenzminimum des Schuldners und seiner Familie übersteigen sollten, was aber in der Regel nicht der Fall sei. Altersrenten aus einer ausländischen Versicherungseinrichtung seien hingegen ebenso pfändbar wie etwa Ansprüche aus beruflicher Vorsorge nach Eintritt der Fälligkeit (
Art. 92 Abs. 1 Ziff. 10 SchKG
), auch wenn es sich dabei um eine staatliche Einrichtung handle, die mit derjenigen der AHV vergleichbar sei. Solche Renten seien gemäss
Art. 93 SchKG
beschränkt pfändbar, d.h. soweit sie nach dem Ermessen des Betreibungsbeamten für den Schuldner und dessen Familie nicht unbedingt notwendig seien. Dies ergebe sich sowohl aus der Botschaft als auch aus der parlamentarischen Beratung. Es sei deshalb unerheblich, ob es sich bei der österreichischen Altersrente um eine solche handle, die der AHV-Rente und den Ergänzungsleistungen entspreche oder nicht.
2.3
Gemäss
Art. 93 Abs. 1 SchKG
können - soweit hier interessierend - Erwerbseinkommen sowie Pensionen und Leistungen jeder Art, die einen Erwerbsausfall abgelten, namentlich Renten, die nicht nach
Art. 92 SchKG
unpfändbar sind, so weit gepfändet werden, als sie nach dem Ermessen des Betreibungsbeamten für den Schuldner und seine Familie nicht unbedingt notwendig sind.
BGE 134 III 608 S. 611
Unpfändbar sind nach
Art. 92 Abs. 1 Ziff. 9a SchKG
- soweit hier interessierend - die Renten gemäss Art. 20 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG; SR 831.10) oder gemäss Art. 50 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 19. Juni 1959 über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20) sowie die Leistungen gemäss Art. 20 des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 2006 über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (ELG; SR 831.30; in Kraft seit 1. Januar 2008; das Bundesgesetz vom 19. März 1965 über Ergänzungsleistungen zur AHV wurde aufgehoben [
Art. 35 ELG
]). Diese gesetzliche Ordnung geht vom Grundsatz aus, dass die Leistungen der Sozialversicherungen beschränkt pfändbar sind, sofern ihnen der Charakter eines Ersatzeinkommens zukommt, sieht aber als Ausnahme vom Grundsatz die absolute Unpfändbarkeit der in
Art. 92 Abs. 1 Ziff. 9a SchKG
ausdrücklich genannten Renten und Leistungen vor. Dies bedeutet, dass gewisse Renten und Leistungen der 1. Säule, d.h. insbesondere die Renten der AHV/IV und die Ergänzungsleistungen von der Pfändung gänzlich ausgeschlossen sind. Der Grund für die in
Art. 92 Abs. 1 Ziff. 9a SchKG
festgelegte Ausnahme der absoluten Unpfändbarkeit liegt vorab darin, dass diese Renten und Leistungen der 1. Säule ohnehin von Gesetzes wegen nicht höher sein sollen als das betreibungsrechtliche Existenzminimum und sich eine Diskussion über deren Pfändbarkeit deshalb erübrigt (Botschaft zur SchKG-Reform, BBl 1991 III 75 ff.; vgl. auch
Art. 112 Abs. 1 und 2 lit. b BV
). Es ist bei der Auslegung der Ausnahmen von
Art. 92 Abs. 1 Ziff. 9a SchKG
dieser Zweck im Auge zu behalten, was bedeutet, dass die Ausnahmen durch die Rechtsprechung nicht erweitert werden sollten, insbesondere nicht auf Renten und Leistungen, die regelmässig das Existenzminimum überschreiten können. Deswegen hat das Bundesgericht erkannt, dass das IV-Taggeld nicht unter den Begriff der Rente nach
Art. 50 IVG
fällt (
BGE 130 III 400
ff.) und auch die Invalidenrente der obligatorischen Unfallversicherung beschränkt pfändbar ist (
BGE 134 III 182
).
2.4
Gemäss
Art. 20 Abs. 1 AHVG
ist der Rentenanspruch der Zwangsvollstreckung entzogen. Es handelt sich um den Rentenanspruch der Alters- und Hinterlassenenversicherung. Anspruch auf eine Altersrente haben die Personen gemäss
Art. 18 AHVG
, welche das Alter gemäss
Art. 21 AHVG
erreicht haben. Die Rente wird im Wesentlichen aufgrund der Beitragsjahre und des
BGE 134 III 608 S. 612
Erwerbseinkommens errechnet (
Art. 29 ff. AHVG
). Die Durchführung der Alters- und Hinterlassenenversicherung erfolgt unter der Aufsicht des Bundes durch die in
Art. 49 AHVG
aufgezählten Personen und Stellen. Die gestützt auf diese Bestimmungen von der Ausgleichskasse Zug errechneten AHV-Renten des Beschwerdeführers und seiner Ehefrau von je CHF 339.- sind nicht pfändbar.
2.5
Gemäss
Art. 20 ELG
sind auch die Leistungen im Sinne des Gesetzes über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung der Zwangsvollstreckung entzogen. Bei den Ergänzungsleistungen handelt es sich um Leistungen des Bundes und der Kantone (
Art. 2 ELG
) sowie von namentlich aufgezählten gemeinnützigen Institutionen (
Art. 17 ELG
), die unter bestimmten Voraussetzungen zusätzliche Leistungen an die Bezüger von AHV- und IV-Renten erbringen. Die Ergänzungsleistungen zugunsten des Beschwerdeführers betragen gemäss der Berechnung der Ausgleichskasse Zug monatlich CHF 1'392.- und sind nicht pfändbar.
2.6
2.6.1
Der Beschwerdeführer erhält zudem von der Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft eine Alterspension aus Österreich im Sinne von § 130 des gewerblichen Sozialversicherungsgesetzes, bei welcher es sich nach seiner Meinung um eine der AHV-Rente und den Ergänzungsleistungen entsprechende Rente handeln soll. Der Beschwerdeführer macht aber selber nicht geltend, dass es sich um eine Rente gemäss
Art. 20 Abs. 1 AHVG
bzw. um eine Leistung gemäss
Art. 20 ELG
handelt, so dass sie nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichts nicht unter das absolute Pfändungsverbot gemäss
Art. 92 Abs. 1 Ziff. 9a SchKG
fällt, sondern gemäss
Art. 93 SchKG
beschränkt pfändbar ist.
2.6.2
Der Beschwerdeführer macht geltend, die vorgenommene Unterscheidung zwischen in- und ausländischen Renten der 1. Säule bedeute eine Diskriminierung von Personen, die im Ausland gearbeitet hätten. Es sei deshalb entgegen der Meinung der Vorinstanz nicht unerheblich, ob es sich bei seiner österreichischen Altersrente um eine solche handle, die der schweizerischen AHV-Rente und den Ergänzungsleistungen entspreche oder nicht. Der Beschwerdeführer verlangt in diesem Sinne eine rechtsgleiche und diskriminierungsfreie Behandlung und damit sinngemäss eine verfassungskonforme Auslegung von
Art. 92 Abs. 1 Ziff. 9a SchKG
.
2.6.3
Das Rechtsgleichheitsgebot gemäss
Art. 8 Abs. 1 BV
ist nicht verletzt, weil nach schweizerischem Recht im
BGE 134 III 608 S. 613
Sozialversicherungsbereich als Grundsatz die beschränkte Pfändbarkeit gilt und eine Ausnahme nicht für alle Renten und Leistungen der 1. Säule, sondern nur für die in
Art. 92 Abs. 1 Ziff. 9a SchKG
ausdrücklich aufgezählten gilt. Der Beschwerdeführer kann sich nicht erfolgreich auf
Art. 8 Abs. 1 BV
berufen, wenn seine österreichische Rente gleich behandelt wird wie die meisten Erwerbs- und Ersatzeinkommen sowie insbesondere grundsätzlich die Renten und Leistungen der Sozialversicherungen. Dies ist auch deshalb nicht zu beanstanden, weil vom Beschwerdeführer nicht dargelegt wird und von der Vorinstanz keine Feststellungen getroffen worden sind, ob die ausländische Versicherung tatsächlich dem schweizerischen System der Alters- und Hinterlassenenversicherung entspricht, welche auch bei hohen Beiträgen kaum je Leistungen über dem Existenzminimum erbringt. Leistet die ausländische Versicherung bei entsprechenden Einzahlungen Renten, die über dem Existenzminimum liegen können, fiele ein Pfändungsverbot ohnehin nicht in Betracht.
2.6.4
Das Diskriminierungsverbot gemäss
Art. 8 Abs. 2 BV
ist nicht verletzt, weil der Beschwerdeführer nicht aufgrund eines in dieser Bestimmung aufgezählten persönlichen Kriteriums benachteiligt wird. Insbesondere wird er nicht wegen seiner Herkunft als Österreicher diskriminiert. Er räumt selber ein, dass Österreicher und Schweizer gleich behandelt werden, wenn sie längere Zeit in Österreich gearbeitet haben und anschliessend in die Schweiz ziehen. Der unterschiedliche Arbeitsort kann kein Diskriminierungsgrund gemäss
Art. 8 Abs. 2 BV
sein.
2.6.5
Mit der Beschwerde in Zivilsachen kann auch die Verletzung von Völkerrecht gerügt werden (
Art. 95 lit. b BGG
). Auf eine solche Rüge ist indessen nur so weit einzutreten, als sie den Begründungsanforderungen genügt. Insbesondere ist in der Beschwerdeschrift in gedrängter Form darzulegen, inwiefern der angefochtene Entscheid Recht verletzt (
Art. 42 Abs. 2 BGG
;
BGE 133 IV 286
E. 1.4). Der Beschwerdeführer ruft kein Völkerrecht ausdrücklich an, sondern beschränkt sich darauf, eine Verletzung des Rechtsgleichheitsgebots und des Diskriminierungsverbots zu rügen, weil seine österreichische Alterspension anders behandelt wird als die schweizerische AHV-Rente. Es ist daher fraglich, ob die einschlägigen Staatsverträge herbeigezogen werden können. Die Frage kann dahingestellt bleiben, weil keine Verletzung eines staatsvertraglich gewährleisteten Rechtsgleichheitsgebots und Diskriminierungsverbots vorliegt.
BGE 134 III 608 S. 614
Ein solches Diskriminierungsverbot enthält das Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (FZA; SR 0.142.112.681), bzw. ein Rechtsgleichheitsgebot enthält die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (SR 0.831.109.268.1; im Folgenden: Verordnung Nr. 1408/71). Diese Erlasse gelten in der Schweiz gemäss
Art. 153a AHVG
und
Art. 32 ELG
, soweit sie im Anwendungsbereich des AHVG und des ELG liegen.
Art. 2 FZA
bestimmt, dass die Staatsangehörigen einer Vertragspartei, die sich rechtmässig im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei aufhalten, bei der Anwendung dieses Abkommens gemäss den Anhängen I, II und III nicht aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit diskriminiert werden dürfen. Ebenso bestimmt Art. 3 der Verordnung Nr. 1408/71, dass die Personen, die im Gebiet eines Mitgliedstaates wohnen und für die diese Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates haben wie die Staatsangehörigen dieses Staates, soweit besondere Bestimmungen dieser Verordnung nichts anderes vorsehen. Wie bereits ausgeführt, wird der Beschwerdeführer nicht aufgrund seiner Staatsangehörigkeit als Österreicher anders behandelt, als er sich dies wünscht. Seine österreichische Pension unterliegt der beschränkten Pfändbarkeit, weil er während Jahren nicht bei der schweizerischen Alters- und Hinterlassenenversicherung versichert, sondern einem andern Sozialversicherungswerk angeschlossen war. Gleich ergeht es Schweizer Bürgern, die während Jahren in Österreich arbeiteten und anschliessend in die Schweiz zurückkehren und hier betrieben werden. Die Rüge, der angefochtene Entscheid verletze das Rechtsgleichheitsgebot und das Diskriminierungsverbot, weil seine österreichische Alterspension betreibungsrechtlich anders behandelt wird als die AHV-Rente, ist daher unbegründet. Ob andere Vorschriften des Vertragswerks zwischen der Schweiz und der Europäischen Union durch den angefochtenen Entscheid berührt oder gar verletzt sein könnten, ist mangels entsprechender Rüge nicht zu prüfen. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die österreichische Alterspension des Beschwerdeführers beschränkt pfändbar im Sinne von
Art. 93 SchKG
ist. | de |
51dfb5f1-1bb7-48ff-af65-d3e5cd958527 | Sachverhalt
ab Seite 400
BGE 109 II 400 S. 400
Der am 7. August 1977 verstorbene A. X. hinterliess als gesetzliche Erben seine Ehefrau B. X.-Y. sowie neun Kinder. Durch das
BGE 109 II 400 S. 401
Urteil des Bundesgerichts (II. Zivilabteilung) vom 31. März 1982 wurde die zu seinem Nachlass gehörende landwirtschaftliche Liegenschaft rechtskräftig zum Ertragswert der Tochter C. Z.-X. zu Eigentum zugewiesen. Im übrigen blieb der Nachlass ungeteilt. In einem vom 12. März 1969 datierten Testament hatte der Erblasser unter anderem verfügt, dass seine Ehefrau von seinem Nachlassvermögen einen Viertel zu Eigentum und drei Viertel zur lebenslänglichen Nutzniessung erhalten soll.
Auf Begehren von C. Z.-X. ordnete das zuständige Bezirksgerichtspräsidium mit superprovisorischer Verfügung vom 25. August 1982 an, dass verschiedene Banken die auf den Namen des Erblassers, der Ehefrau oder der Erbengemeinschaft lautenden Guthaben vorläufig zu sperren hätten. Nach durchgeführtem Verfahren wurde das von C. Z.-X. gegen ihre Mutter gestellte Sicherstellungsbegehren durch Verfügung des Gerichtspräsidiums vom 20. Dezember 1982 geschützt; die superprovisorisch angeordnete Sperre wurde bestätigt, wobei festgehalten wurde, dass B. X.-Y. lediglich ermächtigt sei, über den jeweiligen Zins zu verfügen.
Eine von B. X.-Y. gegen die bezirksgerichtliche Verfügung eingereichte Beschwerde wies die Rekurs-Kommission des Obergerichtes des Kantons Thurgau mit Entscheid vom 11. März 1983 ab.
Diesen Entscheid hat B. X.-Y. mit staatsrechtlicher Beschwerde wegen Verletzung von
Art. 4 BV
beim Bundesgericht angefochten.
Am 17. November 1983 hat die erkennende Abteilung beschlossen, die als staatsrechtliche Beschwerde bezeichnete Eingabe von B. X.-Y. werde als Berufung und die Vernehmlassung von C. Z.-X. als Berufungsantwort entgegengenommen. Die Berufungsverhandlung ist heute durchgeführt worden. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Gemäss
Art. 84 Abs. 2 OG
ist die staatsrechtliche Beschwerde nur zulässig, wenn die behauptete Rechtsverletzung nicht sonstwie durch Klage oder Rechtsmittel beim Bundesgericht oder einer andern Bundesbehörde gerügt werden kann.
a) Streitig ist zwischen den Parteien die Sicherstellung erbrechtlicher Ansprüche im Sinne des Art. 464 in Verbindung mit den
Art. 760 ff. ZGB
durch die am ganzen Nachlass nutzniessungsberechtigte Beklagte. Im Gegensatz zu gewissen andern im Zivilgesetzbuch vorgesehenen Sicherungsmassnahmen, etwa zu den vorsorglichen Massregeln gemäss
Art. 594 Abs. 2 ZGB
zu Gunsten
BGE 109 II 400 S. 402
eines Vermächtnisnehmers, handelt es sich hier um einen ganz bestimmten materiell-rechtlichen Anspruch. Das wird daraus ersichtlich, dass der zur Sicherstellung der Miterben Verpflichtete unter Umständen auch zu einer eigenen Leistung wie der Pfandbestellung oder der Bürgschaft angehalten werden kann. Die gerichtliche Auseinandersetzung über einen solchen Anspruch ist als Zivilrechtsstreitigkeit im Sinne der
Art. 44 und 46 OG
zu bezeichnen (vgl.
BGE 104 II 140
). Aus dieser Sicht ist gegen den angefochtenen Entscheid somit die Berufung gegeben.
b) Die Berufung ist grundsätzlich erst gegen Endentscheide zulässig (
Art. 48 OG
). Die Rekurs-Kommission des Obergerichtes bestätigte einen Entscheid, der im summarischen Verfahren gemäss den § 193 ff. der thurgauischen Zivilprozessordnung ergangen war. Bezüglich des (summarischen) Befehlsverfahrens, wie es bis Ende 1976 im Kanton Zürich in Kraft stand, nahm das Bundesgericht an, dass obergerichtliche Entscheide betreffend Befehlsbegehren auf dem Wege der Berufung an das Bundesgericht weitergezogen werden könnten, sofern das Begehren gutgeheissen und der Beklagte zu einem bestimmten Verhalten verpflichtet worden sei, ohne dass dadurch zwangsläufig ein ordentliches Verfahren ausgelöst worden sei. Den endgültigen Charakter solcher Entscheidungen erblickte das Bundesgericht darin, dass die dem Beklagten auferlegte Verpflichtung in der Regel doch während längerer Zeit ihre Wirkungen entfalte und sogar Gegenstand von Vollstreckungsmassnahmen bilden könne (vgl.
BGE 102 II 62
E. 2;
BGE 100 II 288
f. E. 1; dazu auch WURZBURGER, Les conditions objectives du recours en réforme au Tribunal fédéral, Diss. Lausanne 1964, S. 194). Diese Voraussetzungen sind beim hier angefochtenen Entscheid der obergerichtlichen Rekurs-Kommission erfüllt.
c) ...
d) Die falsche Wahl oder Bezeichnung eines Rechtsmittels an das Bundesgericht schadet der betreffenden Partei nicht, wenn ihre Eingabe den gesetzlichen Anforderungen des allein zulässigen Rechtsmittels genügt (so
BGE 95 II 378
E. 2 und 3 bezüglich einer als staatsrechtliche Beschwerde zu behandelnden Berufung und
BGE 103 II 71
f. E. 2 hinsichtlich einer staatsrechtlichen Beschwerde, die als Nichtigkeitsbeschwerde zu behandeln war). Die Beklagte wirft der obergerichtlichen Rekurs-Kommission eine willkürliche Anwendung der Art. 464 bzw. 760 ff. ZGB vor. Sie rügt mithin eine Verletzung von Bundesprivatrecht im Sinne von
BGE 109 II 400 S. 403
Art. 43 OG
. Ihre Eingabe ist demnach als Berufung entgegenzunehmen.
2.
Gemäss
Art. 602 Abs. 2 ZGB
werden die Erben Gesamteigentümer der Erbschaftsgegenstände; unter Vorbehalt der vertraglichen oder gesetzlichen Vertretungs- und Verwaltungsbefugnisse verfügen sie über die Rechte der Erbschaft gemeinsam. Das Prinzip der Gesamthandschaft gilt auch dann, wenn gegenüber einem nutzniessungsberechtigten Erben die Sicherstellung erbrechtlicher Ansprüche auf dem Prozessweg erwirkt werden soll. Das bedeutet jedoch nicht, dass ein einzelnes Mitglied einer Erbengemeinschaft von den Miterben an der Durchsetzung seines Sicherstellungsanspruches gehindert werden könnte oder dass bei einer Weigerung der Miterben, sich dem Sicherstellungsbegehren eines einzelnen anzuschliessen, im Sinne von
Art. 602 Abs. 3 ZGB
ein Erbenvertreter zu bestellen wäre. Eine Sicherstellung im Sinne von
Art. 464 ZGB
muss jeder einzelne Erbe unabhängig von den andern verlangen können. Da jedoch vor der Teilung die Erbanteile der einzelnen Erben noch nicht ausgeschieden sind, bezieht sich eine Sicherstellung der erwähnten Art naturgemäss auf den ganzen Nachlass. Unter dem Gesichtspunkt des Gesamthandprinzips genügt es bei dieser Sachlage, dass sich sämtliche Erben zum Sicherstellungsbegehren äussern und, soweit sie weder dem Begehren beitreten noch sich von vornherein einem darüber ergehenden Urteil unterziehen wollen, auf der Seite des Beklagten am Prozess teilnehmen (vgl.
BGE 74 II 215
ff., insbes. S. 217 E. 3, worin es um die Anfechtung eines Kaufvertrages betreffend eine zum Nachlass gehörende Liegenschaft ging, der zwischen einem Erben und den übrigen Mitgliedern der Erbengemeinschaft abgeschlossen worden war).
Im vorliegenden Fall sind die Miterben der Parteien in keiner Weise in das Verfahren einbezogen worden. Die für das klägerische Begehren erforderliche Sachlegitimation ist mithin nicht gegeben, so dass der angefochtene Entscheid aufzuheben und die Klage abzuweisen ist (vgl. GULDENER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3. Aufl., S. 139). | de |
9adf5bc4-0c25-4805-bd3b-140444993e54 | Sachverhalt
ab Seite 19
BGE 118 IV 18 S. 19
A.-
Das Obergericht des Kantons Zürich verurteilte M. am 9. März 1990 zweitinstanzlich wegen Pfändungsbetruges, Fahrens in angetrunkenem Zustand und wegen Verletzung von Verkehrsregeln zu fünf Monaten Gefängnis und zu einer Busse von Fr. 200.--. Es schob den Vollzug der Freiheitsstrafe unter Festsetzung einer Probezeit von drei Jahren auf. Ferner beschloss es, eine am 10. Februar 1982 ausgesprochene Freiheitsstrafe von 16 Monaten Zuchthaus, abzüglich zehn Tage Untersuchungshaft, zu vollziehen; ebenso eine am 9. Dezember 1983 ausgesprochene Freiheitsstrafe von einem Monat Gefängnis.
B.-
Mit Beschluss vom 26. März 1991 hat das Kassationsgericht des Kantons Zürich eine kantonale Nichtigkeitsbeschwerde gegen dieses Urteil abgewiesen. Das Bundesgericht hat eine dagegen eingereichte staatsrechtliche Beschwerde am 23. Dezember 1991 abgewiesen, soweit darauf einzutreten war.
C.-
M. erhebt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts in bezug auf die Strafe sowie dessen Beschluss betreffend Widerruf des bedingten Strafvollzuges in bezug auf zwei Vorstrafen aufzuheben. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz habe die Strafe in Verletzung von Bundesrecht zugemessen.
a) Die Vorinstanz verweist für die Strafzumessung grundsätzlich auf die Erwägungen des Bezirksgerichts. Dieses berücksichtigte bei der Beurteilung des Verschuldens zunächst, dass der Beschwerdeführer immer wieder in finanzielle Not geraten sei, die dann zu den verschiedenen Betreibungen geführt habe. Dass er trotzdem noch einen aufwendigen Lebenswandel beibehalten habe, scheine auf einen gewissen Hang zu Hochstapelei hinzuweisen. Der Beschwerdeführer habe sich anlässlich der Hauptverhandlung uneinsichtig gezeigt, habe er doch keinen Grund gesehen, warum er nicht ein teures Auto halten solle. Solche und andere Luxusgüter hätte er nie mit dem eigenen Verdienst finanzieren können. So habe er sich immer wieder unlauter finanzielle Mittel zu verschaffen versucht, weshalb er sich schon verschiedentlich zu verantworten gehabt habe. Das wirke sich neben dem unverändert ungünstigen Leumund straferhöhend aus. Angesichts des umfangreichen Vorstrafenkatalogs sei auch der automobilistische Leumund eher getrübt. Bei der Verurteilung wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand falle ins Gewicht,
BGE 118 IV 18 S. 20
dass der Beschwerdeführer eine beachtliche Menge Alkohol konsumiert haben müsse (mindestens 1,95 Gewichtspromille zur relevanten Zeit). Das Bezirksgericht verweist dann auf die gute Qualifikation durch den heutigen Arbeitgeber.
Die Vorinstanz relativiert den Vorwurf der Hochstapelei im Hinblick auf die Tätigkeit des Beschwerdeführers als Aussendienstmitarbeiter beziehungsweise als Angestellter, der zumindest neuerdings auch im Aussenbereich repräsentierend auftreten müsse. Sie berücksichtigt ferner, dass der Beschwerdeführer in bezug auf die Alkoholfahrt von Anfang an geständig war und dass er den Betrag in der Höhe des ausgestellten Verlustscheines zurückbezahlt hat. Dennoch hält sie die vom Bezirksgericht ausgefällte Strafe für angemessen.
b) Der Beschwerdeführer wendet ein, das Bezirksgericht sei beim Pfändungsbetrug von einem Deliktsbetrag von Fr. 5'323.15 ausgegangen; demgegenüber sei die Vorinstanz zum Schluss gekommen, der strafrechtliche Vorwurf reiche nur bis zu einem Betrage von Fr. 1'047.50, da nur für diesen Betrag ein provisorischer Verlustschein vorgelegen habe. Die Vorinstanz habe diese erhebliche Verminderung des Deliktsbetrages bei der Strafzumessung nicht berücksichtigt und damit gegen
Art. 63 StGB
verstossen.
Art. 63 StGB
sei überdies verletzt, wenn die Vorinstanz abweichend vom Bezirksgericht, das seine angebliche Hochstapelei ausdrücklich als straferhöhend berücksichtigt habe, eine solche verneine und dennoch die Strafzumessung des Bezirksgerichts als zutreffend bezeichne.
Art. 63 StGB
sei auch verletzt, wenn die Vorinstanz zwar Schadensdeckung und Geständigkeit dem Beschwerdeführer "zugute" halte, ohne aber diese strafmindernden Umstände bei der Strafzumessung zu berücksichtigen. Angesichts seiner prekären finanziellen Situation habe die Schadensdeckung einen grossen Einschnitt für ihn bedeutet und beweise seine aufrichtige Reue.
c) aa) Damit das Bundesgericht überprüfen kann, ob die verhängte Strafe im Einklang mit den Zumessungsregeln des Bundesrechtes steht und ob der Sachrichter sein Ermessen überschritten hat oder nicht, müssen alle wesentlichen Strafzumessungskriterien in der schriftlichen Urteilsbegründung Erwähnung finden. Die Begründung der Strafzumessung muss in der Regel den zur Anwendung gelangenden Strafrahmen nennen und die massgeblichen Tat- und Täterkomponenten so erörtern, dass festgestellt werden kann, ob alle rechtlich massgeblichen Gesichtspunkte Berücksichtigung gefunden haben und wie sie gewichtet wurden, d.h. ob und in welchem Grade sie strafmindernd oder straferhöhend in die Waagschale fielen. Das
BGE 118 IV 18 S. 21
Bundesgericht hebt ein Urteil auf, wenn wegen Fehlens einer Erörterung der erwähnten wesentlichen Elemente die richtige Anwendung des Bundesrechtes nicht nachgeprüft werden kann (
BGE 117 IV 114
/5 mit Hinweisen).
bb) Die Strafzumessungserwägungen des angefochtenen Urteils sind in sich widersprüchlich und erfüllen die Begründungsanforderungen gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung nicht. Denn die Vorinstanz verweist zunächst grundsätzlich auf die zutreffenden Strafzumessungserwägungen des Bezirksgerichts, erwähnt dann jedoch teils in Korrektur, teils in Ergänzung zum Urteil des Bezirksgerichts Umstände, die im Rahmen von
Art. 63 StGB
strafmindernd zu berücksichtigen sind (Relativierung des Vorwurfes des Hangs zu Hochstapelei; Geständnis betreffend Fahren in angetrunkenem Zustand; Rückzahlung des Betrages in der Höhe des ausgestellten Verlustscheines). Wenn sie dennoch die vom Bezirksgericht ausgefällte Strafe als ausgewogen und angemessen bezeichnet, dann ist die Strafzumessung ohne weitere Begründung nicht mehr nachvollziehbar. Hinzu kommt, dass die Vorinstanz, wie der Beschwerdeführer zu Recht geltend macht, abweichend vom Bezirksgericht in bezug auf die Lohnpfändung von einem wesentlich geringeren Deliktsbetrag ausgeht, ohne auf diesen Gesichtspunkt bei der Strafzumessung zurückzukommen. Dabei ist anzunehmen, dass der Pfändungsbetrug die Höhe der ausgesprochenen Strafe von fünf Monaten Gefängnis wesentlich beeinflusst hat.
cc) Die Nichtigkeitsbeschwerde ist deshalb in diesem Punkt gutzuheissen. Die Vorinstanz wird in ihrem neuen Urteil entweder ausreichend darzulegen haben, weshalb sie trotz der genannten Abweichungen vom bezirksgerichtlichen Urteil zur gleichen Strafe gelangt, oder aber eine geringere Strafe auszufällen haben. | de |
254e8309-3b9b-4b9f-bd14-d74673b6485c | Sachverhalt
ab Seite 617
BGE 140 III 616 S. 617
A.
A.a
Die A. B.V., die B. KG und die C. GmbH (Klägerinnen, Beschwerdegegnerinnen) sind im Bereich der Publikation wissenschaftlicher, technischer und medizinischer Fachschriften tätig.
Die Eidgenössische Technische Hochschule Zürich (ETHZ, Beklagte, Beschwerdeführerin) ist eine autonome öffentlich-rechtliche Anstalt des Bundes mit eigener Rechtspersönlichkeit.
A.b
Die Beklagte betreibt einen Dokumentenlieferdienst. Im Rahmen dieses Dienstes scannt sie auf Anfrage eines (beliebigen) Bestellers hin Auszüge aus in der Bibliothek vorhandenen Zeitschriften oder Sammelbänden ein oder kopiert diese auf analoge Weise und sendet daraufhin die angefertigte Kopie dem Besteller per E-Mail (als PDF-Datei) oder per Post zu. Von gewissen Benützern wird dafür eine Gebühr erhoben.
Die Klägerinnen stellen sich auf den Standpunkt, der Dokumentenlieferdienst verletze ihre Urheberrechte und sei daher unzulässig. Die Beklagte ist der Ansicht, ihre Dienstleistung bewege sich im Rahmen des urheberrechtlich zulässigen Eigengebrauchs.
B.
Am 19. Dezember 2011 erhoben die Klägerinnen beim Handelsgericht des Kantons Zürich Klage, im Wesentlichen jeweils mit den Anträgen, es sei der Beklagten unter Androhung der Bestrafung ihrer Organe nach
Art. 292 StGB
im Widerhandlungsfall zu verbieten, Artikel aus fünf namentlich aufgeführten wissenschaftlichen Zeitschriften zum Zwecke der Dokumentenlieferung zu vervielfältigen oder vervielfältigen zu lassen und elektronisch zu versenden oder versenden zu lassen (Antrags-Ziffer 1). Eventualiter sei der Beklagten zu verbieten, Artikel aus dem Printbestand der in Antrags-Ziffer 1 genannten Zeitschriften in ihrer Bibliothek zu scannen oder scannen zu lassen und anschliessend per E-Mail zu versenden oder versenden zu lassen (Antrags-Ziffer 2). Subeventualiter sei der Beklagten zu verbieten, bestimmte Zeitschriftenartikel zum Zwecke der Dokumentenlieferung zu vervielfältigen oder vervielfältigen zu lassen und elektronisch zu versenden oder versenden zu lassen (Antrags-Ziffer 3). | de |
2cc4b6c2-5ca2-4a71-a86f-ff24fa2bf333 | Sachverhalt
ab Seite 303
BGE 80 II 302 S. 303
A.-
Der am 28. September 1948 verstorbene Traugott Walser hatte am 31. August 1933 ein eigenhändiges Testament errichtet. Auf der letzten Seite folgt ein Nachtrag vom gleichen Tag mit der Einsetzung eines Willensvollstreckers. Der Erblasser war damals verwitwet und hatte keine Nachkommen. Im Jahre 1937 wurde die Klägerin als seine aussereheliche Tochter geboren, die er anerkannte und deren Mutter er später heiratete. Am Testament nahm er mehrere Änderungen vor. Auf der letzten Seite schob er vor die Einsetzung des Willensvollstreckers folgenden materiellen Nachtrag ein: "Den Rest an meine gesetzlichen Erben", mit der Unterschrift "T. Walser". Im Anschluss daran findet sich die Datierung "Lenzerheide 26.II.1938" mit nochmaliger Unterschrift "T. Walser". Auf der ersten Seite der Urkunde war ursprünglich unter Ziff. 1 Frau Marie Eggmann mit 9 Vermächtnissen lit. a bis i bedacht worden. Sie starb im Jahre 1935. Ihr Name ist in der Urkunde durchgestrichen und darunter der Name des Beklagten, ihres Sohnes, geschrieben. Sämtliche der Frau Eggmann ausgesetzten Vermächtnisse sind durchgestrichen, diejenigen zu lit. c und g aber durch Unterpunktieren mit dem Beisatz "gültig" wiederhergestellt und durch den Namenszug "T. W." bekräftigt. Bei lit. i ist anstelle des Sachvermächtnisses
BGE 80 II 302 S. 304
ein Geldvermächtnis eingesetzt. Dabei findet sich der anfängliche Betrag von Fr. 20'000.-- auf Fr. 10'000.-- ermässigt. Das Geldvermächtnis ist mit der Unterschrift "T. Walser" versehen. Der Beginn der Testamentsurkunde lautet, so wie sie nun vorliegt, wie folgt:
"Testament.
"Ich vermache hiemit von meinem Vermögen wie folgt:
.......
T. Walser."
B.- | de |
54ac4d86-0308-4c3a-85c7-7c4f788b437c | Erwägungen
ab Seite 77
BGE 129 V 77 S. 77
Aus den Erwägungen:
3.
Gemäss den Ausführungen des kantonalen Gerichts unterliegen Ausländerinnen und Ausländer der Versicherungspflicht, wenn sie nebst dem Erfordernis des Wohnsitzes in der Schweiz auch über eine mindestens drei Monate gültige Aufenthaltsbewilligung verfügen;
Art. 1 Abs. 1 KVV
müsse in Zusammenhang mit Abs. 2 interpretiert werden, welcher für ausländische Personen eine entsprechende Bewilligung verlange. Die CSS-Versicherung (nachfolgend: CSS) stellt sich auf den Standpunkt, der Wohnsitzbegriff sei bei der Frage der Unterstellung unter das Versicherungsobligatorium im Rahmen einer "funktionalisierenden Auslegung" dahin gehend zu verstehen, dass unter Berücksichtigung von
Art. 1 Abs. 2 KVV
Ausländer ohne Aufenthaltsbewilligung nicht der Versicherungspflicht unterliegen würden.
4.
4.1
In seiner Botschaft zum Krankenversicherungsgesetz vom 6. November 1991 führt der Bundesrat aus, dass der Beitritt zur
BGE 129 V 77 S. 78
Grundversicherung für Krankenpflege für die gesamte Wohnbevölkerung obligatorisch sein soll (BBl 1992 I 116, 141); jede Person mit Wohnsitz in der Schweiz, welcher sich nach Art. 23 bis 26 ZGB bestimme, sei versicherungspflichtig (BBl 1992 I 142). Dieses Obligatorium war weder in der Vernehmlassung (BBl 1992 I 123) noch in den parlamentarischen Debatten umstritten (Amtl. Bull. 1992 S 1271 ff., insbesondere 1287; Amtl. Bull. 1993 N 1725 ff., insbesondere 1830 ff.).
4.2
Gemäss
Art. 3 Abs. 1 KVG
ist jede Person mit Wohnsitz in der Schweiz der obligatorischen Krankenpflegeversicherung unterstellt, wobei sich der Wohnsitz nach Art. 23 bis 26 ZGB definiert (
Art. 1 Abs. 1 KVV
). Der Bundesrat kann die Versicherungspflicht auf Personen ohne Wohnsitz in der Schweiz ausdehnen (
Art. 3 Abs. 3 KVG
). Dies hat er mit
Art. 1 Abs. 2 KVV
getan, indem er Ausländerinnen und Ausländer mit einer Aufenthaltsbewilligung nach
Art. 5 ANAG
, welche mindestens drei Monate gültig ist (lit. a), sowie unselbstständig erwerbstätige Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsbewilligung weniger als drei Monate gültig ist und die für Behandlungen in der Schweiz nicht über einen gleichwertigen Versicherungsschutz verfügen (lit. b), dem Obligatorium unterstellte. Zudem erklärte er Asylsuchende, welche ein Gesuch nach Art. 18 des Asylgesetzes gestellt haben oder denen nach Art. 66 des Asylgesetzes vorübergehender Schutz gewährt wird, sowie vorläufig Aufgenommene nach
Art. 14a ANAG
(lit. c) als versicherungspflichtig.
Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat in diesem Zusammenhang festgehalten, dass die Ausnahmen vom Versicherungsobligatorium eng zu umschreiben seien; gemäss Botschaft des Bundesrates zum KVG sei das Versicherungsobligatorium kein Selbstzweck, sondern unverzichtbares Instrument zur Gewährleistung der Solidarität (RKUV 2000 Nr. KV 102 S. 20 Erw. 4c).
4.3
In seiner Antwort vom 2. Juni 1997 auf die Einfache Anfrage Jacquet zur Zulassung von Ausländerinnen und Ausländern ohne Aufenthaltsbewilligung zur Krankenversicherung führt der Bundesrat aus, dass es nicht opportun sei, die Situation von Personen ohne gültige Aufenthaltsbewilligung ausdrücklich auf gesetzgeberischem Weg zu regeln. Der Wohnsitzbegriff als Voraussetzung für die Unterstellung unter die Versicherungspflicht definiere sich nach Art. 23 bis 26 ZGB. Nach Ansicht des Bundesrates seien somit Personen, welche die Voraussetzungen des fiktiven Wohnsitzbegriffes von
Art. 24 Abs. 2 ZGB
erfüllen würden, ebenfalls dem Obligatorium
BGE 129 V 77 S. 79
unterworfen (Amtl. Bull. 1997 N 1603 f.). In diesem Sinne hält das Bundesamt für Sozialversicherung in seiner Vernehmlassung vom 23. November 2001 fest, dass die Begründung der Versicherungspflicht von Ausländerinnen und Ausländern allein auf Grund des schweizerischen Wohnsitzes möglich sei.
5.
5.1
Entgegen der Ansicht von Vorinstanz und CSS gelangt
Art. 1 Abs. 2 KVV
nur zur Anwendung, wenn Ausländerinnen und Ausländer nicht bereits auf Grund von
Art. 3 Abs. 1 KVG
in Verbindung mit
Art. 1 Abs. 1 KVV
der Versicherungspflicht unterstellt sind (vgl. auch
BGE 125 V 77
Erw. 2a).
5.2
Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat in früheren Urteilen entschieden, dass in jenen Fällen, in welchen im Sozialversicherungsrecht auf den Wohnsitzbegriff abgestellt wird, dieser nicht gegeben ist, sofern öffentlichrechtliche Hinderungsgründe die Verwirklichung der Absicht des dauernden Verbleibens verbieten (
BGE 113 V 264
Erw. 2b mit Hinweisen). In Zusammenhang mit dem Versicherungsobligatorium des KVG hat das Eidgenössische Versicherungsgericht in Übereinstimmung mit der zivilrechtlichen Rechtsprechung festgehalten, dass für den Wohnsitz nach
Art. 23 Abs. 1 ZGB
nicht massgebend sei, ob die Person eine fremdenpolizeiliche Niederlassungs- oder Aufenthaltsbewilligung besitze (
BGE 125 V 77
Erw. 2a mit Hinweisen). Das Abstellen auf den rein zivilrechtlichen Begriff des Wohnsitzes stimmt denn auch nicht nur mit dem Wortlaut der Bestimmung überein, sondern deckt sich zudem mit dem Zweck des Obligatoriums, gemäss welchem die gesamte Wohnbevölkerung, d.h. alle in der Schweiz lebenden Personen, der Versicherungspflicht unterstellt sein sollen (Erw. 4.1). Dies verstösst auch nicht gegen den ordre public: Die dem Obligatorium unterworfenen Personen ohne Aufenthaltsbewilligung, aber mit Wohnsitz in der Schweiz, bezahlen ebenso Krankenkassenprämien, und ihr Einkommen unterliegt ebenfalls der Steuerpflicht, sodass sie auch den staatlich subventionierten Teil der Krankenpflegeversicherung nach Massgabe ihrer Einkommensverhältnisse mitfinanzieren (vgl. hiezu AHI 1994 S. 112 Erw. 5).
Die Lehre hat sich zu dieser Frage nicht eingehend geäussert: Der Ansicht MAURERS kann nicht gefolgt werden, soweit er die Unterstellung unter das Obligatorium für Ausländerinnen und Ausländer alleine nach
Art. 1 Abs. 2 KVV
beurteilt (Das neue Krankenversicherungsrecht, Basel 1996, S. 35). EUGSTER verweist etwa auf den fiktiven Wohnsitz von
Art. 24 Abs. 1 ZGB
und bezieht sich beim
BGE 129 V 77 S. 80
Ausschluss von der Versicherungspflicht nur auf die sich illegal in der Schweiz aufhaltenden, nicht aber wohnenden Personen (Krankenversicherung, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Soziale Sicherheit, Rz. 12 f.). Unzutreffend ist schliesslich die Meinung von HELLER, welcher die Versicherungspflicht für Schwarzarbeiter aus
Art. 9 Abs. 1 der Verordnung vom 6. Oktober 1986 über die Begrenzung der Zahl der Ausländer (BVO; SR 823.21)
ableitet (Schwarzarbeit: Das Recht der Illegalen unter besonderer Berücksichtigung der Prostitution, Diss. Zürich 1998, S. 121 ff.), da diese Frage im KVG abschliessend geregelt ist (vgl. RKUV 1999 Nr. KV 81 S. 337).
Nachdem die Unterstellung unter das Obligatorium auf Grund des zivilrechtlichen Wohnsitzes sowohl vom Wortlaut als auch von der Systematik her sowie bezüglich Sinn und Zweck der Bestimmung dem Gesetz entspricht, ist der Beschwerdeführer versicherungspflichtig, wenn er zum massgeblichen Zeitpunkt schweizerischen Wohnsitz nach Art. 23 bis 26 ZGB hatte.
5.3
Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat im nicht veröffentlichten Urteil M. vom 2. Juni 1999 (K 160/98) präzisiert, dass selbst bei andauernder ärztlicher Behandlung während des Aufenthaltes in der Schweiz auch eine "L"-Bewilligung eine Aufenthaltsbewilligung nach
Art. 5 ANAG
im Sinne von
Art. 1 Abs. 2 lit. a KVV
darstellt, sofern sie mindestens 3 Monate gültig ist und die Einreise in die Schweiz nicht zum Zweck der ärztlichen Behandlung erfolgte bzw. die Aufenthaltsbewilligung nicht gestützt auf
Art. 33 BVO
(Aufenthalt für medizinische Behandlung), sondern etwa auf
Art. 36 BVO
(wichtige Gründe) erteilt wurde (vgl. hiezu auch RJJ 1996 S. 363). | de |
ecc9dd2e-4286-4175-8f3b-0366ff63a688 | Sachverhalt
ab Seite 107
BGE 136 III 107 S. 107
Die Statuten der am 18. März 1940 ins Handelsregister eingetragenen Y. AG enthielten spätestens seit 1960 eine Schiedsklausel für Streitigkeiten zwischen der Gesellschaft und ihren Organen bzw. Aktionären. Gemäss Artikel 28 der zuletzt geltenden Statuten der Y. AG lautete die Schiedsklausel wie folgt:
"Rechtsstreitigkeiten in Gesellschaftsangelegenheiten zwischen der Gesellschaft und ihren Organen oder Aktionären sowie deren Rechtsnachfolgern entscheidet endgültig (einschliesslich aller Vor- und Zwischenfragen) unter Ausschluss des ordentlichen Rechtsweges ein dreiköpfiges Schiedsgericht mit Sitz in Biel. (...)
Gerichtsstand ist Biel. Das Schiedsgericht entscheidet nach schweizerischem Recht. Es ordnet sein Verfahren selbst und regelt auch die
BGE 136 III 107 S. 108
Kostenfrage. Das Verfahren soll möglichst einfach sein. Die Parteien haben Anspruch auf ein schriftlich begründetes Urteil. Subsidiär gilt die bernische Zivilprozessordnung."
Am 5. Januar 2004 wurde der Konkurs über die Y. AG eröffnet. A. (Beschwerdegegnerin), Gläubigerin und Aktionärin der konkursiten Gesellschaft, erhob im März 2007 beim Handelsgericht des Kantons Bern Klage und verlangte von Verwaltungsratsmitgliedern Fr. 1'000'000.- aus aktienrechtlicher Verantwortlichkeit, nachdem sie sich diese Ansprüche gemäss
Art. 260 SchKG
hatte abtreten lassen. Da die Schiedseinrede erhoben wurde, beschränkte das Handelsgericht die Hauptverhandlung auf die Frage der Zuständigkeit, die es im Urteil vom 7. Juli 2009 bejahte.
Die Beschwerdeführerin beantragt dem Bundesgericht, das Urteil des Handelsgerichts aufzuheben und dessen Zuständigkeit zu verneinen.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
(Zusammenfassung) Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.5
Nach einhelliger Lehre ist grundsätzlich auch die Konkursmasse einschliesslich allfälliger Abtretungsgläubiger nach
Art. 260 SchKG
an die vom Gemeinschuldner abgeschlossene Schiedsvereinbarung gebunden (BERGER/KELLERHALS, Internationale und interne Schiedsgerichtsbarkeit in der Schweiz, 2006, Rz. 511 S. 178; RÜEDE/HADENFELDT, Schweizerisches Schiedsgerichtsrecht, 2. Aufl. 1993, S. 81; LALIVE/POUDRET/REYMOND, Le droit de l'arbitrage interne et international en Suisse, 1989, N. 1.2 zu
Art. 4 KSG
; PIERRE JOLIDON, Commentaire du Concordat suisse sur l'arbitrage, 1984, S. 141; VOGEL/SPÜHLER, Grundriss des Zivilprozessrechts und des internationalen Zivilprozessrechts der Schweiz, 8. Aufl. 2006, Rz. 43 zu Kapitel 14; vgl. auch Beschluss des Handelsgerichts des Kantons Zürich vom 8. Juli 1991 E. 2.2, in: ZR 90/1991 S. 216 f.; Entscheid des Walliser Kantonsgerichts vom 9. Juli 1986, in: Zeitschrift für Walliser Rechtsprechung [ZWR] 1986 S. 406). Das Bundesgericht hat die Gültigkeit der Schiedsklausel für die Konkursmasse im Zusammenhang mit einer Kollokationsklage in einem älteren Entscheid zwar verneint (
BGE 33 II 648
E. 4 S. 654). Auf die Tragweite dieses Entscheids braucht jedoch nicht näher eingegangen zu werden, da für
BGE 136 III 107 S. 109
Ansprüche aus aktienrechtlicher Verantwortlichkeit besondere Regeln gelten.
2.5.1
Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin macht die Beschwerdegegnerin im Rahmen der Verantwortlichkeitsansprüche nach
Art. 757 OR
genau besehen nicht die Ansprüche der Gesellschaft gegenüber den Organen geltend, sondern diejenigen der Gläubigergesamtheit. Aus diesem Grund kann der Belangte der Abtretungsgläubigerin nicht sämtliche Einreden gegen sie persönlich und gegen die Gesellschaft entgegengehalten, sondern nur diejenigen, die ihm auch gegenüber der Gläubigergesamtheit zustehen (
BGE 117 II 432
E. 1b/gg S. 440 mit Hinweisen). Die Ablösung des eigenen Anspruchs der Gesellschaft durch denjenigen der Gläubigergesamtheit im Konkurs hat nicht zum Zweck, den Gläubigern mehr Rechte zu verschaffen, als die Gesellschaft jemals hatte. Sie dient allein dem Ausschluss derjenigen Einreden, die den Abtretungsgläubigern gegenüber nicht gerechtfertigt sind. Einreden, die unabhängig von der Willensbildung der Gesellschaft vor der Konkurseröffnung bestanden haben, können zulässig bleiben, beispielsweise die Einrede der Verrechnung mit Forderungen, die schon vor der Konkurseröffnung bestanden (
BGE 132 III 342
E. 4.4 S. 351 mit Hinweisen; vgl. auch BERNARD CORBOZ, La responsabilité des organes en droit des sociétés, 2005, N. 22 zu
Art. 757 OR
).
2.5.2
Bei der gestützt auf eine in den Statuten enthaltene Schiedsklausel erhobenen Schiedseinrede handelt es sich nicht um eine Einrede, die unabhängig von der Willensbildung der Gesellschaft besteht. Es rechtfertigt sich nicht, die Einrede gegenüber der Gläubigergesamtheit, die keinen Einfluss auf die Statuten hatte, zuzulassen, sonst bestünde die Gefahr, dass die Organe durch entsprechende statutarische Bestimmungen die Durchsetzung der Verantwortlichkeitsansprüche der Gläubiger im Konkurs erschweren. Massgebend ist, ob die Gläubigergesamtheit an die Schiedsklausel gebunden ist. Eine solche Bindung kann nicht aus den Statuten der Gesellschaft abgeleitet werden (vgl. PETER BÖCKLI, Schweizer Aktienrecht, 4. Aufl. 2009, § 18 Rz. 358 mit weiteren Hinweisen; FORSTMOSER/MEIER-HAYOZ/NOBEL, Schweizerisches Aktienrecht, 1996, § 36 Rz. 118; WALTER J. HABSCHEID, Statutarische Schiedsgerichte und Schiedskonkordat, Schweizerische Aktiengesellschaft [SAG] 57/1985 S. 166). | de |
a9c2c892-ad6e-44f2-a169-364014ffb0ff | Sachverhalt
ab Seite 228
BGE 114 V 228 S. 228
A.-
Velimir B. beansprucht seit langem vergeblich Leistungen der Invalidenversicherung. Im Rahmen eines erneut anhängig gemachten Abklärungsverfahrens liess er durch seinen Rechtsvertreter am 14. Oktober 1986 bei der Ausgleichskasse des Kantons Bern ein Gesuch mit dem Antrag einreichen, es sei ihm für das hängige Verwaltungsverfahren "das vollumfängliche Recht auf unentgeltliche Prozessführung" zu gewähren. Mit Verfügung vom 10. Februar 1987 lehnte die Ausgleichskasse dieses Gesuch mit der Begründung ab, das Verwaltungsverfahren sei vollständig von der Offizialmaxime beherrscht; zudem könne der Versicherte die Verfügung der Ausgleichskasse an das mit voller Kognition ausgestattete kantonale Versicherungsgericht und schliesslich allenfalls an das Eidg. Versicherungsgericht weiterziehen; für das Verfahren vor diesen beiden Gerichten bestehe die Möglichkeit der Beiordnung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes; es sei deshalb genügend
BGE 114 V 228 S. 229
Gewähr dafür geboten, dass das Gesuch des Versicherten um Leistungen der Invalidenversicherung umfassend geprüft werde, ohne dass bereits im Verwaltungsverfahren ein Rechtsbeistand bestellt werden müsse.
B.-
Die hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 16. Juni 1987 gut, hob die angefochtene Verfügung auf und wies die Ausgleichskasse an, Velimir B. für das Administrativverfahren die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren.
C.-
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) die Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheides.
Velimir B. lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen.
D.-
Das Bundesgericht und das Eidg. Versicherungsgericht führten zu den verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten einen Meinungsaustausch durch. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
a) Weil es für das IV-rechtliche Verwaltungsverfahren im Sinne des nichtstreitigen Verfahrens bis zum Beschluss der Invalidenversicherungs-Kommission bzw. zu der diesen eröffnenden Verfügung der Ausgleichskasse an entsprechenden Vorschriften des Bundesrechts wie auch des kantonalen Rechts fehlt, kommt eine Anerkennung des Anspruchs auf unentgeltliche Rechtspflege von vornherein nur gestützt auf
Art. 4 BV
in Frage. Angesichts der Kostenlosigkeit des Verwaltungsverfahrens beschränkt sich die Frage sodann auf die unentgeltliche Verbeiständung. Es ist daher im folgenden einzig zu prüfen, ob und - bei Bejahung der grundsätzlichen Frage - inwieweit in zeitlicher und sachlicher Hinsicht aus
Art. 4 BV
ein Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung im IV-rechtlichen Verwaltungsverfahren fliesst.
b) Das Eidg. Versicherungsgericht hat in
BGE 103 V 46
seine frühere Rechtsprechung (
BGE 98 V 116
Erw. 2; EVGE 1962 S. 163) bestätigt, wonach der Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung für das kantonale Beschwerdeverfahren in allen Zweigen der bundesrechtlichen Sozialversicherung unter gleichen Voraussetzungen besteht. Der Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung ist nach dieser Rechtsprechung im kantonalen Beschwerdeverfahren somit auch dort gewährleistet, wo weder das kantonale
BGE 114 V 228 S. 230
Verfahrensrecht noch die bundesrechtlichen Verfahrensvorschriften einen Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung vorsehen. Nach dem gegenwärtigen Stand der Bundesgesetzgebung ist ein solcher Anspruch einzig in den Bereichen der Arbeitslosenversicherung und der beruflichen Vorsorge nicht vorgesehen. Die Rechtsprechung nach
BGE 103 V 46
schliesst somit in diesem Bereich eine Lücke im Rechtsschutz. Bedeutsam ist, dass sich dieser durch die Rechtsprechung eingeführte Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung gegebenenfalls auf ein verwaltungsinternes Beschwerdeverfahren beziehen kann, nämlich dort, wo das Bundesrecht Raum für einen zweifachen kantonalen Instanzenzug lässt, wobei nur die letzte kantonale Instanz von der Verwaltung unabhängig sein muss. Dies trifft wiederum zu auf die Bereiche der Arbeitslosenversicherung (
Art. 101 lit. b AVIG
) und die berufliche Vorsorge (
Art. 73 Abs. 1 BVG
;
BGE 113 V 202
Erw. 3c).
Anderseits hat die Rechtsprechung gemäss
BGE 98 V 116
Erw. 2 und
BGE 103 V 46
den Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung im kantonalen Beschwerdeverfahren nicht etwa aus
Art. 4 BV
abgeleitet, sondern - nebst
Art. 65 Abs. 2 VwVG
- aus der Existenz zahlreicher Bestimmungen in den Bundessozialversicherungserlassen, welche eine unentgeltliche Verbeiständung für das kantonale Rechtsmittelverfahren vorsehen (
Art. 85 Abs. 2 lit. f AHVG
in Verbindung mit
Art. 69 IVG
,
Art. 7 Abs. 2 ELG
,
Art. 22 Abs. 3 FLG
und
Art. 24 EOG
;
Art. 56 Abs. 1 lit. d MVG
;
Art. 30bis Abs. 3 lit. f KUVG
;
Art. 108 Abs. 1 lit. f UVG
). Weil es für die verschiedenen sozialversicherungsrechtlichen Verwaltungsverfahren im Sinne der nichtstreitigen Verfahren bis zum Erlass der Verfügung durch den Sozialversicherungsträger an entsprechenden Vorschriften fehlt, kommt eine Anerkennung des Anspruches auf unentgeltliche Verbeiständung von vornherein nur gestützt auf
Art. 4 BV
in Frage. Es kann folglich nicht darum gehen, die Rechtsprechung gemäss
BGE 103 V 46
, welche den Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung für das kantonale Beschwerdeverfahren gleichsam als Ausdruck eines spezifisch sozialversicherungsrechtlichen Grundsatzes betrachtet, weiterzuführen, weil eben der einzig mögliche Ansatzpunkt ein spezifisch verfassungsrechtlicher (
Art. 4 BV
) ist.
Das Eidg. Versicherungsgericht hat es schliesslich in ständiger Rechtsprechung abgelehnt, auf dem Wege der Rechtsprechung einen von Bundesrechts wegen bestehenden Parteientschädigungsanspruch für das kantonale Beschwerdeverfahren dort einzuführen,
BGE 114 V 228 S. 231
wo ein solcher gesetzlich nicht vorgesehen ist (
BGE 112 V 111
f. mit Hinweisen). Soweit ein Parteientschädigungsanspruch für das kantonale Beschwerdeverfahren besteht, deckt dieser die vorprozessualen Bemühungen und Aufwendungen, namentlich wenn solche im nichtstreitigen Verwaltungsverfahren bis zum Verfügungserlass entstanden sind, nicht (
BGE 114 V 87
Erw. 4b in fine mit Hinweisen; ZAK 1987 S. 35, 1986 S. 132 Erw. 2c). Über den hier zur Diskussion stehenden Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung im nichtstreitigen Verwaltungsverfahren hat sich das Eidg. Versicherungsgericht hingegen bisher nicht ausgesprochen.
4.
a) In jüngster Zeit hat das Bundesgericht aus
Art. 4 BV
einen Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege nicht nur für den Zivil- und Strafprozess (vgl.
BGE 112 Ia 15
Erw. 3a mit Hinweisen), sondern auch für das verwaltungsgerichtliche Verfahren abgeleitet (Urteil der II. Öffentlichrechtlichen Abteilung vom 8. März 1985, auszugsweise publiziert in ZBl 86/1985, S. 412-414, und EuGRZ 1985, S. 485 ff., bestätigt in
BGE 111 Ia 276
). In
BGE 111 Ia 5
hat es die Frage aufgeworfen, ob sich unmittelbar aus
Art. 4 BV
ein Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege im kantonalen Verwaltungsverfahren ableiten lasse, einen solchen Anspruch auf Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes vor einem Bezirksamt des Kantons Aargau indessen verneint, da dessen Entscheid (betreffend den Entzug der elterlichen Gewalt) an das Obergericht weitergezogen werden konnte, welches mit voller Prüfungsbefugnis entscheidet und vor welchem Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung besteht. Einen Schritt weiter ging es in
BGE 112 Ia 14
, wo es feststellte, es sei "ein unmittelbar aus
Art. 4 BV
fliessender Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege im Verwaltungsverfahren und im Verwaltungsgerichtsverfahren anzuerkennen", wie er in jüngerer Zeit auch von der Lehre befürwortet werde. Dieser Anspruch befreie ganz oder teilweise von der Bezahlung der Verfahrenskosten und damit auch eines Kostenvorschusses, jedoch nicht von der Entrichtung einer allfälligen Entschädigung an die obsiegende Gegenpartei für ihre Umtriebe. Wo dies zur Wahrung der Interessen des unbemittelten Bürgers erforderlich sei, ergebe sich aus
Art. 4 BV
zudem ein Anspruch auf die Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes im Verwaltungsverfahren und im Verwaltungsgerichtsverfahren. Ausser der Bedürftigkeit der um unentgeltliche Rechtspflege ersuchenden Partei sei Voraussetzung, dass das Rechtsbegehren nicht zum vornherein aussichtslos erscheine und die verlangten Prozesshandlungen
BGE 114 V 228 S. 232
nicht offensichtlich prozessual unzulässig seien. Der Entscheid müsse ausserdem für die gesuchstellende Partei von erheblicher Tragweite sein. Schliesslich könne der Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand nur in den Fällen bejaht werden, wo sich die aufgeworfenen Fragen nicht leicht beantworten liessen und die das Gesuch stellende Partei selber nicht rechtskundig sei (
BGE 112 Ia 17
Erw. 3c).
b) Aus der erwähnten Rechtsprechung und insbesondere dem grundlegenden BGE
BGE 112 Ia 14
schliesst das Eidg. Versicherungsgericht, dass der aus
Art. 4 BV
fliessende Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege auf das streitige Verwaltungsbeschwerde- und Verwaltungsgerichtsverfahren ausgedehnt wurde, ohne gleichzeitig einen entsprechenden Anspruch für das vorausgehende nichtstreitige Verwaltungsverfahren, das mit dem Erlass der anfechtbaren Verfügung abgeschlossen wird, zu verneinen oder zu bejahen. Das Bundesgericht hat diese Auffassung in dem nach
Art. 16 OG
in Verbindung mit
Art. 127 Abs. 2 und 4 OG
durchgeführten Meinungsaustauschverfahren bestätigt. In der Lehre wird ebenfalls angenommen, dass mit
BGE 112 Ia 14
die unentgeltliche Rechtspflege nicht auch auf das nichtstreitige Verwaltungsverfahren ausgedehnt werden wollte (J.P. MÜLLER, Ausbau sozialer Gerechtigkeit im Prozess, in: recht 1986, S. 100; G. MÜLLER, Kommentar BV, Art. 4, S. 53, Fn. 316 in fine). Eine solche Ausdehnung auf das nichtstreitige Verwaltungsverfahren wird von einem Teil der Lehre nicht für erforderlich gehalten (vgl. - allerdings vor Erscheinen des BGE
BGE 112 Ia 14
- HAEFLIGER, Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich, Bern 1985, S. 181), von anderen Stimmen der Doktrin aber doch als konsequente Weiterführung der bisherigen Rechtsprechung ernsthaft erwogen (KNAPP, Précis de droit administratif, 3. Aufl., 1988, S. 129 f., Nrn. 716 und 721; J.P. MÜLLER, a.a.O., S. 100 vor Ziff. 6).
c) Das kantonale Gericht meint, aus der neuesten bundesgerichtlichen Rechtsprechung gehe nicht klar hervor, ob sich der Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege auf das gesamte Verwaltungsverfahren oder nur auf das Verwaltungsbeschwerdeverfahren beziehe. Indessen sei nicht einzusehen, weshalb sich der grundrechtlich geschützte Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege nur gerade auf das verwaltungsinterne Beschwerdeverfahren, nicht aber auf das gesamte Verwaltungsverfahren beziehen solle. Denn die vom Bundesgericht angeführten Gründe, welche für die Ausdehnung des Anspruchs auf unentgeltliche Rechtspflege im Bereiche
BGE 114 V 228 S. 233
des Verwaltungsrechts sprechen (Grundsatz der Waffengleichheit; zunehmende Komplexität des Verwaltungsrechts; Bedürfnis nach anwaltlicher Verbeiständung auch bei Sachverhaltsabklärung von Amtes wegen), träfen dem Grundsatze nach sowohl für das streitige Verwaltungsrechtspflege- als auch für das nichtstreitige Verfügungsverfahren zu. Der unmittelbar aus dem Rechtsgleichheitsprinzip abgeleitete Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege stelle ein unerlässliches Element eines sozialen Rechtsstaates dar, indem es nicht nur dem Wohlhabenden, sondern auch dem Minderbemittelten möglich sein müsse, seine Rechte wirksam wahren zu können. Die grundlegende rechtsstaatliche Bedeutung des Anspruchs liege darin, dass dem unbemittelten Bürger in allen Streitigkeiten mit Privaten und dem Staat, in denen zentrale Interessen auf dem Spiel stünden, die vollständige Ausschöpfung seiner Parteirechte faktisch ermöglicht werde; hiezu bedürfe es jedoch eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes, sofern die sich im Verfahren stellenden Fragen eine juristische Vertretung zur gehörigen Wahrung der Rechte erforderlich machten. Es sei daher von einem unmittelbar aus
Art. 4 BV
fliessenden Anspruch des unbemittelten Bürgers auf unentgeltliche Rechtspflege im Verwaltungsverfahren auszugehen, sofern bestimmte Voraussetzungen erfüllt seien. Diese Voraussetzungen hat das kantonale Gericht in Anlehnung an die vorne wiedergegebene bundesgerichtliche Rechtsprechung (vgl. Erw. 4a hievor) dahingehend umschrieben, die gesuchstellende Partei müsse bedürftig sein, ihr Rechtsbegehren dürfe nicht zum vornherein aussichtslos erscheinen und die verlangten Prozesshandlungen dürften nicht offensichtlich prozessual unzulässig sein; sodann müsse der Entscheid für die gesuchstellende Partei von erheblicher Tragweite sein; schliesslich sei die unentgeltliche Rechtspflege auf Fälle zu beschränken, wo sich die aufgeworfenen Fragen nicht leicht beantworten liessen und die gesuchstellende Partei selber nicht rechtskundig sei.
d) Gegen die vom kantonalen Gericht auf das gesamte Verwaltungsverfahren vorgenommene Ausdehnung des aus
Art. 4 BV
fliessenden Anspruchs auf unentgeltliche Rechtspflege wendet das BSV im wesentlichen ein, im IV-Verwaltungsverfahren fehle es an einer dem Prozessrisiko mit Obsiegen und Unterliegen vergleichbaren Situation und damit grundsätzlich am Bedürfnis nach unentgeltlicher Verbeiständung; es gebe keinen Streit im eigentlichen Sinne und keinen Richter, der ihn entscheide; der Versicherte könne eine ihm nicht genehme Verfügung in zweifachem
BGE 114 V 228 S. 234
Instanzenzug verwaltungsgerichtlich überprüfen lassen, wobei bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen die unentgeltliche Verbeiständung gewährleistet sei. Das Erfordernis fehlender Aussichtslosigkeit im IV-Verwaltungsverfahren könne kaum konkretisiert werden, indem völlig ungewiss sei, ob dabei auf die Anmeldung des Versicherten, das gesamte Abklärungsverfahren oder das Anhörungsverfahren nach
Art. 73bis IVV
abzustellen sei; es müsse angesichts der Vielzahl der möglichen Leistungen praktisch immer davon ausgegangen werden, dass der Versicherte Aussicht habe, auch nur teilweise mit seinem Leistungsgesuch durchzudringen. Unter dem Gesichtspunkt der Notwendigkeit der anwaltlichen Verbeiständung sei nicht recht ersichtlich, was der Anwalt im IV-Verwaltungsverfahren Entscheidendes beitragen könne; denn es komme in erster Linie auf die Person des Versicherten selber an, der bei medizinischen und beruflichen Abklärungen mitzuwirken habe; anderseits eröffne das IV-Verwaltungsverfahren dem Versicherten bzw. dessen Anwalt im Gegensatz zum Beschwerdeverfahren grundsätzlich keine Möglichkeiten, mit Anträgen und Ähnlichem in die Verwaltungstätigkeit wirksam einzugreifen und eigene Vorstellungen durchzusetzen. Schwierigkeiten würden schliesslich auch die Fragen bereiten, wer die Voraussetzungen prüfen und die Kosten der unentgeltlichen Verbeiständung tragen solle; eine besondere Frage bilde dabei die Bemessung des Anwaltshonorars, da es an einer Begrenzungsmöglichkeit der anwaltlichen Tätigkeiten wie im Beschwerdeverfahren fehle.
5.
a) Bei der Entscheidung der im Streite liegenden Frage ist von der Natur des IV-rechtlichen Verwaltungsverfahrens auszugehen. Dieses dient der Abklärung der für die verschiedenen Leistungen (Eingliederungsmassnahmen, Renten usw.) massgeblichen persönlichen, gesundheitlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Leistungsansprechers (vgl. hiezu die
Art. 65 ff. IVV
und das Kreisschreiben des BSV über das Verfahren in der Invalidenversicherung, gültig ab 1. Juli 1987). Es beginnt mit der Einreichung des Leistungsgesuches an die zuständige Invalidenversicherungs-Kommission, welche die Leitung des Verwaltungsverfahrens innehat. Die Invalidenversicherungs-Kommission ist zur Objektivität und Neutralität verpflichtet. Der Untersuchungsgrundsatz und die Rechtsanwendung von Amtes wegen gelten integral, allerdings ergänzt durch die verschiedenen Mitwirkungspflichten des Leistungsansprechers. Betrachtet die Invalidenversicherungs-Kommission die Abklärungen als genügend, fasst sie über die in Betracht
BGE 114 V 228 S. 235
fallenden Leistungsansprüche Beschluss. Dieser Beschluss wird dem Versicherten durch eine anfechtbare Verfügung der zuständigen Ausgleichskasse eröffnet. Bevor die Invalidenversicherungs-Kommission über die Ablehnung eines Leistungsbegehrens oder über den Entzug oder die Herabsetzung einer bisherigen Leistung beschliesst, hat sie dem Versicherten oder seinem Vertreter Gelegenheit zu geben, sich mündlich oder schriftlich zur geplanten Erledigung zu äussern und die Akten seines Falles einzusehen. Dieses Anhörungsrecht ist durch den auf 1. Juli 1987 in Kraft getretenen
Art. 73bis IVV
festgeschrieben worden, womit eine feste Verwaltungspraxis ins positive Recht übergeführt worden ist.
b) Die Erwägungen, welche zur Anerkennung eines Anspruches auf unentgeltliche Rechtspflege im streitigen verwaltungsinternen Beschwerdeverfahren geführt haben (vgl. besonders
BGE 112 Ia 16
Erw. 3b), sprechen für die Gewährleistung eines in engen sachlichen und zeitlichen Grenzen gehaltenen Anspruches auf unentgeltliche Verbeiständung im IV-rechtlichen Verwaltungsverfahren. Denn es sind auch hier heikle Rechts- oder Abklärungsfragen oder schwierige Verfahrenssituationen denkbar, wo es erforderlich sein kann, dass der unbemittelte Versicherte gegenüber der Verwaltung durch einen Anwalt verbeiständet ist. Die unentgeltliche Verbeiständung kann mithin verfassungsrechtlich geboten und darüber hinaus - im Hinblick auf die vermittelnde Funktion des Anwaltes zwischen Versichertem und Versicherung - für eine korrekte Verfahrensabwicklung nützlich sein. Dabei ist es allerdings mit den erforderlichen sachlichen Voraussetzungen streng zu nehmen (nebst der Bedürftigkeit die fehlende Aussichtslosigkeit bzw. prozessuale Unzulässigkeit des Leistungsbegehrens bzw. der verlangten Handlungen; erhebliche Tragweite der Sache für die gesuchstellende Partei; Schwierigkeit der aufgeworfenen Fragen; fehlende Rechtskenntnisse des Versicherten; vgl.
BGE 112 Ia 17
Erw. 3c). Ein strenger Massstab wird insbesondere an die Notwendigkeit der Verbeiständung zu legen sein. Wo eine an den Untersuchungsgrundsatz gebundene Behörde wie die Sozialversicherungsorgane im nichtstreitigen Verwaltungsverfahren über das Leistungsgesuch eines Versicherten zu befinden hat, dürfte die Mitwirkung eines Rechtsanwaltes regelmässig nicht erforderlich sein. Ein Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung entfällt insbesondere dann, wenn die geltend gemachten Leistungsansprüche durch das normale Abklärungsverfahren ausgewiesen werden bzw. die Verwaltung dem Leistungsgesuch entspricht. Sodann drängt sich
BGE 114 V 228 S. 236
eine anwaltliche Verbeiständung nur für Ausnahmefälle auf, in denen ein Rechtsanwalt beigezogen wird, weil schwierige rechtliche oder tatsächliche Fragen dies als notwendig erscheinen lassen und eine Verbeiständung durch Verbandsvertreter, Fürsorger oder andere Fach- und Vertrauensleute sozialer Institutionen nicht in Betracht fällt.
Zusätzlich zu diesen engen sachlichen Voraussetzungen muss auch in zeitlicher Hinsicht eine Limitierung eines aus
Art. 4 BV
abzuleitenden Anspruches auf unentgeltliche Verbeiständung erfolgen. Denn bei Eingang eines Leistungsgesuches bzw. bei Beginn des IV-rechtlichen Abklärungsverfahrens ist in der Regel völlig ungewiss, welche Leistungen überhaupt in Betracht fallen. Es können somit in diesem Verfahrensstadium regelmässig noch gar keine Prozess- bzw. Verfahrensaussichten festgestellt werden. Vielmehr muss die Invalidenversicherungs-Kommission zunächst einmal pflichtgemäss tätig werden. Erst wenn nach diesen Abklärungen sich ein Verfahrensergebnis abzuzeichnen beginnt, lässt sich überhaupt beurteilen, ob die vom Ansprecher geltend gemachten Leistungsarten begründet sind oder nicht. Kristallisationspunkt ist diesbezüglich der Erlass des Vorbescheides nach dem erwähnten
Art. 73bis IVV
. In diesem Anhörungsverfahren, das, wenn der Versicherte Einwendungen vorträgt oder vortragen lässt, eindeutig schon Elemente eines streitigen Verfahrens aufweist, kann es unter den erwähnten sachlichen Voraussetzungen verfassungsrechtlich geboten sein, dem Leistungsansprecher die unentgeltliche Verbeiständung zu bewilligen. Damit ist dem Versicherten auf der Stufe des nichtstreitigen Verwaltungsverfahrens und im Stadium des unmittelbar bevorstehenden Verfügungserlasses der verfassungsrechtliche Minimalanspruch auf unentgeltliche Verbeiständung gewahrt.
c) Den vom BSV in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vorgetragenen Bedenken gegen die Ausdehnung des Anspruchs auf unentgeltliche Verbeiständung auf das IV-rechtliche Abklärungsverfahren kann, soweit ihnen mit der zeitlichen Limitierung des Anspruchs nicht bereits Rechnung getragen worden ist, nicht gefolgt werden. So bestehen namentlich zwischen Verwaltungsbeschwerde- und Verwaltungsgerichtsverfahren einerseits und dem nichtstreitigen Verwaltungsverfahren anderseits keine wesensmässigen Verschiedenheiten, welche gegen eine solche Ausdehnung sprechen würden. Im nichtstreitigen Verwaltungsverfahren, welches mit dem Erlass der Verfügung abgeschlossen wird (
Art. 5 VwVG
;
BGE 114 V 228 S. 237
Art. 84 Abs. 1 AHVG
), ist die Durchführungsstelle (Invalidenversicherungs-Kommission, Ausgleichskasse) nicht Partei, sondern hoheitlich auftretendes, an die Grundsätze einer rechtsstaatlichen Verwaltung gebundenes Organ (GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl., S. 30 unten; vgl. auch zum Beweiswert der im Administrativverfahren eingeholten Arztberichte
BGE 104 V 211
Erw. c). Ausgleichskasse und Invalidenversicherungs-Kommission sind insoweit - wie der Richter im Beschwerdeverfahren - zur Neutralität verpflichtet. Mit dem Übergang vom nichtstreitigen Administrativverfahren zum durch Beschwerde eingeleiteten verwaltungsinternen oder -externen Verwaltungsjustizverfahren macht die ursprünglich verfügende Verwaltungsstelle einen bedeutsamen Funktionswandel durch: Sie verliert die Herrschaft über den Anfechtungsgegenstand und nimmt fortan Parteistellung ein (
BGE 103 V 109
Erw. 2a, 2. Absatz mit Hinweisen,
BGE 105 V 188
Erw. 1; GYGI, a.a.O., S. 189). Leistungsgesuch (
Art. 46 IVG
,
Art. 65 ff. IVV
) und vorinstanzliche Beschwerde (
Art. 84 ff. AHVG
) sind insoweit durchaus miteinander vergleichbar. Daran ändert nichts, dass die Verbeiständungsvoraussetzungen für das Beschwerdeverfahren nicht einfach ohne weiteres übernommen werden können. Sodann setzt der Verbeiständungsanspruch keineswegs einen Anspruch auf Parteientschädigung bei Obsiegen voraus (vgl. Erw. 3b hievor). Auch kann die Verbeiständigungsnotwendigkeit für das Verwaltungsverfahren nicht schon deswegen verneint werden, weil im nachfolgenden Beschwerdeverfahren ein Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung besteht. Von Verfassungs wegen ist vielmehr gefordert, dass jedes Verfahren bzw. jeder Verfahrensabschnitt derart ausgestaltet ist, dass er den aus
Art. 4 BV
fliessenden Grundsätzen genügt. Nicht einzusehen ist ferner, inwiefern die Invalidenversicherungs-Kommission in Zusammenarbeit mit der Ausgleichskasse nach Abschluss der Abklärungen und nach Erlass des Vorbescheides nicht in der Lage sein soll, über die unentgeltliche Verbeiständung zu befinden, zumal die Verwaltung, wie eben dargelegt, im Verwaltungsverfahren die gleiche Rolle und hoheitliche Stellung einnimmt wie die Beschwerdebehörde bzw. der Verwaltungsrichter im anschliessenden Verwaltungsjustizverfahren.
Schliesslich sprechen auch die vom BSV erwähnten Kostengesichtspunkte nicht gegen eine Ausdehnung des Anspruches auf unentgeltliche Verbeiständung. Insoweit kantonale und Verbandsausgleichskassen sowie die Invalidenversicherungs-Kommissionen
BGE 114 V 228 S. 238
die Invalidenversicherung durchführen, vollziehen sie als kantonale bzw. aus der Bundeszentralverwaltung ausgegliederte Selbstverwaltungskörper Bundesrecht (Art. 34quater Abs. 1 und Abs. 2 Satz 6 BV). Es leuchtet daher ohne weiteres ein, dass die Kosten eines allfällig einzuräumenden Anspruchs auf unentgeltliche Verbeiständung für das IV-rechtliche Verwaltungsverfahren zu Lasten der Invalidenversicherung als solcher bzw. des AHV Ausgleichsfonds gehen. So verhält es sich bereits für die Gerichtskosten und Parteientschädigungen, welche die Ausgleichskassen bei Unterliegen in erst- und kostenpflichtigen zweitinstanzlichen Streitigkeiten bezahlen müssen, indem sie diese durch die Zentrale Ausgleichsstelle aus dem Ausgleichsfonds vergütet erhalten (
Art. 71 Abs. 3 AHVG
in Verbindung mit
Art. 149 Abs. 2 AHVV
; Rz. 84 der Weisungen des BSV über Buchführung und Geldverkehr der Ausgleichskassen vom 1. Februar 1979). Nach dem gleichen Prozedere wäre für Entschädigungen an die unentgeltlichen Rechtsbeistände im Verwaltungsverfahren vorzugehen.
6.
Im vorliegenden Fall ist es zum Vorbescheidsverfahren noch gar nicht gekommen. Dennoch will die Vorinstanz dem Beschwerdegegner die unentgeltliche Verbeiständung für das gesamte IV-rechtliche Verwaltungsverfahren gewähren, dies mit dem einzigen Hinweis, es handle sich vorliegend um einen "Ausnahmefall". Indessen wird vom kantonalen Gericht nicht dargetan, inwiefern der vorliegende Fall ein Ausnahmefall sein soll. Die vorinstanzlichen Erwägungen vermögen in diesem Punkt nicht zu überzeugen, weil lediglich die sachlichen Voraussetzungen für die unentgeltliche Verbeiständung berücksichtigt werden, nicht jedoch die zeitlichen Bedingungen, d.h. die Durchführung des Vorbescheids- und Anhörungsverfahrens. Im vorliegenden Fall hätte der Rechtsvertreter des Beschwerdegegners sämtliche Einwände gegen die von der Verwaltung in Aussicht genommene Begutachtung durch den Psychiater Dr. med. H. im Anhörungsverfahren vortragen können. Dass der Anwalt bereits vorher intervenierte und seinem Klienten hiefür die unentgeltliche Verbeiständung zugesprochen werden soll, ist verfassungsrechtlich nicht erforderlich. Der kantonale Gerichtsentscheid ist daher aufzuheben. Dem Beschwerdegegner bleibt die Möglichkeit gewahrt, nach Erlass des Vorbescheides ein Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung zu stellen oder stellen zu lassen. | de |
1051f55d-310d-4338-a55f-daf1b4431715 | Sachverhalt
ab Seite 250
BGE 133 V 249 S. 250
A.
M. war seit 1. Februar 1996 als Leiter Administration für die Genossenschaft Gärtnerei X. (nachfolgend: Gärtnerei) tätig. Dieses Arbeitsverhältnis wurde infolge des gegen die Gärtnerei ausgesprochenen behördlichen Verbots, die bisherige Geschäftstätigkeit fortzuführen, durch Kündigung der Arbeitgeberin auf den 30. November 2000 aufgelöst. Die Arbeitslosenkasse GBI (ab 1. Januar 2005: Unia Arbeitslosenkasse) richtete seit 1. Dezember 2000 Arbeitslosentaggelder aus. M. wurde von der Gärtnerei in der Folge auf Abruf beschäftigt. Das dabei erzielte Einkommen berücksichtigte die Kasse als Zwischenverdienst. Ab 1. Dezember 2002 wurde eine zweite Rahmenfrist für den Leistungsbezug eröffnet. Die Zwischenverdiensttätigkeit führte er bis März 2003 fort. Ab 12. April 2003 attestierte Dr. med. B., Allgemeine Medizin FMH, eine vollständige Arbeitsunfähigkeit (Arztzeugnis vom 10. Juni 2003). Mit Verfügung vom 20. Januar 2004 verneinte das Amt für Wirtschaft und Arbeit Zürich (AWA) die Vermittlungsfähigkeit und damit auch den Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung rückwirkend ab 1. Dezember 2000. Zur Begründung wurde angegeben, M. sei (...) der Arbeitsvermittlung infolge Aufbaus einer selbstständigen Erwerbstätigkeit nur noch sehr bedingt zur Verfügung gestanden. Auf Einsprache hin hielt das AWA an der Ablehnung der Anspruchsberechtigung fest, gab nunmehr aber als Begründung an, M. habe bei der Firma R. AG und bei der Firma G. AG eine arbeitgeberähnliche Stellung bekleidet (Einspracheentscheid vom 21. März 2005).
B.
In teilweiser Gutheissung der dagegen erhobenen Beschwerde hob das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich den Einspracheentscheid auf und stellte fest, die Anspruchsberechtigung für die Zeit vom 1. Januar 2003 bis 21. Januar 2004 könne nicht in
BGE 133 V 249 S. 251
analoger Anwendung von
Art. 31 Abs. 3 lit. c AVIG
verneint werden; die Sache werde an das AWA zurückgewiesen, damit es über die Vermittlungsfähigkeit für die Zeit vom 1. Januar 2003 bis 21. Januar 2004 entscheide; im Übrigen werde die Beschwerde abgewiesen (Entscheid vom 20. Dezember 2005).
C.
M. lässt dagegen Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und beantragen, es sei festzustellen, dass er ab 1. Dezember 2000 zum Bezug von Leistungen der Arbeitslosenversicherung berechtigt sei, und die Verwaltung sei zu verpflichten, ihm die ausstehenden Arbeitslosentaggelder auszurichten.
Das AWA reicht seinerseits Verwaltungsgerichtsbeschwerde ein mit dem Rechtsbegehren, der kantonale Gerichtsentscheid sei insoweit aufzuheben, als die Sache an die Verwaltung zurückgewiesen werde, damit sie über die Vermittlungsfähigkeit des Versicherten für die Zeit vom 1. Januar 2003 bis 21. Januar 2004 entscheide, und die Verwaltung verpflichtet werde, dem Versicherten eine Prozessentschädigung von Fr. 900.- zu bezahlen.
M. (nachfolgend: Beschwerdeführer 1) lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde des AWA schliessen. Das AWA (nachfolgend: Beschwerdeführer 2) reicht keine Vernehmlassung zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde des M. ein. Das Staatssekretariat für Wirtschaft verzichtet auf eine Stellungnahme zu beiden Verwaltungsgerichtsbeschwerden.
D.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde des AWA hebt das Bundesgericht den Entscheid des kantonalen Gerichts vom 20. Dezember 2005 auf; die Verwaltungsgerichtsbeschwerde des M. weist das Bundesgericht ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
4.
Der Versicherte ist Genossenschafter der Gärtnerei und hält 25 der insgesamt 185 Anteilscheine. Die Genossenschaft bezweckt den Betrieb der Gärtnerei als Selbstbewirtschafterin und auf Selbsthilfebasis; jeder Genossenschafter ist verpflichtet, voll oder teilzeitlich im Gärtnereibetrieb mitzuarbeiten. Der Beschwerdeführer 1 war zudem Mitglied (vom 30. Juni 1998 bis 29. März 1999) und anschliessend (vom 30. März 1999 bis 4. Juli 2002 sowie vom 28. November 2003 bis 8. Januar 2007) Präsident des Verwaltungsrates der Firma R. AG. Diese Gesellschaft befindet sich seit 18. Januar 2007 in Liquidation. Sie konzentrierte sich auf den Handel mit
BGE 133 V 249 S. 252
Gärtnereiartikeln und -einrichtungen, Saatgut und Pflanzen, Produkten jeglicher Art und den Anbau sowie die Aufzucht von Pflanzen. Für die Firma G. AG, welche sich ebenfalls dem Handel mit Gartenbauartikeln, Saatgut und Pflanzen widmete, war der Versicherte in der vorliegend massgebenden Zeit ab 1. Dezember 2000 zunächst als Verwaltungsratspräsident und später als Verwaltungsratsmitglied eingesetzt. Zudem war er vom 16. November 2001 bis 14. Februar 2007 Geschäftsführer mit Einzelunterschrift der H. GmbH, welche sich die Herstellung von und den Handel mit Süsswaren und Genussmitteln zum Zweck gesetzt hat. Alle drei Gesellschaften sind eng mit der Gärtnerei verbunden. Auf Grund der konkreten Umstände, welche im angefochtenen Gerichtsentscheid umfassend dargelegt werden, ist von einem Firmenkonglomerat auszugehen und es ist offensichtlich, dass der Versicherte in diesem Verbund eine arbeitgeberähnliche Stellung eingenommen hat. Die vom Beschwerdeführer 1 dagegen erhobenen Einwände erschöpfen sich in reinen Behauptungen. Darauf kann nicht abgestellt werden, insbesondere weil alle tatsächlichen Gegebenheiten für die einflussreiche Führungsposition des Versicherten sprechen, aber keine Anhaltspunkte für seine Angaben auszumachen sind, wonach er im Rahmen seiner Verwaltungsratsmandate für die Tochtergesellschaften weisungsgebunden gewesen sei und auch die Entscheidungen der Gärtnerei als Muttergesellschaft nicht massgeblich habe beeinflussen können. Es kann in diesem Zusammenhang vollumfänglich auf die Erwägungen im angefochtenen Gerichtsentscheid verwiesen werden, welchen das Bundesgericht nichts beizufügen hat. Demnach haben Verwaltung und Vorinstanz den Anspruch auf Leistungen der Arbeitslosenversicherung für die Dauer vom 1. Dezember 2000 bis 31. Dezember 2002 zu Recht verneint.
5.
Für die Zeit vom 1. Januar 2003 bis 21. Januar 2004 geht das kantonale Gericht davon aus, dass die Anspruchsberechtigung nicht unter Verweis auf die arbeitgeberähnliche Stellung des Versicherten verneint werden könne. Die Verwaltung habe ihre Auskunftspflicht verletzt, indem sie es unterlassen habe, den Beschwerdeführer 1 über die mit der arbeitgeberähnlichen Stellung verbundenen Risiken hinsichtlich seines Leistungsanspruchs aufzuklären. Die Sache sei daher an das AWA zurückzuweisen, damit es die Vermittlungsfähigkeit prüfe und hernach über die Anspruchsberechtigung in der Zeit vom 1. Januar 2003 bis 21. Januar 2004 neu entscheide. Fest stehe hingegen schon jetzt, dass die
BGE 133 V 249 S. 253
Anspruchsberechtigung für die Zeit ab 22. Januar 2004 (mithin nach Erlass der Verfügung vom 20. Januar 2004, mit welcher die Vermittlungsfähigkeit rückwirkend ab 1. Dezember 2000 verneint worden ist) abzusprechen sei, da dem Versicherten mit der Verfügungseröffnung hätte bewusst werden müssen, dass seine anhaltende Organstellung die Anspruchsberechtigung gefährden könnte. Der Beschwerdeführer 1 sei aber auch heute noch Verwaltungsratspräsident der Firma R. AG und Verwaltungsratsmitglied der Firma G. AG.
5.1
Gemäss Art. 27 des - im vorliegenden Fall für die Zeit ab 1. Januar 2003 anwendbaren - Bundesgesetzes vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG; SR 830.1) sind die Versicherungsträger und Durchführungsorgane der einzelnen Sozialversicherungen verpflichtet, im Rahmen ihres Zuständigkeitsbereiches die interessierten Personen über ihre Rechte und Pflichten aufzuklären (Abs. 1). Jede Person hat Anspruch auf grundsätzlich unentgeltliche Beratung über ihre Rechte und Pflichten. Dafür zuständig sind die Versicherungsträger, denen gegenüber die Rechte geltend zu machen oder die Pflichten zu erfüllen sind. Für Beratungen, die aufwendige Nachforschungen erfordern, kann der Bundesrat die Erhebung von Gebühren vorsehen und den Gebührentarif festlegen (Abs. 2). Stellt ein Versicherungsträger fest, dass eine versicherte Person oder ihre Angehörigen Leistungen anderer Sozialversicherungen beanspruchen können, so gibt er ihnen unverzüglich davon Kenntnis (Abs. 3).
Nach der gleichzeitig mit dem ATSG am 1. Januar 2003 in Kraft gesetzten Ausführungsbestimmung des Artikels 19a AVIV klären die in
Art. 76 Abs. 1 lit. a-d AVIG
genannten Durchführungsstellen die Versicherten über ihre Rechte und Pflichten auf, insbesondere über das Verfahren der Anmeldung und über die Pflicht, Arbeitslosigkeit zu vermeiden und zu verkürzen (Abs. 1). Die Kassen klären die Versicherten über die Rechte und Pflichten auf, die sich aus dem Aufgabenbereich der Kassen ergeben ([
Art. 81 AVIG
]; Abs. 2). Die kantonalen Amtsstellen und die regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) klären die Versicherten über die Rechte und Pflichten auf, die sich aus den jeweiligen Aufgabenbereichen ergeben ([
Art. 85 und 85b AVIG
]; Abs. 3).
Die Kasse kann einen Fall der kantonalen Amtsstelle zum Entscheid unterbreiten, wenn Zweifel bestehen, ob der Versicherte anspruchsberechtigt ist (
Art. 81 Abs. 2 lit. a AVIG
). Im Kanton Zürich ist
BGE 133 V 249 S. 254
gemäss § 1 der Verordnung vom 26. Oktober 2000 zum Einführungsgesetz zum Arbeitslosenversicherungsgesetz (Zürcher Gesetzessammlung 837.11) das Amt für Wirtschaft und Arbeit zuständige kantonale Amtsstelle für den Vollzug des Arbeitslosenversicherungsgesetzes.
(...)
7.
7.1
Den Akten lässt sich entnehmen, dass der Versicherte mit Schreiben vom 3. Februar 2002 dem RAV X. und mit Schreiben vom 5. Februar 2002 der Arbeitslosenkasse GBI Meldung erstattete, dass er als Verwaltungsrat für die Firma R. AG und die Firma G. AG für das Jahr 2000 Honorare erhalten habe, die zusätzlich zu seinem für die Beschäftigung auf Abruf in der Gärtnerei erzielten Lohn als Zwischenverdienst anzurechnen seien. Die Vorinstanz ist der Auffassung, dass der Verwaltung die Gefährdung der Anspruchsberechtigung durch diese Funktionen auf Grund der Mitteilungen des Beschwerdeführers 1 vom 3. und 5. Februar 2002 seit Februar 2002 bekannt gewesen sei. Aus dem Umstand, dass der Versicherte für das Jahr 2000 Verwaltungsratshonorare bezogen hat, folgt allerdings nicht ohne weiteres die Annahme einer andauernden arbeitgeberähnlichen Stellung. Nachdem die Gärtnerei als Muttergesellschaft das Arbeitsverhältnis mit dem Versicherten auf den 30. November 2000 aufgelöst hatte und dieser bereits mit Verfügung der Bezirksanwaltschaft X. vom 12. Oktober 2000 mit einem "Berufsverbot" im Zusammenhang mit dem Betrieb der Gärtnerei aber auch mit "zugehörenden oder artverwandten Betrieben" belegt wurde (Weisung, inskünftig jegliche Mitwirkung oder Tätigkeit beim Anbau von hoch THC-haltigen Hanfpflanzen sowie bei deren Verarbeitung und Verkauf zu unterlassen), lag im Gegenteil die Vermutung nahe, dass er seine für die Tochtergesellschaften wahrgenommenen Funktionen gleichzeitig mit der Auflösung des Arbeitsverhältnisses mit der Muttergesellschaft ebenfalls niedergelegt hat. Zu jenem Zeitpunkt war
Art. 27 ATSG
, welcher die Aufklärungs- und Beratungspflicht der Versicherungsträger statuiert, noch nicht in Kraft. Ob die Verwaltung, hätte sich diese Tatsachenlage unter der Geltung des ATSG verwirklicht, gehalten gewesen wäre, zusätzliche Abklärungen zu treffen, um ihrer Aufklärungspflicht nachzukommen, kann demnach offen bleiben.
7.2
Die Verwaltung hatte folglich bei Inkrafttreten des ATSG am 1. Januar 2003 keine Kenntnis von einer Situation, welche
BGE 133 V 249 S. 255
geeignet gewesen wäre, die Anspruchsberechtigung des Versicherten in Frage zu stellen. Erst im Laufe des Jahres 2003 ergaben sich auf Grund ihrer Nachforschungen Anhaltspunkte für eine mögliche arbeitgeberähnliche Stellung des Beschwerdeführers 1. Seine nach der Auflösung des Arbeitsverhältnisses mit der Gärtnerei beibehaltenen Aufgaben für das Firmenkonglomerat waren weder Thema in den Beratungsgesprächen, noch hatte er von sich aus über seine Aufgaben in den diversen Betrieben informiert. So war es der Verwaltung nur nach langwierigen Abklärungen möglich, sich ein Bild über die mannigfaltigen Verflechtungen zwischen den erwähnten und weiteren involvierten Gesellschaften und die jeweilige Einbindung des Beschwerdeführers 1 in die Betriebsabläufe sowie über seine Funktionen zu machen, welche er im Firmenkonglomerat über den 30. November 2000 hinaus wahrnahm.
Im Zeitpunkt des Inkrafttretens des ATSG, am 1. Januar 2003, hatte die Verwaltung bei dieser Sachlage keinen Anlass, die Anspruchsberechtigung des Versicherten in Frage zu stellen. Sie war noch nicht darüber informiert, dass er sich in einem Firmenkonglomerat engagierte. Wie sich seine Einsätze gestalteten, wusste sie ebenfalls noch nicht. Zu Nachforschungen nach allfälligen Umständen, welche die Anspruchsberechtigung in Frage hätten stellen können, war sie demgemäss nicht verpflichtet.
Die Vorinstanz ist gegenteiliger Auffassung. Indem sie in Nachachtung des Vertrauensschutzes annimmt, die arbeitgeberähnliche Stellung wirke in der Zeit vom 1. Januar 2003 bis 21. Januar 2004 nicht anspruchsaufhebend, geht sie implizit davon aus, die Verwaltung hätte auf den 1. Januar 2003 hin das Dossier des Versicherten nach allfälligen Gründen, welche einer Anspruchsberechtigung hätten entgegenstehen können, durchsuchen, allfällige zusätzliche Abklärungen treffen und den Versicherten unverzüglich informieren müssen.
Dieser Betrachtungsweise kann nicht gefolgt werden. Im Februar 2002, als die Verwaltung einen ersten, allerdings nicht eindeutigen Hinweis auf eine mögliche arbeitgeberähnliche Stellung des Versicherten erhielt, bestand noch keine umfassende Auskunfts- und Beratungspflicht der Behörden. Am Tag der Einführung der allgemeinen Aufklärungs- und Beratungspflicht musste den involvierten Behörden auf Grund der gegebenen Umstände weder bewusst sein, dass der Anspruch des Versicherten auf Arbeitslosenentschädigung gefährdet war, noch konnte von ihnen erwartet werden, dass sie - ohne konkreten Anlass - Nachforschungen in die Wege
BGE 133 V 249 S. 256
leiteten. Solange aber der Versicherungsträger bei einem durchschnittlichen Mass an Aufmerksamkeit noch nicht erkennen kann, dass die Situation einer versicherten Person den Leistungsanspruch zu gefährden vermag, trifft ihn auch noch keine Beratungspflicht. Als sich vorliegend Anhaltspunkte dafür ergaben, dass der Sachverhalt nur lückenhaft bekannt war, drängten sich weitere Abklärungen auf. Diese Abklärungen wurden im Jahr 2003 denn auch ohne Verzögerung an die Hand genommen. Sobald sich das AWA ein Bild über die Einbindung des Versicherten in die verschiedenen Gesellschaften machen konnte, erliess es am 20. Januar 2004 eine leistungsablehnende Verfügung. Die zeitliche Verzögerung war auf die komplizierten Verhältnisse und die mangelnde Mitwirkung des Versicherten zurückzuführen. Das Vorgehen der Verwaltung ist mit Blick auf diese Umstände nicht zu beanstanden.
7.3
Im vorliegenden Fall geht es - im Unterschied zum Sachverhalt, wie er
BGE 131 V 472
zu Grunde liegt - nicht um ein künftiges Verhalten der versicherten Person, sondern um ihre bisherigen Funktionen in verschiedenen Gesellschaften. Ein Hinweis der Verwaltung, eine beabsichtigte, den Leistungsanspruch gefährdende Handlung zu überdenken, war darum nicht möglich. Das AWA hatte die Aufgabe, über die Anspruchsberechtigung des Versicherten zu entscheiden. Dabei stellte es zu Recht auf die Sachlage ab, wie sie sich nach seinen zusätzlichen Abklärungen im Januar 2004 präsentierte. Aus der Aufklärungs- und Beratungspflicht gemäss
Art. 27 ATSG
kann nicht abgeleitet werden, dass der versicherten Person vorgängig einer ablehnenden Verfügung Gelegenheit zur Änderung der angetroffenen Situation eingeräumt wird, falls die bisherigen Verhältnisse auf das Fehlen einer Anspruchsvoraussetzung zum Bezug von Arbeitslosentaggeldern schliessen lassen (Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts C 9/05 vom 21. Dezember 2005, E. 5.2). Der angefochtene Gerichtsentscheid orientiert sich am Urteil C 157/05 vom 28. Oktober 2005. Die Rahmenfrist für den Leistungsbezug begann für die versicherte Person in jenem Fall allerdings erst am 1. Januar 2003, am Tag als auch das ATSG in Kraft trat. Im Unterschied dazu hatte der Versicherungsträger vorliegend keine Veranlassung, die Anspruchsberechtigung auf das Inkrafttreten des ATSG erneut zu überprüfen, nachdem die zweite Rahmenfrist für den Leistungsbezug bereits am 1. Dezember 2002 begonnen hatte und sich an der Situation des Beschwerdeführers 1 seit dem Leistungsbezug in der ersten Rahmenfrist keine erkennbaren Änderungen ergeben haben. | de |
32b73aa9-d137-47b1-b41b-a858580901e4 | Sachverhalt
ab Seite 176
BGE 107 IV 175 S. 176
A.-
N. war Verwaltungsratspräsident, M. Mehrheitsaktionär der TS AG. An Darlehen und direkt bezahlten Betriebsmobilien stellte M. der Firma vom 26. Oktober 1973 bis 14. März 1974 nach einer Zusammenstellung des N. insgesamt Fr. 425'000.-- zur Verfügung. Mit dem Geld wurden u.a. am 14. November 1973 eine Folienkaschiermaschine für Fr. 205'066.65, am 26. November 1973 ein Gabelstapler für Fr. 28'000.-- und am 2. April 1974 ein Lastwagen Opel-Blitz für Fr. 28'390.-- angeschafft.
Kurz vor dem am 21. November 1974 über die AG eröffneten Konkurs liess M. im Einverständnis mit N. den Gabelstapler, den Lastwagen und die Folienkaschiermaschine abholen. Für die Wegnahme beruft sich M. auf die von ihm erbrachte Finanzierung, einen Leasingvertrag über die Folienkaschiermaschine, datiert vom 1. Februar 1974, und Kompensationsvereinbarungen mit der AG.
Im Konkurs der AG erhielten 102 Gläubiger Verlustscheine für Fr. 928'748.--, die privilegierten Forderungen wurden nur teilweise befriedigt und die Fünftklassgläubiger gingen leer aus.
B.-
Am 25. November 1980 erklärte das Obergericht des Kantons Thurgau N. und M. des betrügerischen Konkurses, der Gläubigerbevorzugung (N.) bzw. der Gehilfenschaft dazu (M.) sowie der Urkundenfälschung schuldig und verurteilte sie zu je 16 Monaten Gefängnis mit bedingtem Strafvollzug.
C.-
Sowohl N. wie M. führen Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag auf Aufhebung des obergerichtlichen Urteils und Rückweisung der Sache zur Neubeurteilung.
Obergericht und Staatsanwaltschaft beantragen Abweisung der Beschwerden.
BGE 107 IV 175 S. 177 Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
a) Der Schuldner, der zum Nachteil der Gläubiger sein Vermögen zum Scheine vermindert, namentlich Vermögensstücke beiseiteschafft, wird, wenn über ihn der Konkurs eröffnet worden ist, mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren oder mit Gefängnis bestraft (
Art. 163 Ziff. 1 StGB
; Betrügerischer Konkurs).
Art. 163 StGB
bezweckt den Schutz des Zwangsvollstreckungsrechtes und den Schutz der Gläubiger. Nicht erforderlich ist, dass die Gläubiger wegen der Bankrotthandlung ganz oder teilweise zu Verlust kommen. Es genügt, dass der Schuldner die Zwangsvollstreckung erschwert oder verzögert. Eine Gläubigerbenachteiligung kann schon in einer vorübergehenden Erschwerung oder Verzögerung der Zwangsvollstreckung liegen (
BGE 85 IV 219
,
BGE 93 IV 17
f.,
BGE 97 IV 20
f.,
BGE 102 IV 175
E. 3).
Nach
Art. 167 StGB
wird der Schuldner, der im Bewusstsein seiner Zahlungsunfähigkeit und in der Absicht, einzelne seiner Gläubiger zum Nachteil anderer zu bevorzugen, darauf abzielende Handlungen vornimmt, mit Gefängnis bestraft, wenn über ihn der Konkurs eröffnet worden ist (Gläubigerbevorzugung).
Im Geschäftsbetrieb einer juristischen Person wird die Schuldnereigenschaft im Sinne der
Art. 163 und 167 StGB
den Direktoren, Bevollmächtigten, den Mitgliedern der Verwaltungs- oder Kontrollorgane und den Liquidatoren zugerechnet (
Art. 172 StGB
). Ferner gelten als Schuldner die Personen, welche die Mitglieder der statutarischen Verwaltung, die Direktoren oder die Bevollmächtigten als Strohmänner benützen und so die juristische Person tatsächlich leiten (
BGE 78 IV 30
f.,
BGE 97 IV 14
,
BGE 100 IV 42
).
b) M. und der Verwaltungsratspräsident N. haben Folienkaschiermaschine, Gabelstapler und Lastwagen beiseitegeschafft. Damit haben sie diese Aktiven der TS AG der Zwangsvollstreckung entzogen, wodurch deren Gläubiger im Sinne von
Art. 163 StGB
benachteiligt wurden (
BGE 93 IV 19
), was die Beschwerdeführer übersehen. Dass der Tatbestand des
Art. 163 StGB
auch sonst erfüllt ist, stellt die Vorinstanz verbindlich bzw. zutreffend und unangefochten fest. Da M. als tatsächlicher Leiter der AG Schuldner im Sinne des
Art. 163 StGB
ist, hat er sich wie Verwaltungsratspräsident N. gemäss Ziff. 1 und nicht nach der Dritte betreffenden Ziff. 2 strafbar gemacht.
c) Weil M. sich durch das Beiseiteschaffen der Maschinen für seine finanziellen Leistungen für die AG schadlos hielt, hat die
BGE 107 IV 175 S. 178
Vorinstanz überdies N. der Gläubigerbevorzugung und M. der Gehilfenschaft dazu schuldig erklärt. Da M. aber eben Schuldner im Sinne des
Art. 163 StGB
war, war seine Schadloshaltung Schuldnerbegünstigung, die nach Art. 163 zu ahnden ist (
BGE 93 IV 20
). Gläubigerbevorzugung, die ein privilegiertes Bankrottdelikt ist, weil das den einen Gläubigern entzogene Vermögen nicht für den Schuldner oder für Dritte verwendet wird, sondern immerhin andern Gläubigern zukommt (SCHWANDER, SJK Karte 1129 S. 6 oben), liegt nicht vor. | de |
1e56a5d1-9f2b-47cf-8bf0-035e1a259ea4 | Sachverhalt
ab Seite 286
BGE 117 II 286 S. 286
Mit Kaufvertrag vom 17. Oktober 1981 erwarb Kurt M. von der O. SA mehrere mit Wohnhäusern überbaute Grundstücke in Biel. Einen Teil dieser Liegenschaften veräusserte er in der Folge weiter; die anderen verblieben in seinem Eigentum. Die Immobiliengesellschaft H. AG mit Sitz in Wil im Kanton St. Gallen beansprucht aus diesen Geschäften eine Mäklerprovision von Fr. 290'400.-- entsprechend
BGE 117 II 286 S. 287
3%, woran sie einen Teilbetrag von Fr. 15'000.-- als erhalten anerkannt hat.
Nachdem die Klage der Immobiliengesellschaft H. AG am 8. November 1988 vom Bezirksgericht Pfäffikon abgewiesen worden war, sprach das Obergericht des Kantons Zürich der Klägerin auf Berufung mit Urteil vom 22. Dezember 1989 Fr. 162'000.-- nebst 5% Zins seit 1. Oktober 1985 zu. Eine vom Beklagten dagegen erhobene kantonale Nichtigkeitsbeschwerde wurde vom Kassationsgericht des Kantons Zürich am 17. Januar 1991 abgewiesen, soweit es darauf eintrat.
Das Bundesgericht weist die vom Beklagten gegen das Urteil des Obergerichts erhobene Berufung ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
4.
Der Beklagte erhebt im weitern den Einwand, der Mäklervertrag sei gemäss
Art. 20 Abs. 1 OR
nichtig, weil die Mäklerin nicht im Besitze der für den Kanton Bern erforderlichen Bewilligung zur entgeltlichen Vermittlung von Liegenschaften gewesen sei.
a) Ein Vertrag ist im Sinne von
Art. 20 Abs. 1 OR
nichtig, falls entweder sein Gegenstand oder der Abschluss mit dem vereinbarten Inhalt oder der mittelbare Vertragszweck gegen objektives Recht verstösst. Keine Widerrechtlichkeit des Vertragsinhalts liegt jedoch im allgemeinen dann vor, wenn sich die verletzte Norm nur gegen die persönliche Beteiligung einer der Parteien am Vertrag richtet (KRAMER, N. 136 ff. zu
Art. 19-20 OR
;
BGE 114 II 280
E. 2a mit Hinweisen). Ein gegen eine bestimmte Gesetzesnorm verstossender Vertrag ist zudem nach ständiger Praxis des Bundesgerichts nur dann nichtig, wenn dies ausdrücklich im Gesetz vorgesehen ist oder sich aus Sinn und Zweck der verletzten Norm ergibt (
BGE 115 II 364
mit Hinweisen,
BGE 177 II 48
E. 2a). Das gilt auch für den Fall, wo sich das Verbot gegen die Beteiligung bestimmter Personen an einem Vertrag richtet. Festzuhalten ist schliesslich, dass nicht nur der Verstoss gegen Bundesrecht, sondern auch gegen kantonale Vorschriften den Vertrag nichtig machen kann (
BGE 114 II 281
E. 2a,
BGE 80 II 329
E. 2).
b) Das Bundesgericht hat es in
BGE 62 II 111
E. 2b abgelehnt, einen mit ausländischen Mäklern geschlossenen Vertrag als nichtig zu erklären, obwohl die Mäkler ohne die notwendige Bewilligung der Fremdenpolizei tätig gewesen waren. Diesem Entscheid hat die
BGE 117 II 286 S. 288
Lehre mehrheitlich zugestimmt (KRAMER, N. 138 zu
Art. 19-20 OR
; OFTINGER, Gesetzgeberische Eingriffe in das Zivilrecht, ZSR NF 57/1938 II 551a; ENGEL, Traité des obligations en droit suisse, S. 194; GUHL/MERZ/KUMMER, Das Schweizerische Obligationenrecht, 7. Aufl., S. 40). Im vorliegenden Fall besteht kein Anlass, auf diese Beurteilung zurückzukommen. Folgerichtig ist ein mit einem Mäkler ohne die erforderliche kantonale Berufsausübungsbewilligung geschlossener Vertrag lediglich dann nichtig, wenn diese Folge im kantonalen Erlass ausdrücklich vorgesehen ist oder sich aus dessen Sinn und Zweck ergibt (BUCHER, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl., S. 251 Fn. 58; VON BÜREN, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, S. 113; abweichend GAUTSCHI, N. 4b Vorbemerkungen und N. 5a zu
Art. 412 OR
). Vorauszusetzen ist zudem, dass die kantonale Regelung nicht gegen den Grundsatz der derogatorischen Kraft des Bundesrechtes verstösst (Art. 2 ÜbBest.BV, vgl. dazu
BGE 110 Ia 111
).
c) Aus diesen Gründen beurteilt sich im vorliegenden Fall nach kantonalem Recht, ob der Mäklervertrag trotz fehlender Zulassung des Mäklers zur gewerbsmässigen Mäkelei im Kanton Bern gültig ist. Bundesrecht ist einzig massgebend in bezug auf die in diesem Zusammenhang subsidiären Fragen der Rechtsbeständigkeit der kantonalen Ordnung unter dem Gesichtspunkt von Art. 2 ÜbBest.BV und der bundesrechtlichen Auswirkungen der kantonalrechtlichen Regelung auf den streitigen Anspruch. Die Anwendung kantonalen Rechts wird im Berufungsverfahren - von hier nicht gegebenen Ausnahmen abgesehen - vom Bundesgericht aber nicht überprüft (
Art. 43 Abs. 1 und
Art. 55 Abs. 1 lit. c OG
). Das gilt auch insoweit, als mit der Berufung eine Verletzung von
Art. 20 Abs. 1 OR
geltend gemacht wird, denn die Anwendung dieser Bestimmung setzt voraus, dass der Mäklervertrag aufgrund der vom Beklagten angerufenen kantonalen Vorschriften als nichtig zu beurteilen ist. Die Anwendung kantonalen Rechts wird indessen vom Bundesgericht selbst dann nicht überprüft, wenn daran bundesrechtliche Folgen zu knüpfen sind (
BGE 54 II 148
; vgl. auch
BGE 84 II 425
E. 1a,
BGE 80 II 328
E. 1).
d) Das Obergericht hat im Beweisabnahmebeschluss vom 12. Juni 1989 darauf hingewiesen, dass nach seiner Auffassung der Mäklervertrag nicht an einem Nichtigkeitsgrund leiden würde, falls die Mäklerin Vorschriften des Kantons Bern über eine
BGE 117 II 286 S. 289
Bewilligungspflicht verletzt haben sollte. Im angefochtenen Urteil hat das Obergericht sodann - wie das Kassationsgericht im Entscheid vom 17. Januar 1991 zutreffend feststellt - stillschweigend seine Auffassung bestätigt. Das Kassationsgericht hält im übrigen seinerseits fest, dass die vom Beklagten eingereichte Verordnung über die Liegenschaftenvermittlung des Regierungsrates des Kantons Bern vom 7. September 1976 nicht die Ungültigkeit eines Vermittlungsvertrages vorsehe, wenn die entsprechende Bewilligung nicht eingeholt worden sei. Wie bereits ausgeführt worden ist, kann das Bundesgericht die Anwendung des kantonalen Rechts durch die Vorinstanz nicht überprüfen. Auf die Berufung ist deshalb nicht einzutreten, soweit die Nichtigkeit des Mäklervertrages wegen eines Verstosses gegen dieses Recht geltend gemacht wird.
5.
Der Beklagte wirft dem Obergericht schliesslich vor, zu Unrecht nicht geprüft zu haben, ob die Provisionshöhe von 3% angemessen sei.
a) Dazu ist vorweg zu bemerken, dass der Einwand, es handle sich um eine unübliche und übersetzte Provision, gemäss dem angefochtenen Urteil im kantonalen Verfahren nicht erhoben worden ist. Diese Feststellung hat der Beklagte erfolglos mit der kantonalen Nichtigkeitsbeschwerde angefochten. Soweit er entsprechende Behauptungen nun im Berufungsverfahren vorbringt, ist darauf gemäss
Art. 55 Abs. 1 lit. c OG
nicht einzutreten. Aus dem angefochtenen Urteil geht sodann eindeutig hervor, dass das Obergericht die Provision von 3% als "üblichen Lohn" im Sinne von
Art. 414 OR
betrachtet. Was als solcher Lohn zu gelten hat, ist eine Tatfrage, die im Berufungsverfahren nicht überprüft werden kann (
BGE 90 II 107
; POUDRET, Commentaire de la loi fédérale d'organisation judiciaire, Bd. II, N. 4.6.1 zu
Art. 63 OG
). Die in diesem Zusammenhang vorgebrachten Einwände sind deshalb ebenfalls unbeachtlich.
b) Zu erörtern bleibt lediglich, ob das Obergericht gehalten war, die Angemessenheit der üblichen Provision von 3% in analoger Anwendung von
Art. 417 OR
und der dazu entwickelten Praxis (vgl.
BGE 111 II 369
E. 3a) von Amtes wegen zu prüfen. Diese Frage ist in der Lehre umstritten. Während GAUTSCHI die Auffassung vertritt, herabsetzbar sei nur ein vereinbarter Mäklerlohn (N. 3a zu
Art. 417 OR
), befürwortet WERNER SCHWEIGER die Möglichkeit einer Korrektur der Provisionshöhe durch den Richter auch dann, wenn diese aufgrund von Tarifen oder Übungen im Sinne von
Art. 414 OR
bestimmt wird (Der Mäklerlohn - Voraussetzungen
BGE 117 II 286 S. 290
und Bemessung, Diss. Zürich 1986, S. 232). Überzeugender ist indessen die Meinung von GAUTSCHI. Dafür spricht zunächst die Überlegung, dass die übliche Provisionshöhe auch bei der Bestimmung der Angemessenheit im Sinne von
Art. 417 OR
als Massstab dient (
BGE 90 II 107
E. 11,
BGE 83 II 153
E. 4c; GAUTSCHI, N. 4 zu
Art. 417 OR
). In die gleiche Richtung weist sodann der Grundgedanke von
Art. 417 OR
, der darin liegt, übermässige rechtsgeschäftliche Bindungen analog der Vorschrift von
Art. 27 Abs. 2 ZGB
zu verhindern (TERCIER, a.a.O., S. 410 Rz. 3177). Schliesslich richten sich die vorgebrachten Bedenken vor allem gegen eine Festsetzung der Provision aufgrund von Verbandstarifen, die einseitig die Interessen der Verbandsmitglieder berücksichtigen (SCHWEIGER, a.a.O., S. 232/3). In einem solchen Fall bedarf es aber keiner Korrekturmöglichkeit über
Art. 417 OR
, da autonome Tarife von Berufsverbänden, welche einseitig die Interessen einer Vertragspartei wahren, im allgemeinen nicht als Ausdruck der Verkehrsübung gelten können (JÄGGI/GAUCH, N. 403 zu
Art. 18 OR
).
Die aufgeworfene Frage kann indessen im vorliegenden Fall letztlich offenbleiben, da eine Provision von 3% unter Berücksichtigung der gegebenen Umstände nach der Praxis des Bundesgerichtes nicht als unverhältnismässig hoch erscheint (
BGE 90 II 107
E. 11, vgl. auch
BGE 112 II 460
). | de |
c8c371eb-7d8d-4ce5-8d69-4c983d0c76a1 | Sachverhalt
ab Seite 435
BGE 126 V 435 S. 435
A.-
Die 1937 geborene P. ersuchte die Ausgleichskasse des Kantons Thurgau am 11. September 1998 um Anrechnung einer Betreuungsgutschrift für das Jahr 1997, da sie während dieser Zeit für ihre dauernd pflegebedürftige Mutter R. gesorgt habe. Mit
BGE 126 V 435 S. 436
Verfügung vom 20. Oktober 1998 lehnte die Ausgleichskasse das Gesuch ab mit der Begründung, Betreuungsgutschriften würden nur für Zeitabschnitte angerechnet, während denen betreute Personen eine Hilflosenentschädigung der Alters- und Hinterlassenen- oder der Invalidenversicherung für mindestens mittlere Hilflosigkeit beanspruchen könnten.
B.-
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies die AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau ab (Entscheid vom 14. Januar 1999).
C.-
P. führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragt, es sei ihr für das Jahr 1997 eine Betreuungsgutschrift zu gewähren. Der Eingabe liegt ein Vorbescheid der IV-Stelle des Kantons Thurgau vom 17. Dezember 1998 über die vorgesehene Zusprechung einer Hilflosenentschädigung für Hilflosigkeit mittleren Grades für die Zeit vom 1. November 1997 bis 28. Februar 1998 bei.
Die Ausgleichskasse schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) lässt sich nicht vernehmen.
Im Rahmen eines zweiten Schriftenwechsels stellt das BSV das Rechtsbegehren, in Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde seien rückwirkend Betreuungsgutschriften zu gewähren, während sich die Ausgleichskasse eines Antrages enthält und P. auf eine Stellungnahme verzichtet.
D.-
Im Laufe des Instruktionsverfahrens sind die Akten der IV-Stelle des Kantons Thurgau eingeholt worden. Erwägungen
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
a) Gemäss dem mit der 10. AHV-Revision am 1. Januar 1997 in Kraft getretenen
Art. 29septies Abs. 1 AHVG
haben Versicherte, welche im gemeinsamen Haushalt Verwandte in auf- oder absteigender Linie oder Geschwister mit einem Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung der AHV oder IV für mindestens mittlere Hilflosigkeit betreuen, Anspruch auf Anrechnung einer Betreuungsgutschrift (Satz 1). Sie müssen diesen Anspruch jährlich schriftlich anmelden (Satz 2). Verwandten sind Ehegatten, Schwiegereltern und Stiefkinder gleichgestellt (Satz 3).
b) Wird der Anspruch auf Betreuungsgutschrift nicht innert fünf Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres angemeldet, in welchem eine Person betreut wurde, so wird die Gutschrift für das betreffende Jahr nicht mehr im individuellen Konto vermerkt (
Art. 29septies Abs. 5 AHVG
).
BGE 126 V 435 S. 437
Nach Art. 52k in Verbindung mit
Art. 52f Abs. 1 AHVV
werden während des Jahres, in dem der Anspruch entsteht, keine Betreuungsgutschriften angerechnet.
2.
a) Streitig und zu prüfen ist, ob die Beschwerdeführerin Anspruch auf Anrechnung von Betreuungsgutschriften für das Jahr 1997 hat. Dabei ist zu beachten, dass die IV-Stelle der Mutter der Versicherten mit während der Dauer des letztinstanzlichen Verfahrens ergangener Verfügung vom 18. Mai 1999 rückwirkend eine Hilflosenentschädigung für Hilflosigkeit mittleren Grades zugesprochen und festgestellt hat, der Anspruch auf Hilflosenentschädigung für Hilflosigkeit mittleren Grades sei mehrere Jahre vor der Anmeldung entstanden, denn die Mutter der Versicherten sei seit Jahren in fünf alltäglichen Lebensverrichtungen in erheblicher Weise auf die Hilfe Dritter angewiesen gewesen. Demzufolge konnte die Hilflosenentschädigung wegen verspäteter Anmeldung nur für die Zeit vom 1. November 1997 bis 28. Februar 1998 ausgerichtet werden.
b) Die Ausgleichskasse vertritt mit Blick auf den Umstand, dass der Mutter der Versicherten lediglich für die Zeit ab 1. November 1997 Hilflosenentschädigung ausbezahlt worden ist, die Ansicht, der Anspruch auf Anrechnung von Betreuungsgutschriften sei ebenfalls erst im Jahr 1997 entstanden. Da das Jahr der Entstehung des Anspruchs nicht berücksichtigt werde, könne für das Jahr 1997 keine Betreuungsgutschrift gewährt werden.
Demgegenüber macht das BSV geltend, dass eine Hilflosenentschädigung wegen verspäteter Anmeldung erst zu einem späteren Zeitpunkt zur Auszahlung gelange, vereitle die Anwendung von
Art. 29septies Abs. 1 AHVG
nicht. Für die Gewährung der Betreuungsgutschriften sei nicht in erster Linie massgebend, ob und wann der Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung geltend gemacht worden sei. Im Vordergrund stehe vielmehr das Vorhandensein eines Pflegeverhältnisses und einer Pflegebedürftigkeit, weshalb vorliegend für das Jahr 1997 eine Betreuungsgutschrift anzurechnen sei.
c) Die Beschwerdegegnerin verkennt, dass der Zeitpunkt der Entstehung des Anspruchs auf Anrechnung von Betreuungsgutschriften nicht mit dem Beginn der Leistung von Hilflosenentschädigung an die betreute Person zusammenfallen muss. Es stellt sich indessen die Frage, ob der Umstand, dass die der Mutter der Beschwerdeführerin zustehende Hilflosenentschädigung erst ab 1. November 1997 ausgerichtet wurde, der Anrechenbarkeit einer Betreuungsgutschrift für das Jahr 1997 entgegensteht.
BGE 126 V 435 S. 438
3.
Das Gesetz ist in erster Linie nach seinem Wortlaut auszulegen. Ist der Text nicht ganz klar und sind verschiedene Auslegungen möglich, so muss nach seiner wahren Tragweite gesucht werden unter Berücksichtigung aller Auslegungselemente, namentlich des Zwecks, des Sinnes und der dem Text zu Grunde liegenden Wertung. Wichtig ist ebenfalls der Sinn, der einer Norm im Kontext zukommt. Vom klaren, d.h. eindeutigen und unmissverständlichen Wortlaut darf nur ausnahmsweise abgewichen werden, u.a. dann nämlich, wenn triftige Gründe dafür vorliegen, dass der Wortlaut nicht den wahren Sinn der Bestimmung wiedergibt. Solche Gründe können sich aus der Entstehungsgeschichte der Bestimmung, aus ihrem Grund und Zweck oder aus dem Zusammenhang mit andern Vorschriften ergeben (
BGE 125 II 196
Erw. 3a, 244 Erw. 5a,
BGE 125 V 130
Erw. 5, 180 Erw. 2a, je mit Hinweisen).
Im Rahmen verfassungskonformer oder verfassungsbezogener Auslegung ist sodann, soweit mit den erwähnten normunmittelbaren Auslegungselementen vereinbar, rechtsprechungsgemäss der Gleichbehandlungsgrundsatz zu beachten, wobei der klare Sinn einer Gesetzesnorm nicht durch eine verfassungskonforme Auslegung beiseite geschoben werden darf (
BGE 126 V 97
Erw. 4b,
BGE 121 V 352
Erw. 5,
BGE 119 V 130
Erw. 5b, je mit Hinweisen). Begründet wird die verfassungskonforme Auslegung hauptsächlich mit der Einheit der Rechtsordnung und der Überordnung der Verfassung (ULRICH HÄFELIN, Die verfassungskonforme Auslegung und ihre Grenzen, in: Recht und Prozess als Gefüge, Festschrift für Hans Huber zum 80. Geburtstag, Bern 1981, S. 241-259, insbes. S. 242). Da die neue Bundesverfassung am Stufenbau der landesinternen Rechtsordnung grundsätzlich nichts geändert hat (GEORG MÜLLER, Formen der Rechtssetzung, in: ULRICH ZIMMERLI [Hrsg.], Die neue Bundesverfassung, Konsequenzen für Praxis und Wissenschaft, Berner Tage für die juristische Praxis [BTJP] 1999, Bern 2000, S. 249-266, insbes. S. 250; vgl. auch
Art. 182 Abs. 1 BV
), sind die Normen auch unter Geltung der neuen Bundesverfassung so auszulegen, dass sie mit deren Grundwerten übereinstimmen (
BGE 126 V 97
Erw. 4b).
a) Dem Wortlaut des deutschen
Art. 29septies Abs. 1 Satz 1 AHVG
nach muss die betreute Person Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung der Alters- und Hinterlassenen- oder der Invalidenversicherung für mindestens mittlere Hilflosigkeit haben. Dass sie die Hilflosenentschädigung auch tatsächlich beziehen muss, damit der versicherten Person Betreuungsgutschriften gewährt werden können, ergibt sich jedoch nicht aus dem Gesetzestext. Mit Blick darauf, dass
BGE 126 V 435 S. 439
bei der grammatikalischen Auslegung von der grundsätzlichen Gleichwertigkeit der drei Amtssprachen auszugehen ist (Art. 9 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 21. März 1986 über die Gesetzessammlungen und das Bundesblatt; SR 170.512) und dass diesem Auslegungselement nur untergeordnete Bedeutung zukommt, wenn die drei verschiedenen sprachlichen Versionen nicht vollständig übereinstimmen oder sich gar widersprechen (
BGE 119 V 127
Erw. 4a mit Hinweis), ist zu prüfen, wie es sich mit der französischen und der italienischen Fassung verhält. Die französische Version lautet: "Les assurés qui prennent en charge des parents de ligne ascendante ou descendante ainsi que des frères et soeurs au bénéfice d'une allocation de l'AVS ou de l'AI pour impotent de degré moyen au moins et avec lesquels ils font ménage commun, peuvent prétendre à une bonification pour tâches d'assistance." Nach dem italienischen Wortlaut werden Versicherten "(...) che si occupano di parenti di linea ascendente o discendente nonché di fratelli e sorelle che beneficiano di un assegno dell'AVS o dell'AI per grandi invalidi, con un'invalidità almeno di grado medio, e che vivono in comunione domestica con essi (...)" Betreuungsgutschriften gewährt. Die französische wie die italienische Fassung gehen somit, entgegen dem deutschen Text, davon aus, dass die betreute Person die Hilflosenentschädigung tatsächlich empfangen muss, damit der versicherten Person Betreuungsgutschriften angerechnet werden können.
b) Zu prüfen ist des Weiteren, ob die Materialien zuverlässigen Aufschluss über die Auslegung des
Art. 29septies Abs. 1 Satz 1 AHVG
geben. Nach ständiger Rechtsprechung stellen sie, gerade bei jüngeren Gesetzen, ein wichtiges Erkenntnismittel dar, von dem im Rahmen der Auslegung stets Gebrauch zu machen ist (
BGE 125 V 131
Erw. 5 in fine mit Hinweisen). Sie können namentlich dann, wenn eine Bestimmung unklar ist oder verschiedene, einander widersprechende Auslegungen zulässt, ein wertvolles Hilfsmittel sein, um den Sinn der Norm zu erkennen und damit falsche Auslegungen zu vermeiden. Nach gefestigter Rechtsprechung sind sie aber für sich allein nicht geeignet, direkt auf den Rechtssinn einer Gesetzesbestimmung schliessen zu lassen, weil das Gesetz sich mit seinem Erlass von seinen Schöpfern löst und ein eigenständiges rechtliches Dasein entfaltet (
BGE 124 V 189
Erw. 3a). Schliesslich sind die Materialien als Auslegungshilfe nicht dienlich, wo sie keine klare Antwort geben (
BGE 124 V 190
Erw. 3a mit Hinweisen).
In der bundesrätlichen Botschaft über die zehnte Revision der Alters- und Hinterlassenenversicherung vom 5. März 1990 (BBl
BGE 126 V 435 S. 440
1990 II 1 ff.) war das Institut der Betreuungsgutschriften noch nicht vorgesehen. Erst im Verlaufe der parlamentarischen Beratung wurde es gestützt auf die Vorarbeiten der Kommission des Nationalrates als Bestandteil des neuen, grundsätzlich zivilstands- und geschlechtsunabhängigen Individual-Rentensystems mit Beitragssplitting aufgenommen (Amtl.Bull. 1993 N 207 ff.). Zur Vermeidung von Abgrenzungsschwierigkeiten und aufwändigen Abklärungen legte man Wert auf die Schaffung präziser Anspruchsvoraussetzungen und fand diese in der "Begrenzung des Personenkreises auf enge Verwandte und den zusätzlichen Anspruchsvoraussetzungen Hilflosenentschädigung mittleren Grades und Hausgemeinschaft" (Amtl.Bull. 1993 N 215, vgl. auch 233 und 256; Amtl.Bull. 1994 S 550 und 560). Diesen Absichten trägt bereits die deutsche Fassung des
Art. 29septies Abs. 1 Satz 1 AHVG
(vgl. Erw. 1 hievor) Rechnung. Eine zusätzliche Abgrenzung oder eine Verminderung des Abklärungsaufwandes wird durch die französische und die italienische Version (Erw. 3a hievor) nicht erreicht.
Die Abweichung der deutschen von der französischen und der italienischen Fassung des
Art. 29septies Abs. 1 Satz 1 AHVG
wurde nicht erst in der Differenzbereinigung geschaffen, sondern bestand bereits in der ersten Version des Gesetzesartikels (vgl. die deutsche und französische Formulierung des von der Nationalratskommission beantragten Textes: Amtl.Bull. 1993 N 255 f.). Aus den Materialien ergeben sich keine Hinweise darauf, welche Aussage ursprünglich beabsichtigt war, noch lässt sich der Grund der unterschiedlichen Formulierung feststellen, weshalb anzunehmen ist, dass sie aus einer Ungenauigkeit in der Übersetzung entstanden ist.
c) Die in
Art. 29septies AHVG
statuierten Betreuungsgutschriften werden auf Gesetzesstufe nicht näher konkretisiert. Die Verordnung enthält eine Umschreibung des Erfordernisses des gemeinsamen Haushaltes (
Art. 52g AHVV
) sowie eine Sonderbestimmung für versicherte Personen, welche Minderjährige pflegen (
Art. 52h AHVV
); ausserdem regelt sie die Aufteilung der Betreuungsgutschrift in Fällen, in denen mehrere Personen die Voraussetzungen für eine Anrechnung erfüllen (
Art. 52i AHVV
), sowie deren Festsetzung (Art. 52k in Verbindung mit
Art. 52f AHVV
) und Anmeldung (
Art. 52l AHVV
). Für die vorliegend umstrittene Frage liefert die Systematik keine Aufschlüsse.
d) Sinn und Zweck von
Art. 29septies AHVG
besteht darin, die Betreuung pflegebedürftiger Angehöriger, die regelmässig zu einer Beeinträchtigung der Erwerbsmöglichkeiten führt, als fiktives
BGE 126 V 435 S. 441
Einkommen bei der Rentenberechnung zu berücksichtigen und damit zu verhindern, dass die unentgeltliche Verrichtung von Betreuungsarbeit für nahe Angehörige den individuellen Rentenanspruch schmälert (Amtl.Bull. 1993 N 209; THOMAS LOCHER, Grundriss des Sozialversicherungsrechts, 2. Aufl., Bern 1997,
§ 36 N 34
f.). Die Anrechnung von Betreuungsgutschriften ist für die Pflege von Personen vorgesehen, die für die alltäglichen Lebensverrichtungen so sehr der Hilfe Dritter oder der persönlichen Überwachung bedürfen, dass bei ihnen die Anspruchsvoraussetzungen für eine Hilflosenentschädigung der Alters- und Hinterlassenen- oder der Invalidenversicherung gegeben sind. Mit dem Erfordernis der Hilflosigkeit mittleren Grades der betreuten Person wird das Vorliegen eines Mindestmasses an Pflegebedürftigkeit sowie gleichzeitig eines Mindestmasses an zeitlichem Pflegeaufwand sichergestellt. Steht der Anspruch der betreuten Person auf Hilflosenentschädigung für Hilflosigkeit mindestens mittleren Grades fest, sind diese Voraussetzungen erfüllt. Keine Rolle spielt dabei, ob die Hilflosenentschädigung tatsächlich bezogen wird.
4.
a) Aus dem Gesagten ergibt sich, dass die Materialien sowie der Sinn und Zweck der Bestimmung die auf dem deutschen Wortlaut des
Art. 29septies Abs. 1 Satz 1 AHVG
basierende Auslegung stützen, wonach der Anspruch auf Hilflosenentschädigung für mindestens mittlere Hilflosigkeit für die Anrechenbarkeit von Betreuungsgutschriften genügt und der Bezug der Hilflosenentschädigung nicht vorausgesetzt wird. Dieses Auslegungsergebnis wird durch die Grundsätze der verfassungskonformen oder verfassungsbezogenen Auslegung bestätigt, da das Abstellen auf die französische oder italienische Fassung der Norm zu einer sachlich nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung zwischen den Versicherten, welche eine Person betreuen, die zwar einen Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung für Hilflosigkeit mittleren Grades hat, die Hilflosenentschädigung aber nicht bezieht, und denjenigen, welche eine Person betreuen, die in den Genuss einer Hilflosenentschädigung für Hilflosigkeit mindestens mittleren Grades kommen, führen würde. Denn Pflegebedürftigkeit und Pflegeaufwand sind in beiden Fällen gleich gross.
b) Dem BSV kann somit insoweit beigepflichtet werden, als es die Anrechnung von Betreuungsgutschriften auch in Fällen als zulässig erachtet, in denen die betreute Person die Hilflosenentschädigung wegen verspäteter Anmeldung nicht oder erst zu einem späteren Zeitpunkt beziehen kann. Im zu beurteilenden Fall
BGE 126 V 435 S. 442
ist den Anforderungen an den Nachweis der grossen Pflegebedürftigkeit der betreuten Person mittels der in einem Verwaltungsverfahren - rechtskräftig - festgestellten langjährigen Hilflosigkeit der von der Beschwerdeführerin betreuten Mutter zweifellos Genüge getan, zumal die Ausgleichskasse gegen das Abklärungsergebnis der IV-Stelle zur Hilflosigkeit keine Einwendungen erhebt. Deshalb kann im vorliegenden Prozess offen bleiben, ob der Anspruch auf Hilflosenentschädigung mindestens mittleren Grades notwendigerweise in dieser Form von der jeweils zuständigen Verwaltungsbehörde festgestellt worden sein muss, damit die Anspruchsvoraussetzungen des
Art. 29septies Abs. 1 AHVG
als erfüllt gelten können.
5.
Die IV-Stelle hat am 18. Mai 1999 erkannt, dass die am 5. Februar 1998 verstorbene Mutter der Versicherten vor ihrem Tod mehrere Jahre in mittelschwerem Grad hilflos gewesen war. Der Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung entsteht am ersten Tag des Monats, in dem sämtliche Voraussetzungen erfüllt sind und die Hilflosigkeit schweren oder mittleren Grades ununterbrochen während mindestens eines Jahres bestanden hat (
Art. 43bis Abs. 2 AHVG
). Es steht fest, dass der Anspruch auf Hilflosenentschädigung bereits vor 1997 entstanden ist und die Hilflosenentschädigung einzig darum erst ab 1. November 1997 ausgerichtet wurde, weil die Anmeldung zum Bezug von Hilflosenentschädigung verspätet erfolgt war (
Art. 46 Abs. 2 AHVG
). Dass diese - unbestrittenen - Tatsachen erst nach der Verfügung der Beschwerdegegnerin vom 20. Oktober 1998 bekannt wurden, steht ihrer Beachtlichkeit im letztinstanzlichen Verfahren nicht entgegen.
Wie die Ausgleichskasse zutreffend ausführt, werden während des Jahres, in dem der Anspruch entsteht, keine Betreuungsgutschriften angerechnet (Art. 52k in Verbindung mit
Art. 52f Abs. 1 AHVV
; vgl. Erw. 1b hievor). Die Beschwerdeführerin erfüllt allerdings die Voraussetzungen zur Anrechnung von Betreuungsgutschriften nicht erst seit 1997. Sie hat ihre seit längerer Zeit in mittlerem Grad hilflos gewesene Mutter auch schon im Jahr 1996 betreut und die Betreuungsgutschrift für das Jahr 1997 rechtzeitig (
Art. 29septies Abs. 5 AHVG
) angemeldet. Da ihr Anspruch auf die Gewährung von Betreuungsgutschriften somit vor 1997 entstanden ist, hat sie - entsprechend ihrer Anmeldung vom 11. September 1998 - ein Recht auf Anrechnung einer Betreuungsgutschrift für das Jahr 1997. | de |
53d7d4f2-3488-4fbe-861a-1c50d809236b | Sachverhalt
ab Seite 22
BGE 104 Ia 22 S. 22
Die Mobag Generalunternehmung erwarb am 25. Mai 1972 ein rund 5000 m2 umfassendes Grundstück in der Gemeinde Meilen. Auf einem Teil dieses Grundstücks erstellte sie unter Beizug eines Architekturbüros zwölf Wohnungen, die sie zwischen dem 18. Juli 1975 und dem 6. Februar 1976 im Stockwerkeigentum verkaufte. Die Kommission für die Grundsteuern der Gemeinde Meilen stellte am 1. Dezember 1976 Rechnung für Grundstückgewinnsteuern im Gesamtbetrag von Fr. 286'155.-. Auf Rekurs der Mobag hin setzte die Finanzdirektion des Kantons Zürich die Grundstückgewinnsteuern auf Fr. 276'930.- herab. Das Verwaltungsgericht wies den hiegegen erhobenen Rekurs der Mobag am 15. September 1977 ab. Gegen diesen Entscheid richtet sich die vorliegende, auf
Art. 4 BV
gestützte staatsrechtliche Beschwerde. Erwägungen
Erwägungen:
2.
a) Gemäss § 164 des zürcherischen Steuergesetzes (StG) ist als Grundstückgewinn besteuerbar "der Betrag, um welchen der Erlös die Anlagekosten (Erwerbspreis und Aufwendungen) übersteigt". In
§ 166 StG
werden die anrechenbaren
BGE 104 Ia 22 S. 23
Aufwendungen näher umschrieben. In Betracht fällt für den vorliegenden Fall einzig lit. a, wonach anzurechnen sind "Aufwendungen für Bauten, Umbauten, Meliorationen und andere dauernde Verbesserungen des Grundstückes, nach Abzug allfälliger Versicherungsleistungen und Beiträgen von Bund, Kanton oder Gemeinde". Es ist unbestritten, dass zu den anrechenbaren Aufwendungen auch ein Generalunternehmerhonorar gehören kann (Rechenschaftsbericht des Verwaltungsgerichtes - RB - 1972 Nr. 44; für die Stadt Zug, deren massgebendes Steuerreglement den Begriff der Aufwendungen praktisch gleich umschreibt wie das zürcherische Steuergesetz:
BGE 101 Ia 1
ff.). Die Abgrenzung dessen, was unter dem Titel "Generalunternehmerhonorar" zum Abzug zuzulassen ist, kann allerdings Schwierigkeiten bereiten. Es ist daher zu untersuchen, unter- welchen Voraussetzungen steuerrechtlich die Anrechnung eines besonderen Honorars für die Tätigkeit einer Generalunternehmung als gerechtfertigt erscheint.
b) In
BGE 101 Ia 1
ff. hat das Bundesgericht ausgeführt, es sei nicht unhaltbar, ein Generalunternehmerhonorar dann nicht als wertvermehrende Aufwendung anzuerkennen, wenn es sich auf Arbeiten beziehe, für die bereits der Architekt sein volles Honorar berechnet habe; ebensowenig sei es willkürlich, solche Arbeiten nicht anzurechnen, die der Bauherr im allgemeinen selbst ausführe, ohne dass er dafür bei der Gewinnberechnung einen Eigenlohn als wertvermehrende Verbesserung geltend machen könne. Vorbehalten blieb der Fall, in dem es dem Bauherrn wegen der Art und des Umfanges des Bauvorhabens nicht zugemutet werden könne, auf die Unterstützung durch eine fachkundige Person zu verzichten. Das Bundesgericht stützte sich bei diesen Erwägungen unter anderem auf einen Entscheid des zürcherischen Verwaltungsgerichtes (RB 1972 Nr. 44). Gleichwohl gelangte es in dem damals zu beurteilenden Fall aus dem Kanton Zug zum Schlusse, die Nichtberücksichtigung des Generalunternehmerhonorars sei verfassungswidrig, und zwar deshalb, weil dadurch dem Kriterium der Wertvermehrung ein zu grosses Gewicht beigemessen werde. Es gebe auch notwendige Aufwendungen, die nicht zu einer unmittelbaren Wertvermehrung führten, wie etwa die Überwachung des Architekten durch einen Generalunternehmer. Würden solche Aufwendungen nicht zum Abzug zugelassen, so werde insoweit nicht der wirkliche, sondern ein fiktiver
BGE 104 Ia 22 S. 24
Gewinn besteuert. Weiter anerkannte das Bundesgericht den in jenem Beschwerdeverfahren erhobenen Einwand, es sei äusserst schwierig nachzuweisen, welche nicht bereits anderweitig angerechneten wertvermehrenden Arbeiten der Generalunternehmer geleistet habe. Der Steuerpflichtige könne daher, soweit keine besonderen Umstände dagegen sprächen, auch ohne genauen Nachweis beanspruchen, dass zumindest ein wesentlicher Teil des üblichen Generalunternehmerhonorars bei der Gewinnermittlung als wertvermehrende Aufwendung angerechnet werde.
c) Diese Erwägungen sind hier zu ergänzen. Sie können zwar auch zutreffen, wenn die Bauherrschaft generalunternehmerische Leistungen selbst ausführt; Voraussetzung muss aber bleiben, dass solche Leistungen überhaupt erbracht worden sind. Dazu genügt die Bezeichnung der Bauherrschaft als "Generalunternehmung" nicht, auch dann nicht, wenn es sich - wie hier - um einen Betrieb handelt, der in dieser Richtung spezialisiert ist und in anderen Fällen als Generalunternehmer im herkömmlichen Sinne auftritt, d.h. für Dritte die Herstellung schlüsselfertiger Bauten auf eigenes Risiko übernimmt. Wollte man daraus bei Bauten auf eigene Rechnung einen Anspruch auf Anrechnung eines Generalunternehmerhonorars ohne Substantiierung der erbrachten generalunternehmerischen Leistungen ableiten, so verstiesse man offensichtlich gegen das Gebot der steuerlichen Gleichbehandlung: der Generalunternehmer hätte Anspruch auf einen zusätzlichen Pauschalabzug vom Gewinn, der anderen Bauherren nicht zusteht. Wesentlich ist, dass es abgesehen von der Risikotragung keine fest umrissenen generalunternehmerischen Leistungen gibt, die für den Generalunternehmer - und nur für ihn - in gleicher Art typisch sind wie etwa die verschiedenen architektonischen Arbeiten für den Berufsstand der Architekten oder die Ingenieurarbeiten für denjenigen der Bauingenieure.
Die richtige steuerliche Behandlung kann daher nur darin bestehen, dass dem Bauherrn, der als sein eigener Generalunternehmer auftritt, der Nachweis derjenigen Leistungen auferlegt wird, die er in dieser Eigenschaft erbracht hat und die nicht von jedem anderen Bauherrn auch hätten erbracht werden müssen (vgl. zur Beweislast im allgemeinen RB 1976 Nr. 77). Diese Leistungen müssen, wie in
BGE 101 Ia 5
BGE 104 Ia 22 S. 25
gefordert wird, entweder wertvermehrend oder notwendig sein. Hinzukommen muss aber als selbstverständliche weitere Voraussetzung, dass sie nicht bereits unter einem anderen Titel in der Bauabrechnung enthalten sind. Dem Verwaltungsgericht des Kantons Zürich ist darin beizupflichten, dass eine solche Substantiierung für den Generalunternehmer nicht mit unzumutbaren Schwierigkeiten verbunden ist, da gerade die Generalunternehmungen nur existieren können, wenn sie ihre Leistungen selbst genau erfassen und zur Grundlage ihrer Kalkulation machen. Das Urteil
BGE 101 Ia 3
ff. ist darin zu bestätigen, dass an den ziffernmässigen Nachweis der wertvermehrenden oder sonst notwendigen Leistungen keine allzu strengen Anforderungen gestellt werden dürfen. Das hindert indessen nicht, wenigstens die Angabe der konkret geleisteten Arbeiten und des damit verbundenen ungefähren Aufwandes zu verlangen, da es sonst ausgeschlossen ist zu prüfen, ob nicht bereits berücksichtigte Leistungen des Architekten oder nicht abzugsberechtigte Eigenleistungen der Bauherrschaft im Generalunternehmerhonorar enthalten sind.
3.
a) Im vorliegenden Fall hat die Beschwerdeführerin ein Architekturbüro beigezogen, diesem jedoch nur einen Teil sämtlicher Architekturarbeiten übertragen (Vorprojekt, Bauprojekt, Detailstudien, Ausführungspläne und die Oberleitung der Bauausführung zu einem Drittel), während sie einen anderen Teil selbst ausführte (Kostenvoranschlag, Ausschreibung, Oberleitung zu zwei Dritteln und örtliche Bauführung). Das Honorar wurde auf Grund der Normen des SIA errechnet und aufgeteilt, wobei auf die Beschwerdeführerin selbst Fr. 176'500.- entfielen. Darin ist auch der übliche Verdienst des Architekten für diesen Teil der Arbeiten inbegriffen. Eine nochmalige Berücksichtigung dieser Tätigkeiten der Beschwerdeführerin unter dem Titel "Generalunternehmerhonorar" scheidet damit im vornherein aus. Als Ausgaben anerkannt wurden von den kantonalen Behörden auch einige weitere Sammelposten wie "Übergangsposition Mobag Zürich/Abt. Wymann" im Betrage von Fr. 322'429.35 und "Büro Bauleitung Mobag Zürich/Abt. Schild" im Betrage von Fr. 19'470.-. Unter diesen Umständen ist dem Verwaltungsgericht darin beizupflichten, dass der zusätzliche Abzug eines Generalunternehmerhonorars nur für konkret erfassbare, klar umrissene zusätzliche Leistungen gerechtfertigt wäre. Worin diese zusätzlichen
BGE 104 Ia 22 S. 26
Aufwendungen bestanden, hat die Beschwerdeführerin im kantonalen Verfahren nicht dargelegt. Sie hat sich vielmehr damit begnügt, auf
BGE 101 Ia 3
ff. zu verweisen. Da indessen die dort dargelegten Grundsätze, wie ausgeführt, zu ergänzen sind, erscheint der Entscheid des Verwaltungsgerichtes, einen Pauschalabzug unter dem Titel "Generalunternehmerhonorar" nicht zuzulassen, als zum mindesten vertretbar und verstösst demgemäss nicht gegen
Art. 4 BV
.
b) In der staatsrechtlichen Beschwerde erwähnt die Beschwerdeführerin zur Stützung ihres Anspruchs auf ein Generalunternehmerhonorar erstmals bestimmte Arbeitsgattungen wie private Quartierplanung, diverse Bewilligungsverfahren, insbesondere Herausnahme des Baugrundstücks aus der landwirtschaftlichen Zone, und den Verkauf der Wohnungen. Diese Behauptungen sind neu und daher im Beschwerdeverfahren wegen Willkür nicht zu beachten (
BGE 100 Ia 113
E. 2b mit Hinweisen). Sie wären übrigens zu unbestimmt, um den Steuerbehörden einen Entscheid darüber zu ermöglichen, ob die genannten Arbeiten im Lichte der vorstehenden Ausführungen als wertvermehrende oder notwendige, nicht bereits unter anderen Positionen berücksichtigte Aufwendungen zusätzlich anzurechnen seien. | de |
20ad1a8b-ecc3-4638-8cbf-0c2cab413a23 | Erwägungen
ab Seite 382
BGE 129 V 381 S. 382
Aus den Erwägungen:
3.
3.1
3.2
Das am 1. Januar 1995 in Kraft getretene Bundesgesetz über die Freizügigkeit in der beruflichen Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge vom 17. Dezember 1993 (Freizügigkeitsgesetz, FZG) findet auf alle Vorsorgeverhältnisse Anwendung, in denen eine Vorsorgeeinrichtung des privaten oder des öffentlichen Rechts aufgrund ihrer Vorschriften (Reglement) bei Erreichen der Altersgrenze, bei Tod oder bei Invalidität (Vorsorgefall) einen Anspruch auf Leistungen gewährt (
Art. 1 Abs. 2 FZG
). In
Art. 2 Abs. 1 FZG
ist vorgesehen, dass Versicherte, welche die Vorsorgeeinrichtung verlassen, bevor ein Vorsorgefall eintritt (Freizügigkeitsfall), Anspruch auf eine Austrittsleistung haben. Treten Versicherte in eine neue Vorsorgeeinrichtung ein, hat die frühere Vorsorgeeinrichtung die Austrittsleistung an die neue zu überweisen (
Art. 3 Abs. 1 FZG
). Versicherte, die nicht in eine neue Vorsorgeeinrichtung eintreten, haben ihrer Vorsorgeeinrichtung mitzuteilen, in welcher zulässigen Form sie ihren Vorsorgeschutz erhalten wollen (
Art. 4 Abs. 1 FZG
), wobei die Vorsorgeeinrichtung bei Ausbleiben dieser Mitteilung spätestens zwei Jahre nach dem Freizügigkeitsfall die Austrittsleistung samt Verzugszins der Auffangeinrichtung zu überweisen hat (
Art. 4 Abs. 2 FZG
).
In Ziff. 13.2 der "Weiteren Bestimmungen" der beschwerdegegnerischen Vorsorgeeinrichtung wird ausgeführt, dass der Anspruch auf eine Austrittsleistung entfällt, wenn der Versicherte das 60. Altersjahr erreicht hat und er sich deshalb laut diesem Reglement vorzeitig pensionieren lassen kann; es besteht - nach unmissverständlicher, klarer und daher für den Versicherten verbindlicher (SZS 1999 S. 376 ff. Erw. 3a und b mit Hinweisen) reglementarischer Aussage - in jedem Fall nur Anspruch auf die Leistungen bei Pensionierung.
4.
4.1
Nach der vor Inkrafttreten des FZG ergangenen Rechtsprechung (
BGE 120 V 306
) ist bei denjenigen Vorsorgeeinrichtungen, welche die Möglichkeit einer vorzeitigen Pensionierung vorsehen, unter Eintritt des Versicherungsfalls Alter nicht das Erreichen der gesetzlichen Altersgrenze nach
Art. 13 Abs. 1 BVG
, sondern das Erreichen der reglementarischen Altersgrenze für eine vorzeitige Pensionierung zu verstehen. Dementsprechend kann die im Verhältnis zu den Altersleistungen subsidiäre Austrittsleistung nicht mehr
BGE 129 V 381 S. 383
beansprucht werden, wenn die Kündigung des Arbeitsvertrages in einem Alter erfolgt, in welchem bereits ein Anspruch auf Altersleistungen besteht - und sei es auch im Sinne einer vorzeitigen Pensionierung. Die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu einem Zeitpunkt, in welchem die reglementarischen Voraussetzungen für eine vorzeitige Pensionierung erfüllt sind, führt demnach zur Entstehung des Anspruches auf die im Reglement vorgesehenen Altersleistungen, dies ungeachtet der Absicht des Versicherten, anderweitig erwerbstätig zu sein. Trotz der in der Literatur geäusserten Kritik (THOMAS KOLLER, Vorzeitige Pensionierung und Anspruch auf Freizügigkeitsleistung: Bemerkungen zu einem eigenartigen Spannungsverhältnis, in: AJP 1995 S. 497 ff., insbes. S. 499 f.; vgl. auch ROLAND A. MÜLLER, Die vorzeitige Pensionierung - Möglichkeiten und Grenzen im Lichte verschiedener Sozialversicherungszweige, in: SZS 1997 S. 348; ERIKA SCHNYDER, La retraite anticipée dans le deuxième pilier, in: SPV 1996 S. 98 Fn. 4) hielt das Gericht an dieser Rechtsprechung fest (SZS 1998 S. 126; nicht veröffentlichtes Urteil G. vom 31. Dezember 1996, B 18/94).
4.2
Ob diese Grundsätze auch unter der Herrschaft des FZG gelten, hat das Eidgenössische Versicherungsgericht wiederholt offen gelassen (in plädoyer 2002/6 S. 67 teilweise veröffentlichtes Urteil S. vom 24. Juni 2002, B 38/00; Urteil A. vom 2. Dezember 2002, B 81/01). Im Urteil S. vom 24. Juni 2002, B 38/00, erkannte es, dass bei Vorsorgereglementen, welche die Ausrichtung einer vorzeitigen Altersrente von der Ausübung einer entsprechenden Willenserklärung des Versicherten abhängig machen, der - den Anspruch auf eine Austrittsleistung ausschliessende (
Art. 2 Abs. 1 FZG
) - Vorsorgefall Alter nicht in jedem Fall eintritt, wenn das Arbeits- oder Dienstverhältnis zu einem Zeitpunkt aufgelöst wird, in welchem der Versicherte das reglementarische Rentenalter für eine vorzeitige Pensionierung bereits erreicht hat, sondern nur dann, wenn der Versicherte von der ihm in den Statuten eingeräumten Möglichkeit, die Ausrichtung einer vorzeitigen Altersrente zu verlangen, Gebrauch macht.
Da nach den reglementarischen Bestimmungen der Beschwerdegegnerin die Ausrichtung einer vorzeitigen Altersrente nicht allein von einer Willenserklärung des Versicherten abhängig ist, sondern diese sowohl vom Versicherten als auch von der Gesellschaft verlangt werden kann (Ziff. 3.1 Vorsorgeplan) und somit eine vorzeitige Pensionierung selbst gegen den Willen des Versicherten möglich ist (vgl. dazu auch Ziff. 13.2 "Weitere Bestimmungen"), ist die
BGE 129 V 381 S. 384
Frage, ob an
BGE 120 V 306
unter dem Geltungsbereich des FZG festgehalten werden kann, nunmehr zu entscheiden.
4.3
Nach Auffassung des Bundesamtes für Sozialversicherung (BSV) ist die Frage zu verneinen, weil damit der mit dem FZG angestrebte Zweck, dem Versicherten bei einem Stellenwechsel den Weiteraufbau der beruflichen Vorsorge zu ermöglichen, vereitelt werde. Zur Erläuterung der mit einer allfälligen Weitergeltung der bisherigen Rechtsprechung verbundenen, mit dem FZG im Widerspruch stehenden Nachteile verweist das BSV auf die Darstellung in Erw. 4b des Urteils S. vom 24. Juni 2002, B 38/00 (niedrigerer Umwandlungssatz im Sinne von
Art. 13 Abs. 2 BVG
; Möglichkeit gesundheitlicher Vorbehalte im überobligatorischen Bereich; Verunmöglichung des Weiteraufbaus der Vorsorge etc.). Im Weitern bringt es vor, dass diese Lösung für den Versicherten auch in steuerrechtlicher Hinsicht negative Auswirkungen hätte. Es vertritt den Standpunkt, dass die Reglementsbestimmung der Pensionskasse für das Personal der Winterthur Gesellschaften, gemäss welcher gegen den Willen des Arbeitnehmers der Vorbezug einer gekürzten Altersleistung ausgelöst werden könne, was die Überweisung der Austrittsleistung an die Vorsorgeeinrichtung, bei welcher der Versicherte neu obligatorisch versichert sei, ausschliesse, ungünstiger als die gesetzlichen Vorgaben und damit aufgrund von
Art. 6 BVG
unzulässig sei.
Die Pensionskasse für das Personal der Winterthur Gesellschaften macht geltend, dass die zu beurteilende Reglementsbestimmung im Einklang mit der bundesgerichtlichen Rechtsprechung stehe, derzufolge insbesondere nicht entscheidend sei, ob sich die versicherte Person tatsächlich in den Ruhestand begebe oder weiterarbeite. Etwas anderes lasse sich auch der jüngsten Rechtsprechung gemäss Urteil S. vom 24. Juni 2002, B 38/00, nicht entnehmen. Selbst wenn das Gericht zum Schluss kommen sollte, dass dieses Urteil zu einer Praxisänderung betreffend den Eintritt des Versicherungsfalles führte, habe sie im Lichte der bisherigen Rechtsprechung sowie mit Blick auf das Kreisschreiben Nr. 22 der Eidgenössischen Steuerverwaltung vom 4. Mai 1995 gutgläubig auf die Gesetzeskonformität ihres Reglementes vertrauen und im Schreiben vom 24. Mai 1996 den Anspruch auf eine Altersrente bestätigen dürfen.
Der zum Verfahren beigeladene R. schloss sich in seiner ersten Stellungnahme den Überlegungen des BSV an und legte in einer weiteren Eingabe im Wesentlichen dar, inwiefern ihm aus dem Verhalten der Beschwerdegegnerin ein Schaden entstanden sei.
BGE 129 V 381 S. 385
4.4
Nach dem in allen drei sprachlichen Fassungen übereinstimmenden Wortlaut von
Art. 2 Abs. 1 FZG
haben Versicherte, welche die Vorsorgeeinrichtung verlassen, bevor ein Vorsorgefall eintritt (Freizügigkeitsfall) (französisch: "avant la survenance d'un cas de prévoyance [cas de libre passage]"; italienisch: "prima che insorga un caso di previdenza [caso di libero passaggio]"), Anspruch auf eine Austrittsleistung. Dass unter dem Eintritt des Vorsorgefalles (nebst Invalidität und Tod, welche hier nicht weiter interessieren) das Erreichen der Altersgrenze nach den reglementarischen Bestimmungen der Vorsorgeeinrichtung zu verstehen ist, ergibt sich aus
Art. 1 Abs. 2 FZG
, wonach das Gesetz anwendbar ist "auf alle Vorsorgeverhältnisse, in denen eine Vorsorgeeinrichtung [...] aufgrund ihrer Vorschriften (Reglement) bei Erreichen der Altersgrenze, bei Tod oder Invalidität (Vorsorgefall) einen Anspruch auf Leistungen gewährt" (französisch: "où une institution de prévoyance [...] accorde, sur la base de ses prescriptions [règlement], un droit à des prestations lors de l'atteinte de la limite d'âge [...] [cas de prévoyance]"; italienisch: "un istituto di previdenza [...] accorda, sulla base delle sue prescrizioni [regolamento], un diritto alle prestazioni al raggiungimento del limite d'età [...] [caso di previdenza]"). Nach dem klaren Wortlaut des Gesetzes (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit
Art. 1 Abs. 2 FZG
) besteht demnach nur Anspruch auf eine Austrittsleistung, wenn ein Versicherter die Vorsorgeeinrichtung verlässt, bevor er das reglementarische Rentenalter erreicht hat. Von diesem klaren Wortlaut darf indessen ausnahmsweise abgewichen werden, wenn triftige Gründe für die Annahme vorliegen, dass der Wortlaut nicht den wahren Sinn der Bestimmung wiedergibt. Solche Gründe, welche entstehungsgeschichtlicher, teleologischer oder systematischer Natur sein können (vgl.
BGE 128 V 24
Erw. 3a,
BGE 127 V 5
Erw. 4a, 92 Erw. 1d, 198 Erw. 2c, je mit Hinweisen), liegen nicht vor. Namentlich lassen sich der bundesrätlichen Botschaft zu einem Bundesgesetz über die Freizügigkeit in der beruflichen Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge vom 26. Februar 1992 (BBl 1992 III 533ff., insbes. S. 570 ff.) keine entsprechenden Ausführungen entnehmen. Soweit sich das BSV auf den allgemeinen Sinn und Zweck des Gesetzes stützt, dem Versicherten zu ermöglichen, bei einem Stellenwechsel den Vorsorgeschutz, den er bei der alten Vorsorgeeinrichtung aufgebaut hat, aufrechtzuerhalten (BBl 1992 III 570), ist dieser zu unbestimmt, um ein Abweichen vom klaren Wortlaut des Gesetzes zu rechtfertigen.
BGE 129 V 381 S. 386
4.5
Was schliesslich die weiter zu prüfenden Voraussetzungen für eine Gesetzeskorrektur mittels Lückenfüllung anbelangt, ist vom Grundsatz auszugehen, dass der Richter rechtspolitische Mängel oder unechte Lücken des geltenden Rechts im Allgemeinen hinzunehmen hat und ihm nur zusteht, sie regelbildend zu schliessen, wo der Gesetzgeber sich offenkundig über gewisse Tatsachen geirrt hat oder wo sich die Verhältnisse seit Erlass des Gesetzes in einem Masse gewandelt haben, dass eine weitere Anwendung als rechtsmissbräuchlich erschiene (
BGE 127 V 41
Erw. 4b/cc,
BGE 125 V 12
Erw. 3,
BGE 124 V 164
Erw. 4c und 275 Erw. 2a,
BGE 122 V 98
Erw. 5c und 329 Erw. 4 in fine, je mit Hinweisen; MEYER-BLASER, Die Bedeutung von Art. 4 Bundesverfassung für das Sozialversicherungsrecht, in: ZSR NF 111 [1992] II S. 342 f.). Von solch extremen Fällen krass ungerechter Auswirkungen einer gesetzlichen Regelung abgesehen, gibt es für den Richter keine Möglichkeit, unbefriedigendes Recht zu berichtigen (vgl. auch GYGI, Vom Anfang und Ende der Rechtsfindung, in: recht 1983 S. 80 f.).
Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass der Fall des vorliegend betroffenen Versicherten insofern speziell liegt, als er von Zufälligkeitsmomenten geprägt ist. Diese bestehen darin, dass die Vorsorgeeinrichtung der neuen Arbeitgeberin eine aus einer Fusion hervorgegangene Kasse ist, der es wegen der Fusion möglich war, in einem bestimmten Zeitpunkt ihre aktiven Mitglieder nach Massgabe der je individuell angesammelten Kapitalien an freien Stiftungsmitteln zu beteiligen. Ein Vergleich der beiden Leistungsstatus, nur unter Berücksichtigung der nicht mitgegebenen Austrittsleistung, zeigt, dass der weitaus grösste Teil der finanziellen Einbusse, die der Versicherte erfährt, aus diesem spezifischen, zufälligen Umstand herrührt, der bei einer neuen Vorsorgeeinrichtung normalerweise nicht gegeben ist.
Zu berücksichtigen ist sodann, dass ein Festhalten an der Praxis gemäss
BGE 120 V 306
unter dem Geltungsbereich des FZG sich auch zum Vorteil der Züger auswirken kann. Dies ist der Fall, wenn ein Versicherter mit der Austrittsleistung der vormaligen Vorsorgeeinrichtung sich zwar nach Massgabe der Art. 9, 10, 12 und 13 FZG eine Eintrittsleistung bei der neuen Vorsorgeeinrichtung finanzieren kann, deren darauf künftig festzusetzende reglementarischen Leistungen im Altersrentenfall aber tiefer sind als jene der vormaligen Vorsorgeeinrichtung.
Diese Gesichtspunkte in Verbindung mit der Komplexität des Regelungsgegenstandes verbieten ein richterliches Eingreifen. Da,
BGE 129 V 381 S. 387
je nach Ausgangslage, verschiedene Möglichkeiten gesetzlicher Gestaltung in Betracht fallen, beschränkt sich das Gericht auf den Hinweis an den Gesetzgeber, dass die geltende Ordnung nicht für alle Fälle zu befriedigenden Ergebnissen führt (vgl. in diesem Sinne zur richterlichen Zurückhaltung:
BGE 117 V 318
ff. Erw. 6a und b).
4.6
Demnach muss es bei der Feststellung sein Bewenden haben, dass an der Rechtsprechung gemäss
BGE 120 V 306
auch unter dem Geltungsbereich des FZG festzuhalten ist (für den Fall, dass das Vorsorgereglement die vorzeitige Pensionierung von einer entsprechenden Willenserklärung des Versicherten abhängig macht: in Erw. 4.2 hievor erwähntes Urteil S. vom 24. Juni 2002, B 38/00). Von einer Gesetzwidrigkeit der mit dieser Praxis im Einklang stehenden reglementarischen Bestimmungen der Beschwerdegegnerin kann unter diesen Umständen nicht die Rede sein. Dass die Pensionskasse für das Personal der Winterthur Gesellschaften dem Versicherten nach dessen Ausscheiden eine Altersrente ausgerichtet und nicht eine Austrittsleistung an die neue Vorsorgeeinrichtung überwiesen hat, ist bei dieser Sachlage nicht zu beanstanden. | de |
b649ce67-4737-4ca4-8b2e-5d405bb6a70f | Sachverhalt
ab Seite 16
BGE 120 V 15 S. 16
A.-
Der 1952 geborene W. arbeitete als Concierge bei der T. SA und war bei der Pensionskasse Eternit berufsvorsorgerechtlich versichert. Am 28. März 1989 kündigte er das Arbeitsverhältnis auf den 31. Mai 1989. Die T. SA bestätigte am 29. März 1989 die Kündigung auf den 31. Mai 1989 und setzte den Dienstaustritt unter Berücksichtigung eines anteilsmässigen Ferienanspruchs von 8,5 Tagen auf den 19. Mai 1989, 14.00 Uhr fest.
Am 5. April 1989 wurde W. von der Firma M. als Concierge angestellt. Im Anstellungsschreiben wurde der Stellenantritt auf den 22. Mai 1989 festgesetzt und der Anschluss an die Migros-Pensionskasse bestätigt. Am 31. Mai 1989 starb W. und hinterliess seine Ehefrau und zwei Kinder.
Die Migros-Pensionskasse zahlte der Witwe M. das versicherte Todesfallkapital von Fr. 98'800.-- aus und sprach ihr eine Witwenrente von Fr. 931.-- sowie zwei Waisenrenten von je Fr. 352.-- im Monat zu (Schreiben vom 16. August 1989 und 5. Februar 1990). Bereits am 26. Juli 1989 war die Migros-Pensionskasse an die Pensionskasse Eternit gelangt mit der Feststellung, dass W. am Todestag bei beiden Kassen versichert gewesen sei und sich die Pensionskasse Eternit mit der Erbringung der Freizügigkeitsleistung nicht von der Pflicht zur Ausrichtung der reglementarisch versicherten Renten befreien könne. Im Sinne einer vergleichsweisen Regelung schlug die Migros-Pensionskasse vor, dass diejenige Kasse, welche gemäss Reglement die höheren Leistungen vorsehe, die vollen Leistungen erbringe, und die andere Kasse dieser Mittel für die anteilsmässige Gewährung der BVG-Leistungen und der sich deckenden überobligatorischen Leistungen zur Verfügung stelle. Die Pensionskasse Eternit lehnte diesen Vorschlag am 29. November 1989 ab und beharrte darauf, dass sie ihren Verpflichtungen mit der Überweisung der
BGE 120 V 15 S. 17
Freizügigkeitsleistung von Fr. 34'427.65 vollumfänglich nachgekommen sei.
B.-
Am 23. Oktober 1990 klagte die Migros-Pensionskasse beim Verwaltungsgericht des Kantons Glarus auf Feststellung, dass die Pensionskasse Eternit zu Vorsorgeleistungen gegenüber den Hinterbliebenen des W. verpflichtet sei; eventuell sei die Pensionskasse Eternit zur Zahlung eines Betrages von Fr. 180'000.-- (unter Anrechnung der bereits erbrachten Freizügigkeitsleistung) an die Migros-Pensionskasse zur Mitfinanzierung der laufenden Witwen- und Waisenrenten zu verpflichten.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Glarus gelangte im wesentlichen zum Schluss, dass das Arbeitsverhältnis mit der T. SA in gegenseitigem Einvernehmen vorzeitig auf den 19. Mai 1989 aufgelöst worden sei, in welchem Zeitpunkt auch die Versicherungspflicht geendet habe. Bis zum Antritt der neuen Stelle am 22. Mai 1989 sei W. gemäss
Art. 10 Abs. 3 BVG
noch bei der Pensionskasse Eternit versichert gewesen, anschliessend allein bei der Migros-Pensionskasse. Die Pensionskasse Eternit habe daher lediglich die Freizügigkeitsleistung zu erbringen und sei nicht zur Ausrichtung von Hinterlassenenleistungen in Zusammenhang mit dem am 31. Mai 1989 eingetretenen Versicherungsfall verpflichtet (Entscheid vom 9. April 1991).
C.-
Die Migros-Pensionskasse erhebt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit den Rechtsbegehren, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben und es sei festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen der T. SA und W. und damit auch das Versicherungsverhältnis mit der Pensionskasse Eternit bis und mit 31. Mai 1989 bestanden habe und diese die gesetzlichen und reglementarischen Leistungen an die Hinterbliebenen zu erbringen habe; des weitern sei das erstinstanzliche Eventualbegehren als angemessene Lösung zu bezeichnen und es sei die Pensionskasse Eternit zur Zahlung einer Einmalsumme von Fr. 180'000.-- (unter Anrechnung der bereits erbrachten Freizügigkeitsleistung) zu verpflichten; alles unter Kosten- und Entschädigungsfolge zu Lasten der Beschwerdegegnerin.
Die Pensionskasse Eternit lässt sich mit dem Antrag auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vernehmen. Das Bundesamt für Sozialversicherung äussert sich zur Sache, enthält sich jedoch eines Rechtsbegehrens. Die als Mitinteressierte beigeladene M. hat sich nicht vernehmen lassen. Auf die Rechtsschriften wird, soweit erforderlich, in den Erwägungen eingegangen.
BGE 120 V 15 S. 18
Erwägungen
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
a) Gemäss
Art. 73 BVG
bezeichnet jeder Kanton als letzte kantonale Instanz ein Gericht, das über die Streitigkeiten zwischen Vorsorgeeinrichtungen, Arbeitgebern und Anspruchsberechtigten entscheidet (Abs. 1). Die Entscheide der kantonalen Gerichte können auf dem Wege der Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Eidg. Versicherungsgericht angefochten werden (Abs. 4).
Art. 73 BVG
findet auf den obligatorischen, vor-, unter- und überobligatorischen Bereich registrierter privat- und öffentlichrechtlicher Vorsorgeeinrichtungen Anwendung, ferner auf nichtregistrierte Personalvorsorgestiftungen. Dabei ist ohne Belang, ob sich die fraglichen Ansprüche aus privatem oder öffentlichem Recht ergeben. Voraussetzung für den Rechtsweg nach
Art. 73 Abs. 1 und 4 BVG
bildet jedoch, dass die zwischen dem Versicherten resp. Anspruchsberechtigten und der Vorsorgeeinrichtung bestehende Streitigkeit die berufliche Vorsorge im engeren oder weiteren Sinn betrifft. In zeitlicher Hinsicht ist der Geltungsbereich von
Art. 73 BVG
auf die Beurteilung von Streitigkeiten beschränkt, in welchen der Versicherungsfall nicht vor dem 1. Januar 1985 eingetreten oder die in Frage stehende Forderung bzw. Verpflichtung nicht vor dem Inkrafttreten des neuen Rechts entstanden ist; der Umstand, dass in einem solchen Fall Sachverhalte aus der Zeit vor und nach dem 1. Januar 1985 zu beurteilen sind, ändert an der BVG-Rechtspflegezuständigkeit nichts (
BGE 117 V 50
Erw. 1 und 341 Erw. 1b,
BGE 116 V 220
Erw. 1a mit Hinweisen auf Lehre und Rechtsprechung).
Die Frage der richtigen Behandlung der Eintretensvoraussetzungen durch die Vorinstanz, insbesondere die Zuständigkeit nach
Art. 73 Abs. 1 BVG
unter sachlichem und zeitlichem Gesichtspunkt, prüft das Eidg. Versicherungsgericht von Amtes wegen (
BGE 116 V 202
Erw. 1a).
b) Im vorliegenden Verfahren geht es nicht um eine Streitigkeit zwischen Vorsorgeeinrichtung und Anspruchsberechtigtem. Die sachliche Zuständigkeit der Rechtspflegeorgane nach
Art. 73 BVG
ist indessen auch dann zu bejahen, wenn - wie hier - zwei Vorsorgeeinrichtungen am Recht stehen und der Streit ein konkretes Vorsorgeverhältnis zum Gegenstand hat (vgl. RIEMER, Das Recht der beruflichen Vorsorge in der Schweiz, S. 127; WALSER, Aktuelle Probleme im Hinblick auf den Vollzug des BVG, SZS, 32 (1988), S. 295).
BGE 120 V 15 S. 19
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde betrifft insofern nicht unmittelbar den Anspruch auf Vorsorgeleistungen, als die Beschwerdeführerin ihre Leistungspflicht nicht generell bestreitet und die gesetzlichen und reglementarischen Leistungen bisher vollumfänglich ausgerichtet hat. Sie verlangt indessen eine angemessene Mitbeteiligung der Beschwerdegegnerin an den von ihr erbrachten und weiterhin zu erbringenden Hinterlassenenleistungen. Die Streitigkeit hat damit ein konkretes Vorsorgeverhältnis zum Gegenstand, weshalb sie in die sachliche Zuständigkeit des BVG-Richters nach
Art. 73 BVG
fällt. Da es sich bei den beteiligten Pensionskassen um registrierte Vorsorgeeinrichtungen gemäss
Art. 48 BVG
handelt und die Zuständigkeit nach
Art. 73 Abs. 1 und 4 BVG
auch in zeitlicher Hinsicht besteht, ist auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde einzutreten.
2.
a) Nach
Art. 10 BVG
beginnt die obligatorische Versicherung mit dem Antritt des Arbeitsverhältnisses (Abs. 1). Die Versicherungspflicht endet, wenn der Anspruch auf eine Altersleistung entsteht, das Arbeitsverhältnis aufgelöst oder der Mindestlohn unterschritten wird (Abs. 2). Für die Risiken Tod und Invalidität bleibt der Arbeitnehmer während 30 Tagen nach Auflösung des Arbeitsverhältnisses bei der bisherigen Vorsorgeeinrichtung versichert; beginnt er vorher ein neues Arbeitsverhältnis, so ist die neue Vorsorgeeinrichtung zuständig (Abs. 3).
Im Rahmen der obligatorischen Vorsorge beginnt die Versicherung an dem Tag, an dem der Arbeitnehmer aufgrund der Anstellung die Arbeit antritt oder hätte antreten sollen, in jedem Fall aber im Zeitpunkt, da er sich auf den Weg zur Arbeit begibt (
Art. 6 BVV 2
). Im Bereich der weitergehenden Vorsorge ist zu unterscheiden, ob es sich um ein privatrechtliches Arbeitsverhältnis oder um ein öffentlichrechtliches Dienstverhältnis handelt. Im ersten Fall beginnt das Versicherungsverhältnis im Zeitpunkt, in welchem sich der Arbeitnehmer dem Reglement oder den Statuten der Vorsorgeeinrichtung ausdrücklich oder konkludent (beispielsweise durch widerspruchslose Entgegennahme des Reglementes, Bezahlung der Beiträge oder Hinnahme der entsprechenden Lohnabzüge) unterzieht. Im zweiten Fall erfolgt der Beitritt zur Versicherung in der Regel von Gesetzes wegen mit Beginn des Dienstverhältnisses nach den anwendbaren Bestimmungen des Bundes, des Kantons oder der Gemeinde (Urteil P. vom 9. Februar 1989 Erw. 3d, veröffentlicht in SZS, 34 (1990), S. 95 f.; vgl. auch
BGE 112 II 245
ff. sowie RIEMER, a.a.O., S. 103). Wo die weitergehende Vorsorge vertraglicher Natur ist, muss der Beginn des Versicherungsschutzes nicht notwendigerweise mit dem
BGE 120 V 15 S. 20
Beginn des Versicherungsverhältnisses übereinstimmen; massgebend ist der von den Parteien vereinbarte bzw. durch das Reglement oder die Statuten bestimmte Zeitpunkt (BEROS, Die Stellung des Arbeitnehmers im BVG - Obligatorium und freiwillige berufliche Vorsorge, Diss. Zürich, S. 29; vgl. auch MAURER, Schweizerisches Sozialversicherungsrecht, Band I, S. 260).
Das Versicherungsverhältnis endet u.a. mit der Auflösung des Arbeitsverhältnisses. Dies gilt nicht nur in der obligatorischen Versicherung (
Art. 10 Abs. 2 BVG
), sondern auch im Rahmen der weitergehenden Vorsorge (BGE
BGE 115 V 33
Erw. 5). Dabei kommt es praxisgemäss darauf an, ob und wann das Arbeitsverhältnis rechtlich aufgehört hat zu existieren; nicht massgeblich ist die effektive Arbeitsausübung oder -niederlegung (
BGE 118 V 39
Erw. 2a; vgl. auch BEROS, a.a.O., S. 16). Entscheidend ist somit die Beendigung des Arbeitsverhältnisses nach den zivilrechtlichen Regeln gemäss
Art. 334 ff. OR
mit der Folge, dass das Versicherungsverhältnis in der Regel bei Ablauf der gesetzlichen oder vertraglichen Kündigungsfrist endet. Unerheblich ist, ob der tatsächliche Dienstaustritt schon früher erfolgt ist (
BGE 115 V 34
Erw. 5 in fine). Das Versicherungsverhältnis bleibt insbesondere auch bestehen, wenn der Arbeitnehmer während der Kündigungsfrist noch Ferien bezieht (BRÜHWILER, Die betriebliche Personalvorsorge in der Schweiz, S. 507 N. 72). Anderseits wird die Dauer des Versicherungsverhältnisses nicht dadurch erstreckt, dass der Arbeitnehmer nach Ablauf der Kündigungsfrist Entschädigungen für nicht bezogene Ferientage erhält (
Art. 329d Abs. 2 OR
e contrario; nicht veröffentlichtes Urteil S. vom 25. März 1993; MOSER, Die zweite Säule und ihre Tragfähigkeit, Diss. Basel 1992, S. 47). Vorbehalten bleibt die Nachversicherung gemäss
Art. 10 Abs. 3 BVG
.
b) W. hat das Arbeitsverhältnis mit der T. SA am 29. März 1989 auf den 31. Mai 1989 gekündigt. Effektiv arbeitete er bis 19. Mai 1989 für diese Firma und bezog in der Folge die ihm noch zustehenden Ferientage. Bereits am 22. Mai 1989 trat er eine neue Stelle bei der Firma M. an.
Die Vorinstanz erwog, dass bei fortbestehendem Arbeitsvertrag die Ausübung einer bezahlten Erwerbstätigkeit bei einem Dritten wohl als vertragswidrig zu würdigen sei, dass die T. SA an der Durchsetzung des Vertrages aber kein Interesse mehr gehabt habe. Dadurch, dass der Arbeitsplatz am 19. Mai 1989 geräumt worden sei, habe auch der Arbeitgeber zu erkennen gegeben, dass das Arbeitsverhältnis abgeschlossen sei. Insbesondere habe er nicht erwartet,
BGE 120 V 15 S. 21
dass der Arbeitnehmer seine Arbeitskraft weiterhin zur Verfügung stelle. Unter diesen Umständen sei davon auszugehen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen W. und der T. SA im gegenseitigen Einverständnis vorzeitig auf den 19. Mai 1989 aufgelöst worden sei. Dementsprechend habe auch die Versicherungspflicht an diesem Datum geendet.
Ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen das Versicherungsverhältnis vor Ablauf der Kündigungsfrist endet, wenn der Arbeitsvertrag im gegenseitigen Einverständnis vorzeitig aufgelöst wird, kann offenbleiben. Denn die Annahme der Vorinstanz, dass der Arbeitsvertrag einvernehmlich auf den 19. Mai 1989 aufgelöst worden sei, findet in den Akten keine Stütze. Die T. SA hat W. am 25. Mai 1989, und damit nach dem Stellenantritt bei der Firma M., den vollen Lohn für den Monat Mai 1989 ausbezahlt, und es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die Firma anlässlich des Dienstaustritts von W. vom unmittelbar bevorstehenden Antritt der neuen Stelle bei der Firma M. Kenntnis hatte. Im übrigen beruft sich auch die beschwerdeführende Migros-Pensionskasse nicht darauf, dass das Arbeitsverhältnis vorzeitig aufgelöst worden sei. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz ist daher davon auszugehen, dass das Arbeitsverhältnis bei der T. SA und damit auch das Versicherungsverhältnis bei der Pensionskasse Eternit bis zum 31. Mai 1989 gedauert haben.
Anderseits steht fest, dass W. bereits am 22. Mai 1989 ein neues Arbeitsverhältnis eingegangen ist. Auch wenn das frühere Arbeitsverhältnis noch andauerte, war der neue Arbeitsvertrag unter obligationenrechtlichen Gesichtspunkten nicht ungültig (vgl. TERCIER, La partie spéciale du Code des obligations, S. 221 N. 1718). Des weitern ist unbestritten, dass W. nach Gesetz (
Art. 10 Abs. 1 BVG
und
Art. 6 BVV 2
) und Reglement (Art. 7 des Reglementes der Migros-Pensionskasse, Ausgabe 15. Januar 1985) mit Beginn des Arbeitsverhältnisses, d.h. ab 22. Mai 1989, bei der Firma M. versichert war. Bei Eintritt des Versicherungsfalls am 31. Mai 1989 waren somit die Voraussetzungen der Versicherung von W. bei beiden Vorsorgeeinrichtungen erfüllt. Streitig und im folgenden zu prüfen ist, welche Rechtsfolgen sich hieraus für die Leistungspflicht der beteiligten Pensionskassen ergeben.
3.
a) Gemäss
Art. 34 Abs. 2 Satz 1 BVG
erlässt der Bundesrat Vorschriften zur Verhinderung ungerechtfertigter Vorteile des Versicherten oder seiner Hinterlassenen beim Zusammentreffen mehrerer Leistungen. Der Bundesrat ist diesem Auftrag nachgekommen und hat mit
Art. 24 ff. BVV 2
nähere
BGE 120 V 15 S. 22
Bestimmungen betreffend die "Überentschädigung und Koordination mit anderen Sozialversicherungen" erlassen. Nach
Art. 24 Abs. 1 BVV 2
kann die Vorsorgeeinrichtung die Hinterlassenen- und Invalidenleistungen kürzen, soweit sie zusammen mit anderen anrechenbaren Einkünften 90% des mutmasslich entgangenen Verdienstes übersteigen.
Die genannten Bestimmungen regeln die Kürzung der von einer Vorsorgeeinrichtung zusammen mit andern Einkünften der Anspruchsberechtigten zu erbringenden Leistungen sowie die Koordination der berufsvorsorgerechtlichen Leistungen mit Leistungen anderer Sozialversicherungsträger. Sie regeln dagegen nicht die Konkurrenz von Leistungen mehrerer Einrichtungen der beruflichen Vorsorge untereinander.
Art. 24 BVV 2
bildet demzufolge keine Rechtsgrundlage für den Entscheid im vorliegenden Fall.
b) Nach Auffassung des Bundesamtes für Sozialversicherung ist für den Fall, dass bei Eintritt des versicherten Risikos zwei Arbeitsverhältnisse bestanden haben,
Art. 46 Abs. 2 BVG
in Verbindung mit
Art. 1 Abs. 1 lit. c und Abs. 4 BVV 2
anwendbar. Nach diesen Bestimmungen ist der Arbeitnehmer für eine nebenberufliche Erwerbstätigkeit dem Versicherungsobligatorium nicht unterstellt, wenn er im Hauptberuf entweder bereits obligatorisch versichert oder selbständigerwerbend ist; er kann sich hiefür jedoch freiwillig versichern lassen (
Art. 1 Abs. 4 BVV 2
). W. war aber weder bei der Beschwerdeführerin noch bei der Beschwerdegegnerin für eine nebenberufliche Tätigkeit versichert, weshalb für die Frage der Leistungspflicht nicht darauf abgestellt werden kann, welche Tätigkeit als Haupt- und welche als Nebenbeschäftigung zu gelten hat.
Die Bestimmung von
Art. 46 BVG
regelt die Versicherung von Arbeitnehmern, die als Teilzeitbeschäftigte im Dienste mehrerer Arbeitgeber stehen (vgl. Botschaft des Bundesrates zum BVG vom 19. Dezember 1975, Separatausgabe, S. 105). Sie hat insofern keine echte Doppelversicherung zum Gegenstand, als der vorsorgerechtlich relevante Lohn nur einmal versichert wird. Im vorliegenden Fall geht es dagegen insofern um eine doppelte Versicherung, als W. in der Zeit, als er noch einen Lohnanspruch gegenüber dem früheren Arbeitgeber hatte, vom neuen Arbeitgeber den vollen Lohn bezog und grundsätzlich für beide Bezüge berufsvorsorgerechtlich versichert war. Weil es sich vorsorgerechtlich um den gleichen Lohn für die funktionell gleiche hauptberufliche Tätigkeit handelt, liegt eine echte Doppelversicherung vor, wie sie dann gegeben ist, wenn der Versicherte für das gleiche Risiko bei
BGE 120 V 15 S. 23
verschiedenen Versicherungsträgern versichert ist (MAURER, Schweizerisches Sozialversicherungsrecht, Band I, S. 201 f.; vgl. auch
Art. 53 Abs. 1 VVG
sowie MAURER, Einführung in das schweizerische Privatversicherungsrecht, 2. Aufl. 1986, S. 383 ff.). Es ist vorab somit zu prüfen, ob das BVG echte Doppelversicherungen zulässt.
4.
a) Die berufliche Vorsorge gemäss BVG soll den Betagten, Hinterlassenen und Invaliden zusammen mit den Leistungen der AHV/IV die Fortsetzung der gewohnten Lebenshaltung in angemessener Weise ermöglichen (
Art. 34quater BV
). Im Hinblick auf dieses Leistungsziel erklärt das Gesetz die berufliche Vorsorge innerhalb bestimmter Grenzen für obligatorisch (
Art. 8 BVG
) und umschreibt die von den registrierten Vorsorgeeinrichtungen zu erbringenden Mindestleistungen (
Art. 13 ff. BVG
).
Mit dem Verfassungsauftrag und der gesetzlichen Ordnung des BVG als obligatorische Mindestversicherung lassen sich echte Doppelversicherungen nicht vereinbaren. Würden solche zugelassen, so hätte der Versicherte für das gleiche Risiko zweimal Beiträge zu bezahlen und hätte grundsätzlich auch einen doppelten Leistungsanspruch, was im Hinblick auf das Überversicherungsverbot (
Art. 24 BVV 2
) regelmässig zu Leistungskürzungen Anlass geben würde. Zudem bedürfte es besonderer Regeln bezüglich der Leistungspflicht der beteiligten Vorsorgeeinrichtungen in solchen Fällen. Das BVG enthält indessen keine Normen über die anteilsmässige Leistungspflicht von zwei Vorsorgeeinrichtungen; auch fehlen gesetzliche Bestimmungen über den Rückgriff zwischen mehreren Vorsorgeeinrichtungen. Solche ergeben sich insbesondere aus
Art. 23 BVG
und der zugehörigen Rechtsprechung nicht, wonach die Vorsorgeeinrichtung für den zu einer andern Einrichtung übergetretenen Versicherten leistungspflichtig bleibt, wenn die Arbeitsunfähigkeit, die zur späteren Invalidität geführt hat, während der Zeit aufgetreten ist, als der Arbeitnehmer bei ihr versichert war (
BGE 118 V 35
, 95, 158, 239). Anderseits hat der Gesetzgeber mit
Art. 10 Abs. 3 BVG
eine Regelung getroffen, mit welcher nicht nur Lücken in der Versicherungsdeckung vermieden, sondern auch Doppelversicherungen ausgeschlossen werden sollen (vgl. MAURER, Bundessozialversicherungsrecht, S. 203).
Auch wenn die Gesetzesmaterialien zur Frage der Doppelversicherung nichts aussagen, lassen Verfassungsauftrag und gesetzliche Regelung auf ein qualifiziertes Schweigen des Gesetzgebers in dem Sinne schliessen, dass echte Doppelversicherungen ausgeschlossen sind. Das gleiche ergibt sich aus Sinn und Zweck des Gesetzes.
BGE 120 V 15 S. 24
b) Die Beschwerdeführerin räumt ein, dass das BVG echte Doppelversicherungen nicht vorsieht. Sie vertritt dagegen die Auffassung, dass solche auch nicht ausdrücklich verboten seien. Soweit sie damit geltend machen will, eine (umhüllende) Vorsorgeeinrichtung könne im Reglement oder in den Statuten echte Doppelversicherungen vorsehen, kann die Frage offenbleiben. Weder die Beschwerdeführerin noch die Beschwerdegegnerin haben in diesem Punkt eine vom BVG abweichende Regelung getroffen. Die streitige Frage ist daher allein nach dem BVG zu entscheiden, was nach dem Gesagten zum Schluss führt, dass eine echte Doppelversicherung nicht zulässig ist.
5.
Schliesst das BVG echte Doppelversicherungen aus, so bleibt zu entscheiden, in welchem Zeitpunkt im vorliegenden Fall der Übertritt von der bisherigen in die neue Vorsorgeeinrichtung erfolgt ist.
a)
Art. 10 BVG
regelt den Beginn und das Ende der Versicherung und damit indirekt auch den Zeitpunkt des Übertritts von einer Vorsorgeeinrichtung zu einer andern bei Abschluss eines neuen Arbeitsverhältnisses. Dabei ist nach dem Gesagten auf die arbeitsvertraglichen Regeln des Zivilrechts abzustellen. Diese Praxis, an welcher festzuhalten ist, dient nicht nur der Rechtssicherheit, sondern ist im allgemeinen auch sachgerecht und verhindert Versicherungslücken. Das Abstellen auf den Arbeitsvertrag kann allerdings zu Doppelversicherungen führen, die sich mit dem Gesetz nicht vereinbaren lassen. Es kann in diesen Fällen daher nicht allein auf die Regeln des Arbeitsvertragsrechts abgestellt werden; vielmehr ist die Frage unmittelbar aufgrund von vorsorgerechtlichen Überlegungen zu entscheiden.
b) Für den Übergang der Versicherung von der ursprünglichen zur neuen Vorsorgeeinrichtung gibt es zwei Lösungsmöglichkeiten: Es kann auf den Beginn des neuen (22. Mai 1989) oder auf das rechtliche Ende des alten Arbeitsverhältnisses (31. Mai 1989) abgestellt werden. Während sich für ein Aufschieben des Versicherungsbeginns im Sinne der zweiten Variante im Gesetz keine Parallele finden lässt, kann bezüglich der ersten Variante auf
Art. 10 Abs. 3 BVG
verwiesen werden. Nach dieser Bestimmung bleibt der Arbeitnehmer für die Risiken Tod und Invalidität während 30 Tagen nach Auflösung des Arbeitsverhältnisses bei der bisherigen Vorsorgeeinrichtung versichert (Satz 1); beginnt er vorher ein neues Arbeitsverhältnis, so ist die neue Vorsorgeeinrichtung zuständig (Satz 2). Die Bestimmung von
Art. 10 Abs. 3 Satz 2 BVG
hat zwar allein die Nachversicherung bei Auflösung des
BGE 120 V 15 S. 25
Arbeitsverhältnisses zum Gegenstand und findet im Rahmen von
Art. 10 Abs. 2 BVG
, welcher das Ende der obligatorischen Versicherung regelt, grundsätzlich keine Anwendung. Auch geht es im Rahmen von
Art. 10 Abs. 3 BVG
um die Vermeidung von Versicherungslücken, wogegen hier die Frage einer Doppelversicherung zur Diskussion steht. Dennoch rechtfertigt es sich, Satz 2 von
Art. 10 Abs. 3 BVG
auf Fälle der vorliegenden Art analog anzuwenden, weil diese Lösung im Einklang mit den Regeln über den Beginn des Versicherungsverhältnisses (
Art. 10 Abs. 1 BVG
) steht - welche schon aus Gründen der Rechtssicherheit streng zu handhaben sind - und sie gleichzeitig den tatsächlichen Verhältnissen Rechnung trägt, indem das Versicherungsverhältnis am effektiv bestehenden Arbeitsverhältnis anknüpft. Dem Umstand, dass zivilrechtlich zwei Arbeitsverhältnisse nebeneinander bestehen können, vorsorgerechtlich eine (echte) Doppelversicherung jedoch ausgeschlossen ist, ist somit in der Weise Rechnung zu tragen, dass in Fällen der vorliegenden Art auf den Beginn des nachfolgenden Arbeitsverhältnisses abgestellt wird. Demnach entfällt die bisherige und beginnt die neue Versicherung mit dem Antritt der neuen Stelle, wenn der Arbeitnehmer vor Beendigung des bisherigen Arbeitsverhältnisses eine neue Stelle antritt und es sich nicht um den Fall einer unechten Doppelversicherung (
Art. 46 BVG
) handelt. Insoweit ist vom Grundsatz abzugehen, dass die rechtliche und nicht die tatsächliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses für die Dauer des Versicherungsschutzes ausschlaggebend ist (
BGE 115 V 33
Erw. 5).
6.
a) Das Arbeitsverhältnis zwischen W. und der T. SA endete mit Ablauf der Kündigungsfrist am 31. Mai 1989. Weil er mit der Firma M. jedoch vorzeitig einen anderen Arbeitsvertrag abgeschlossen und die Stelle bereits am 22. Mai 1989 angetreten hat, endete das Vorsorgeverhältnis bei der Pensionskasse Eternit nach dem Gesagten mit dem Antritt der neuen Stelle und dem Beginn der Versicherung bei der Migros-Pensionskasse. Dementsprechend war W. bei Eintritt des Versicherungsfalls am 31. Mai 1989 allein bei der Migros-Pensionskasse versichert, welche die gesetzlichen und reglementarischen Leistungen zu erbringen hat.
b) An diesem Ergebnis vermag der Einwand der Beschwerdeführerin nichts zu ändern, wonach es gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstosse, wenn sie die gesamten Leistungen allein zu erbringen habe, nachdem W. bei der Pensionskasse Eternit während langer, bei ihr aber nur während sehr kurzer Zeit versichert gewesen sei. Wie bereits die Vorinstanz festgestellt hat,
BGE 120 V 15 S. 26
liegt es im Wesen einer Risikoversicherung, dass Leistungen im einen Fall schon nach kurzer Zeit, im andern Fall erst später oder überhaupt nie zu erbringen sind. Tritt das Risiko im Einzelfall sehr früh ein, so kann dies auch von einer Vorsorgeeinrichtung, welche ein früheres Versicherungsverhältnis ersetzt, nicht als unbillig betrachtet werden. Im übrigen hat die Beschwerdeführerin von der Pensionskasse Eternit unbestrittenermassen die Freizügigkeitsleistung überwiesen erhalten. Dem Beschwerdebegehren kann daher auch unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben nicht entsprochen werden.
7.
(Kostenpunkt) | de |
1a0f3e19-177d-42eb-b968-f368bece35f0 | Sachverhalt
ab Seite 196
BGE 146 IV 196 S. 196
A.
Infolge eines Verkehrsunfalls erklärte die Staatsanwaltschaft Baden A. am 22. Mai 2019 mittels Strafbefehl der einfachen Verletzung der Verkehrsregeln schuldig und bestrafte sie mit einer Busse von Fr. 300.-. Gleichzeitig auferlegte sie ihr die Verfahrenskosten von insgesamt Fr. 710.-, bestehend aus einer "Strafbefehlsgebühr" von Fr. 400.- und "Polizeikosten" von Fr. 310.-. Am 28. August 2019 erhob A. Einsprache gegen den Strafbefehl, wobei sie diese auf den Kostenpunkt beschränkte.
B.
Das Bezirksgericht Baden stellte am 23. Juli 2019 fest, dass der Strafbefehl hinsichtlich Schuldspruch und Strafe in Rechtskraft erwachsen war und befand, dass die "Polizeikosten" in der Höhe von Fr. 310.- nicht geschuldet seien. Entsprechend reduzierte es die Kosten für den Strafbefehl auf insgesamt Fr. 400.-.
C.
Auf Beschwerde der Oberstaatsanwaltschaft hob das Obergericht des Kantons Aargau die Verfügung des Bezirksgerichts am 7. November 2019 auf und wies die Einsprache gegen den Strafbefehl ab.
D.
A. führt Beschwerde in Strafsachen. Sie beantragt, der Entscheid des Obergerichts sei aufzuheben und die Kosten für den Strafbefehl seien bei Fr. 400.- zu belassen. Erwägungen
BGE 146 IV 196 S. 197
Aus den Erwägungen:
2.
2.1
Die Beschwerdeführerin rügt, das Äquivalenzprinzip sei verletzt worden. Sie sei mit einer Busse von Fr. 300.- bestraft worden. Die Strafandrohung für den Tatbestand von
Art. 90 Abs. 1 SVG
laute auf Busse von Fr. 1.- bis Fr. 10'000.-. Im ordentlichen Verfahren sollte eine Busse nicht niedriger als die höchste Ordnungsbusse sein, weshalb der Strafrahmen zwischen Fr. 300.- und Fr. 10'000.- liege. Dieses Spektrum sei mit dem Gebührenrahmen für das Strafbefehlsverfahren gemäss § 15 Abs. 1 des Dekrets über die Verfahrenskosten vom 24. November 1987 (VKD/AG; SAR 221.150) in Beziehung zu setzen. Anhand der ausgesprochenen Strafe sei eine Gebühr von Fr. 710.- übermässig.
2.2
2.2.1
Gerichtskosten sind Kausalabgaben, weshalb sie dem Kostendeckungs- und Äquivalenzprinzip genügen müssen. Das Kostendeckungsprinzip besagt, dass der Gebührenertrag die gesamten Kosten des betreffenden Verwaltungszweigs nicht oder nur geringfügig übersteigen soll. Das Äquivalenzprinzip konkretisiert das Verhältnismässigkeitsprinzip (
Art. 5 Abs. 2 BV
) und das Willkürverbot (
Art. 9 BV
) für den Bereich der Kausalabgaben. Es bestimmt, dass eine Gebühr nicht in einem offensichtlichen Missverhältnis zum objektiven Wert der Leistung stehen darf und sich in vernünftigen Grenzen halten muss. Der Wert der Leistung bemisst sich nach dem wirtschaftlichen Nutzen, den sie dem Pflichtigen bringt, oder nach dem Kostenaufwand der konkreten Inanspruchnahme im Verhältnis zum gesamten Aufwand des betreffenden Verwaltungszweigs, wobei schematische, auf Wahrscheinlichkeit und Durchschnittserfahrungen beruhende Massstäbe angelegt werden dürfen. Es ist nicht notwendig, dass die Gebühren in jedem Fall genau dem Verwaltungsaufwand entsprechen; sie sollen indessen nach sachlich vertretbaren Kriterien bemessen sein und nicht Unterscheidungen treffen, für die keine vernünftigen Gründe ersichtlich sind. Bei der Festsetzung von Verwaltungsgebühren darf deshalb innerhalb eines gewissen Rahmens auch der wirtschaftlichen Situation des Pflichtigen und dessen Interesse am abzugeltenden Akt Rechnung getragen werden. Die Gebühr darf im Übrigen die Inanspruchnahme bestimmter staatlicher Leistungen nicht verunmöglichen oder übermässig erschweren. Bei der Festsetzung der Gerichtsgebühr verfügt das Gericht über einen grossen
BGE 146 IV 196 S. 198
Ermessensspielraum. Das Bundesgericht greift in diesen nicht bereits dann ein, wenn sich die Gebühr als unangemessen erweist, sondern nur, wenn das Ermessen über- bzw. unterschritten oder missbraucht und damit Bundesrecht verletzt wird (
BGE 141 I 105
E. 3.3.2 mit Hinweisen).
2.2.2
In einem vereinzelten und nicht publizierten Entscheid, auf welchen sich die Beschwerdeführerin beruft, hat das Bundesgericht zusammengefasst erwogen, die Strafbefehlsgebühr bei Geschwindigkeitsüberschreitungen sei in Anwendung des aargauischen Verfahrenskostendekrets anhand der ausgesprochenen Sanktion zu bestimmen. Es hat dabei unter anderem festgehalten, es sei zulässig, wenn sich eine Strafbefehlsgebühr einerseits am erfahrungsgemäss zeitlichen Aufwand orientiere, andererseits aber die Bedeutung des Verfahrens auch unter dem Gesichtspunkt des verhängten Strafmasses im Blick behalte. Im Rahmen einer primär aufwandorientierten Betrachtung könnten unverhältnismässig hohe oder tiefe Gebühren einzelfallweise verhindert werden, wenn das Strafmass als korrektives Bemessungskriterium herangezogen werde. Das Strafmass werde dort gar zum Leitkriterium, wo gleichartige Verstösse ungeachtet unterschiedlicher Schweregrade jeweils standardisiert, ohne Rücksicht auf die konkreten Umstände und mit mehr oder weniger gleichem Aufwand, untersucht und bearbeitet werden. Dies treffe auf den Bereich der Geschwindigkeitsüberschreitungen ausgesprochen zu (Urteil 6B_253/2019 vom 1. Juli 2019 E. 3.6-3.8). In der Lehre wird dieser Entscheid dahingehend kritisiert, dass das strafrechtliche Verschulden allein für die Strafzumessung von Bedeutung ist und sich die Gebühren nach dem Kostendeckungs- und Äquivalenzprinzip richten. Sinn und Zweck der Verfahrenskosten im Strafprozess sei die Abgeltung behördlichen Aufwands, nicht die zusätzliche Bestrafung für ein strafrechtliches Unrecht (NIKLAUS OBERHOLZER, Grundzüge des Strafprozessrechts, 4. Aufl. 2020, Rz. 2245; STEFAN MEICHSSNER, forum poenale 2020 S. 195 ff.).
Die Gebühren im Sinne von
Art. 422 Abs. 1 StPO
dienen ausschliesslich der Deckung des Aufwands im konkreten Straffall. Die Berücksichtigung der Höhe der Sanktion - und damit des Verschuldens - führt zwangsläufig zu einer zusätzlichen Bestrafung, was unzulässig ist und dem Zweck der Gebührenerhebung widerspricht. Am Entscheid 6B_253/2019 vom 1. Juli 2019 kann deshalb nicht festgehalten werden. Ob allenfalls das Verschulden als Höchstgrenze
BGE 146 IV 196 S. 199
berücksichtigt werden darf, um Gebühren zu vermeiden, die in keinem Verhältnis zur Schwere der Straftat stehen (in diesem Sinne NIKLAUS OBERHOLZER, Gerichts- und Parteikosten im Strafprozess, in: Gerichtskosten, Parteikosten, Prozesskaution, unentgeltliche Prozessführung, Christian Schöbi [Hrsg.], 2001, S. 35), kann offenbleiben, zumal zwischen dem strafbaren Verhalten der Beschwerdeführerin und der Höhe der Gebühren im vorliegenden Fall kein offensichtliches Missverhältnis besteht. Die Rüge, die Gebühr habe sich an der Sanktion zu orientieren, erweist sich damit als unbegründet. | de |
4367690c-2375-487f-8b69-4cf3e391f0ef | Sachverhalt
ab Seite 232
BGE 103 Ib 232 S. 232
Mit Eingabe vom 5. Juni 1975 ersuchte die Gourmesa Gourmet Menu S.A. das Eidg. Gesundheitsamt (EGA) um die
BGE 103 Ib 232 S. 233
Bestätigung, dass sie das in Deutschland hergestellte Produkt "Süssli" in der Schweiz vertreiben dürfe. Sie führte aus, das Erzeugnis bestehe zu 99,8% aus Saccharose (Zucker) und zu 0,2% aus Saccharin. Bei seiner Herstellung werde durch ein Instantverfahren das Volumen des Zuckers auf das Doppelte vergrössert. Anschliessend werde Süssstoff (Saccharin) zugesetzt, bis die Süsswirkung des Produktes wieder der Süsswirkung des entsprechenden Volumens reinen Zuckers entspreche. Es handle sich um ein diätetisches Lebensmittel im Sinne von
Art. 180 Abs. 3 lit. b LMV
.
Auf der in Deutschland verwendeten Packung ist der Marke "Süssli" die Sachbezeichnung "Spezialzucker mit 0,2% Süssstoff" beigefügt. Ein weiterer Schriftbalken besagt: "50% weniger Kalorien bei gleicher Süsskraft wie Normalzucker (1 Löffel Süssli süsst wie 1 Löffel Normal-Zucker)". Auf einer Seitenwand der Packung steht: "Süssli süsst mit halb soviel Kalorien wie Normal-Zucker. Deshalb: Süssli für gesundes Schlanksein. Süssli vermindert die Zufuhr von Kohlenhydraten durch den Gehalt von kalorienfreiem Süssstoff."
Das EGA lehnte das Gesuch am 11. Juni 1975 ab mit der Begründung: In der Lebensmittelgesetzgebung gelte das Reinhalteprinzip. Saccharose sei in
Art. 232 LMV
beschrieben. Dort sei der Zusatz eines künstlichen Süssstoffes nicht erwähnt; er sei daher unzulässig (
Art. 9 LMV
). Anders wäre auch dann nicht zu entscheiden, wenn das Produkt in die diätetischen Lebensmittel einzureihen wäre.
Auf Beschwerde der Gourmesa hin nahm das EGA die Verfügung vom 11. Juni 1975 zurück. Im Einverständnis mit der Beschwerdeführerin unterbreitete es der wissenschaftlichen Subkommission der Eidg. Ernährungskommission (EEK) die Frage, ob "Süssli" als diätetisches Lebensmittel betrachtet werden könne. Die Subkommission verneinte dies.
Daraufhin lehnte das EGA am 30. Juni 1976 das Gesuch der Gourmesa erneut ab. Die Beschwerde der Gesuchstellerin gegen diese Verfügung wurde vom Eidg. Departement des Innern abgewiesen. Die Gourmesa ficht den Entscheid des Departements mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde an. Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Die Beschwerdeführerin hat sich selber, mit ihrem Gesuch vom 5. Juni 1975, an das EGA gewandt und von ihm
BGE 103 Ib 232 S. 234
für den Fall der Ablehnung des Begehrens eine beschwerdefähige Verfügung verlangt. Sie hat sich auf das Verfahren vor dem EGA eingelassen und der von diesem angeordneten Beweismassnahme nicht nur zugestimmt, sondern auch beigewohnt. Sie hat erst im Beschwerdeverfahren, in dem sie den späteren Entscheid des EGA angefochten hat, dessen Zuständigkeit zum Erlass einer ablehnenden Verfügung bestritten. Man kann sich fragen, ob ihr nachträglicher Einwand nicht als rechtsmissbräuchlich zu verwerfen sei (vgl. IMBODEN/RHINOW, Schweiz. Verwaltungsrechtsprechung, 5. Aufl., S. 478 f.). Allerdings ist nach
Art. 7 Abs. 2 VwVG
die Begründung einer Zuständigkeit durch Einverständnis zwischen Behörde und Partei zwingend ausgeschlossen. Die Beschwerdeführerin hat indessen nicht nur selber das EGA angerufen und damit ihr Einverständnis mit dessen Zuständigkeit zu erkennen gegeben, sondern auch sich vorbehaltlos auf das Verfahren vor ihm eingelassen und darin mitgewirkt. Ob ein Missbrauch vorliege, kann jedoch offenbleiben, wenn die sachliche Zuständigkeit des EGA zu bejahen ist.
2.
Gemäss
Art. 56 Abs. 1 LMG
liegt die Ausführung dieses Gesetzes und der bundesrätlichen Erlasse, mit Ausnahme der Grenzkontrolle, den Kantonen ob. Die Anwendung der Lebensmittelgesetzgebung ist demnach in der Regel primär Sache der kantonalen Instanzen. Die Lebensmittelverordnung weist dem EGA nur in einigen Fällen Verfügungskompetenzen zu (
BGE 97 I 855
). Gerade für diätetische Lebensmittel bestimmt sie aber, dass Anpreisungen, welche deren besondere Zweckbestimmung und Wirkung hervorheben, der Bewilligung durch das EGA bedürfen (Art. 19 Abs. 3, Art. 182 Abs. 3). Solche Anpreisungen stehen auf der von der Beschwerdeführerin vorgelegten Packung, die in Deutschland verwendet wird. Die Beschwerdeführerin möchte die Frage, welche Hinweise oder Anpreisungen sie anbringen dürfe, von derjenigen trennen, ob es sich um ein zulässiges Diäterzeugnis handle, diese Frage also als Grundsatzfrage vorwegnehmen. Eine solche Aufspaltung ist aber praktisch kaum durchführbar. Da es zahlreiche Arten von Diätprodukten für die verschiedensten Ernährungsbedürfnisse gibt, erscheint eine Spezifikation in jedem Einzelfall unerlässlich und können die beiden Fragen regelmässig nicht unabhängig voneinander beurteilt werden. Aber selbst dann, wenn man davon ausginge, dass die Vorfrage, ob das
BGE 103 Ib 232 S. 235
Produkt als diätetisches Lebensmittel anzuerkennen und zuzulassen sei, abgetrennt werden könnte, wäre das EGA als zuständig zu erachten, sie zu beurteilen, weil zwischen ihr und der Frage, welche Hinweise oder Anpreisungen zulässig seien, ein enger Zusammenhang besteht (vgl.
BGE 91 I 56
). Der Einwand der Beschwerdeführerin, der Entscheid des EDI sei schon deswegen zu beanstanden, weil das EGA seine Zuständigkeit überschritten habe, ist mithin unbegründet.
3.
Es fragt sich vorab, ob Zucker, Spezialzucker oder künstliche Süssstoffe überhaupt unter die diätetischen Lebensmittel fallen. Unter solchen Lebensmitteln versteht man im allgemeinen Sprachgebrauch Nahrungsmittel und Getränke, nicht einzelne ihrer Bestandteile. Diese Auffassung liegt auch der Regelung in der Lebensmittelverordnung zugrunde. Darauf deutet zunächst einmal die allgemeine Umschreibung des Geltungsbereiches der Verordnung hin:
Art. 2 Ziff. 2 lit. a LMV
zählt unter dem Titel "Spezialnahrungsmittel" als Beispiele "diätetischer Nährmittel" vorab zubereitete oder auf einfache Weise zubereitbare Erzeugnisse auf (Kindernährmehle, Kraftnahrungsmittel, Malzextrakt, Spezialbrote), nur in letzter Linie Trockenhefe und Hefeextrakte, die als Zusätze oder zur Ergänzung der Nahrung bestimmt sind. Die eigentliche Umschreibung des Begriffs der diätetischen Lebensmittel ist indessen im Abschnitt 17 der Lebensmittelverordnung enthalten.
Art. 180 Abs. 1 LMV
bestimmt im ersten Satz:
"Unter 'diätetischen Lebensmitteln' versteht man Lebensmittel, die dazu bestimmt sind, aufgrund ihrer Zusammensetzung den besonderen Ernährungsbedürfnissen eines Menschen zu entsprechen, der eine von der herkömmlichen Art etwas abweichende Kost benötigt oder bei dem durch eine gerichtete Ernährung eine besondere Wirkung erzielt werden soll." Die Ausdrücke "abweichende Kost" und "gerichtete Ernährung" lassen darauf schliessen, dass man unter diätetischen Lebensmitteln in erster Linie, wenn nicht ausschliesslich, gebrauchsfertige Nahrungsmittel oder Getränke zu verstehen hat. Als gebrauchsfertig hätten sie auch dann noch zu gelten, wenn sie beispielsweise unter Beifügung von Wasser oder Milch (Kindernährmittel) zuvor zu kochen oder aufzuwärmen wären. Eine weitere Bestätigung findet sich in
Art. 180 Abs. 3 LMV
, wonach unter die diätetischen Lebensmittel insbesondere Säuglings- und Kindernährmittel, Lebensmittel
BGE 103 Ib 232 S. 236
für besondere Kostformen (z.B. Kost für Diabetiker, für alte Leute, für natriumarme oder kalorienarme Ernährung), Kraftnährmittel und diätetische Frühstücksgetränke fallen. Den gleichen Schluss legt ferner die Bestimmung im Abschnitt über die diätetischen Lebensmittel nahe, die verlangt, dass "die Art der verwendeten Bestandteile" auf Packungen und in Prospekten übersichtlich, in einer bei der Bewilligung des Textes zu bestimmenden Reihenfolge anzugeben ist (
Art. 181 Abs. 1 LMV
).
Eine Ernährung aus blossem Zucker, Spezialzucker oder in Form von Süssstoffen wird man vernünftigerweise von vornherein nicht in Betracht ziehen und jedenfalls nicht als Diätkost verstehen. Eine Auslegung, die völlig an den Lebensgewohnheiten vorbeiginge, kann nicht zutreffen. Ein Spezialzucker mit geringfügigem Saccharinzusatz kann demnach für sich allein nicht als diätetisches Nahrungsmittel gelten, ob nun der Kaloriengehalt auf das Gewicht oder auf das Volumen bezogen wird.
Diese Auslegung wird durch
Art. 180 Abs. 1 Satz 2 LMV
gestützt, wonach die diätetischen Lebensmittel sich von anderen Lebensmitteln vergleichbarer Art durch ihre Zusammensetzung oder ihre Eigenschaften wesentlich unterscheiden müssen. Dieser Bestimmung wird jedenfalls der Spezialzucker, den die Beschwerdeführerin vertreiben möchte, nicht gerecht. Er besteht nach ihren eigenen Angaben zu 99,8% aus Saccharose, also aus Zucker. Der gewöhnliche Zucker muss nach
Art. 232 LMV
ebenfalls mindestens 98% Saccharose enthalten. Der Spezialzucker "Süssli" unterscheidet sich also von ihm in der Zusammensetzung hinsichtlich des wichtigsten Bestandteils nicht wesentlich.
Aus diesen Erwägungen ergibt sich, dass das Gemisch "Süssli" nicht als diätetisches Lebensmittel in Verkehr gebracht werden darf.
4.
Der Inverkehrsetzung dieses Produktes stehen aber noch andere Gründe entgegen. Jedes Lebensmittel muss eine Sachbezeichnung tragen (
Art. 13 LMV
), die selbstverständlich nicht täuschend sein darf. Für ein Erzeugnis mit 99,8% Saccharose müsste die Sachbezeichnung den Ausdruck Zucker enthalten. "Süssli" wird denn auch auf der in Deutschland verwendeten Packung als "Spezialzucker" bezeichnet. Die Inverkehrsetzung des Produktes als Zucker ist indessen nach
BGE 103 Ib 232 S. 237
der Lebensmittelverordnung gerade ausgeschlossen. Es enthält noch 0,2% Saccharin. Dieser Zusatz bedeutet eine fremde Beimischung im Sinne des
Art. 9 LMV
, da Saccharin nicht schon natürlicherweise im Zucker oder in den Zuckerrohstoffen enthalten ist. Nach
Art. 9 Abs. 1 LMV
dürfen fremde Beimischungen zur Herstellung oder Behandlung von Lebensmitteln nicht verwendet werden, sofern diese Verordnung es nicht ausdrücklich erlaubt. In den besonderen Bestimmungen über den Zucker (
Art. 232 ff. LMV
) findet sich jedoch keine Vorschrift, welche ausdrücklich gestatten würde, dass dem Zucker ein künstlicher Süssstoff wie Saccharin beigemischt wird.
In dieser Beziehung gilt also das in
Art. 9 LMV
ausgesprochene Reinhalteprinzip. Es bedeutet, dass die Lebensmittel in der Regel ohne Veränderung ihrer natürlichen Beschaffenheit in Verkehr gebracht werden sollen, damit der Konsument gegen Täuschung über die Echtheit und Reinheit der gekauften Ware geschützt wird (vgl. BURCKHARDT, Komm. der BV, 3. Aufl. S. 620 f.;
BGE 94 IV 109
ff.).
5.
Die Beschwerdeführerin macht geltend, keiner der Zwecke der Lebensmittelgesetzgebung - Schutz der Gesundheit, Verhütung von Täuschung - stehe der Zulassung des Produktes "Süssli" entgegen.
Wesentlich ist, ob ein Lebensmittel mit den Vorschriften der Lebensmittelverordnung nach richtiger Auslegung im Einklang steht oder nicht und dass diese Vorschriften selbst geeignet sind, dem Gesetzeszweck zu dienen (
BGE 99 Ib 380
, 389 E. 3,
BGE 98 IV 135
). Eine Gefährdung des geschützten Gutes muss nicht in jedem Einzelfall dargetan sein (
BGE 100 Ib 98
f.; ANDREAS JOST, Die neueste Entwicklung des Polizeibegriffs im schweizerischen Recht, Diss. Bern 1975, S. 81).
Übrigens lässt sich im vorliegenden Fall eine Gefährdung nicht mit Grund bestreiten. Im Verkehr mit diätetischen Lebensmitteln bedürfen die Konsumenten des Schutzes gegen Täuschung in besonderem Mass (
BGE 98 IV 136
). Wohl enthält ein bestimmtes Volumen des Produktes "Süssli" 50% weniger Kalorien als das gleiche Volumen reinen Zuckers; bezogen auf die Gewichtsbemessung, die bei der Zubereitung von Speisen üblich ist, macht aber die Kalorienverminderung bloss 0,2% aus. Die Gefahr einer Irreführung des Konsumenten
BGE 103 Ib 232 S. 238
liegt deshalb auf der Hand. Dort, wo der Zucker als Zusatz zu Speisen und Getränken dient, wäre die Verwendung des Gemisches "Süssli" geeignet, den Konsumenten zu der irrigen Vorstellung zu verleiten, dass er sich allein schon deswegen kalorienarm ernähre. Diese Einschätzung wäre nicht einmal begründet, wenn die Süssung nach Volumen erfolgt, und schon gar nicht, wenn für die Zubereitung der Speisen - wie üblich in den Rezepten - das Gewicht massgebend ist. Die Gefahr einer Irreführung der Konsumenten bestände erst recht dann, wenn das Produkt nicht als Zusatz zu Speisen oder Getränken, sondern als Nahrungsmittel für sich verwendet würde.
6.
Der Vorhalt der Verletzung der Handels- und Gewerbefreiheit hat hier keine selbständige Bedeutung. Es wird behauptet, die Ablehnungsverfügung ermangle der gesetzlichen Grundlage; es fehle an einer klaren und unzweideutigen Grundlage in der LMV. Damit wird geltend gemacht, dass die Nichtzulassung des Spezialzuckers nicht durch die Vorschriften der Verordnung gedeckt sei, also auf unrichtiger Anwendung dieser Vorschriften beruhe. Das trifft nach den vorstehenden Ausführungen nicht zu. Die Anforderung der klaren und unzweideutigen Grundlage, auf die sich die Beschwerdeführerin bezieht, betrifft die Frage, in welchem Umfang das Bundesgericht auf staatsrechtliche Beschwerde hin kantonale Eingriffe in die Freiheitsrechte zu überprüfen hat (vgl. z.B.
BGE 101 Ia 219
). Sie spielt bei der Beurteilung einer Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen eine bundesrechtliche Gewerbebeschränkung keine Rolle. Es war nur zu prüfen, ob die Beschränkung bei richtiger Auslegung durch die in Betracht fallenden Bestimmungen der Lebensmittelverordnung gedeckt ist.
Wenn mit der in diesem Punkt unklaren Beschwerde überdies gerügt sein sollte, dass die massgebenden Bestimmungen der Lebensmittelverordnung selbst nicht gesetzmässig seien oder der Handels- und Gewerbefreiheit widersprächen, so fehlt es an Ausführungen, die eine Prüfung nach dieser Richtung angezeigt erscheinen lassen könnten. Es besteht kein Anlass, von Amtes wegen eine solche Prüfung vorzunehmen.
7.
Die Beschwerdeführerin macht auch geltend, der Grundsatz der Verhältnismässigkeit sei verletzt, weil mit erläuternden Hinweisen jede Gefahr einer Täuschung oder Verwirrung
BGE 103 Ib 232 S. 239
vermieden werden könnte. Sie setzt sich damit vorab mit ihrem eigenen Standpunkt in Widerspruch, wonach im vorliegenden Verfahren nur zu prüfen sei, ob man es mit einem diätetischen Lebensmittel zu tun habe, nicht auch, ob der Begleittext zu bewilligen sei. Im übrigen verhält es sich hier ähnlich wie mit der Gefahrenverwirklichung (E. 5 hiervor): Massgebend ist, ob die Vorschriften selbst verhältnismässig sind. Die mit dem verbindlichen Sinn übereinstimmende Auslegung und Rechtsanwendung darf nicht im Einzelfall unter Berufung auf das Prinzip der Verhältnismässigkeit unterbleiben (JOST a.a.O. S. 91). Die Lebensmittelgesetzgebung hat vielfach zu entscheiden, ob man es mit einer Deklaration statt einem Verbot bewenden lassen könnte (gerade z.B. hinsichtlich der Beimischung). Die strengere Auffassung muss sich oftmals deswegen durchsetzen, weil erfahrungsgemäss der Durchschnittskonsument bei der üblichen Sorgfalt Hinweise übersehen oder fehldeuten kann. Das kann sich besonders bei der Präsentation eines Produktes ereignen, das in bezug auf die Kalorienbelastung je nachdem, ob man von der üblichen Gewichtsbemessung oder von der aussergewöhnlichen Volumenbemessung ausgeht, ganz verschieden eingeschätzt werden kann.
8.
Der Vorwurf der Verletzung der Rechtsgleichheit hält nicht Stich. Er wäre nur begründet, wenn in Ansehung einer bestimmten Vorschrift Sachverhalte, die sich im wesentlichen gleichen, unterschiedlich behandelt würden oder die in der Verordnung getroffene Regelung selbst mit dem Grundsatz der Rechtsgleichheit in Widerspruch stände. Anscheinend wird nur das erste geltend gemacht, jedoch ohne triftigen Grund.
Das Erzeugnis "Sionon", auf dessen Zulassung die Beschwerdeführerin hinweist, ist zu 99,89% aus dem Zuckerersatz Sorbit (vgl.
Art. 183 Abs. 3 LMV
in der Fassung vom 11. Februar 1970) und zu 0,11% aus Saccharin zusammengesetzt. Dies wird im angefochtenen Entscheid festgestellt und ist nicht bestritten. Das Erzeugnis ist mithin nicht aus Zucker und künstlichem Süssstoff zusammengesetzt und wird ebensowenig als kalorienarmer Zucker, sondern als für Diabetiker bestimmter Zuckeraustauschstoff im Verkehr gebracht. Der Sorbit ist in der Lebensmittelverordnung nicht definiert. Er ist den künstlichen Süssstoffen gleichgestellt
BGE 103 Ib 232 S. 240
(
Art. 183 Abs. 3 LMV
), deren Mischung gestattet ist (
Art. 238 Abs. 3 LMV
). Das Reinhalteprinzip steht somit der Zulassung des Produktes "Sionon" nicht entgegen. Aus diesen Gründen kann von einer unterschiedlichen Behandlung zweier im wesentlichen gleicher Sachverhalte keine Rede sein, so dass die Gleichbehandlung nicht begehrt werden kann. Daher braucht nicht geprüft zu werden, ob die Voraussetzungen eines Anspruches auf "unrechtsgleiche" Behandlung im Sinne der Rechtsprechung (
BGE 99 Ib 384
) gegeben wären. Übrigens trifft die Darstellung der Beschwerdeführerin, dass auf der Packung für "Sionon" eine Kalorienreduktion in bezug auf das Volumen angegeben sei, nicht zu; vielmehr wird dort gesagt: 100 g = 400 Kalorien.
9.
Unbegründet ist auch der Vorhalt der Verweigerung des rechtlichen Gehörs. Der Beizug der wissenschaftlichen Subkommission der EEK ist üblich und für Sachfragen angezeigt (vgl.
BGE 100 Ib 300
), ganz abgesehen davon, dass die Beschwerdeführerin ihm förmlich zugestimmt und den Verhandlungen der Subkommission mit zwei Vertretern beigewohnt hat. Es kann deshalb nicht grundsätzlich beanstandet werden, dass die Vorinstanz auf den Befund dieser Kommission abgestellt hat, wenn sie eine solche Begutachtung als notwendig erachtete. Das ist im Regelfalle der Sinn der Befragung von Sachverständigen. Darin kann jedenfalls keine Verweigerung des rechtlichen Gehörs erblickt werden. Es ist eine materiell-rechtliche Frage und keine Frage des rechtlichen Gehörs, ob der Sachverständigenbefund von der urteilenden Instanz ganz oder teilweise übernommen und der Entscheidung zugrunde gelegt werden kann. Die Beschwerdeführerin hat sich im übrigen gegenüber der Vorinstanz zu der Auffassung der wissenschaftlichen Subkommission der EEK äussern können. Sie hat damals keine neue Expertise beantragt.
Der Einwand ist vor allem aber auch deswegen zu verwerfen, weil aus den vorstehenden Erwägungen hervorgeht, dass die Beschwerdesache ohne Rückgriff auf die Meinung der Sachverständigen aufgrund der anerkannten Zusammensetzung des Produktes "Süssli" und der Auslegung der massgebenden Vorschriften beurteilt werden kann. | de |
3d72a014-12c3-44b2-8f72-406ec9445b43 | Sachverhalt
ab Seite 121
BGE 110 Ib 121 S. 121
Der Beschwerdeführer X. betreibt seit 1962 ein Hotel in M. (Kanton Y.). Seine Ehefrau kaufte im Jahre 1963 eine Hotelliegenschaft mit verschiedenen Nebengebäuden und weiteren Grundstücken in S. (Kanton Z.) sowie das Hotelinventar zu einem Preis von insgesamt Fr. 1'015'000.-. Die Eingangsbilanz per 1. März 1963 des Hotelbetriebes in S. wies ein Eigenkapital von
BGE 110 Ib 121 S. 122
von Fr. 70'000.- aus, währenddem die restlichen Mittel für die Finanzierung der Liegenschaften und weiterer Betriebsgegenstände durch Hypotheken der Kantonalbank von Z. und Darlehen von Verwandten aufgebracht wurden.
Am 26. Juli 1963 liess der Beschwerdeführer die Einzelfirma "Hotel ..., X." in das Handelsregister des Kantons Z. eintragen. Am 15. November 1963 schlossen der Beschwerdeführer und seine Ehefrau einen Ehevertrag, in dem sie den Güterstand der Gütertrennung wählten und ausdrücklich festhielten, dass die Hotelliegenschaft und weitere Grundstücke in S. (Kanton Z.) im Alleineigentum der Ehefrau verbleiben, währenddem die Hotelgebäude in M. (Kanton Y.) weiterhin dem Ehemann gehören. Ferner wurde vereinbart, dass Frau X. ihre Liegenschaft in S. ihrem Ehemann verpachte, wobei die Einzelheiten in einem separaten Vertragstext festgelegt werden sollten. Ein solcher Pachtvertrag wurde indessen nicht abgeschlossen.
In den Jahren 1963 bis 1969 figurierten die Frau X. gehörenden Liegenschaften in S. sowie die darauf lastenden Hypotheken und die zur Finanzierung des Liegenschaftenerwerbes benötigten Darlehen von Verwandten in den Bilanzen des Hotels in S. In diesen Geschäftsjahren wurden einerseits Liegenschaftsaufwände und -abschreibungen sowie Hypothekar- und Darlehenszinsen der Gewinn- und Verlustrechnung belastet und andererseits bescheidene Mietzinseinnahmen aus der Vermietung einzelner Räumlichkeiten an Dritte entsprechenden Erfolgskonti gutgeschrieben. In den Jahren 1963 und 1964 trugen die Bilanzen den Namen der Ehefrau, ab 1965 denjenigen des Beschwerdeführers selbst, ohne dass sich indessen an den Eigentumsverhältnissen an den Liegenschaften etwas geändert hätte.
Im Geschäftsabschluss per 31. Dezember 1970 wurden die Liegenschaften in S. sowie die mit diesen Immobilien zusammenhängenden Hypotheken und Darlehen ausbilanziert. Im Juni 1973 schliesslich verkaufte Frau X. ihre Liegenschaften in S. einem Dritten.
Im Veranlagungsverfahren für die Wehrsteuer der 16. Periode (1971/72) betrachtete die Wehrsteuerrekurskommission des Kantons Y. die Liegenschaften in S. (Kanton Z.) als vormaliges Geschäftsvermögen von Frau X. und die per 31. Dezember 1970 erfolgte Ausbilanzierung dieser Liegenschaften als steuerwirksame Überführung von Geschäfts- in Privatvermögen. Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen das Urteil der Wehrsteuerrekurskommission
BGE 110 Ib 121 S. 123
des Kantons Y. macht der Beschwerdeführer geltend, die Liegenschaften in S. hätten immer zum Privatvermögen der Ehefrau gehört und seien seinem Geschäftsbetrieb bloss zur Verfügung gestellt worden. Die Ehefrau selbst habe nie einen Geschäftsbetrieb geführt. Die Liegenschaften in S. seien fälschlicherweise in die Bilanzen aufgenommen worden und hätten daher nach dem Grundsatz der Bilanzwahrheit ausbilanziert werden müssen. Da nach konstanter Rechtsprechung des Bundesgerichtes nur Geschäftsvermögen sein könne, was im Eigentum des Geschäftsinhabers stehe, liege keine steuerwirksame Überführung von Geschäfts- in Privatvermögen vor.
Das Bundesgericht weist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ab aus den folgenden Erwägungen
Erwägungen:
2.
Gemäss Art. 21 Abs. 1 lit. d WStB unterliegen der Wehrsteuer Kapitalgewinne, die im Betriebe eines zur Führung kaufmännischer Bücher verpflichteten Unternehmens bei der Veräusserung oder Verwertung von Vermögensstücken erzielt werden, wie Liegenschaftsgewinne und dergleichen mehr. Voraussetzung ist, dass das veräusserte Gut zum Geschäftsvermögen des Unternehmens gehört hat, währenddem Gewinne, die bei der Veräusserung von Gegenständen des Privatvermögens erzielt werden, der Wehrsteuer für Einkommen nicht unterliegen (
BGE 105 Ib 240
E. 2, mit weiteren Hinweisen). Als steuerbare Verwertung gilt u. a. die Überführung eines Gegenstandes vom Geschäfts- ins Privatvermögen (
BGE 105 Ib 240
/241 E. 2;
BGE 102 Ib 53
E. 3 a bb; KÄNZIG, Wehrsteuer, 2. A., N. 169 zu Art. 21 WStB). Die Unterscheidung von Geschäfts- und Privatvermögen ist demnach im vorliegenden Fall von grundlegender Bedeutung.
a) Gemäss konstanter Rechtsprechung des Bundesgerichtes kann nur Geschäftsvermögen sein, was sich zivilrechtlich im Eigentum des Geschäftsinhabers befindet (
BGE 95 I 169
ff.;
BGE 83 I 337
ff.; ASA 39, 93 ff.; KÄNZIG, a.a.O., 2. A., N. 151 zu Art. 21 WStB; MASSHARDT, Wehrsteuerkommentar, Ausgabe 1980, S. 121; GURTNER, Geschäfts- und Privatvermögen - Erbrechtlicher Übergang von Unternehmungen, ASA 45, 3 ff.; STEINMANN, Das Grundstück als Gegenstand des Geschäftsvermögens im Wehrsteuerrecht, ASA 44, 565; kritisch betr. Personengesellschaften, ALTORFER, Geschäfts- und Privatvermögen im
BGE 110 Ib 121 S. 124
Einkommenssteuerrecht, Diss. St. Gallen 1959, S. 78 ff., und THALMANN, Die Abgrenzung von Privat- und Geschäftsvermögen in der neueren schweizerischen Rechtsprechung, ASA 33, 92 ff.). Das Bundesgericht hat diesen Grundsatz auch in Fällen bestätigt, in denen eine Liegenschaft im Eigentum eines Ehegatten stand und dem Geschäftsbetrieb des anderen Ehegatten diente (
BGE 95 I 169
ff.
;
83 I 337
ff.). Eine Ausnahme von dieser Regel wurde allerdings gemacht bei Liegenschaften, die im Eigentum der Teilhaber einer Kollektivgesellschaft standen, von diesen aber der Gesellschaft unentgeltlich zur Verfügung gestellt wurden und in der Geschäftsbuchhaltung figurierten (Entscheid vom 26. September 1958, in NStP 13 (1959), S. 5 ff.; Entscheid vom 3. Oktober 1958, in NStP 13 (1959), S. 1 ff.). Ebenfalls zum Geschäftsvermögen einer Kollektivgesellschaft wurde eine Liegenschaft gerechnet, die sich im Alleineigentum eines Gesellschafters befand und von diesem der Gesellschaft zur Verfügung gestellt wurde, wobei die Gesellschaft den Liegenschaftsunterhalt und die Bezahlung der Hypothekarzinsen übernahm, ohne dem Gesellschafter ein Entgelt für die Benutzung der Liegenschaft auszurichten (
BGE 93 I 362
ff.; vgl. dazu kritisch KÄNZIG, a.a.O., 2. A., N. 153 zu Art. 21 WStB). Auf die Eigentumsverhältnisse wird ausserdem nicht abgestellt, wenn eine Steuerumgehung vorliegt (
BGE 95 I 174
;
BGE 83 I 343
E. 1).
b) Am Prinzip, wonach Geschäftsvermögen nur sein kann, was zivilrechtlich im Eigentum des Geschäftsinhabers steht, ist grundsätzlich festzuhalten. Allerdings ist der Kreis der Ausnahmen weiter zu ziehen. Die bisherige Rechtsprechung (
BGE 95 I 169
ff.;
BGE 83 I 337
ff.) hat der wirtschaftlichen Einheit, die zwischen in ungetrennter Ehe lebenden Ehegatten im allgemeinen herrscht und die auch in Art. 13 WStB zum Ausdruck kommt, zu wenig Rechnung getragen und es dadurch den Steuerpflichtigen ermöglicht, in wenig klaren Verhältnissen im nachhinein eine für sie günstige Lösung zu beanspruchen, nachdem sie zuvor die Steuervorteile einer anderen Lösung genossen hatten. In dieser Hinsicht drängt sich daher eine Präzisierung der Rechtsprechung auf.
aa) An sich kann ein Ehegatte eine ihm gehörende Liegenschaft dem andern Ehegatten zu Geschäftszwecken zur Verfügung stellen, ohne dass diese Liegenschaft Geschäftsvermögen des buchführungspflichtigen Ehegatten darstellt. Dies ist dann der Fall, wenn die Liegenschaft vom Eigentümer ausschliesslich als Kapitalanlage erworben worden ist und dem andern Ehegatten gegen Entgelt
BGE 110 Ib 121 S. 125
oder im Rahmen der ehelichen Beistandspflicht (
Art. 159 Abs. 2 ZGB
) zur Verfügung gestellt wird. Der die Liegenschaft besitzende Ehegatte wird in diesem Fall nicht oder jedenfalls nicht wesentlich im Geschäftsbetrieb des andern Ehegatten mitwirken (vgl. dazu
BGE 95 I 169
ff.). Die Liegenschaft ist konsequenterweise nicht in die Buchhaltung des Geschäftsbetriebes aufzunehmen.
Anders verhält es sich dagegen, wenn ein Ehegatte eine Liegenschaft zu Geschäftszwecken erwirbt und dem zusammen mit dem andern Ehegatten betriebenen Geschäft zur Verfügung stellt. Dabei ist nicht erforderlich, dass die Ehegatten eine einfache Gesellschaft gemäss
Art. 530 ff. OR
oder eine Personengesellschaft des Handelsrechts bilden (a.M. noch
BGE 95 I 172
E. 4
;
83 I 344
). Das tatsächliche Zusammenarbeiten in Verwirklichung der zwischen Ehegatten im allgemeinen herrschenden wirtschaftlichen Einheit genügt. Dann dient die Liegenschaft dem Eigentümer nicht als blosse Kapitalanlage; sie ist vielmehr als Geschäftsvermögen zu betrachten. Welchem Ehegatten dieses Geschäftsvermögen zuzurechnen ist, kann in Anbetracht von Art. 13 WStB offen bleiben.
bb) Die nicht immer leichte Abgrenzung zwischen diesen beiden Fällen hat anhand sämtlicher konkreter Umstände zu erfolgen. Massgebend für die Beantwortung der Frage, ob die Ehegatten bei der Führung eines Geschäftes eine wirtschaftliche Einheit bilden, sind dabei vor allem die Behandlung der Liegenschaft in den Bilanzen und in den Gewinn- und Verlustrechnungen, die Erwerbsart und die Finanzierung der Liegenschaft, das Auftreten der Ehegatten gegenüber Behörden und Kunden sowie die Ausgestaltung des internen Verhältnisses zwischen den Ehegatten. Formale Kriterien, wie die im Handelsregister eingetragene Firma, die Benennung der Bilanzen usw. spielen dagegen eher eine untergeordnete Rolle.
3.
a) Der Beschwerdeführer betrieb seit dem Jahre 1962 ein Hotel in M. Im Jahre 1963 erwarb die Ehefrau des Beschwerdeführers die streitigen Hotelliegenschaften samt zugehörigem Mobiliar zu einem Preis von Fr. 1'015'000.- mit eigenen Mitteln von bloss Fr. 70'000.-. Für den Betrieb in S. wurde eine eigene, vom Hotelbetrieb in M. vollkommen unabhängige Buchhaltung geführt, in der die Liegenschaften und das Hotelmobiliar in jeder Hinsicht wie Geschäftsvermögen behandelt, Neuinvestitionen aktiviert und Abschreibungen, Liegenschaftsunterhaltskosten sowie Hypothekarzinsen (von jährlich rund Fr. 35'000.-) zu Lasten der Gewinn-
BGE 110 Ib 121 S. 126
und Verlustrechnung abgebucht wurden. Nach den Feststellungen der Steuerrekurskommission Z., die von der Vorinstanz in den angefochtenen Entscheid einbezogen worden sind, war die Ehefrau des Beschwerdeführers aktiv im Hotelbetrieb in S. tätig. Übrigens wurde sie schon in der Steuererklärung 1965/66 (13. Wehrsteuerperiode) als Hotelière von Beruf bezeichnet. Aus diesen Tatsachen muss geschlossen werden, dass die Ehefrau des Beschwerdeführers am Betrieb des Hotels in S. selbst zu einem wesentlichen Teil mitgewirkt hat. Angesichts der Finanzierungsverhältnisse und der Behandlung der Liegenschaften in den Geschäftsbüchern können diese Objekte zudem auf keinen Fall als blosse Kapitalanlage der Ehefrau betrachtet werden. Die streitigen Liegenschaften sind daher dem Geschäftsvermögen der Ehegatten zuzuordnen.
Diese Schlussfolgerung wird bekräftigt durch die vertragliche Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen den Eheleuten. Die Ehegatten X. haben untereinander den Güterstand der Gütertrennung vereinbart und den Abschluss eines Pachtvertrages hinsichtlich der Liegenschaften und des Hotelmobiliars vorbehalten. Ein solcher Vertrag wurde jedoch nie geschlossen. Vielmehr wurden sämtliche anfallenden Liegenschaftsunkosten und Hypothekarzinsen der Betriebsrechnung belastet. Einen Miet- oder Pachtzins hat die Ehefrau bis 1969 nie erhalten. Sie hat die Vermögensgegenstände in S. auch nicht im Rahmen ihrer ehelichen Beistandspflicht ihrem Ehemann zur Verfügung gestellt. Dies hätte im Gütertrennungsvertrag festgehalten werden können (vgl. z.B.
Art. 247 ZGB
), wurde aber unterlassen und durch den Hinweis auf ein - bis 1970 nicht zustande gekommenes - Pachtverhältnis ersetzt. Einen Lohn schliesslich, auf den die Ehefrau gemäss Ehevertrag Anspruch haben soll, hat sie in den Steuererklärungen nicht deklariert.
b) Was der Beschwerdeführer gegen die Annahme vorbringt, seine Ehefrau sei am Betrieb in S. wesentlich beteiligt gewesen, dringt nicht durch. Zwar sind sowohl der Handelsregistereintrag als auch die Führung der Bilanzen seit 1965 unter seinem Namen Indizien, die den Beschwerdeführer als alleinigen Geschäftsinhaber erscheinen lassen. Gegen die Gesamtheit aller übrigen Umstände vermögen diese Indizien indes nicht aufzukommen, zumal sich die Ehegatten X. selbst über ihre gegenseitige Beteiligung am Hotelbetrieb in S. in den sechziger Jahren nicht klar waren. Sonst wäre der Name der Ehefrau nicht in den ersten beiden Geschäftsjahren auf den Bilanzen erschienen. | de |
dcad6f9a-e434-4e6b-9727-6c993b002ddc | Sachverhalt
ab Seite 464
BGE 138 V 463 S. 464
A.
R. zog in den Neunzigerjahren in die Schweiz und nahm eine Erwerbstätigkeit bei der Z. GmbH auf. Vom 1. Januar 2005 bis 30. September 2006 war er im Oman für eine Z. Gruppengesellschaft tätig. Daraufhin arbeitete er bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses per Ende Januar 2007 wiederum für die Z. GmbH in der Schweiz. Ende April 2007 verliess er die Schweiz und nahm Wohnsitz in Grossbritannien.
Mit Schreiben vom 26. Mai 2009 liess er bei der Ausgleichskasse Chemie (seit 1. Januar 2012: Ausgleichskasse scienceindustries, nachfolgend: Ausgleichskasse) die Rückerstattung von AHV-Beiträgen in der Höhe von Fr. 22'231.95 beantragen. Zur Begründung gab er an, dass die Z. GmbH in diesem Umfang auf dem von ihm gemäss Lohnabrechnung vom Juni 2008 erzielten Mitarbeiteraktiengewinn von Fr. 440'237.- AHV-Beiträge abgerechnet habe. Die Leistung unterliege aber nicht der schweizerischen AHV, weil er bis zur Freigabe im April 2008 keinen unwiderruflichen Anspruch auf die Mitarbeiteraktien gehabt habe und zum Zeitpunkt der Freigabe in der Schweiz weder erwerbstätig noch wohnhaft gewesen sei.
Die Ausgleichskasse trat auf den Rückerstattungsantrag nicht ein mit der Begründung, es bestehe grundsätzlich kein direkter Anspruch des R. auf Rückerstattung von allenfalls zu viel bezahlten
BGE 138 V 463 S. 465
Sozialversicherungsbeiträgen; anspruchsberechtigt sei nur die Arbeitgeberin. Soweit sie das Gesuch als Begehren um Berichtigung des Auszugs seines individuellen Kontos (IK) entgegennahm, lehnte sie es ab, da die Beitragserhebung zu Recht erfolgt sei (Verfügung vom 22. Juni 2009). Einspracheweise liess R. beantragen, die auf den Mitarbeiteraktien abgerechneten AHV-Arbeitnehmerbeiträge von Fr. 22'231.95, eventualiter Fr. 12'382.-, seien der Arbeitgeberin mit der Auflage zurückzuerstatten, den Betrag ihm gutzuschreiben bzw. es sei das IK im entsprechenden Betrag zu korrigieren. Mit Einspracheentscheid vom 15. September 2009 hielt die Ausgleichskasse an ihrem Nichteintretensentscheid fest wie auch daran, dass die fragliche Zahlung vollumfänglich der Beitragspflicht unterliege.
B.
R. liess Beschwerde erheben und beantragen, das IK sei um den Mitarbeiteraktiengewinn von Fr. 440'237.10, eventualiter von Fr. 245'188.-, zu berichtigen und die entsprechenden, darauf abgerechneten AHV-Arbeitnehmerbeiträge seien ihm über die Arbeitgeberin zurückzuerstatten. Das Bundesverwaltungsgericht lud die Z. GmbH als Arbeitgeberin zum Verfahren bei. Mit Entscheid vom 26. Juni 2011 wies es die Beschwerde ab, soweit es darauf eintrat.
C.
R. lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und das Rechtsbegehren stellen, der Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts sei aufzuheben. Das IK sei um den Mitarbeiteraktiengewinn von Fr. 440'237.10, eventualiter Fr. 245'188.-, zu berichtigen, dies unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten der Ausgleichskasse.
Die Ausgleichskasse und die zum Prozess beigeladene Arbeitgeberin schliessen auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) enthält sich eines formellen Antrages; es gelangt zum Ergebnis, dass nur auf dem in den Jahren 2002 und 2003 gewährten Teil der Mitarbeiteraktien Sozialversicherungsbeiträge geschuldet sind.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
In prozessualer Hinsicht steht fest, dass die Ausgleichskasse das Jahreseinkommen des R. gestützt auf den von seiner Arbeitgeberin, der Z. GmbH, für die Abrechnungsperiode 2008 gemeldeten Lohn ohne formelle Verfügung durch faktisches Verwaltungshandeln festgesetzt hat. In den Akten liegt ein undatiertes, an den
BGE 138 V 463 S. 466
Beschwerdeführer gerichtetes Schreiben "Salary Statement" der Z. GmbH, in welchem diesem - unter Abzug von Sozialversicherungsbeiträgen - die Überweisung des Mitarbeiteraktiengewinns angezeigt wird, dies unter anderem mit dem Vermerk "Period: June 2008", "Paid on: 26.06. 2008". Aus dieser Mitteilung war für den Beschwerdeführer noch nicht ersichtlich, ob und in welcher Höhe die Ausgleichskasse tatsächlich Sozialversicherungsbeiträge festgesetzt hatte. Erst aus dem IK-Auszug vom 15. Mai 2009 ging für ihn hervor, dass die Ausgleichskasse auf dem Mitarbeiteraktiengewinn Beiträge erhoben hatte. Mit seiner an die Ausgleichskasse gerichteten Eingabe vom 26. Mai 2009 handelte der Beschwerdeführer indessen prompt; er wehrte sich somit rechtzeitig gegen die faktische Bemessung des fraglichen Einkommens (vgl. Urteil H 97/06 vom 15. Mai 2007 E. 3.2, nicht publ. in:
BGE 133 V 346
).
3.
Nach den verbindlichen Feststellungen im angefochtenen Entscheid liegt kein blosser Buchungsfehler vor, der im (mit dem Einspruch gegen einen verlangten Kontenauszug ausgelösten) Berichtigungsverfahren nach
Art. 141 Abs. 2 AHVV
(SR 831.101) korrigiert werden könnte (vgl. dazu Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts H 104/04 vom 14. Dezember 2004 E. 2; Urteil H 97/06 vom 15. Mai 2007 E. 3.2 in fine, nicht publ. in:
BGE 133 V 346
). Daran ändert nichts, dass der Beschwerdeführer wiederholt von der "Berichtigung des individuellen Kontos" spricht, geht doch sein Begehren über die Korrektur eines blossen Schreibfehlers hinaus, indem er sich seit Anbeginn auf den Standpunkt stellt, auf den Mitarbeiteraktien hätten keine Beiträge erhoben werden dürfen; diese seien zurückzuerstatten. Die Ausgleichskasse bejahte dagegen sowohl in der Verfügung als auch im Einspracheentscheid die materielle Richtigkeit der Beitragspflicht, womit der Streitgegenstand hinreichend bestimmt ist.
4.
In der Verfügung und im Einspracheentscheid stellte sich die Ausgleichskasse auf den Standpunkt, R. habe als Arbeitnehmer keinen direkten Anspruch auf Rückerstattung von allenfalls zu viel bezahlten Sozialversicherungsbeiträgen. Anspruchsberechtigt sei die Arbeitgeberin, die dem Arbeitnehmer die zu viel bezahlten Beiträge zurückzuvergüten habe.
Gemäss
Art. 25 Abs. 3 ATSG
(SR 830.1) können zu viel bezahlte Beiträge zurückgefordert werden (Satz 1). Der Anspruch erlischt mit dem Ablauf eines Jahres, nachdem der Beitragspflichtige von seinen zu hohen Zahlungen Kenntnis erhalten hat, spätestens aber fünf Jahre nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Beiträge bezahlt wurden
BGE 138 V 463 S. 467
(Satz 2). Davon abweichend (vgl. dazu UELI KIESER, ATSG-Kommentar, 2. Aufl. 2009, N. 37 zu
Art. 25 ATSG
; Bericht der Kommission des Nationalrates für soziale Sicherheit und Gesundheit vom 26. März 1999 zur Parlamentarischen Initiative Sozialversicherungsrecht, BBl 1999 4523 ff., 4757 Ziff. 67 zu
Art. 16 AHVG
) wurde in
Art. 41 AHVV
vorgesehen: Wer nicht geschuldete Beiträge entrichtet, kann sie von der Ausgleichskasse zurückfordern (Satz 1). Vorbehalten bleibt die Verjährung gemäss Artikel 16 Absatz 3 AHVG (Satz 2).
In der AHV sind die Beiträge vom Einkommen aus unselbstständiger Erwerbstätigkeit bei jeder Lohnzahlung in Abzug zu bringen und vom Arbeitgeber zusammen mit dem Arbeitgeberbeitrag periodisch zu entrichten (
Art. 14 Abs. 1 AHVG
). Mit anderen Worten ist zur Entrichtung der paritätischen Beiträge einzig der Arbeitgeber verpflichtet (vgl. auch KIESER, Alters- und Hinterlassenenversicherung [nachfolgend: AHVG], in: Die Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Sozialversicherungsrecht, Murer/Stauffer [Hrsg.], 2. Aufl. 2005, N. 1 zu
Art. 14 AHVG
). Er ist sowohl zahlender Selbstschuldner als auch gesetzlicher Erfüllungsvertreter des Arbeitnehmers für dessen Schuld (EVGE 1968 S. 242; HANSPETER KÄSER, Unterstellung und Beitragswesen in der obligatorischen AHV, 2. Aufl. 1996, S. 257 Rz. 14.4). Es verhält sich nicht anders als in der Unfallversicherung, in welcher der Arbeitgeber gemäss
Art. 91 Abs. 3 UVG
(SR 832.20) den gesamten Prämienbetrag schuldet, worunter die gemäss Abs. 1 von ihm zu tragenden Prämien für die obligatorische Versicherung der Berufsunfälle und Berufskrankheiten und die gemäss Abs. 2 unter Vorbehalt abweichender Vereinbarungen zu Lasten des Arbeitnehmers gehenden Prämien für die obligatorische Versicherung der Nichtberufsunfälle fallen. In dem vor Inkrafttreten des ATSG zu
Art. 94 Abs. 2 UVG
(in Kraft bis 31. Dezember 2002) ergangenen Urteil U 47/87 vom 29. Dezember 1987 E. 3b, in: RKUV 1988 S. 239 erwog das Eidg. Versicherungsgericht, es müsse nicht nur dem Arbeitgeber, sondern auch dem Arbeitnehmer ein Rückforderungsrecht zustehen, das er direkt gegenüber dem Versicherer und nicht etwa gegenüber dem Arbeitgeber geltend zu machen habe. Zur Begründung führte es an, dass das materielle Versicherungsverhältnis zwischen dem Versicherer und dem versicherten Arbeitnehmer bestehe und der Arbeitgeber lediglich aus administrativen Gründen auch bezüglich der Prämien für die Nichtbetriebsunfallversicherung vom Gesetz als Prämienschuldner behandelt werde. Diese Überlegungen lassen sich auf
Art. 41 AHVV
(und ebenso auf die hier nicht weiter interessierende Bestimmung des
Art. 25 Abs. 3 ATSG
) übertragen:
BGE 138 V 463 S. 468
Auch im Bereich der AHV hat der Arbeitnehmer gegenüber der Ausgleichskasse demnach ein direktes Rückforderungsrecht für zu Unrecht entrichtete Beiträge (stillschweigend bejaht in
BGE 133 V 346
).
5.
5.1
Zu prüfen ist nach dem Gesagten, ob auf dem vom Beschwerdeführer gestützt auf den Mitarbeiterbeteiligungsvertrag ("performance shares deferred stock agreement") erzielten Einkommen in der Höhe von Fr. 440'237.10 zu Recht Sozialversicherungsbeiträge erhoben worden sind. Dabei wurden im Frühling 2008 nach den unbestrittenen Angaben des Beschwerdeführers folgende Freigabegewinne erzielt: Fr. 99'304.- betreffend im Jahr 2002 gewährte Mitarbeiteraktien, Fr. 272'372.- betreffend im Jahr 2003 gewährte Mitarbeiteraktien und Fr. 68'561.- betreffend im Jahr 2005 gewährte Mitarbeiteraktien. Weiter steht fest und ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer bei der Z. GmbH bis Ende Januar 2007 angestellt war und im April 2007 seinen Wohnsitz von der Schweiz nach Grossbritannien verlegt hatte.
5.2
Der Beschwerdeführer macht geltend, er habe erst im April 2008 einen unwiderruflichen Anspruch auf die Mitarbeiteraktien erworben. Dieser Zeitpunkt sei nicht nur für die Bundessteuern, sondern auch für die Sozialversicherungsbeiträge massgebend. Da er im April 2008 aber weder in der Schweiz gearbeitet noch Wohnsitz gehabt habe, unterliege der Mitarbeiteraktiengewinn - entsprechend dem Stichtagsprinzip - nicht der AHV-Beitragspflicht. Eventualiter wird beantragt, den Mitarbeiteraktiengewinn anteilsmässig gemäss seiner Ansässigkeit während der Verdienstperiode in der Schweiz bzw. im Ausland zu korrigieren.
Dieser Argumentation halten Vorinstanz und Ausgleichskasse (und damit im Wesentlichen übereinstimmend auch die Arbeitgeberin) entgegen, es könne nicht sein, dass nach Auflösung des Arbeitsverhältnisses nachgezahlter, massgebender Lohn - zu welchem freigegebene Mitarbeiteraktien gestützt auf
Art. 7 lit. c AHVV
zweifellos gehörten - einfach deshalb nicht mehr der Beitragspflicht unterstehe, weil der Arbeitnehmer inzwischen die Schweiz verlassen habe. Wenn
Art. 7 lit. c AHVV
für Wert und Zeitpunkt der Einkommensrealisierung auf die Vorschriften der direkten Bundessteuer verweise, könne dies nicht zur Folge haben, dass arbeits- und AHV-rechtliche Grundsätze völlig ausser Acht gelassen würden. Massgebend sei, dass sich die Zahlung auf ein Arbeitsverhältnis beziehe, das zu einem Zeitpunkt aufgelöst worden sei, als der Arbeitnehmer noch in der Schweiz gelebt habe.
BGE 138 V 463 S. 469
Das BSV vertritt den Standpunkt, unter Anwendung des Bestimmungsprinzips sei zu eruieren, ob Mitarbeiteraktien abgabepflichtig seien, was nur bejaht werden könne, wenn der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Gewährung in der AHV versichert gewesen sei. Dies sei nur betreffend die in den Jahren 2002 und 2003 gewährten Aktien der Fall.
6.
6.1
Als massgebender Lohn gilt grundsätzlich jedes Entgelt für in unselbstständiger Stellung auf bestimmte oder unbestimmte Zeit geleistete Arbeit (
Art. 5 Abs. 2 Satz 1 AHVG
). Dazu gehören begrifflich sämtliche Bezüge der Arbeitnehmerin und des Arbeitnehmers, die wirtschaftlich mit dem Arbeitsverhältnis zusammenhängen, gleichgültig, ob dieses Verhältnis fortbesteht oder gelöst worden ist und ob die Leistungen geschuldet werden oder freiwillig erfolgen. Als beitragspflichtiges Einkommen aus unselbstständiger Erwerbstätigkeit gilt somit nicht nur unmittelbares Entgelt für geleistete Arbeit, sondern grundsätzlich jede Entschädigung oder Zuwendung, die sonst wie aus dem Arbeitsverhältnis bezogen wird, soweit sie nicht kraft ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift von der Beitragspflicht ausgenommen ist (
BGE 133 V 556
E. 4 S. 558 mit Hinweis; vgl. auch KIESER, Alters- und Hinterlassenenversicherung, in: Soziale Sicherheit, SBVR Bd. XIV, 2. Aufl. 2007 [nachfolgend: SBVR], S. 1249 f. Rz. 136). Erfasst werden grundsätzlich alle Einkünfte, die im Zusammenhang mit einem Arbeits- oder Dienstverhältnis stehen und ohne dieses nicht geflossen wären. Umgekehrt unterliegen grundsätzlich nur Einkünfte, die tatsächlich geflossen sind, der Beitragspflicht (
BGE 133 V 153
E. 3.1 S. 156;
BGE 131 V 444
E. 1.1 S. 446).
Die Beitragspflicht einer versicherten unselbstständig erwerbstätigen Person entsteht mit der Leistung der Arbeit. Beiträge sind indessen erst bei Realisierung des Lohn- oder Entschädigungsanspruchs geschuldet (
BGE 131 V 444
E. 1.1 S. 446 unten f.;
BGE 111 V 161
E. 4a und 4b S. 166 f. mit Hinweisen; Urteile des Eidg. Versicherungsgerichts H 75/88 vom 20. September 1988 E. 3b in fine, in: ZAK 1989 S. 27; H 125/74 vom 9. Juli 1975 E. 2-4, in: ZAK 1976 S. 85; KÄSER, a.a.O., S. 112 Rz. 4.8 und 4.9; vgl. auch KIESER, SBVR, S. 1250 Rz. 137).
6.2
Bei gebundenen Arbeitnehmeraktien bestimmen sich gemäss
Art. 7 lit. c AHVV
Wert und Zeitpunkt der Einkommensrealisierung nach den Vorschriften der direkten Bundessteuer (vgl. auch Rz. 2020 der Wegleitung des BSV über den massgebenden Lohn [WML] in der
BGE 138 V 463 S. 470
AHV, IV und EO in der ab 1. Januar 2008 gültig gewesenen Fassung
http://www.bsv.admin.ch/vollzug/documents/index/category:22/lang:deu
).
7.
7.1
In Ziff. 3 der den fraglichen Zahlungen zugrunde liegenden Mitarbeiteraktienpläne 2002, 2003 und 2005 der Z. Company (performance shares deferred stock agreement pursuant to the Z. Company 1988 award and option plan) ist unter anderem festgehalten: The total number of shares earned ("Shares Earned") under this grant will be determined no later than April 16, 2007 (2002) resp. April 16, 2008 (2003) resp. April 17, 2008 (2005) and will be delivered in the form of Deferred Stock. Shares Earned will be issued and delivered to you in two equal installments on April 16, 2007 and April 16, 2008 (2002) resp. April 16, 2008 and April 16, 2009 (2003) resp. April 17, 2008 und April 17, 2009 (2005). Prior to issuance of the Deferred Stock you shall have no rights as a stockholder with respect to the Deferred Stock earned under this agreement.
Wie sich aus den erwähnten Mitarbeiteraktienplänen und den Ausführungen der beigeladenen Arbeitgeberin (Stellungnahme vom 26. Februar 2010 ans Bundesverwaltungsgericht, Stellungnahme vom 19. Januar 2012 ans Bundesgericht) ergibt, hing die Anzahl der abgegebenen Mitarbeiteraktien zur Hauptsache von der Tätigkeit/Funktion des Beschwerdeführers sowie seiner persönlichen Leistung im vergangenen Jahr ab. Der alsdann noch offene Faktor, mit welchem die individuelle Anzahl Aktien zu multiplizieren war, war von der Erreichung von strategischen Zielen durch den Konzern in seiner Gesamtheit während einer Zeitspanne von 5 Jahren abhängig. Während dieser Frist blieben die grundsätzlich fest zugeteilten Aktien gesperrt.
7.2
Es handelt sich damit um gebundene (oder gesperrte), gestaffelt erworbene Mitarbeiteraktien und, wie das BSV zutreffend festhält, nicht etwa um (gevestete) Mitarbeiteroptionen (vgl. dazu
BGE 133 V 346
E. 5.2 S. 348 f. und Rz. 2023 WML in der ab 1. Januar 2008 gültig gewesenen Fassung), wie aus den Ausführungen in der Beschwerde gefolgert werden könnte. Dass dem Beschwerdeführer gemäss der erwähnten Ziff. 3 der Mitarbeiteraktienpläne 2002/2003/2005 bis zur Freigabe der Aktien im April 2008 keine Aktionärsrechte zustanden, entspricht den üblichen Bedingungen, zu welchen Mitarbeiteraktien gewährt werden, indem oft vorgesehen wird, dass der Begünstigte während einer gewissen Frist nicht über die Titel
BGE 138 V 463 S. 471
verfügen kann, um ihn an das Unternehmen zu binden (WOLFGANG PORTMANN, in: Basler Kommentar, Obligationenrecht, Bd. I, 5. Aufl. 2011, N. 25 zu
Art. 322 OR
). Mit anderen Worten ist das Vorenthalten der Mitwirkungsrechte der Gebundenheit der Aktien immanent. Die Vermögensrechte/Dividenden-Zahlungen wurden jedenfalls gutgeschrieben (Ziff. 4 resp. 5 der Mitarbeiteraktienpläne 2002 resp. 2003 und 2005).
7.3
Bei dieser Sachlage stehen die dem Beschwerdeführer in den Jahren 2002, 2003 und 2005 eingeräumten gebundenen Mitarbeiteraktien in engem Zusammenhang mit seiner Tätigkeit in der besagten Zeit bei der Firma Z. GmbH. Daran ändert weder die zeitverzögerte Bestimmung der ihm letztlich zustehenden Anzahl noch die vom Beschwerdeführer geltend gemachte (resolutive) Bedingung "fairen Verhaltens" etwas. Das fragliche Einkommen stellt nicht eine (pauschale) Nachzahlung dar, die inhaltlich in direktem Bezug zur Auflösung des Arbeitsverhältnisses Ende Januar 2007 zu sehen ist. Soweit die Vorinstanz ausführte, die Freigabe sei "sozialversicherungsrechtlich gesehen" in diesem Rahmen erfolgt, handelt es sich nicht um eine Tatsachenfeststellung, sondern um eine rechtliche Würdigung. Sie beruht darauf, dass gemäss
Art. 339 Abs. 1 OR
mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses alle Forderungen aus dem Arbeitsverhältnis fällig werden. Aus diesem Grunde ist denn auch die Zulässigkeit von Einlösungs- oder Verkaufssperren umstritten, die - wie hier (auch die Vorinstanz hält fest, dass die Aktien effektiv erst nach Ablauf der Sperrfirst realisiert worden seien) - über das Ende des Arbeitsverhältnisses hinaus fortdauern (vgl. dazu PORTMANN, a.a.O., N. 2 zu
Art. 339 OR
); wie es sich damit verhält, braucht indessen vorliegend nicht entschieden zu werden (vgl. E. 8.1 nachfolgend).
8.
Zu prüfen bleibt, ob die Tatsache, dass die Realisierung der Aktien mit April 2008 in eine Zeit fiel, in welcher der Beschwerdeführer die Arbeitgeberfirma (Auflösung des Arbeitsverhältnisses per Ende Januar 2007) und die Schweiz (Wegzug nach Grossbritannien Ende April 2007) bereits verlassen hatte, einer Beitragspflicht entgegensteht.
8.1
8.1.1
Die Frage nach der Entstehung der Beitragspflicht ist von derjenigen nach dem Zeitpunkt, in welchem die Beiträge vom massgebenden Lohn im Rahmen des Beitragsbezugs zu entrichten sind (Beitragsbezug), zu unterscheiden (
BGE 115 V 161
E. 4b S. 163 f.; 110 V
BGE 138 V 463 S. 472
225 E. 3a S. 227 f.). Während für die Frage des Beitragsbezugs der Zeitpunkt der Einkommensrealisierung massgebend ist (
BGE 131 V 444
E. 1.1 S. 446 f.), richtet sich diejenige der (dieser logisch vorangehenden) Beitragspflicht als solcher nach dem Zeitpunkt der Erwerbstätigkeit (
BGE 115 V 161
E. 4b S. 163 f.;
BGE 111 V 161
E. 4a S. 166 f. mit Hinweisen und
BGE 110 V 225
E. 3a S. 227; vgl. auch
BGE 131 V 444
E. 1.1 S. 446 f.; KIESER, AHVG, N. 2 zu
Art. 5 AHVG
). Die Beitragspflicht beruht direkt auf dem Gesetz und entsteht, sobald die sie nach dem Gesetz begründenden Tatsachen - Versicherteneigenschaft und Erwerbstätigkeit oder Nichterwerbstätigkeit - eingetreten sind (
BGE 115 V 161
E. 4b S. 164; Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts H 52/05 vom 8. August 2005 E. 3.3). Die Bestimmung des
Art. 7 lit. c AHVV
, wonach sich Wert und Zeitpunkt der Einkommensrealisierung bei gebundenen Arbeitnehmeraktien nach den Vorschriften der direkten Bundessteuer richten, beschlägt somit den Beitragsbezug und nicht die hier im Vordergrund stehende Frage nach der Beitragspflicht.
8.1.2
Arbeitnehmeraktien stellen, unabhängig davon, ob es sich um freie oder gebundene handelt, im Zeitpunkt ihres Erwerbs massgebenden Lohn dar (MICHEL VALTERIO, Droit de l'assurance-vieillesse et survivants [AVS] et de l'assurance-invalidité [AI], 2011, S. 108 Rz. 333; STERCHI/LANG, Steuerliche und sozialversicherungsrechtliche Behandlung von Mitarbeiterbeteiligungen bei international tätigen Mitarbeitern, Zuger Steuerpraxis 32/2006 S. 49 ff., 56; Rz. 2016 WML [Stand: 1. Januar 2008]). Es handelt sich dabei um eine Form der nachträglichen Lohnzahlung, bezüglich welcher sich die Frage, ob sie der Beitragspflicht unterliegt, nach den Vorschriften richtet, die für jenen Zeitraum gelten, für den die nachträgliche Lohnzahlung bestimmt ist (
BGE 110 V 225
; vgl. auch STERCHI/LANG, a.a.O., S. 57). Dieses sog. Bestimmungsprinzip wurde in Rz. 2034 der Wegleitung des BSV über den Bezug der Beiträge in der AHV, IV und EO (WBB; Stand: 1. Januar 2008
http://www.bsv.admin.ch/vollzug/documents/index/category:22/lang:deu
) aufgenommen, wobei ergänzt wurde, dass aus Gründen der praktischen Durchführung auch bei nachträglichen Lohnzahlungen auf den Zeitpunkt der Auszahlung oder Gutschrift abgestellt werden könne (Realisierungsprinzip). Einschränkend werden in der Wegleitung Ausnahmen aufgeführt, für welche auf jeden Fall das Bestimmungsprinzip gilt. Dabei wird unter anderem der Fall erwähnt, dass das Arbeitsverhältnis bei dem oder den gleichen Arbeitgebenden im Realisationsjahr (wie hier der Fall) nicht mehr bestand.
BGE 138 V 463 S. 473
8.1.3
Wie die Beitragspflicht bestimmt sich auch der Eintrag im IK oder die (hier allerdings nicht weiter interessierende) Frage, welche Beitragssätze anzuwenden sind, nach dem Erwerbsjahr, mithin unabhängig vom Zeitpunkt der Entrichtung der Beiträge durch die Arbeitgeberin (Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts H 52/05 vom 8. August 2005 E. 3.3; Rz. 2327 der Wegleitung des BSV über Versicherungsausweis und individuelles Konto [WL VA/IK; Stand: 1. Januar 2007;
http://www.bsv.admin.ch/vollzug/documents/view/1174/lang:deu/category:24
], wonach nachträgliche Lohnzahlungen grundsätzlich unter dem Jahr aufzuzeichnen sind, für welches die Zahlung bestimmt ist, wobei dies auch für nachträgliche Korrekturen der Einkommen gilt).
8.2
Die Anwendung dieser Grundsätze führt im zu beurteilenden Fall zu folgendem Ergebnis: Das Jahr 2008 ist als Realisierungszeitpunkt für die Frage des Beitragsbezugs relevant. Die für die (logisch vorangehende) Frage der Beitragspflicht massgebende Erwerbstätigkeit verteilt sich demgegenüber auf die Jahre 2002 (Fr. 99'304.-), 2003 (Fr. 272'372.-) und 2005 (Fr. 68'561.-), in denen dem Beschwerdeführer der Anspruch auf die Mitarbeiteraktien eingeräumt worden ist. Die Erwerbsjahre 2002, 2003 und 2005 sind auch massgebend für den IK-Eintrag.
Anders als in den Jahren 2002 und 2003 hatte der Beschwerdeführer im Jahr 2005 weder Wohnsitz in der Schweiz noch übte er hier eine Erwerbstätigkeit aus. Er war in dieser Zeit auch sonst nicht der schweizerischen Alters- und Hinterlassenenversicherung unterstellt, hat er doch während des Auslandaufenthalts weder die Versicherung gemäss
Art. 1a Abs. 3 lit. a AHVG
weitergeführt noch sich gemäss
Art. 2 AHVG
freiwillig versichert. Da es mithin im Jahr 2005 an der (die Beitragspflicht begründenden) Versicherteneigenschaft fehlt, stellen die im Jahr 2005 erworbenen Aktien, im Jahr 2008 im Umfang von Fr. 68'561.- realisiert, nicht massgebenden Lohn dar (und es entfällt auch ein entsprechender IK-Eintrag).
8.3
Nicht gefolgt werden kann der Ausgleichskasse, soweit sie sich auf den Standpunkt stellt, selbst wenn der Zeitpunkt des Erwerbs massgebend sei (vgl. E. 8.1.2 und 8.1.3 hievor), stellten die im Februar 2005 erworbenen Aktien beitragspflichtiges Einkommen dar, weil diese "als Lohnbestandteil für das Vorjahr" zugeteilt worden seien. Es trifft zwar zu, dass die Anzahl der abgegebenen Mitarbeiteraktien - wie in E. 7.1 ausgeführt - unter anderem von der
BGE 138 V 463 S. 474
persönlichen Leistung im vergangenen Jahr (also 2004) abhing. Dies heisst aber nichts anderes, als dass das Jahr 2004 die Bemessungsgrundlage bildete. Am Umstand, dass der (nach dem Bestimmungsprinzip massgebende; vgl. E. 8.1.2 hiervor) Erwerb im Jahr 2005 erfolgte, vermag dies nichts zu ändern. Zu Unrecht leitet die Kasse aus
BGE 110 V 225
E. 3a S. 228 ab, dass "das Ausscheiden aus der Versicherung infolge Erwerbstätigkeit im Ausland (auch wenn das Arbeitsverhältnis zum gleichen Arbeitgeber weiter besteht) [...] eine weitere Ausnahme zum Realisierungsprinzip" darstelle, hat sich doch das frühere Eidg. Versicherungsgericht in der zitierten Erwägung mit dem in E. 8.1.1 vorne einlässlich dargestellten Verhältnis zwischen Beitragspflicht und Beitragsbezug auseinandergesetzt, welches betreffend das Jahr 2005 zum aufgezeigten Ergebnis führt.
8.4
Bei dieser Rechtslage bleibt, wenn auch die Verabgabung im Jahr 2008 erfolgte, kein Raum für die Anwendung des Art. 13 Abs. 2 lit. f der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbstständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (SR 0.831.109.268.1).
8.5
Zusammenfassend ergibt sich, dass die Ausgleichskasse nur auf den in den Jahren 2002 und 2003 gewährten Mitarbeiteraktien Beiträge hätte erheben dürfen und sich für die IK-Einträge an den Zeitpunkt der Aktiengewährung (d.h. 2002: Fr. 99'304.-; 2003: Fr. 272'372.-) hätte halten müssen. Die Sache wird an die Ausgleichskasse zurückgewiesen, damit sie über die Beitragspflicht des Beschwerdeführers im hier streitigen Zeitraum neu verfüge und die Einträge im individuellen Konto entsprechend vornehme. Allfällig zu viel bezahlte Beiträge sind dem Beschwerdeführer zurückzuerstatten. | de |
585d3d30-e473-4b58-a1b8-586e1f524862 | SR 831.131.12 1 Verordnung über die Rückvergütung der von Ausländern an die Alters- und Hinterlassenenversicherung bezahlten Beiträge (RV-AHV)1 vom 29. November 1995 (Stand am 3. Dezember 2002) Der Schweizerische Bundesrat, gestützt auf Artikel 81 des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 20002 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) und auf Artikel 154 Absatz 2 des Bundesgesetzes vom 20. Dezember 19463 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG),4 verordnet: Art. 1 Grundsatz 1 Ausländer, mit deren Heimatstaat keine zwischenstaatliche Vereinbarung besteht, sowie ihre Hinterlassenen, können nach den nachstehenden Bestimmungen die der Alters- und Hinterlassenenversicherung entrichteten Beiträge zurückfordern, sofern diese gesamthaft während mindestens eines vollen Jahres geleistet worden sind und keinen Rentenanspruch begründen. 2 Massgebend ist die Staatsangehörigkeit im Zeitpunkt der Rückforderung. Art. 25 Zeitpunkt der Rückforderung 1 Die Beiträge können zurückgefordert werden, sobald die Person aller Voraussicht nach endgültig aus der Versicherung ausgeschieden ist und sowohl sie selber als auch die Ehefrau oder der Ehemann und ihre noch nicht 25-jährigen Kinder nicht mehr in der Schweiz wohnen. 2 Bleiben volljährige Kinder, die das 25. Altersjahr noch nicht erreicht haben, in der Schweiz, können die Beiträge dennoch zurückgefordert werden, wenn die Kinder die Ausbildung abgeschlossen haben. AS 1996 688 1 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 11. Sept. 2002, in Kraft seit 1. Jan. 2003 (AS 2002 3717). 2 SR 830.1 3 SR 831.10 4 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 11. Sept. 2002, in Kraft seit 1. Jan. 2003 (AS 2002 3717). 5 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 20. Sept. 2002, in Kraft seit 1. Jan. 2003 (AS 2002 3344). 831.131.12 Alters- und Hinterlassenenversicherung 2 831.131.12 Art. 36 Anspruch von Hinterlassenen Der Anspruch auf die Rückvergütung im Todesfall steht der Witwe oder dem Witwer zu. Besteht im Todesfall kein Anspruch auf eine Witwen- oder Witwerrente, können die Waisen die Rückvergütung beanspruchen. Art. 4 Umfang der Rückvergütung 1 Rückvergütet werden nur die tatsächlich bezahlten Beiträge. Zinsen werden vorbe- hältlich Artikel 26 Absatz 2 ATSG keine geleistet.7 2 Der Antrag auf Rückvergütung löst in den Fällen von Artikel 29quinquies Absatz 3 Buchstabe c AHVG eine Einkommensteilung aus. Für die Festsetzung des Rückver- gütungsbetrages sind die aufgrund der Einkommensteilung angerechneten Beiträge massgeblich.8 3 Nicht rückvergütet werden die von den Ausländern nach Vollendung des ordent- lichen AHV-Rentenalters entrichteten Beiträge. Bereits bezogene Renten sind vom Rückvergütungsbetrag abzuziehen. 4 Die Rückvergütung kann verweigert werden, soweit sie den Barwert der zukünfti- gen AHV-Leistungen übersteigt, die einem Rentenberechtigten in gleichen Ver- hältnissen zukäme. 5 Beiträge, die vom Gemeinwesen für den Ausländer bezahlt wurden, werden nicht rückvergütet. Sie werden auf Antrag dem Gemeinwesen zurückerstattet.9 Art. 510 Art. 611 Wirkung Aus rückvergüteten Beiträgen und den entsprechenden Beitragszeiten können ge- genüber der AHV und der IV keine Rechte abgeleitet werden. Die Wiederein- zahlung der Beiträge ist ausgeschlossen. Art. 7 Untergang und Verjährung Der Anspruch auf Rückvergütung geht unter mit dem Tod des Berechtigten. Er verjährt mit dem Ablauf von fünf Jahren seit dem Versicherungsfall. 6 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 20. Sept. 2002, in Kraft seit 1. Jan. 2003 (AS 2002 3344). 7 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 11. Sept. 2002, in Kraft seit 1. Jan. 2003 (AS 2002 3717). 8 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 20. Sept. 2002, in Kraft seit 1. Jan. 2003 (AS 2002 3344). 9 Eingefügt durch Ziff. I der V vom 16. Sept. 1996, in Kraft seit 1. Jan. 1997 (AS 1996 2764). 10 Aufgehoben durch Ziff. I der V vom 20. Sept. 2002 (AS 2002 3344). 11 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 20. Sept. 2002, in Kraft seit 1. Jan. 2003 (AS 2002 3344). Rückvergütung der von Ausländern bezahlten Beiträge 3 831.131.12 Art. 812 Zuständigkeit und Verfahren 1 Der Antrag auf Rückvergütung ist in der Regel bei der Schweizerischen Ausglei- chskasse einzureichen. 2 Vor der Ausreise aus der Schweiz kann die Rückvergütung bei der für den Beitrag- sbezug zuständigen Ausgleichskasse beantragt werden. 3 Für die Festsetzung und Auszahlung der rückvergütbaren Beiträge gelten die Artikel 122, 123 und 125 der Verordnung vom 31. Oktober 194713 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVV) sinngemäss. 4 Die Auszahlung erfolgt erst, wenn sämtliche Erwerbseinkommen der gesuchstel- lenden Person in das individuelle Konto eingetragen sind (Art. 138 und 139 AHVV). 5 Die Kosten aus der Überweisung von Beiträgen ins Ausland gehen zu Lasten des Empfängers. Art. 9 Aufhebung bisherigen Rechts Die Verordnung vom 14. März 195214 über die Rückvergütung der von Ausländern an die Alters- und Hinterlassenenversicherung bezahlten Beiträge wird aufgehoben. Art. 10 Inkrafttreten Diese Verordnung tritt am 1. Januar 1997 in Kraft. 12 Fassung gemäss Ziff. I der V vom 20. Sept. 2002, in Kraft seit 1. Jan. 2003 (AS 2002 3344). 13 SR 831.101 14 [AS 1952 281, 1957 414, 1972 2524 Ziff. IV; 1978 420 Ziff. II 5, 1996 208 Art. 2 Bst. o] Alters- und Hinterlassenenversicherung 4 831.131.12 | de |
ab11b214-5c69-440e-8d11-211eb467fb9a | Sachverhalt
ab Seite 279
BGE 104 Ia 278 S. 279
Vilém Kantorik schloss am 22. November 1976 mit der Profina AG einen Vertrag über die Miete eines Personenwagens. In der Folge ergaben sich zwischen den Parteien Meinungsverschiedenheiten, und die Profina AG erlangte beim Bezirksgerichtspräsidium Oberrheintal provisorische Rechtsöffnung für den Betrag von Fr. 1746.-. Als Kantorik bei der Gerichtskommission Oberrheintal Aberkennungsklage einreichte, bestritt die Profina AG die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts mit der Begründung, die Parteien hätten im erwähnten Mietvertrag Zürich 11 als Gerichtsstand vereinbart. Die Gerichtskommission Oberrheintal trat auf die Klage wegen örtlicher Unzuständigkeit nicht ein, und die Rekurskommission des Kantonsgerichts St. Gallen wies die dagegen erhobene Berufung ab. Sie nahm an, Kantorik habe im Vertrag vom 22. November 1976 gültig auf den Wohnsitzgerichtsstand verzichtet.
Das Bundesgericht heisst die wegen Verletzung von
Art. 59 BV
erhobene staatsrechtliche Beschwerde gut. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Die Rekurskommission des Kantonsgerichts nahm an, der Beschwerdeführer habe mit der Eingehung des Mietvertrages vom 22. November 1976 gültig auf den Richter an seinem Wohnort verzichtet, da die im Vertrag enthaltene Gerichtsstandsklausel den von der Rechtsprechung umschriebenen Anforderungen genüge. Ein solcher Verzicht darf nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts nicht leichthin angenommen werden. Es bedarf dazu einer ausdrücklichen Erklärung, deren Inhalt unmissverständlich ist und den Willen, einen anderen Gerichtsstand zu begründen, klar und deutlich zum Ausdruck bringt. Befindet sich die Gerichtsstandsvereinbarung in einem Formularvertrag, so ist nach der Rechtsprechung erforderlich,
BGE 104 Ia 278 S. 280
dass die Klausel an einer für den Verzichtenden gut sichtbaren Stelle angebracht ist und hervortritt (
BGE 93 I 327
f.;
BGE 91 I 14
;
BGE 87 I 56
f., 51 f.
;
85 I 150
E. 2;
BGE 84 I 36
f. mit Hinweisen).
Wie in
BGE 91 I 15
dargelegt worden ist, hat das Bundesgericht beim Entscheid darüber, ob der Inhalt einer Gerichtsstandsklausel unmissverständlich sei und den Willen, einen anderweitigen Gerichtsstand zu begründen, klar und deutlich zum Ausdruck bringe, seit jeher besonders berücksichtigt, ob der Verzichtende geschäftlich erfahren und rechtskundig sei, oder ob er insoweit über keine genügenden Kenntnisse verfüge. Die Berücksichtigung dieses Umstandes kann zur Folge haben, dass eine bestimmte Gerichtsstandsklausel in einem Fall zu einer gültigen Gerichtsstandsvereinbarung führt, während sie in einem anderen nicht geeignet ist, einen Verzicht auf den Wohnsitzrichter zu bewirken. Grund für diese Rechtsprechung ist, dass Vereinbarungen prozessrechtlicher Natur gleich wie Verträge allgemein nach Massgabe des Vertrauensprinzips zu beurteilen sind. Ob ein gültiger Verzicht auf den Wohnsitzrichter vorliegt, hängt demnach davon ab, ob der Vertragspartner des Verzichtenden in guten Treuen annehmen durfte, sein Gegenkontrahent habe mit dem Akzept zum Vertrag auch der darin enthaltenen Gerichtsstandsvereinbarung zugestimmt (
BGE 93 I 328
). Da die in einem Formularvertrag oder in allgemeinen Geschäftsbedingungen enthaltene Gerichtsstandsklausel in der Regel eine geschäftsfremde und damit ungewöhnliche Bestimmung darstellt und zudem ein verfassungsmässiges Recht beschränkt, ist diese Annahme nur dann gerechtfertigt, wenn davon ausgegangen werden kann, der Verzichtende habe von der Gerichtsstandsklausel tatsächlich Kenntnis genommen und ihre Bedeutung richtig erkannt (vgl. dazu MERZ, Massenvertrag und allgemeine Geschäftsbedingungen, jetzt in: Ausgewählte Abhandlungen zum Privat- und Kartellrecht, 1977, S. 327 f.; SCHÖNENBERGER/JÄGGI, Komm., N. 498 ff. zu
Art. 1 OR
; ferner
BGE 98 Ia 321
). Ist der Verzichtende geschäftserfahren und rechtskundig, so darf sein Vertragspartner einen solchen bewussten Verzicht auf den Wohnsitzrichter in aller Regel dann annehmen, wenn die Klausel den formellen Anforderungen der bundesgerichtlichen Rechtsprechung entspricht, d.h. wenn sie unmissverständlich ist, sich an einer gut sichtbaren Stelle befindet und durch ihre drucktechnische Gestaltung hervortritt. Unter diesen Umständen kann von einem erfahrenen und rechtskundigen Geschäftspartner erwartet
BGE 104 Ia 278 S. 281
werden, dass er die Gerichtsstandsklausel beachtet und versteht, ferner, dass er sie ausdrücklich ablehnt, wenn er mit dem Verzicht auf den Wohnsitzrichter nicht einverstanden ist. Das gilt jedoch nicht in gleicher Weise, wenn der Verzichtende geschäftlich nicht gewandt und rechtsunkundig ist. Es entspricht der Erfahrung, dass ein solcher Vertragspartner die in einem Formularvertrag enthaltene Gerichtsstandsklausel häufig auch dann nicht bemerkt oder ihre Tragweite nicht richtig erkennt, wenn die Klausel an sich unmissverständlich abgefasst und von den übrigen Vertragsbestimmungen abgehoben ist. Damit der Gegenkontrahent einer geschäftlich unerfahrenen und rechtsunkundigen Partei annehmen kann, sein Vertragspartner habe auf die Garantie des Wohnsitzrichters bewusst verzichtet, kann deshalb über die formellen Anforderungen der bundesgerichtlichen Rechtsprechung hinaus notwendig sein, dass der Verzichtende auf die Gerichtsstandsklausel in besonderer Weise hingewiesen und dass ihm deren Bedeutung erklärt wird. In diesem Sinne ist die bisherige Rechtsprechung zu präzisieren.
4.
a) Bei dem zwischen den Parteien abgeschlossenen Vertrag handelt es sich um einen zweiseitigen Formularvertrag, der auf der Vorder- und Rückseite desselben Blattes in 28 Ziffern gegliedert ist. Auf der Vorderseite befinden sich Angaben über die Vertragsparteien, den Mietgegenstand und den Mietzins, ferner vorgedruckte Bestimmungen über die Pflichten der Parteien und die Vertragsdauer. Zuunterst sind die Unterschriften angebracht, wobei über jener des Mieters fettgedruckt der Satz steht, der Mieter habe auch die Rückseite gelesen und sei damit einverstanden. Die Rückseite des Vertrages enthält ausschliesslich vorgedruckte Bestimmungen, worunter als letzte die Gerichtsstandsklausel, die folgenden Wortlaut hat: "Als Gerichtsstand vereinbaren die Parteien Zürich 11."
b) Der Inhalt dieser Gerichtsstandsvereinbarung ist unmissverständlich und entspricht in der Formulierung der Art und Weise, wie Gerichtsstandsklauseln üblicherweise abgefasst werden. Die Vereinbarung lässt sich offensichtlich nicht mit den Klauseln gleichsetzen, die das Bundesgericht als unklar bezeichnet hat und die aus diesem Grunde nicht zu einem gültigen Verzicht auf den Wohnsitzrichter führen konnten (vgl.
BGE 93 I 329
;
BGE 91 I 14
E. 3b;
BGE 85 I 150
E. 2). Was die äussere Gestaltung der Klausel betrifft, so fällt vorab auf, dass sie sich auf der
BGE 104 Ia 278 S. 282
Rückseite des Vertrages befindet, während die Unterschriften der Parteien auf der Vorderseite angebracht sind. Dieser Umstand steht der Verbindlichkeit der Vereinbarung jedoch nicht entgegen, denn vor der Unterschrift des Mieters befindet sich ein nicht zu übersehender Hinweis darauf, dass auch die Rückseite des Vertrages Bestimmungen enthalte, denen der Mieter mit seiner Unterschrift zustimme. In diesem Sinne hat das Bundesgericht bereits in
BGE 93 I 328
entschieden (vgl. aber die in
BGE 98 Ia 321
E. 5a geäusserten Bedenken für den Fall, dass die Gerichtsstandsklausel in allgemeinen Geschäftsbedingungen enthalten ist, auf die in der Vertragsofferte verwiesen wird und die dieser lediglich beiliegen). Die Gerichtsstandsklausel ist die letzte Bestimmung des rückseitigen Vertragstextes und steht unter der fettgedruckten Überschrift "Gerichtsstand". Sie ist zudem als einzige Bestimmung selber fettgedruckt. Insoweit kann ihre formelle Gestaltung nicht bemängelt werden. Zu beanstanden ist jedoch, dass sich die Klausel trotz des Fettdrucks vom gesamten Schriftbild des Vertrages nur relativ geringfügig unterscheidet, da die meisten Vertragsbestimmungen mit Überschriften versehen sind, deren Druck jenem der Gerichtsstandsklausel und ihrer Überschrift entspricht. Ferner sind die Titel, die den drei rückseitigen Vertragsabschnitten vorangestellt sind (Beendigung des Mietvertrages, Folgen von Vertragsverletzungen, Nebenbestimmungen), sogar erheblich auffälliger gedruckt als die Gerichtsstandsklausel und ihre Überschrift. Bei dieser Sachlage kann man sich mit guten Gründen fragen, ob die Klausel vom übrigen Vertragstext genügend abgehoben sei. Berücksichtigt man indes, dass die Rückseite des Vertrages weder überladen noch sonstwie unübersichtlich wirkt, sondern im Gegenteil graphisch locker gestaltet und gut gegliedert ist, so lässt sich gleichwohl sagen, dass die formelle Gestaltung der Klausel den Anforderungen der bundesgerichtlichen Rechtsprechung genügt. Wäre der Vertrag von einem erfahrenen Geschäftsmann abgeschlossen worden, so müsste dieser die Gerichtsstandsvereinbarung deshalb als verbindlich gegen sich gelten lassen.
c) Im vorliegenden Fall verhält es sich jedoch anders. Der Beschwerdeführer ist im Sommer 1974 als Flüchtling aus der Tschechoslowakei in die Schweiz eingereist. Er ist von Beruf Maschineningenieur und es erscheint daher glaubhaft, dass er bei Unterzeichnung des Mietvertrages im November 1976 mit
BGE 104 Ia 278 S. 283
den sich stellenden Rechtsfragen nicht vertraut war. In der staatsrechtlichen Beschwerde wird zudem geltend gemacht, der Beschwerdeführer habe im Zeitpunkt des Vertragsschlusses nur minimale Deutschkenntnisse besessen. Die Beschwerdegegnerin bestreitet das und behauptet, der Beschwerdeführer habe die deutsche Sprache genügend beherrscht, um den Vertragstext zu verstehen. Wie es sich damit verhält, kann hier dahingestellt bleiben. Selbst wenn man nämlich davon ausgehen wollte, der Beschwerdeführer habe im Zeitpunkt des Vertragsschlusses bereits gut Deutsch verstanden und den ganzen Vertrag durchgelesen, so konnte er glaubhafterweise nicht wissen, was die am Schluss des Vertrages stehende Gerichtsstandsklausel bedeute. Bei dieser Sachlage konnte die Gegenkontrahentin nach Treu und Glauben nicht annehmen, der Beschwerdeführer habe mit seiner Unterschrift zum Vertrag bewusst auch auf die Garantie des Wohnsitzrichters verzichtet. Sie hätte davon nur dann ausgehen können, wenn zusätzliche Gewähr dafür bestanden hätte, dass der Beschwerdeführer die Bedeutung der Gerichtsstandsklausel richtig erfasse. Das war jedoch nicht der Fall. Zwar macht die Beschwerdegegnerin geltend, mit dem Beschwerdeführer seien die wichtigsten Bestimmungen des Mietvertrages besprochen worden, und sie beantragt, es sei ihr Sachbearbeiter als Zeuge einzuvernehmen. Davon kann indes abgesehen werden, weil die Beschwerdegegnerin selber nicht behauptet, ihr Sachbearbeiter habe neben den das Mietobjekt betreffenden Bestimmungen auch die Gerichtsstandsvereinbarung als wichtige Vertragsbestimmung erachtet und er habe den Beschwerdeführer aus diesem Grunde auf die Klausel und ihre Tragweite besonders aufmerksam gemacht. Es ergibt sich deshalb, dass durch die Unterschrift des Beschwerdeführers zum Mietvertrag vom 22. November 1976 kein gültiger Verzicht auf die Garantie des Wohnsitzrichters zustande kam, weshalb die staatsrechtliche Beschwerden gutzuheissen ist. | de |
aa40629c-3542-4ceb-bd00-0ab80418193c | Sachverhalt
ab Seite 352
BGE 137 V 351 S. 352
A.a
Der am 29. Dezember 1944 geborene L. meldete sich, vertreten durch seinen Vormund, am 22. Mai 2007 erstmals für eine Hilflosenentschädigung der Invalidenversicherung an. Der behandelnde Arzt, Dr. med. F., Arzt für Allgemeine Medizin, diagnostizierte eine ankylosierende Coxarthrose rechts, ein ausgeprägtes Ulcus cruris links, rheumatoide Arthritis und einen Verdacht auf Borderline-Persönlichkeit. Mit Verfügung vom 18. Februar 2008 verneinte die IV- Stelle des Kantons Thurgau (nachfolgend: IV-Stelle) einen Anspruch des L. auf Hilflosenentschädigung. Die Abklärungen hätten ergeben, dass er lediglich in einer Lebensverrichtung (Fortbewegung) hilflos sei. Ausserdem seien die Voraussetzungen der Regelmässigkeit, Dauer und Intensität lebenspraktischer Begleitung nicht erfüllt.
A.b
Am 14. Dezember 2009 meldete sich L. erneut zum Bezug von Hilflosenentschädigung an. Dabei machte er eine besonders aufwendige Pflege und daraus resultierende ungedeckte Kosten geltend. Die IV-Stelle wies dieses zweite Begehren mit Verfügung vom 18. Oktober 2010 ab. Es liege keine aufwendige Pflege vor und es sei nicht Aufgabe der Hilflosenentschädigung, für Kosten aufzukommen, die von der Krankenkasse nicht gedeckt würden.
B.
Auf Beschwerde des L. hob das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau die Verfügung der IV-Stelle vom 18. Oktober 2010 auf und leitete die Sache zur weiteren Behandlung an die Ausgleichskasse des Kantons Thurgau weiter. Zur Begründung führte es aus, Grundlage eines allfälligen Anspruchs auf Hilflosenentschädigung bilde in materieller Hinsicht nicht das Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG), sondern dasjenige über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG), da der fragliche Anspruch frühestens sechs Monate nach der (Neu-)Anmeldung, d.h. am 14. Juni 2010 und somit nach Erreichen des AHV-Alters am 29. Dezember 2009, habe entstehen können. Die diesbezügliche Beurteilung falle daher in die Zuständigkeit der Ausgleichskasse (Entscheid vom 2. März 2011).
C.
Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) reicht dagegen Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ein und
BGE 137 V 351 S. 353
beantragt, der Entscheid des Verwaltungsgerichts vom 2. März 2011 sei aufzuheben und es sei die Sache an dieses zur materiellen Prüfung der Verfügung der IV-Stelle vom 18. Oktober 2010 zurückzuweisen.
Das Verwaltungsgericht stellt Antrag auf Abweisung der Beschwerde, die IV-Stelle schliesst auf Gutheissung und L. verzichtet auf Vernehmlassung.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Streitig ist die frei überprüfbare Rechtsfrage (
Art. 106 Abs. 1 BGG
), wann der allfällige Anspruch des Beschwerdegegners auf Hilflosenentschädigung frühestens entstehen konnte und welche Stelle in der Folge zuständig ist, darüber zu befinden.
2.
Nach
Art. 42 Abs. 4 IVG
, in Kraft seit 1. Januar 2004, wird die Hilflosenentschädigung frühestens ab der Geburt und spätestens bis Ende des Monats gewährt, in welchem vom Rentenvorbezug gemäss Artikel 40 Absatz 1 AHVG Gebrauch gemacht oder in welchem das Rentenalter erreicht wird. Der Anspruchsbeginn richtet sich nach Vollendung des ersten Lebensjahres nach Artikel 29 Absatz 1. In einer Fussnote (188), die unmittelbar nach dem Verweis auf
Art. 29 Abs. 1 IVG
platziert ist, findet sich der Zusatz "Heute gemäss Art. 28 Abs. 1 Bst. b" ("Actuellement par l'art. 28 al. 1 let. b"; "Ora: dall'art. 28 cpv. 1 lett. b").
Wie das BSV in seiner Beschwerde ausführt, wurde die Fussnote 188 nach der parlamentarischen Schlussabstimmung über die 5. IV-Revision, in Kraft seit 1. Januar 2008, auf seine Intervention hin von der Redaktionskommission der Bundesversammlung angebracht. Sie ist somit nicht unmittelbarer Ausdruck des Gesetzgebers.
2.1
Sowohl
Art. 28 IVG
als auch
Art. 29 IVG
haben im Rahmen der 5. IV-Revision eine Änderung erfahren. Bis Ende Dezember 2007 lauteten die beiden Bestimmungen im Wesentlichen wie folgt (nachstehend zitiert als aArt. 28 und 29 IVG):
Art. 28 Massgebende Invalidität
1
Ist ein Versicherter zu mindestens 40 Prozent invalid, so hat er Anspruch auf eine Rente. Diese wird wie folgt nach dem Grad der Invalidität abgestuft:
(...)
BGE 137 V 351 S. 354
Art. 29 Beginn des Anspruchs
1
Der Rentenanspruch nach Artikel 28 entsteht frühestens in dem Zeitpunkt, in dem der Versicherte:
a. mindestens zu 40 Prozent bleibend erwerbsunfähig (
Art. 7 ATSG
) geworden ist oder
b. während eines Jahres ohne wesentlichen Unterbruch durchschnittlich mindestens zu 40 Prozent arbeitsunfähig (
Art. 6 ATSG
) gewesen war.
2
Die Rente wird vom Beginn des Monats an ausgerichtet, in dem der Anspruch entsteht, jedoch frühestens von jenem Monat an, der auf die Vollendung des 18. Altersjahres folgt. Der Anspruch entsteht nicht, solange der Versicherte ein Taggeld nach Artikel 22 beanspruchen kann.
2.2
Seit 1. Januar 2008 lauten
Art. 28 und 29 IVG
in den hier interessierenden Punkten wie folgt:
Art. 28 Grundsatz
1
Anspruch auf eine Rente haben Versicherte, die:
a. ihre Erwerbsfähigkeit oder die Fähigkeit sich im Aufgabenbereich zu betätigen, nicht durch zumutbare Eingliederungsmassnahmen wieder herstellen, erhalten oder verbessern können;
b. während eines Jahres ohne wesentlichen Unterbruch durchschnittlich mindestens 40 Prozent arbeitsunfähig (
Art. 6 ATSG
) gewesen sind; und
c. nach Ablauf dieses Jahres zu mindestens 40 Prozent invalid (
Art. 8 ATSG
) sind.
(...)
Art. 29 Beginn des Anspruchs und Auszahlung der Rente
1
Der Rentenanspruch entsteht frühestens nach Ablauf von sechs Monaten nach Geltendmachung des Leistungsanspruchs nach Artikel 29 Absatz 1 ATSG, jedoch frühestens im Monat, der auf die Vollendung des 18. Altersjahres folgt.
2
Der Anspruch entsteht nicht, solange die versicherte Person ein Taggeld nach Artikel 22 beanspruchen kann.
(...)
3.
Die Vorinstanz vertritt in ihrem Entscheid vom 2. März 2011 die Auffassung, es sei nach wie vor von der Parallelität der Voraussetzungen für den Anspruchsbeginn bei der Rente einerseits und bei der Hilflosenentschädigung anderseits auszugehen. Auf Grund deren Art und Charakter als finanzielle Leistung der Invalidenversicherung bestehe kein Anlass, davon abzuweichen. Die Fussnote 188
BGE 137 V 351 S. 355
betreffe die allgemeine Umschreibung der Voraussetzungen für den Anspruchsbeginn, der bis 31. Dezember 2007 im vormaligen
Art. 29 Abs. 1 IVG
umschrieben gewesen sei. Dem stehe
Art. 35 IVV
(SR 831.201) nicht entgegen, da die Anspruchsvoraussetzungen im übergeordneten Gesetz geregelt seien. Die Regelung von
Art. 35 IVV
besage lediglich, dass die Hilfsbedürftigkeit sachverhaltlich eingetreten sein müsse. Damit sei vom Grundsatz auszugehen, dass
Art. 29 Abs. 1 IVG
, wonach der Leistungsanspruch frühestens nach Ablauf von sechs Monaten nach Geltendmachung des Anspruchs im Sinne von
Art. 29 Abs. 1 ATSG
(SR 830.1) entstehe, auch für die Hilflosenentschädigung gelte.
3.1
In der Vernehmlassung beruft sich die Vorinstanz auf den klaren Wortlaut von
Art. 42 Abs. 4 IVG
. Eine Auslegung praeter legem auf Grund einer Fussnote in der Amtlichen Sammlung, die vom Parlament nicht verabschiedet worden sei, sei nicht statthaft. Auch sei nicht ersichtlich, weshalb die Regelung des Anspruchsbeginns bei der Hilflosenentschädigung eher derjenigen für die Eingliederungsmassnahmen als derjenigen für die Renten entsprechen solle.
3.2
Das Beschwerde führende BSV ist der Ansicht, dass sich der Anspruchsbeginn der Hilflosenentschädigung im Rahmen der 5. IV- Revision nicht geändert habe. Die Hilflosenentschädigung sei damals - mit Ausnahme kleiner Anpassungen - kein Thema gewesen. Geändert hätten jedoch diverse Bestimmungen im Zusammenhang mit dem Rentenanspruch und mit dem Beginn des Anspruchs auf Eingliederungsmassnahmen. Bei den Renten sei neben der Neufassung der Anspruchsvoraussetzungen in
Art. 28 Abs. 1 IVG
vor allem auch eine Neuordnung des Rentenbeginns in
Art. 29 Abs. 1 IVG
geschaffen worden. Ziel dieser Neuordnung sei eine möglichst frühzeitige Erfassung der beeinträchtigten Personen, um die Chancen auf eine noch erfolgreiche Eingliederung oder eine Sicherung des noch bestehenden Arbeitsplatzes so hoch wie möglich zu halten. Die sechs Monate, die nach der Anmeldung zunächst zurückzulegen seien, bis ein Rentenanspruch entstehen könne, entspreche der Zeit der Frühintervention, jener Zeit also, in der die versicherten Personen ihr Augenmerk auf die Eingliederung richten sollen und in der die Rentenperspektive möglichst ausgeblendet sein solle. Die Änderungen zum Anspruchsbeginn bei der Rente seien demnach durch das neue Eingliederungssystem bedingt und stellten keine Sparmassnahme dar. Für die Hilflosenentschädigung würden die Ziele von
Art. 29 Abs. 1 IVG
nicht passen. Weder gelte es, für die Zeit der
BGE 137 V 351 S. 356
Frühintervention die Perspektive weg von der Hilflosenentschädigung zu nehmen, noch sei es in Bezug auf die Eingliederungswirksamkeit problematisch, wenn eine Hilflosenentschädigung erst zu einem relativ späten Zeitpunkt angemeldet und folglich rückwirkend zugesprochen werde. Beim Verweis in
Art. 42 Abs. 4 IVG
handle es sich um eine "gesetzgeberische Unterlassungssünde". Auf eine formelle Berichtigung sei verzichtet worden, da
Art. 42 IVG
nicht Gegenstand der 5. IV-Revision gewesen sei und die Bundesversammlung darüber streng formell betrachtet keinen Beschluss gefasst habe. Immerhin sei mittlerweile im Rahmen der Vorlage zur 6. IV-Revision (zweites Massnahmenpaket) eine ausdrückliche Regelung des Anspruchsbeginns der Hilflosenentschädigung in
Art. 42 Abs. 4
bis
IVG
vorgeschlagen und damit eine formelle Korrektur des Verweises beabsichtigt. Für Hilflosenentschädigungsfälle könne somit die Bestimmung zur Entstehung des Rentenanspruchs nach
Art. 29 Abs. 1 IVG
nicht angewendet werden. Vielmehr seien Art. 28 Abs. 1 Bst. b IVG und
Art. 24 ATSG
heranzuziehen. Unter diesen Umständen hätte im vorliegenden Fall ein allfälliger Anspruch auf Hilflosenentschädigung bereits vor dem Eintritt ins AHV-Alter entstanden sein können, womit korrekterweise die IV-Stelle die entsprechende leistungsablehnende Verfügung erlassen habe.
4.
Es ist der Vorinstanz zuzustimmen, dass der Wortlaut von
Art. 42 Abs. 4 IVG
grundsätzlich klar ist und in Bezug auf den Beginn des Anspruchs auf Hilflosenentschädigung unmissverständlich auf
Art. 29 Abs. 1 IVG
verweist. Von diesem klaren Wortlaut ist indessen abzuweichen, wenn triftige Gründe dafür bestehen, dass er nicht den wahren Sinn der Bestimmung wiedergibt. Solche triftigen Gründe können sich aus der Entstehungsgeschichte, aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift und aus dem Zusammenhang mit anderen Gesetzesbestimmungen ergeben (
BGE 137 I 77
E. 3.2.2 S. 84 mit Hinweis auf
BGE 131 II 217
E. 2.3 S. 221).
4.1
Art. 42 Abs. 4 IVG
wurde im Rahmen der 4. IV-Revision, in Kraft seit 1. Januar 2004, eingeführt und hat bis heute - abgesehen von der angebrachten Fussnote 188 (vorne E. 2) - keine Änderung erfahren. Anlass für seine Einführung war die Rechtsprechung des Eidg. Versicherungsgerichts (EVG), wonach die Regeln über die Entstehung des Rentenanspruchs sinngemäss auch für den Beginn des Anspruchs auf eine Hilflosenentschädigung Geltung hätten (BBl 2001 3289 ad
Art. 42 IVG
). Das EVG hatte in seinem Urteil I 498/78
BGE 137 V 351 S. 357
vom 8. Mai 1979, auszugsweise publ. in:
BGE 105 V 66
, erwogen, dass das IVG in Bezug auf den Anspruch auf Hilflosenentschädigung keine Wartezeit vorschreibe, jedoch nur als hilflos gelte, wer
dauernd
der Hilfe Dritter oder der persönlichen Überwachung bedürfe. Dieses Erfordernis sei erfüllt, wenn der Zustand, der die Hilflosigkeit begründe, weitgehend stabilisiert und im Wesentlichen irreversibel sei, wenn also analoge Verhältnisse wie bei der ersten Variante von aArt. 29 Abs. 1 IVG gegeben seien. Ferner sei das Erfordernis der Dauer als erfüllt zu betrachten, wenn die Hilflosigkeit während 360 Tagen ohne wesentlichen Unterbruch gedauert habe und voraussichtlich weiterhin andauern werde (2. Variante). Da der Anspruch auf Hilflosenentschädigung nicht von einem allfälligen Rentenanspruch abhängig sei, entstehe er im Falle der ersten Variante somit im Zeitpunkt, in dem die leistungsbegründende Hilflosigkeit als bleibend vorausgesehen werden könne, und im Falle der zweiten Variante nach Ablauf der 360 Tage, sofern weiterhin mit einer Hilflosigkeit der vorausgesetzten Art zu rechnen sei (
BGE 105 V 66
E. 2 S. 67). Zwar stand im Zeitpunkt dieser Rechtsprechung eine (nochmals) ältere Fassung von
Art. 29 IVG
in Kraft als im Zeitpunkt der Einführung von
Art. 42 Abs. 4 IVG
und vor Umsetzung der 5. IV-Revision (vgl. vorne E. 2.1). Die Unterschiede sind aber im Zusammenhang mit der hier zu beurteilenden Streitfrage von untergeordneter Bedeutung, zumal sie sich vor allem im Masslichen finden (Höhe der Erwerbsunfähigkeit bzw. Arbeitsunfähigkeit [je zur Hälfte]; vgl. Urteil I 498/78 vom 8. Mai 1979 E. I.1 und aArt. 29 Abs. 1 IVG).
Dieser altrechtliche Hintergrund darf nicht schon zum Schluss verleiten, dass der in
Art. 42 Abs. 4 IVG
verankerte konnexe Anspruchsbeginn von Hilflosenentschädigung und Rente als Fortschreibung seiner Parallelität zu verstehen ist. Zum einen ist mit der 5. IV-Revision eine umfassende Neugestaltung des Rentenanspruchs einhergegangen. Zum andern bildete die Hilflosenentschädigung, wie das BSV zutreffend ausführt, als solche nicht Gegenstand der besagten IV-Revision.
4.2
Ziel der 5. IV-Revision war es u.a., die Neuberentungen zu dämpfen. Im Hinblick darauf standen im Leistungsbereich zwei Gesichtspunkte im Vordergrund: Einerseits sollten neu eine Früherfassung und eine Frühintervention bei arbeitsunfähigen Versicherten erfolgen sowie Integrationsmassnahmen zur Vorbereitung auf die berufliche Eingliederung eingeführt und sollte der Bereich der beruflichen
BGE 137 V 351 S. 358
Eingliederungsmassnahmen ausgeweitet werden. Anderseits sollte der Zugang zur Invalidenrente durch eine Anpassung des Invaliditätsbegriffs und der Voraussetzungen des Rentenanspruchs eingeschränkt werden (BBl 2005 4502 f. Ziff. 1.2; THOMAS LOCHER, Invalidität, Invaliditätsgrad und Entstehung des Rentenanspruchs nach dem Entwurf zur 5. IV-Revision, in: Medizin und Sozialversicherung im Gespräch, Schaffhauser/Schlauri [Hrsg.],2006, S. 276; vgl. auch ROSALBA AIELLO LEMOS CADETE, La 5
e
révision de l'AI - 1
re
étape de l'assainissement de l'AI, in: La 5
e
révision de l'AI, Kahil-Wolff/Simonin [Hrsg.], 2009, S. 27 ff. und 37).
Die in
Art. 29 Abs. 1 IVG
stipulierte Wartezeit von sechs Monaten seit Anmeldung dient der Zielerreichung des ersten Gesichtspunkts. Sie bezweckt, während der Frühinterventionsphase von sechs Monaten bei den betroffenen Personen die Anspruchsvoraussetzungen auf ordentliche Leistungen der Invalidenversicherung zu klären und insbesondere einen Grundsatzentscheid betreffend Rentenanspruch zu fällen. Die frühzeitige Klärung der Rentenfrage ist oft wichtig, um anschliessend die Perspektive aller Beteiligten auf die berufliche (Wieder-)Eingliederung zu konzentrieren. Mit Abschluss der Phase der Frühintervention ist also festgestellt, welche beruflichen Massnahmen nötig sind und allenfalls welche Rentenhöhe in Frage kommt, damit eine bestmögliche Arbeitsintegration erreicht werden kann (BBl 2005 4519 dritter Absatz, Ziff. 1.6.1.2.2, 4568 f.). Diese (neue) Konzeption des Grundsatzes "Eingliederung statt Rente" (BBl 2005 4524 Ziff. 1.6.1.3.3) hat keinen Zusammenhang mit der Frage der Hilflosigkeit. Muss eine versicherte Person trotz einer an sich bereits bestehenden Hilflosigkeit im Sinne von
Art. 9 ATSG
auf den Beginn der Hilflosenentschädigung nur deshalb warten, weil die IV-Stellen gehalten sind, vor dem Anspruch auf eine Rente der Invalidenversicherung allfällige Integrationsmassnahmen zu prüfen, wird mit Bezug auf den Beginn der Hilflosenentschädigung ein Umstand berücksichtigt, der mit der Hilflosigkeit nichts zu tun hat. Sinn und Zweck von
Art. 29 Abs. 1 IVG
sprechen somit gegen die Befolgung des Wortlauts von
Art. 42 Abs. 4 IVG
.
4.3
Im Weiteren sind die bei der Hilflosenentschädigung verlangte Hilflosigkeit und die bei der Rente vorausgesetzte Invalidität zwei verschiedene Begriffe, wie das Bundesgericht unlängst in
BGE 133 V 42
dargelegt hat. Sie haben nur so viel gemeinsam, als beide an eine Beeinträchtigung der Gesundheit anknüpfen (vgl.
Art. 7 und 8 ATSG
einerseits mit
Art. 9 ATSG
anderseits). Zwar hatte das EVG
BGE 137 V 351 S. 359
im zitierten Urteil I 498/78 (vorne E. 4.1) davon gesprochen, dass der Anspruch auf Hilflosenentschädigung eine "Invalidität" voraussetze (
BGE 105 V 66
E. 2 S. 67). Dies ist u.a. darauf zurückzuführen, dass die Umschreibung der Hilflosigkeit in der bis Ende 2002 gültig gewesenen Fassung von
Art. 42 Abs. 2 IVG
mit Hilfe dieses Terminus erfolgte.
Art. 9 ATSG
, in Kraft seit 1. Januar 2003, geht von einer "Beeinträchtigung der Gesundheit" aus, was eine gewisse Ausweitung darstellt. Indes war der Begriff der Hilflosigkeit schon vor Inkrafttreten des ATSG am 1. Januar 2003 nicht auf Invalide im Sinne von aArt. 4 IVG, d.h. auf Versicherte, die infolge eines geistigen oder körperlichen Gesundheitsschadens in ihrer Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt waren, beschränkt. Das Wort "Invalidität" hatte im Zusammenhang mit der Hilflosenentschädigung schon nach altem Recht nicht eine wirtschaftliche Bedeutung, sondern diejenige der körperlichen und/oder geistigen Behinderung. So waren körperlich Behinderte, wie z.B. Rollstuhlfahrer, die dank einer guten Eingliederung wegen ihres Gesundheitsschadens keine Erwerbseinbusse erleiden, hingegen in den alltäglichen Lebensverrichtungen dauernd auf die Hilfe Dritter angewiesen sind, schon bisher anspruchsberechtigt. Das ATSG hat deshalb mit der neuen Formulierung von Art. 9 insbesondere einen redaktionellen Fehler eliminiert (
BGE 133 V 42
E. 3.4 S. 45 f.).
Wiewohl die Hilflosigkeit eine leistungsspezifische (vgl.
Art. 4 Abs. 2 IVG
) Invalidität darstellt, unterscheidet sie sich klar von der rentenbegründenden Invalidität, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Dass Hilflosigkeit und Invalidität zwei verschiedene Dinge sind, zeigt sich - umgekehrt - auch darin, dass Versicherte, die vollständig invalid sind und daher eine ganze Rente beziehen, ihre alltäglichen Lebensverrichtungen trotzdem selber besorgen können und deshalb nicht notwendigerweise auch hilflos sind. Insoweit fehlt es an einem vernünftigen Grund für den in
Art. 42 Abs. 4 IVG
- hinsichtlich des Anspruchsbeginns - stipulierten Zusammenhang zwischen Hilflosenentschädigung und Rente. Den Materialien zur 5. IV- Revision lässt sich nichts entnehmen, weshalb die Hilflosenentschädigung erst ab dem Zeitpunkt des Rentenbeginns laufen soll und nicht, wie bis anhin, wenn die Voraussetzungen für die Entschädigung erfüllt sind (vgl. vorne E. 4.1).
4.4
In systematischer Hinsicht fällt auf, dass
Art. 29 Abs. 1 IVG
- anders als die ursprüngliche Fassung in der Botschaft vom 22. Juni
BGE 137 V 351 S. 360
2005 zur Änderung des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung [5. Revision] - in zwei Teile geteilt wurde (vgl. vorne E. 2.2 und BBl 2005 4613). Eine solche Zweiteilung war nie Diskussionspunkt im Rahmen der parlamentarischen Beratungen, weder in den Kommissionen noch anlässlich der Plenumsberatungen der Eidgenössischen Kammern (vgl. Protokoll der nationalrätlichen Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit vom 11.-13. Januar 2006, S. 73-75; Protokoll der ständerätlichen Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit vom 29./30. Mai 2006, S. 44-46; AB 2006 N 381 f. unten und AB 2006 S 607). Gemäss BSV erfolgte die Zweiteilung durch die Redaktionskommission. Sie ist formell - was den Aufgabenbereich der Redaktionskommission beschlägt (Art. 57 des Bundesgesetzes vom 13. Dezember 2002 über die Bundesversammlung [Parlamentsgesetz, ParlG; SR 171.10]) - mit Blick auf den Wortlaut von
Art. 42 Abs. 4 IVG
insoweit nachvollziehbar, als sich der gleichzeitige Bezug von Taggeld und Hilflosenentschädigung nicht ausschliesst. Während Ersteres der Fristung des allgemeinen Lebensunterhalts dient, kommt Letzterer schadenersatzähnlicher Charakter zu (Urteil 8C_309/2011 vom 31. Mai 2011 E. 3.3.3). Hätte der Gesetzgeber wirklich eine materielle Gleichschaltung von Beginn des Rentenanspruchs und des Anspruchs auf Hilflosenentschädigung gewollt, hätte er die Auswirkung der bundesrätlichen Fassung von
Art. 29 Abs. 1 IVG
auf die Hilflosenentschädigung wohl diskutiert. Dies gilt umso mehr, als der integrale Verweis auf
Art. 29 Abs. 1 IVG
am Ende von
Art. 42 Abs. 4 IVG
in offenkundigem Widerspruch zum ersten Satz dieser Bestimmung steht, der die altersmässige Voraussetzung abweichend von
Art. 29 Abs. 1 IVG
regelt.
4.5
Nach dem Gesagten entspricht die in
Art. 42 Abs. 4 IVG
statuierte Verknüpfung von Hilflosenentschädigung und Rente nicht dem tatsächlichen Willen des Gesetzgebers. Dass es mit der Fussnote 188 "nur" zu einer redaktionellen Berichtigung gekommen ist, ändert nichts daran. Abgesehen von der grossen Gefahr, dass die Fussnote leicht überlesen wird, steht hier nicht die Zulässigkeit dieser formellen Korrektur zur Beurteilung, sondern der wahre materielle Gehalt der auszulegenden Bestimmung (vorne E. 4). Im Übrigen soll, wie das BSV in seiner Beschwerde festhält, dem Verweis in
Art. 42 Abs. 4 IVG
im Rahmen der 6. IV-Revision (zweites Massnahmenpaket) Rechnung getragen werden.
BGE 137 V 351 S. 361
5.
5.1
Entgegen dem wörtlich verstandenen Verweis in Art. 42 Abs. 4 in fine IVG richtet sich der zeitliche Beginn des Anspruchs auf Hilflosenentschädigung somit nicht nach
Art. 29 Abs. 1 IVG
. Vielmehr gelangt weiterhin sinngemäss die Bestimmung zu den Anspruchsvoraussetzungen für eine Rente zur Anwendung, also
Art. 28 Abs. 1 IVG
. Dazu hat die II. sozialrechtliche Abteilung die Zustimmung der I. sozialrechtlichen Abteilung eingeholt (Anfrage vom 4. August 2011; Antwort vom 10. August 2011;
Art. 23 Abs. 2 BGG
).
Der Entstehungsgrund der bleibenden Erwerbsunfähigkeit wurde mit der 5. IV-Revision fallen gelassen (vgl. vorne E. 2.1 und 2.2), die 2. Variante von aArt. 29 Abs. 1 IVG - d.h. Hilflosigkeit während eines Jahres ohne wesentlichen Unterbruch und voraussichtlich weiterhin andauernd - dagegen beibehalten (nunmehr
Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG
[vorne E. 2.2]). Anders als in der Fassung vor der 5. IV-Revision, in welcher die fragliche Litera lediglich alternativ gemeint ist, ist sie in der seit 1. Januar 2008 gültigen Fassung kumulativer Tatbestand (ULRICH MEYER, Bundesgesetz über die Invalidenversicherung, 2. Aufl. 2010, S. 269 f.; vgl. auch die Botschaft zur 5. IV-Revision betreffend
Art. 28 IVG
, BBl 2005 4568). In Anbetracht der begrifflichen Differenz zwischen "Hilflosigkeit" und "Invalidität" (vorne E. 4.3) bedeutet dieser Umstand aber nicht, dass die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Hilflosenentschädigung gleichermassen auszudehnen sind. Gleichzeitig steht die Rechtmässigkeit von Rz. 8092 des Kreisschreibens des BSV über Invalidität und Hilflosigkeit in der Invalidenversicherung (KSIH) fest, in der ebenfalls
Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG
als anwendbar erklärt wird. Ob und inwieweit eine Zusprechung der Hilflosenentschädigung - aus gesetzessystematischen Gründen - nach wie vor auch vor Ablauf des Wartejahres in Betracht kommt (vorne E. 4.1; MEYER, a.a.O., S. 430), braucht an dieser Stelle nicht beantwortet zu werden (vgl. hinten E. 5.2).
Der Anspruch auf Hilflosenentschädigung kann solange geltend gemacht werden, als die Frist gemäss
Art. 24 ATSG
läuft. Das Bundesgericht hat erst kürzlich im Zusammenhang mit einer Hilflosenentschädigung entschieden, dass bei einer Anmeldung nach dem 1. Januar 2008 lediglich die bis zum 1. Januar 2007 (Zeitpunkt des Inkrafttretens der 5. IV-Revision abzüglich 12 Monate) entstandenen Ansprüche verwirkt sind. Mit dem Ausserkrafttreten von aArt. 48
BGE 137 V 351 S. 362
Abs. 2 IVG ist somit
Art. 24 Abs. 1 ATSG
sofort und uneingeschränkt anwendbar geworden, d.h. es gilt eine fünfjährige Verwirkungsfrist ab Entstehung des - am 1. Januar 2008 nach altem Recht noch nicht verwirkten - Anspruchs auf die einzelne Leistung (Urteile 9C_42/2011 vom 27. April 2011 E. 4.2 und 8C_233/2010 vom 7. Januar 2011 E. 4.2.3).
5.2
Für den hier zu beurteilenden Fall bedeutet dies, dass ein Anspruch des Versicherten auf Hilflosenentschädigung vor Erreichen des 65. Altersjahrs möglich war, für welche Prüfung die IV-Stelle zuständig ist (
Art. 40 Abs. 1 IVV
). Die Vorinstanz hat deren Verfügung vom 18. Oktober 2010 demnach zu Unrecht aufgehoben und die Sache an die Ausgleichskasse des Kantons Thurgau weitergeleitet. Vielmehr wäre sie zu einer materiellen Auseinandersetzung mit dem Fall verpflichtet gewesen. | de |
704a8731-cda1-4958-a513-dbea61638019 | Sachverhalt
ab Seite 373
BGE 137 V 373 S. 373
A.
Mit Urteil vom 30. November 2006 wurde die am 14. Juni 1983 geschlossene Ehe zwischen F. und H. geschieden und H. verpflichtet, F. bis und mit September 2017 einen monatlichen Unterhaltsbeitrag von Fr. 2'700.- und ab Oktober 2017 bis September 2018
BGE 137 V 373 S. 374
einen solchen von Fr. 2'000.- zu bezahlen. Am 28. Januar 2009 verstarb H., welcher bei der Pensionskasse Energie (PKE; nachfolgend: Pensionskasse) berufsvorsorgeversichert gewesen war.
Mit Schreiben vom 18. Juni 2009 beantragte F. bei der Pensionskasse die Ausrichtung einer Witwenrente. Die Vorsorgeeinrichtung wies das Begehren mit Schreiben vom 15. Oktober und 26. November 2009 ab. Am 16. April 2010 liess F. Klage am Versicherungsgericht des Kantons Solothurn erheben mit dem Antrag, es sei festzustellen, dass die Beklagte mit Wirkung ab 1. Februar 2009 bis mindestens Monat September 2018 eine Witwenrente nach Massgabe der gesetzlichen Vorschriften über die berufliche Vorsorge schulde. Die Beklagte sei anzuweisen, die ihr zustehende Witwenrente zu berechnen und ihr zu eröffnen.
B.
Mit Entscheid vom 29. November 2010 hiess das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn die Klage gut und verpflichtete die Pensionskasse, F. rückwirkend ab 1. Februar 2009 bis und mit September 2018 monatlich eine - noch zu berechnende - Witwenrente zu leisten, zuzüglich 5 % Zins auf den Rückständen ab 1. Februar 2009.
C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die Pensionskasse, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei festzustellen, dass F. kein Anrecht auf eine Witwenrente habe. Eventualiter sei die Sache zwecks Abklärung des Sachverhalts und Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Subeventualiter seien F. Zinsen ab Klageerhebung vom 16. April 2010 zu gewähren.
Das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn und F. schliessen auf Abweisung der Beschwerde, während das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) eine Vernehmlassung einreicht, ohne einen Antrag zu stellen. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Gestützt auf die Delegationsnorm von
Art. 19 Abs. 3 BVG
(SR 831.40) hat der Bundesrat in
Art. 20 der Verordnung vom 18. April 1984 über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (BVV 2; SR 831.441.1)
Bestimmungen über den Anspruch der geschiedenen Ehegatten auf Hinterlassenenleistungen erlassen. Danach ist der geschiedene Ehegatte nach dem Tod seines früheren Ehegatten der Witwe oder dem Witwer gleichgestellt, sofern die Ehe
BGE 137 V 373 S. 375
mindestens zehn Jahre gedauert hat (lit. a) und dem geschiedenen Ehegatten im Scheidungsfall eine Rente oder eine Kapitalabfindung für eine lebenslängliche Rente zugesprochen wurde (lit. b).
3.
Streitig und zu prüfen ist der Anspruch der Beschwerdegegnerin auf eine Witwenrente. Unbestritten ist, dass sie die Voraussetzung für einen Witwenrentenanspruch nach lit. a der genannten Bestimmung erfüllt. Hingegen steht in Frage, ob als Voraussetzung der zugesprochenen Rente nach lit. b befristete Unterhaltszahlungen genügen, wie sie der Beschwerdegegnerin im Scheidungsurteil bis September 2018 zugesprochen worden waren, oder ob eine lebenslängliche Rente vorausgesetzt ist.
3.1
Die Vorinstanz hat einen Anspruch bejaht und
Art. 20 Abs. 1 lit. b BVV 2
dahingehend ausgelegt, dass auch eine nicht lebenslänglich zugesprochene Unterhaltsleistung als Voraussetzung genüge, dies unter Hinweis auf den unzweideutigen Wortlaut der Bestimmung, wonach das Wort "lebenslänglich" lediglich im Zusammenhang mit der "Kapitalauszahlung" zu verstehen sei, auf die Mitteilungen des BSV über die berufliche Vorsorge Nr. 1 vom 24. Oktober 1986 und Nr. 75 vom 2. Juli 2004 und auf die überzeugenden Ausführungen von HANS MICHAEL RIEMER (Familienrechtliche Beziehungen als Leistungsvoraussetzungen gemäss AHVG/IVG, BVG-Obligatorium und freiwilliger beruflicher Vorsorge, SZS 1986 S. 169 ff.).
3.2
Die beschwerdeführende Pensionskasse rügt demgegenüber eine bundesrechtswidrige Auslegung des
Art. 20 Abs. 1 BVV 2
. Sie macht geltend, die Vorinstanz verkenne die korrekte Anwendung von
Art. 19 Abs. 3 BVG
in Verbindung mit
Art. 20 Abs. 1 BVV 2
. Sie habe die Unterscheidung zwischen dem Anspruch der geschiedenen Witwe auf eine Rente und der Berechnung des Versorgerschadens nicht vorgenommen. Zudem stütze sie sich auf veraltete Lehrmeinungen und ihre Begründung, dass eine Unterscheidung von lebenslänglich und nicht lebenslänglich nur bei Kapitalzahlungen Sinn mache, sei nicht stichhaltig. Die grammatikalische, historische sowie teleologische Auslegung spreche eindeutig dafür, dass ein Anspruch nur bei einer lebenslänglichen Rente bestehe.
3.3
Die Beschwerdegegnerin schliesst sich in ihrer Vernehmlassung im Wesentlichen der Argumentation der Vorinstanz an.
4.
Das Bundesgericht hat sich zur streitigen Frage bisher nicht explizit geäussert. Zwar ging es in den bisherigen Urteilen betreffend den Anspruch auf Geschiedenen-Witwenrenten von der jeweils
BGE 137 V 373 S. 376
unbestritten erfüllten Voraussetzung einer lebenslänglichen Unterhaltsverpflichtung aus, ohne jedoch die Frage zu vertiefen, da diese Urteile - im Unterschied zur vorliegenden Konstellation - alle Fälle mit lebenslänglichen Scheidungsrenten betrafen (SVR 2011 BVG Nr. 10 S. 35, 9C_1079/2009; SVR 2006 BVG Nr. 18 S. 63, B 85/04; SVR 2001 BVG Nr. 19 S. 73, B 6/99; SZS 1995 S. 137, B 30/93; Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts B 89/05 vom 13. Februar 2006) oder dann Kapitalauszahlungen (SZS 1999 S. 242, B 45/96; SVR 1994 BVG Nr. 8 S. 21, B 10/93; Urteil B 135/06 vom 9. November 2007).
5.
5.1
Ausgangspunkt jeder Auslegung bildet der Wortlaut. Ist der Text nicht klar und sind verschiedene Interpretationen möglich, muss nach seiner wahren Tragweite gesucht werden unter Berücksichtigung aller Auslegungselemente. Abzustellen ist dabei namentlich auf die Entstehungsgeschichte, auf den Zweck der Norm, die ihr zugrunde liegenden Wertungen und ihre Bedeutung im Kontext mit anderen Bestimmungen. Die Materialien sind zwar nicht unmittelbar entscheidend, dienen aber als Hilfsmittel, um den Sinn der Norm zu erkennen. Das Bundesgericht hat sich bei der Auslegung von Erlassen stets von einem Methodenpluralismus leiten lassen und nur dann allein auf das grammatikalische Element abgestellt, wenn sich daraus zweifelsfrei die sachlich richtige Lösung ergab (
BGE 135 II 78
E. 2.2 S. 81;
BGE 135 V 153
E. 4.1 S. 157,
BGE 135 V 249
E. 4.1 S. 252;
BGE 134 I 184
E. 5.1 S. 193;
BGE 134 II 249
E. 2.3 S. 252).
5.2
Verordnungsrecht ist gesetzeskonform auszulegen. Es sind die gesetzgeberischen Anordnungen, Wertungen und der in der Delegationsnorm eröffnete Gestaltungsspielraum mit seinen Grenzen zu berücksichtigen (
BGE 131 V 263
E. 5.1 S. 266 mit Hinweisen). Ebenfalls ist den Grundrechten und verfassungsmässigen Grundsätzen Rechnung zu tragen und zwar in dem Sinne, dass - sofern durch den Wortlaut (und die weiteren massgeblichen normunmittelbaren Auslegungselemente) nicht klar ausgeschlossen - der Verordnungsbestimmung jener Rechtssinn beizumessen ist, welcher im Rahmen des Gesetzes mit der Verfassung (am besten) übereinstimmt (verfassungskonforme oder verfassungsbezogene Interpretation;
BGE 135 I 161
E. 2.3 S. 163 mit Hinweis).
6.
6.1
Zunächst ist der sprachliche Sinn des Passus "eine Rente oder eine Kapitalabfindung für eine lebenslängliche Rente" in
Art. 20
BGE 137 V 373 S. 377
Abs. 1 lit. b BVV 2
zu ermitteln. Aus dem Sprachsinn ergibt sich nicht, dass der Begriff "lebenslänglich" auch für die Rente zu gelten hat. Nach der Satzstellung und dem allgemeinen Sprachgebrauch ist vielmehr davon auszugehen, dass "lebenslänglich" gerade nur für die Kapitalabfindung gilt und es sich bei der Rente demzufolge nicht um eine lebenslängliche handeln muss, zumal ansonsten der Passus anders hätte formuliert werden können ("eine lebenslängliche Rente und eine Kapitalabfindung für eine solche ..." oder Ähnliches). Das Gleiche gilt für die französische Fassung ("b. qu'il ait bénéficié, en vertu du jugement de divorce, d'une rente ou d'une indemnité en capital en lieu et place d'une rente viagère"). Die italienische Fassung ist deshalb nicht zum Vergleich heranzuziehen, da darin auf Grund eines redaktionellen Versehens die Rente neben der Kapitalleistung vergessen ging ("b. in virtù della sentenza di divorzio, gli sia stata assegnata un'indennità in capitale invece di una rendita vitalizia").
6.2
Auch aus der Entstehungsgeschichte lässt sich nicht ableiten, dass entgegen dem Wortlaut von einer lebenslänglichen Rente als Voraussetzung auszugehen wäre. Vielmehr führt das BSV in der Mitteilung Nr. 1 über die berufliche Vorsorge vom 24. Oktober 1986 aus,
Art. 20 BVV 2
verfolge den Zweck, den sog. Versorgerschaden auszugleichen, den die geschiedene Frau durch den Wegfall dieser Unterhaltsbeiträge erlitten habe (vgl. dazu auch Urteil B 135/06 vom 9. November 2007 und das darin zitierte Urteil SZS 1999 S. 242, B 45/96). Erhalte sie gleichzeitig Leistungen von anderen Versicherungen, wie in- und ausländische Sozialversicherungen (z.B. AHV, IV) und Vorsorgeeinrichtungen nach
Art. 24 Abs. 2 BVV 2
, verringere sich der Versorgerschaden dementsprechend, so dass die Vorsorgeeinrichtung dann nur noch den verbleibenden Versorgerschaden auszugleichen habe. Diese Kürzungsregel von
Art. 20 Abs. 2 BVV 2
wolle, wie die übrigen Kürzungsbestimmungen des BVG, eine ungerechtfertigte Überentschädigung vermeiden. Was die praktische Durchführung anbelange, könne Folgendes bemerkt werden: Wenn die Unterhaltspflicht gemäss Scheidungsurteil zeitlich beschränkt sei, bestehe der Leistungsanspruch der geschiedenen Frau ebenfalls nur bis zum Ablauf dieser Frist. Wenn der geschiedene Mann erst nach diesem Zeitpunkt gestorben sei, so sei sie folglich überhaupt nicht leistungspflichtig, weil kein Versorgerschaden mehr bestehe. Wenn im Scheidungsurteil der Unterhaltsbeitrag nicht in Form einer Rente, sondern als Kapitalabfindung vorgesehen war,
BGE 137 V 373 S. 378
komme es entscheidend darauf an, was alles damit abgegolten werden solle. Massgebend sei vor allem, ob auch die mit der Scheidung der Ehe verloren gegangene Anwartschaft auf eine Witwenrente abgefunden worden sei. Sei dies der Fall, so könne die geschiedene Frau später nicht mehr wie eine Witwe nochmals eine Hinterlassenenleistung beanspruchen. Das BSV ging also auch davon aus, ein befristeter Unterhaltsbeitrag könne auch einen Anspruch auf eine Hinterlassenenrente auslösen, diese bestehe dann aber auch befristet. Es müsse aber jedenfalls ein Versorgerschaden vorliegen.
Dass ein Versorgerschaden Voraussetzung sein soll für einen Anspruch auf Hinterlassenenleistungen, hat das Bundesgericht in mehreren Urteilen festgehalten (
BGE 134 V 208
E. 4.3.4 S. 220 und E. 6 S. 222; Urteile des Eidg. Versicherungsgerichts B 6/99 vom 11. Juni 2001 E. 3a und B 30/93 vom 21. April 1994 E. 3a). Diesen Grundgedanken hatte auch das BSV im Kommentar vom 9. August 1983 zum Entwurf der BVV 2, S. 27, zum Ausdruck gebracht (vgl. hiezu SVR 1994 BVG Nr. 8 S. 21, B 10/93). Im Rahmen der 1. BVG-Revision wurde auf Grund des in Kraft getretenen neuen Scheidungsrechts (Vorsorgeausgleich) die Abschaffung der Geschiedenen-Hinterlassenenrente resp. die Streichung der entsprechenden Delegationsnorm in
Art. 19 Abs. 3 BVG
erwogen, schliesslich aber darauf verzichtet. Letzteres geschah nicht zuletzt mit Rücksicht auf jene Fälle, in denen die Scheidung im Rentenalter - und damit ohne Teilung der Austrittsleistung gemäss
Art. 122 ZGB
- vollzogen wurde und der geschiedene Ehegatte (allenfalls zu Unrecht) keine angemessene Entschädigung nach
Art. 124 ZGB
zugesprochen erhielt. In der vorberatenden ständerätlichen Kommission wurde damals eingeräumt, dass die (neuen) scheidungsrechtlichen Vorsorgeregelungen gemäss
Art. 122 ff. ZGB
in der Praxis (noch) nicht durchwegs konsequent umgesetzt wurden; die Geschiedenen-Hinterlassenenrente sollte daher beibehalten werden, um gewisse finanzielle Schwierigkeiten zu kompensieren; klar brachte man indessen den Willen zum Ausdruck, dass der Kreis der Anspruchsberechtigten in der Verordnung - wie bisher - restriktiv umschrieben und der Leistungsumfang jedenfalls auf den Versorgerschaden resp. den Anspruch aus dem Scheidungsurteil begrenzt blieb (Protokolle der ständerätlichen Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit vom 1.-3. Juli 2002, S. 24-26 und vom 14.-15. Oktober 2002, S. 32 f.). Dementsprechend beliess es der Verordnungsgeber im Rahmen der Anpassung der BVV 2 an die 1. BVG-Revision denn auch bewusst
BGE 137 V 373 S. 379
bei der Kürzungsregelung des
Art. 20 Abs. 2 BVV 2
(Mitteilungen des BSV über die berufliche Vorsorge Nr. 75 vom 2. Juli 2004, Erläuterungen zu den Änderungen in der BVV 2 zu Art. 20). Aus diesen gesetzgeberischen Überlegungen wird deutlich, dass die Beibehaltung der Hinterlassenenrente für geschiedene Ehegatten im Bereich des BVG-Minimums zwar als sozial sachgerecht und billig, keineswegs aber als (verfassungs-)rechtlich zwingend erachtet wurde; sie sollte allfällige scheidungsrechtliche Härten mindern, ohne aber Gewähr dafür bieten zu können, dass diese durch die BVG-Leistung in jedem Fall vollständig kompensiert werden resp. dass damit der effektive Versorgerschaden stets vollumfänglich ausgeglichen wird.
6.3
Eine einhellige Lehrmeinung hinsichtlich der streitigen Frage besteht nicht.
HANS-MICHAEL RIEMER (Familienrechtliche Beziehungen als Leistungsvoraussetzungen gemäss AHVG/IVG, BVG-Obligatorium und freiwilliger beruflicher Vorsorge, SZS 1986 S. 169 ff.) führte aus, entsprechend den parlamentarischen Beratungen sei eine gegenüber der AHV abweichende Lösung beabsichtigt gewesen; dabei sollten mit
Art. 20 Abs. 2 BVV 2
- eine Rückkehr zum Versorgerschadenprinzip einer früheren AHV-Regelung - bei der AHV vorgekommene Missbräuche (kleinste und befristete Unterhaltsleistungen "einzig mit dem Ziel, der geschiedenen Frau beim Tod ihres geschiedenen Mannes eine AHV-Witwenrente zu sichern") verhindert werden (was aber wiederum dann zu einem unbefriedigenden Ergebnis führe, wenn die Scheidungsrente wegen der bescheidenen Einkommensverhältnisse des Mannes niedrig ist). Eine befristete oder niedrige Unterhaltsleistung im Scheidungsfalle könne daher dazu führen, dass eine Leistung nach
Art. 20 BVV 2
gar nicht einsetze oder bald wieder ende, während bei einer Kapitalabfindung ein Versorgerschaden der geschiedenen Frau aus dem Tode ihres Ex-Ehemannes grundsätzlich von vornherein verneint werde.
Im von der Beschwerdeführerin zitierten neueren Werk (Das Recht der beruflichen Vorsorge in der Schweiz, 2. Aufl. 2006) führte RIEMER zwar aus, entgegen dem Wortlaut von
Art. 20 Abs. 1 lit. b BVV 2
scheine auch das Eidg. Versicherungsgericht bei der "Rente" lebenslänglich vorauszusetzen. Er erwähnte aber auch unter Hinweis auf den Kommentar des BSV zum Entwurf der BVV 2, dass sich im Übrigen aus
Art. 20 Abs. 2 BVV 2
ergebe, dass bei einer - relativ
BGE 137 V 373 S. 380
häufig aktuellen - richterlichen Befristung einer Scheidungsrente die diesbezüglichen Leistungen der Vorsorgeeinrichtung auch nur bis zum Ablauf dieser Frist ausgerichtet werden müssten, womit - entgegen der Darstellung der Beschwerdeführerin - ebenfalls von der Möglichkeit auch befristeter Renten auszugehen ist.
URS ENGLER (Unterhaltsbeitrag und BVG-Leistungen an geschiedene Frauen, BJM 1991 S. 169) ist der Auffassung, Unterhaltsrenten müssten nicht lebenslänglich zugesprochen sein, beim Tode des Rentenschuldners aber noch laufen. Wenn die Rente zeitlich begrenzt sei, so bestehe auch nur ein entsprechend begrenzter Anspruch gegenüber der Vorsorgeeinrichtung.
ULRICH MEYER-BLASER führte in der Rechtsprechungsübersicht in der SZS 1995 S. 91 aus, wie im Bereich von
Art. 23 Abs. 2 AHVG
müsse sich der Unterhaltsanspruch der geschiedenen Frau aus dem Scheidungsurteil oder der Scheidungskonvention selbst ergeben. Freiwillig bezahlte höhere Unterhaltsbeiträge seien unbeachtlich. Die Praxis zu
Art. 23 Abs. 2 AHVG
(
BGE 110 V 245
f. E. 2) sei im Bereich von
Art. 20 BVV 2
anwendbar (Urteil B 30/93 vom 21. April 1994). Unterschiede bestünden insofern, als
Art. 20 Abs. 1 BVV 2
, unter stärkerer Berücksichtigung des Versorgerschadensgedankens, eine Rente oder eine Kapitalabfindung für eine lebenslängliche Rente verlange, somit im Gegensatz zu
Art. 23 Abs. 2 AHVG
nicht bloss zeitlich befristete Unterhaltsbeiträge genügen lasse (Urteil B 10/93 vom 28. Februar 1994). Dabei ist jedoch zu beachten, dass ab 1. Januar 1997
Art. 23 AHVG
ebenfalls anders lautete und die Anspruchsvoraussetzungen auch im AHVG geändert wurden.
HANS-ULRICH STAUFFER (Berufliche Vorsorge, 2005) führt in Rz. 692 f. aus, bezüglich der Leistung aus Scheidungsurteil spreche die Verordnung von "Renten oder Kapitalabfindung für eine lebenslängliche Rente". Beides bedürfe einer weiteren Interpretation. Erfolge die Leistung als Kapitalabfindung, so müsse diese anstelle einer lebenslänglichen Rente erfolgen. Da eine Rente jeweils mit dem Tod des Berechtigten oder des Verpflichteten ende, entspreche die Kapitalabfindung versicherungsmathematisch der jeweils kürzeren Lebenserwartung. Dies sei von Bedeutung bei der allenfalls notwendigen Berechnung des monatlichen Anspruchs aus Scheidungsurteil bezüglich einer Leistungskürzung nach
Art. 20 Abs. 2 BVV 2
. Fraglich könne sein, ob an die Höhe der Kapitalabfindung weitere Voraussetzungen zu stellen seien. Da im BVG der Gedanke des
BGE 137 V 373 S. 381
Versorgerschadens stärkere Berücksichtigung finde, müsse im Einklang mit dem Verordnungstext eine Kapitalabfindung für eine lebenslängliche Unterhaltszahlung vorliegen, was durch die Rechtsprechung bestätigt worden sei (MEYER-BLASER, SZS 1995 S.91, und SVR 1994 BVG Nr. 8 S. 21, B 10/93). Die Kapitalabfindung dürfe zudem nicht bloss symbolisch sein. Diesbezüglich habe das Eidg. Versicherungsgericht entschieden, dass eine einmalige Kapitalabfindung von Fr. 1'000.- nicht einer Kapitalabfindung für eine lebenslängliche Rente entspricht (SZS 1999 S. 244, B 45/96 E. 1c). Im von der Beschwerdeführerin ins Feld geführten neueren Werk (HANS-ULRICH STAUFFER, Die berufliche Vorsorge, in: Die Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Sozialversicherungsrecht, Murer/Stauffer [Hrsg.], 2. Aufl. 2006) gibt der Autor die Meinung von MEYER wieder, ohne dies jedoch weiter zu begründen und, wie die Vorinstanz zu Recht festgestellt hat, auch ohne sich zu seiner Meinungsänderung gegenüber seinem früheren Werk zu äussern.
ALEXANDRA RUMO-JUNGO führt in "Die berufliche Vorsorge der geschiedenen Witwe: oder wie Max und Moritz der Witwe Bolte die Hühner stehlen" (in: Soziale Sicherheit - Soziale Unsicherheit, Riemer-Kafka/Rumo-Jungo [Hrsg.], 2010, S. 719 f.) aus, das Gesetz setze für die Ausrichtung einer Hinterlassenenrente voraus, dass die Hinterlassene bis anhin von ihrem geschiedenen Ehegatten eine Rente oder eine Kapitalabfindung für eine lebenslängliche Rente bezogen habe. Es müsse sich nicht um eine lebenslängliche Rente handeln, doch müsse diese im Zeitpunkt des Todes der versicherten Person noch laufen. Dagegen verlange der Gesetzgeber eine Kapitalabfindung für eine lebenslängliche Rente. Das sei an sich paradox, solle doch die Hinterlassenenrente gerade eine Versorgungslücke füllen, die mit dem Tod der versicherten Person für deren Hinterlassenen entstehe. Sei aber die geschiedene Witwe bereits lebenslänglich für den nachehelichen Unterhalt abgefunden worden, liege an sich keine Versorgungslücke vor. Aus diesem Grund müsste das Kapital an sich für eine Rente stehen, die seinerzeit für eine über den nunmehr eingetretenen Tod hinaus laufende Dauer kapitalisiert wurde. Nur so liege im Zeitpunkt des Todes eine Versorgungslücke vor (ebenso: ALEXANDRA RUMO-JUNGO, Berufliche Vorsorge bei Scheidung: alte Probleme und neue Perspektiven, in: Berufliche und freiwillige Vorsorge in der Scheidung, Rumo-Jungo/Pichonnaz [Hrsg.], 2010, S. 35).
BGE 137 V 373 S. 382
6.4
Wie bereits ausgeführt, bezweckt die (BVG-)Hinterlassenenrente für geschiedene Ehegatten den Ersatz des Versorgerschadens. Dass gerade dies jedoch dafür ausschlaggebend sein soll, dass eine lediglich befristet zugesprochene Unterhaltsrente als Anspruchsvoraussetzung nicht genügt, wie von einigen Autoren ausgeführt wird, ist nicht stichhaltig. Wie die Vorinstanz zutreffend dargelegt hat, leuchtet es nicht ein, weshalb ein Versorgerschaden nur bei einer lebenslänglichen Unterhaltsrente (und bei einer Kapitalabfindung für eine lebenslängliche Rente) entstehen sollte. Dabei ist überdies zu beachten, dass es früher üblicher war, unbefristete Renten zuzusprechen, im Gegensatz zu heute (vgl. hiezu auch RIEMER, a.a.O., 2006, wonach die richterliche Befristung der Scheidungsrente aktuell relativ häufig sei).
Wie das kantonale Gericht ebenfalls zutreffend erwogen hat, macht die Differenzierung zwischen lebenslänglich und nicht lebenslänglich im Zusammenhang mit dem Versorgerschaden nur bei der Kapitalabfindung wirklich einen Sinn, da grundsätzlich derjenige, der eine Kapitalabfindung erhält, gar keinen Versorgerschaden erleidet. Mit der Abfindung soll gerade das Risiko des Todes des Leistungsverpflichteten ausgeschaltet werden.
6.5
Zusammenfassend ergibt damit die Auslegung von
Art. 20 Abs. 1 BVV 2
unter grammatikalischen, entstehungsgeschichtlichen und teleologischen Gesichtspunkten, dass auch eine befristet zugesprochene Unterhaltsleistung als Voraussetzung für den Anspruch auf Witwenrente der beruflichen Vorsorge genügt. Es ist deshalb nicht zu beanstanden, wenn die Vorinstanz einen grundsätzlichen Anspruch der Beschwerdegegnerin bejaht hat, wobei - wie die Vorinstanz ebenfalls richtig erwogen hat - der Anspruch in der Höhe noch zu berechnen sein wird, unter Berücksichtigung der weiteren anspruchsrelevanten Fragen wie das allfällige Vorliegen eines Konkubinats und der anrechenbaren Leistungen der übrigen Versicherungen.
6.6
Soweit sich danach ein Anspruch der Beschwerdegegnerin ergibt, wird auf diese Leistung entgegen der Auffassung der Vorinstanz nicht ab Anspruchsbeginn ein Verzugszins geschuldet, sondern erst ab Klageerhebung (16. April 2010), wie die Beschwerdeführerin zu Recht einwendet, da für BVG-Renten die Verzugszinsregelung von
Art. 105 Abs. 1 OR
gilt, wonach Verzugszinsen für Renten ab Betreibung oder Klageerhebung geschuldet sind (SZS 1997 S. 465 mit Hinweis auf
BGE 119 V 131
E. 4 S. 133). Die Beschwerde ist in diesem Punkt gutzuheissen. | de |
6e6a0902-de0e-4de4-98e6-1f45da95056e | Sachverhalt
ab Seite 347
BGE 123 III 346 S. 347
A.-
Am 13. April 1976 erwarb die Erbengemeinschaft C. von F. G. das Grundstück HB 1355, welches an das ebenfalls im Eigentum von F. G. stehende Grundstück HB 122 grenzte. Dabei waren die Käufer davon ausgegangen, dass die Parzelle Nr. 122 zur Landwirtschaftszone gehöre und nicht überbaut werde. In der Folge liess aber F. G. die Parzelle Nr. 122 der Bauzone zuteilen und im weiteren von der Parzelle Nr. 122 sieben neue Grundstücke - HB 1383 bis 1389 - abtrennen, darunter auch die an das Grundstück HB 1355 grenzende Parzelle HB 1389; die Stammparzelle HB 122 blieb als Strassenparzelle übrig. Am 11. Januar 1977 meldete F. G. die Parzellierung des Grundstücks HB 122 beim Grundbuch an. Der Anmeldung lag der die Parzellierung umfassende Plan Nr. 1127 vom 16. Dezember 1976 zugrunde; gestützt auf die Anmeldung der Parzellierung erfolgte gleichentags der Tagebucheintrag.
Als Abfindung für die zu erwartende spätere Überbauung der seinerzeitigen Parzelle Nr. 122 bzw. der davon abgetrennten neuen Parzellen Nr. 1383 bis 1389 trat F. G. am 18. Februar 1977 "ab seinem Grundstück HB 122" der Erbengemeinschaft C. als Zuwachs zu deren Parzelle HB 1355 150 m2 ab und begründete gleichzeitig zu Gunsten der Parzelle HB 1355 und "zu Lasten des südöstlich angrenzenden Landes HB 122 ... und hievon abgetrennter Landparzellen" eine Servitut, wonach nur eingeschossige Bauten erstellt werden dürfen. Am 13. Mai 1977 meldete der Notar die Landabtretung und die Dienstbarkeitsbegründung beim Grundbuch an, wobei er die neue Grunddienstbarkeit stichwortartig mit "Baubeschränkung zugunsten HB 1355 ... zulasten HB 122" umschrieb. Dieser Anmeldung lag ein nicht mehr aktueller Plan (Nr. 1126) vom 15. Dezember 1976 zugrunde, der zwar den Zuwachs von 150 m2 zur Parzelle HB 1355, nicht aber die zwischenzeitlich am 11. Januar 1977 im Grundbuch vollzogene Parzellierung des Grundstückes Nr. 122 dokumentierte; am 16. Mai 1977 erfolgte gestützt auf die Anmeldung und den beigelegten veralteten Plan Nr. 1126 der Tagebucheintrag,
BGE 123 III 346 S. 348
wobei die Baubeschränkungsdienstbarkeit nur auf der Parzelle HB 122, nicht aber auf den inzwischen abparzellierten Grundstücken HB 1383 bis 1389 eingetragen wurde.
Im Jahr 1988 wurde von der Parzelle HB 1389 ein an die Parzelle HB 1355 angrenzender Teil als neue Parzelle HB 1841 abgetrennt. In der Folge erwarb die W. AG diese Parzelle. Als die W. AG 1993 darauf eine zweigeschossige Baute erstellen wollte, wehrte sich die Erbengemeinschaft C. als Eigentümerin von HB 1355 unter Hinweis auf die - nicht eingetragene - Baubeschränkungsdienstbarkeit dagegen.
B.-
Am 26. November 1993 beantragte die Erbengemeinschaft C. dem Grundbuchamt, im Rahmen eines Berichtigungsverfahrens nach
Art. 977 ZGB
in Verbindung mit
Art. 98 GBV
die Baubeschränkung gemäss Anmeldung vom 13. Mai 1977 auf der Parzelle HB 1841 einzutragen. Da die W. AG ihre Einwilligung zu einer Berichtigung des Grundbuches verweigerte, ersuchte der Kanton Uri am 15. Februar 1995 den Landgerichtspräsidenten Uri, gestützt auf
Art. 98 Abs. 4 GBV
die Eintragung der Baubeschränkungsdienstbarkeit zulasten der Parzelle HB 1841 anzuordnen. Mit Verfügung vom 31. Januar 1996 entsprach das Präsidium des Landgerichtes Uri dem Gesuch und ordnete die Eintragung der Dienstbarkeit als Last auf der Parzelle HB 1841 an. Einen von der W. AG dagegen erhobenen Rekurs wies das Obergericht des Kantons Uri am 5. Juli 1996 ab.
C.-
Mit Berufung vom 4. Oktober 1996 beantragt die W. AG dem Bundesgericht, das Urteil des Obergerichtes des Kantons Uri vom 5. Juli 1996 aufzuheben und auf das Gesuch des Kantons Uri nicht einzutreten, eventuell das Gesuch abzuweisen. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Die W. AG wendet sich - entsprechend der Rechtsmittelbelehrung - mit Berufung gegen das Urteil des Obergerichtes und rügt im wesentlichen eine unrichtige Anwendung von
Art. 977 ZGB
in Verbindung mit
Art. 98 GBV
(SR 211.432.1). Sie macht geltend, dass die Berichtigung des Grundbucheintrages nicht im Administrativverfahren herbeigeführt werden könne, sondern durch eine vom privaten Grundeigentümer erhobene Grundbuchberichtigungsklage nach
Art. 975 ZGB
geltend gemacht werden müsste.
a) Das Bundesgericht prüft von Amtes wegen und mit freier Kognition, ob ein Rechtsmittel zulässig ist (
BGE 120 II 270
E. 1
BGE 123 III 346 S. 349
S. 271). Nach
Art. 46 OG
ist eine Berufung nur in Zivilrechtsstreitigkeiten zulässig. Als Zivilrechtsstreitigkeit versteht die Rechtsprechung ein kontradiktorisches Verfahren zwischen zwei oder mehreren natürlichen oder juristischen Personen in ihrer Eigenschaft als Trägerinnen privater Rechte oder zwischen solchen Personen und einer Behörde, die nach Bundesrecht die Stellung einer Partei einnimmt. Das Verfahren bezweckt die endgültige und dauernde Regelung zivilrechtlicher Verhältnisse. Entscheidend ist nicht, welches Verfahren die kantonale Behörde eingeschlagen hat, sondern ob die Parteien Ansprüche des Bundeszivilrechts erhoben haben und ebensolche objektiv streitig sind (
BGE 120 II 11
E. 2a S. 12 f.).
b)
Art. 977 ZGB
behandelt wie
Art. 975 ZGB
die Beseitigung eines Fehlers im Grundbuch. Während aber bei
Art. 975 ZGB
die Unrichtigkeit auf das Fehlen der materiellrechtlichen Voraussetzungen der Eintragungen oder Löschungen zurückzuführen ist, sind bei
Art. 977 ZGB
alle diese Bedingungen erfüllt und nur aufgrund eines Versehens des Grundbuchverwalters - so die Präzisierung in
Art. 98 Abs. 1 GBV
- widerspricht der Eintrag den gültigen Belegen (
BGE 117 II 43
E. 4b S. 44 f. mit Hinweisen; HOMBERGER, Zürcher Kommentar, N. 9 zu
Art. 975 ZGB
). Wird die Unrichtigkeit eines Eintrages vom Grundbuchverwalter sogleich wahrgenommen, soll er die Berichtigung ohne weiteres vornehmen (
Art. 98 Abs. 2 GBV
). Wird die Unrichtigkeit eines Eintrags erst nachträglich erkannt, nachdem die Beteiligten oder Dritte vom unrichtigen Eintrag Kenntnis erhalten haben, soll der Grundbuchverwalter den Beteiligten davon Mitteilung machen, sie um schriftliche Einwilligung zur Berichtigung ersuchen und nach Eingang der Einwilligung aller Beteiligten die Berichtigung vornehmen (
Art. 98 Abs. 3 GBV
). Verweigert einer der Beteiligten seine Zustimmung, hat der Grundbuchverwalter den zuständigen Richter um Anordnung der Berichtigung zu ersuchen (
Art. 98 Abs. 4 GBV
).
Beim Berichtigungsverfahren nach
Art. 977 Abs. 1 ZGB
handelt es sich nicht um eine zivilrechtliche, sondern um eine administrative Streitigkeit. Die richterliche Verfügung gemäss
Art. 977 Abs. 1 ZGB
bzw.
Art. 98 Abs. 4 GBV
bezieht sich auf die Berichtigung eines unrichtigen Eintrages, der auf Versehen beruht, und der Richter fällt kein materielles Urteil (vgl. zu allem DESCHENAUX, Das Grundbuch, in: Schweizerisches Privatrecht, V/3,II, Basel/Frankfurt a.M. 1989, S. 907 f.). Daran ändert nichts, dass in diesem Verfahren unter Umständen - vorfrageweise - auch die zivilrechtliche Frage zu prüfen ist, ob die materiellen Grundlagen die angestrebte Berichtigung
BGE 123 III 346 S. 350
rechtfertigen. Ebensowenig kann es darauf ankommen, dass der Richter in Verkennung seiner Kompetenzen glaubte, ein materielles Urteil fällen zu müssen. Entscheidend ist allein, dass in diesem Verfahren kein materielles Urteil, also kein Urteil über einen umstrittenen zivilrechtlichen Anspruch gefällt wird. Demzufolge unterliegt der angefochtene Entscheid nicht der Berufung.
c) Die Berufung kann indessen in eine Verwaltungsgerichtsbeschwerde umgedeutet werden, wenn das unrichtig bezeichnete Rechtsmittel die für die Verwaltungsgerichtsbeschwerde geltenden formellen Voraussetzungen erfüllt (
BGE 120 Ib 379
E. 1a S. 381 mit Hinweisen), was vorliegend zutrifft. Da es sich bei den das administrative Berichtigungsverfahren regelnden Bestimmungen (
Art. 977 ZGB
;
Art. 98 ff. GBV
) um öffentlichrechtliche Bestimmungen des Bundes und beim richterlichen Entscheid um eine Verfügung im Sinne von
Art. 5 Abs. 1 VwVG
handelt, ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde grundsätzlich zulässig (
Art. 97 Abs. 1 OG
). Ferner hat das Obergericht des Kantons Uri, welches das angefochtene Urteil gefällt hat, als letzte kantonale Instanz entschieden (
Art. 98 lit. g OG
). Die Berufung der Gesuchsgegnerin ist daher als Verwaltungsgerichtsbeschwerde entgegenzunehmen.
2.
Im angefochtenen Urteil führt das Obergericht des Kantons Uri im wesentlichen aus, dass eine administrative Berichtigung nach
Art. 977 ZGB
an sich unzulässig und nur die zivilrechtliche Grundbuchberichtigungsklage zwischen zwei Grundeigentümern nach
Art. 975 ZGB
gegeben sei, wenn - wie im vorliegenden Fall - ein Dritterwerber behaupte, im Vertrauen auf den unrichtigen Stand der Grundbucheinträge ein dingliches Recht erworben zu haben. Weil aber die urnerische Grundbucheinrichtung wegen ihrer Unübersichtlichkeit und Unvollständigkeit gegenüber gutgläubigen Dritten keine Wirkung im Sinn von
Art. 973 ZGB
entfalte, stehe im vorliegenden Fall dennoch das Berichtigungsverfahren nach
Art. 977 ZGB
offen, ohne dass die Frage der Möglichkeit einer Grundbuchberichtigungsklage nach
Art. 975 ZGB
zu prüfen wäre. Das Berichtigungsgesuch sei materiell begründet, weil der Unrichtigkeit des Grundbuchs offensichtlich ein Versehen des Grundbuchverwalters zugrunde liege; infolgedessen sei die von der ersten kantonalen Instanz angeordnete Grundbuchberichtigung nach
Art. 977 ZGB
zutreffend.
Die W. AG hält demgegenüber dafür, dass im vorliegenden Fall das Verfahren der administrativen Berichtigung nach
Art. 977 ZGB
nicht gegeben sei; vielmehr hätten die privaten Rechtsträger eine
BGE 123 III 346 S. 351
Grundbuchberichtigungsklage nach
Art. 975 ZGB
erheben müssen. Sie bestreitet aber auch das Vorliegen eines Versehens des Grundbuchverwalters, das eine administrative Berichtigung rechtfertigen würde.
a) Zutreffend hält das Obergericht fest, dass eine Berichtigung im Sinn von
Art. 977 ZGB
- ungeachtet des Vorliegens eines formellen Versehens oder eines materiellen Fehlers - ausgeschlossen ist, wenn ein Dritter im Vertrauen auf den unrichtigen Stand der Grundbucheinträge ein Grundstück erwirbt. Auch wenn der Fehler im Grundbuch auf blossem Versehen beruht und "inter partes" im Administrativverfahren bereinigt werden könnte, steht beim Dazwischentreten eines Dritterwerbers das administrative Berichtigungsverfahren in keinem Fall zur Verfügung: Wer in seinen dinglichen Rechten verletzt ist, kann eine Richtigstellung des Grundbuches dadurch - und nur dadurch - herbeiführen, dass er Klage nach
Art. 975 ZGB
erhebt und dabei den guten Glauben des Dritterwerbers bestreitet (DESCHENAUX, a.a.O., S. 894 f. mit Hinweisen; HOMBERGER, Zürcher Kommentar, N. 9 zu
Art. 975 ZGB
; unveröffentlichter Entscheid des Bundesgerichtes vom 31. Oktober 1985 i.S. V., E. 2/b/bb); aber auch in dem von der Falscheintragung zu unterscheidenden Fall, dass eine Eintragung versehentlich unterlassen wurde, kommt eine administrative Berichtigung nach
Art. 977 ZGB
nur in Frage, wenn der Verfügende oder derjenige, der ein beschränktes dingliches Recht eingeräumt hat, derselbe geblieben und das Grundstück nicht auf einen Dritten übergegangen ist (DESCHENAUX, a.a.O., S. 895).
Aus diesem Grund hätte der Richter auf das Gesuch um Berichtigung des Grundbuches nicht eintreten dürfen. Im administrativen Berichtigungsverfahren nach
Art. 977 ZGB
können nur administrative Unrichtigkeiten zwischen den am fehlerhaften Akt direkt betroffenen Grundeigentümern behoben werden; demgegenüber steht dieses Verfahren für privatrechtliche Streitigkeiten, in denen über das Bestehen oder Nichtbestehen von umstrittenen dinglichen Rechten zwischen einem Grundeigentümer und einem Dritterwerber zu entscheiden ist, nicht zur Verfügung. Da die W. AG als Dritterwerberin Eigentümerin des unbelasteten Grundstückes geworden ist, ist eine administrative Grundbuchberichtigung gestützt auf
Art. 977 ZGB
und
Art. 98 GBV
ausgeschlossen.
b) Trotzdem hält das Obergericht das administrative Berichtigungsverfahren nach
Art. 977 ZGB
im vorliegenden Fall für zulässig. Die W. AG könne sich nicht auf den Schutz des gutgläubigen
BGE 123 III 346 S. 352
Erwerbers (vgl.
Art. 973 Abs. 1 ZGB
) berufen, weil im Kanton Uri das eidgenössische Grundbuch oder eine ihm gleichgestellte kantonale Publizitätseinrichtung noch nicht eingeführt sei und daher keine positive Grundbuchwirkung zugunsten eines gutgläubigen Dritten bestehe (
Art. 48 Abs. 3 SchlT ZGB
). Wenn der gute Glaube nicht geschützt werde, stehe aber der Weg einer administrativen Berichtigung durch den Grundbuchverwalter nach
Art. 977 ZGB
auch dann zur Verfügung, wenn das Grundstück seit der versehentlichen Nichteintragung auf einen Dritten übergegangen sei.
Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden. Die fehlende positive Grundbuchwirkung des urnerischen Grundbuches hätte entgegen der Auffassung der Vorinstanz nicht zur Folge, dass eine administrative Grundbuchberichtigung nach
Art. 977 ZGB
auch gegenüber einem Dritterwerber zulässig wäre; vielmehr ist eine Grundbuchberichtigung nach
Art. 977 ZGB
stets dann ausgeschlossen, wenn das Grundstück zwischenzeitlich auf einen Dritterwerber übergegangen ist. Dies gilt unabhängig davon, ob eine Falscheintragung vorliegt, die nur auf dem Weg der Grundbuchberichtigungsklage nach
Art. 975 ZGB
behoben werden kann, oder ob eine behauptete Dienstbarkeit überhaupt nicht eingetragen und damit nach
Art. 731 Abs. 1 ZGB
gar noch nicht entstanden ist (vgl. E. 2a). An der Unzulässigkeit der administrativen Berichtigung nach
Art. 977 ZGB
bei einem Erwerb durch einen Dritten vermag die angeblich fehlende positive Grundbuchwirkung der Urner Publizitätseinrichtung somit nichts zu ändern.
c) Im übrigen würde auch eine Grundbuchberichtigungsklage nach
Art. 975 ZGB
im vorliegenden Fall nicht zum Ziel führen. Nur bei einer ungerechtfertigten Eintragung bzw. Löschung oder Veränderung eines Eintrages wäre im Rahmen einer Grundbuchberichtigungsklage nach
Art. 975 ZGB
darüber zu befinden, ob sich die W. AG auf einen gutgläubigen Erwerb zu berufen vermag (
Art. 973 Abs. 1 ZGB
) und der gute Glaube gestützt auf die positive Grundbuchwirkung der kantonalen Publizitätseinrichtung zu schützen wäre (
Art. 48 Abs. 3 SchlT ZGB
). Ist hingegen nicht eine Falscheintragung, sondern wie vorliegend der Fall einer Nichteintragung zu beurteilen, entscheidet nicht die positive, sondern einzig die negative Grundbuchwirkung über das rechtliche Schicksal eines behaupteten dinglichen Rechtes; danach entsteht ein dingliches Recht erst mit der Eintragung im Grundbuch (
Art. 971 Abs. 1 ZGB
), soweit dies vom Gesetz wie beispielsweise bei Grunddienstbarkeiten verlangt wird (vgl.
Art. 731 Abs. 1 ZGB
). Daraus folgt, dass ein
BGE 123 III 346 S. 353
Dritterwerber bei einer nicht erfolgten Eintragung im Unterschied zum Fall der Falscheintragung nicht nur dann geschützt ist, wenn er gutgläubig ist und der kantonalen Publizitätseinrichtung positive Grundbuchwirkung zukommt; vielmehr ist der Erwerber bei einer nicht eingetragenen Dienstbarkeit in seinem unbelasteten Eigentumserwerb bereits aufgrund der negativen Grundbuchwirkung - die unbestrittenermassen auch dem Urner Grundbuch zukommt (
Art. 48 Abs. 1 und 2 SchlT ZGB
) - geschützt, da die Grundbucheintragung für die Entstehung einer Dienstbarkeit konstitutiv ist (
Art. 731 Abs. 1 ZGB
). Dabei macht es keinen Unterschied, ob die Eintragung ursprünglich gar nicht angemeldet wurde oder trotz korrekter Anmeldung versehentlich unterblieb.
d) Insgesamt ergibt sich somit, dass die administrative Berichtigung nach
Art. 977 ZGB
in Verbindung mit
Art. 98 GBV
- und zwar ungeachtet des Vorliegens eines formellen Versehens oder eines materiellen Fehlers - auf jeden Fall verschlossen ist, wenn seit dem Bestehen des unrichtigen Grundbucheintrages das Grundstück auf einen Dritten übergegangen ist. Der angefochtene Entscheid verletzt daher
Art. 977 ZGB
. | de |
089dd886-2219-4ce3-b5c3-54c35ef772e1 | Sachverhalt
ab Seite 57
BGE 116 IV 56 S. 57
A.-
Jacques-André Kaeslin war 1988 Beamter bei der Zentralstelle der Bundesanwaltschaft für die Bekämpfung des illegalen Betäubungsmittelhandels. In dieser Eigenschaft arbeitete er intensiv bei den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft des Kantons Tessin gegen die dort inhaftierten Gebrüder Magharian mit. In diesem Verfahren konnten insbesondere mannigfache Erkenntnisse über Personen und Firmen gewonnen werden, die des Waschens von illegalen Geldern aus dem Drogenhandel verdächtigt sind, unter anderem auch über die Firma Shakarchi Trading AG, deren damaliger Verwaltungsratsvizepräsident der Gatte von Bundesrätin Elisabeth Kopp, Rechtsanwalt Dr. Hans W. Kopp, war. Bei seiner Tätigkeit erlangte Jacques-André Kaeslin umfassende Kenntnis von den entsprechenden Tessiner
BGE 116 IV 56 S. 58
Untersuchungsakten. Darunter befanden sich beschlagnahmte Unterlagen über die Drogen- und Geldgeschäfte sowie die Protokolle der Aussagen von Beschuldigten und Auskunftspersonen. Jacques-André Kaeslin war der Ansicht, dass nicht nur das bereits im Kanton Tessin eingeleitete Strafverfahren gegen die Gebrüder Magharian durchgeführt, sondern auch ein Ermittlungsverfahren gegen weitere Finanzinstitute (z.B. die in Zürich domizilierte Firma Shakarchi Trading AG) eröffnet werden müsse. Aus diesem Grund verfasste er am 8. und 15. September 1988 zu Handen des Bundesanwaltes entsprechende Berichte.
Im Bericht vom 15. September 1988 wies Jacques-André Kaeslin darauf hin, dass sich verschiedene Finanzinstitute bewusst mit dem "recyclage" von aus dem Drogenhandel stammenden Geldern befassten, und er schlug die Einleitung eines gerichtspolizeilichen Ermittlungsverfahrens durch die Bundesanwaltschaft vor. In der Folge übersetzte er noch einen in italienischer Sprache abgefassten Rapport über die gewonnenen Erkenntnisse im Kanton Tessin ins Französische. Dieses Schriftstück datiert vom 1. Oktober 1988, und Jacques-André Kaeslin stellte es mit einer Begleitnotiz vom 3. Oktober 1988 seinen Vorgesetzten zu.
Der Antrag auf Eröffnung eines bundesanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens wurde u.a. mit der Begründung abgelehnt, Geldwäscherei sei in der Schweiz nicht strafbar und im übrigen seien die in der Aktennotiz erhobenen Anschuldigungen nicht hinreichend belegt. Da sich Jacques-André Kaeslin mit diesem Entscheid nicht abfinden konnte, wandte er sich am 17. Oktober 1988 an Olivier Gautschi, wissenschaftlicher Beamter des Rechtsdienstes der Bundesanwaltschaft. Er wollte wissen, ob solche Geldwäschereigeschäfte tatsächlich strafrechtlich nicht erfasst werden könnten. Olivier Gautschi verwies ihn an Frau Dr. Renate Schwob, die sich als Mitarbeiterin des Bundesamtes für Justiz mit der Frage der Strafbarkeit der Geldwäscherei und der Schaffung einer entsprechenden Strafbestimmung befasste. Renate Schwob war Jacques-André Kaeslin von ihrer früheren Tätigkeit beim Rechtsdienst der Bundesanwaltschaft her bekannt.
Am 17. Oktober 1988 besprach sich Jacques-André Kaeslin mit Renate Schwob in deren Büro. Er schilderte den Fall Magharian und erwähnte namentlich auch die Firma Shakarchi AG, die bei der Angelegenheit eine zentrale Rolle gespielt habe. Am gleichen Tag sandte er seiner Gesprächspartnerin in einem verschlossenen Umschlag die drei von ihm verfassten bzw. übersetzten Berichte
BGE 116 IV 56 S. 59
vom 8. und 15. September sowie vom 1./3. Oktober 1988. In einer Begleitnotiz fügte er bei, der Rapport vom 1. Oktober 1988 müsse mit Vorsicht ("avec prudence") behandelt werden, weil die Untersuchung im Kanton Tessin noch nicht abgeschlossen sei. Im Bericht vom 8. September 1988 wurde erwähnt, dass Dr. Hans W. Kopp Vizepräsident des Verwaltungsrates der Firma Shakarchi war.
Renate Schwob war mit Frau Dr. Katharina Schoop, der persönlichen Mitarbeiterin von Bundesrätin Elisabeth Kopp, befreundet. Anlässlich eines aus anderem Anlass geführten Telefongesprächs zwischen den beiden Freundinnen, das am 23. oder 24. Oktober 1988 stattfand, erwähnte Renate Schwob, sie habe Kenntnis von einer Geldwäschereiaffäre, in die eine Firma verwickelt sei, in deren Verwaltungsrat der Ehemann von Bundesrätin Kopp sitze; weiter berichtete sie, sie habe entsprechende Akten, die sie ihr (Katharina Schoop) zeigen könne, denn sie sei der Ansicht, dass man die Bundesrätin darüber orientieren solle. Nach ihren Angaben ist Renate Schwob davon ausgegangen, die Information sei "für die Amtsführung des Departements relevant"; sie habe es "ausgeschlossen", dass die Erkenntnisse an Hans W. Kopp weitergegeben würden.
Am Vormittag des 25. Oktober 1988 legte Renate Schwob in ihrem Büro ihrer Freundin die beiden Berichte vom September 1988 vor und ermöglichte ihr, insbesondere über die in den Berichten enthaltenen Firmen- und Personennamen Handnotizen zu erstellen. Die Unterlagen selber verliessen das Büro von Renate Schwob nicht, und es wurden auch keine Photokopien angefertigt. Den Bericht vom 1. Oktober 1988 sah Katharina Schoop nicht. Sowohl Katharina Schoop als auch Renate Schwob waren überzeugt davon, dass Frau Bundesrätin Kopp informiert werden müsse.
Noch am gleichen Tag orientierte Katharina Schoop Samuel Burkhardt, Generalsekretär im EJPD. Sie kann sich nur erinnern, dass einfach von "einer Frau", die ihr die Berichte gegeben habe, die Rede gewesen sei. Die beiden diskutierten in der Folge darüber, ob Elisabeth Kopp orientiert werden solle. Samuel Burkhardt wollte sich zunächst bei Bundesanwalt Rudolf Gerber informieren, ob die Informationen auch tatsächlich stimmen würden.
Ebenfalls an diesem Tag erhielt Samuel Burkhardt einen Telefonanruf von Andreas Hubschmid, dem Sekretär der Bankiervereinigung in Basel. Dieser war von Katharina Schoop gebeten
BGE 116 IV 56 S. 60
worden, den Generalsekretär anzurufen und dabei nach der Verwicklung einer Firma in eine Drogengeldwäscherei zu fragen, bei welcher der Ehemann der Bundesrätin dem Verwaltungsrat angehöre. Die genauen Umstände dieses "bestellten" Telefongesprächs sind unklar. Nach den Angaben von Frau Schoop war der Generalsekretär der Ansicht, er könne den Bundesanwalt nicht aufgrund ihrer vagen Angaben anrufen; es sei dann ihre Idee gewesen, Andreas Hubschmid von der Bankiervereinigung zu telefonieren, da dieser sie früher einmal nach einer Geldwäschereiangelegenheit gefragt habe; sie sei der Ansicht gewesen, Andreas Hubschmid könnte diese Frage jetzt bei einem Telefongespräch mit dem Generalsekretär wiederholen.
Generalsekretär Burkhardt erinnert sich nicht mehr daran, ob er sich vor oder nach diesem Gespräch mit Andreas Hubschmid an den Bundesanwalt wandte. Von diesem erfuhr er, dass die Informationen richtig seien, und dass Elisabeth Kopp bewusst nicht darüber informiert worden sei, um sie nicht in Verlegenheit zu bringen. In der Folge entschlossen sich Katharina Schoop und Samuel Burkhardt dennoch, die Bundesrätin zu orientieren, welche Aufgabe von Katharina Schoop übernommen wurde. Sie war der Ansicht, dass dies ihre Aufgabe als persönliche Mitarbeiterin der Departementsvorsteherin sei, da die Information nicht eigentlich das Departement betreffe, sondern das persönliche Umfeld von Frau Kopp.
Am Vormittag des 27. Oktober 1988 orientierte Katharina Schoop Bundesrätin Kopp anhand ihrer bei Renate Schwob gemachten Notizen darüber, dass die Firma Shakarchi AG, in deren Verwaltungsrat Dr. Hans W. Kopp sitze, in eine Drogengeldwäschereiaffäre verwickelt sei. Frau Kopp will über diese Information "doppelt" schockiert gewesen sein, da gegen ihren Mann schon vorher in der Presse verschiedene Anschuldigungen erhoben worden seien (Steuerhinterziehung, Trans-K-B, Shakarco); Frau Schoop habe mehrere Namen von Gesellschaften und Personen erwähnt, jedoch nicht von einer Strafuntersuchung gesprochen. Katharina Schoop nannte die Quelle ihrer Kenntnisse nicht. Elisabeth Kopp fragte auch nicht danach, sondern wollte nur wissen, ob die Informationen der Wahrheit entsprächen, was Katharina Schoop bejahte. Gemäss den Angaben von Elisabeth Kopp stammten die ihr mitgeteilten Informationen nach ihrer Überzeugung nicht aus dem Departement, sondern aus "Bankenkreisen". Über die Frage, ob die Informationen von Frau Schoop
BGE 116 IV 56 S. 61
allenfalls geheimgehalten werden müssten, will sich Frau Kopp keine Gedanken gemacht haben; sie habe insbesondere "in keiner Sekunde gedacht", dass Amtsgeheimnisse in Frage stehen könnten. Sie fragte nur, was nun geschehen solle. Katharina Schoop riet spontan, Hans W. Kopp müsse auf alle Fälle und so rasch als möglich aus dem Verwaltungsrat der Firma Shakarchi austreten. Elisabeth Kopp sagte aus, sie sei in "Panik" geraten und habe sich auf den Rat ihrer Mitarbeiterin verlassen. Als Katharina Schoop noch weitere Details vorbringen wollte, wurde sie von Frau Kopp unterbrochen und aufgefordert, diese Einzelheiten ihrem Ehemann direkt bekanntzugeben. Katharina Schoop wollte Hans W. Kopp jedoch nicht von sich aus anrufen, sondern wünschte, dass Elisabeth Kopp das Gespräch einleite. Damit war Frau Kopp einverstanden.
Gleich anschliessend kam es zu einem kurzen Telefongespräch zwischen der Bundesrätin und ihrem Mann. Elisabeth Kopp teilte ihrem Gatten mit, es gebe Gerüchte, wonach die Firma Shakarchi Geldwäscherei betreibe. Sie bat ihn, er solle aus dem Verwaltungsrat dieser Gesellschaft austreten, damit für sie keine weiteren politischen Belastungen entstünden. Weiter forderte sie ihn auf, Katharina Schoop anzurufen, die ihn über weitere Details informieren könne.
Daraufhin rief Hans W. Kopp die persönliche Mitarbeiterin seiner Ehefrau an. Diese nannte ihm anhand ihrer Handnotizen weitere Einzelheiten ihrer Informationen. Nach ihren Angaben wollte sie Hans W. Kopp von der Notwendigkeit überzeugen, sofort seine Beziehungen zur Firma Shakarchi abzubrechen; sie sei mit der Orientierung weit gegangen, weil sie habe annehmen müssen, Hans W. Kopp werde nicht so ohne weiteres auf das Mandat verzichten. Hans W. Kopp erklärte noch am gleichen Tag den Rücktritt aus dem Verwaltungsrat der Shakarchi Trading AG.
B.-
Anfangs November 1988 gelangten durch die Presse Informationen an die Öffentlichkeit, wonach die Strafuntersuchungsbehörden im Tessin und in Zürich dem "bisher grössten Fall von Geldwäscherei" auf die Spur gekommen seien; mitbeteiligt sei offenbar auch die Firma Shakarchi Trading AG in Zürich, deren Verwaltungsratsvizepräsident Dr. Hans W. Kopp am 27. Oktober 1988 zurückgetreten sei. In der Presse wurde sogleich die Frage aufgeworfen, ob Rechtsanwalt Kopp nicht deshalb demissioniert habe, weil ihm die Verwicklung der Shakarchi AG in das Tessiner
BGE 116 IV 56 S. 62
Strafverfahren bekannt gewesen sei; auch wurde schon bald über Indiskretionen aus dem EJPD gemunkelt.
In der Folge beschloss der Bundesrat am 16. Dezember 1988 die Eröffnung eines gerichtspolizeilichen Ermittlungsverfahrens im Sinne von
Art. 100 ff. BStP
, mit dessen Durchführung Dr. Hans Hungerbühler, Erster Staatsanwalt des Kantons Basel-Stadt, beauftragt wurde. Der Besondere Vertreter des Bundesanwaltes schloss dieses Verfahren in der Angelegenheit "betr. die Indiskretionen im Zusammenhang mit der Firma Shakarchi Trading AG" wegen Verdachts der Verletzung des Amtsgeheimnisses mit Bericht vom 10. Januar 1989 ab. Er stellte fest, die durchgeführten Abklärungen hätten ergeben, dass gegen Bundesrätin Elisabeth Kopp, Katharina Schoop und Renate Schwob ein hinreichender, eine Voruntersuchung rechtfertigender Verdacht der Verletzung des Amtsgeheimnisses im Sinne von
Art. 320 StGB
bestehe. Bereits am 23. Dezember 1988 hatte er demgegenüber das gegen Jacques-André Kaeslin eröffnete Ermittlungsverfahren eingestellt.
Mit Beschlüssen des Nationalrates vom 18. März 1989 und des Ständerates vom 29. März 1989 wurde die Immunität von Frau Kopp in bezug auf den Verdacht der Verletzung des Amtsgeheimnisses und der Begünstigung aufgehoben. Das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement erteilte mit Verfügungen vom 12. April 1989 die Ermächtigung zur Strafverfolgung von Renate Schwob und Katharina Schoop; diese Ermächtigung bezog sich auf die Weitergabe geheimzuhaltender Informationen über die Ermittlungen der Bundesanwaltschaft und kantonaler Polizeiorgane auf dem Gebiet des Drogenhandels und der Geldwäscherei.
Die vereinigte Bundesversammlung wählte Staatsanwalt Joseph-Daniel Piller als Anklagevertreter und als ausserordentlichen Bundesanwalt für das Verfahren gegen die inzwischen als Bundesrätin zurückgetretene Elisabeth Kopp, und der Bundesrat bezeichnete ihn als Vertreter des Bundesanwaltes für das Verfahren gegen Katharina Schoop und Renate Schwob.
Der ausserordentliche Bundesanwalt beantragte am 13. April 1989 beim Eidgenössischen Untersuchungsrichter die Einleitung der Voruntersuchung gemäss
Art. 108 ff. BStP
, was mit Verfügung vom 17. April 1989 geschah.
Der Eidgenössische Untersuchungsrichter erstellte seinen Schlussbericht zur Voruntersuchung gegen Elisabeth Kopp, Katharina Schoop und Renate Schwob wegen Verletzung des Amtsgeheimnisses und Begünstigung am 12. September 1989. Er
BGE 116 IV 56 S. 63
regte an, die Untersuchung hinsichtlich der Elisabeth Kopp vorgeworfenen Begünstigung einzustellen. Demgegenüber vertrat er die Meinung, es sei "anklagegenügend" bewiesen, dass sich Elisabeth Kopp und Katharina Schoop der Verletzung des Amtsgeheimnisses schuldig gemacht hätten. Der ausserordentliche Bundesanwalt trat mit Entschluss vom 20. September 1989 gestützt auf
Art. 120 BStP
von der Verfolgung von Elisabeth Kopp wegen Begünstigung zurück.
C.-
Am 20. September 1989 erhob der ausserordentliche Bundesanwalt Anklage gegen Elisabeth Kopp, Katharina Schoop und Renate Schwob wegen Verletzung des Amtsgeheimnisses. In Anwendung der
Art. 128 und 132 BStP
, 320, 340 Ziff. 1 und 342 StGB liess die Anklagekammer des Bundesgerichtes mit Beschluss vom 13. November 1989 die Anklage zu.
D.-
Die Hauptverhandlung vor dem Bundesstrafgericht fand vom 19. bis 23. Februar 1990 statt.
Der ausserordentliche Bundesanwalt stellt folgende Anträge:
"1. Die Angeklagten seien der Verletzung des Amtsgeheimnisses schuldig zu sprechen und in Anwendung von Art. 320 Ziff. 1 Abs. 1, 63, 48 und 49 StGB zu verurteilen.
1.1. Frau Renate Schwob sei mit Fr. 3'000.-- zu büssen.
1.2. Frau Katharina Schoop sei mit Fr. 2'000.-- zu büssen.
1.3. Frau Elisabeth Kopp sei mit Fr. 8'000.-- zu büssen.
2. In Anwendung von
Art. 49 Ziff. 4 StGB
sei der Eintrag nach einer Probezeit von einem Jahr im Strafregister zu löschen.
3. Die Kosten seien den Angeklagten solidarisch aufzuerlegen im Verhältnis von je 1/4 zu Lasten von Frau Schwob und Frau Schoop und zu Lasten von Frau Kopp."
Fürsprecher Saluz, Verteidiger der Angeklagten Renate Schwob, beantragt:
"1. Frau Dr. Renate Schwob sei von Schuld und Strafe freizusprechen.
2. Es sei Frau Dr. Renate Schwob für die durch das Verfahren erlittenen Nachteile eine Entschädigung auszurichten gemäss Kostenverzeichnis.
3. Die Kosten des Verfahrens seien dem Bund aufzuerlegen."
Fürsprecher Jost, Verteidiger der Angeklagten Katharina Schoop, beantragt:
"1. Frau Dr. Katharina Schoop sei von Schuld und Strafe freizusprechen.
2. Es sei Frau Dr. Katharina Schoop für die durch das Verfahren erlittenen Nachteile eine angemessene Entschädigung auszurichten.
BGE 116 IV 56 S. 64
3. Die Kosten des Verfahrens seien dem Bund aufzuerlegen."
Rechtsanwalt Hafter, Verteidiger der Angeklagten Elisabeth Kopp, beantragt:
"1. Frau Elisabeth Kopp sei von Schuld und Strafe freizusprechen.
2. Es sei Frau Elisabeth Kopp eine angemessene Entschädigung zuzusprechen.
3. Die Kosten des Verfahrens seien dem Bund aufzuerlegen." Erwägungen
Das Bundesstrafgericht hat erwogen:
I.
I.1.
Die Anklageschrift entspricht den gesetzlichen Anforderungen. Renate Schwob wird vorgeworfen, an einem nicht genau bestimmten Tag im Oktober 1988 anlässlich eines privaten Telefongespräches Katharina Schoop über den wesentlichen Inhalt der von Jacques-André Kaeslin am 8. und 15. September 1988 erstellten Berichte informiert zu haben; weiter habe die Angeklagte ihrer Freundin am 25. Oktober 1988 Einsicht in die Berichte gewährt und ihr Gelegenheit zur Erstellung von Notizen gegeben.
Katharina Schoop wird vorgeworfen, sie habe am 27. Oktober 1988 anlässlich eines Telefongesprächs Hans W. Kopp anhand ihrer bei Renate Schwob gemachten Notizen orientiert. Die Anklage legt ihr nicht zur Last, Herrn Hubschmid von der Bankiervereinigung angerufen und die Departementsvorsteherin Elisabeth Kopp informiert zu haben.
Entgegen der Ansicht der Verteidigung umschreibt die Anklage auch den Elisabeth Kopp vorgeworfenen Sachverhalt hinreichend. Wenngleich es wünschenswert gewesen wäre, den Vorwurf der Mittäterschaft von Elisabeth Kopp hinsichtlich des Telefongesprächs von Katharina Schoop mit Hans W. Kopp in Ziffer 4 der Anklageschrift beim "Fall Frau Kopp" speziell anzuführen, ergibt sich doch deutlich aus Ziff. 3 der Anklageschrift, dass Elisabeth Kopp vorgeworfen wird, am 27. Oktober 1988 ihren Ehemann angerufen, ihm erste Informationen gegeben und ihn anschliessend aufgefordert zu haben, Frau Schoop anzurufen, wodurch die detaillierte Orientierung des Ehemannes veranlasst worden sei.
I.2.
In seiner Verteidigungsschrift hatte Rechtsanwalt Hafter die angeblich falsche Information der Petitions- und Gewährleistungskommission des Nationalrates bzw. der Öffentlichkeit
BGE 116 IV 56 S. 65
durch den besonderen Vertreter des Bundesanwaltes gerügt. Diesen Vorwurf hat er an der Hauptverhandlung ausdrücklich fallengelassen, weshalb darauf nicht weiter einzugehen ist. II.
II.
Zur folgenden Begründung ist anzumerken, dass das Urteil des Bundesstrafgerichtes im Fall der Freisprechung neben dem Urteilsspruch grundsätzlich nur feststellen soll, "dass die dem Angeklagten vorgeworfene Tat nicht erwiesen oder nicht strafbar ist" (Art. 179 Abs. 2 Ziff. 2 lit. a BStP).
II.1.
a) Die in Frage stehenden Berichte Kaeslin vom 8. und 15. September 1988 waren für den Bundesanwalt bestimmt. Sie enthielten unter anderem den Antrag auf Einleitung eines gerichtspolizeilichen Ermittlungsverfahrens gegen eine Reihe von Gesellschaften, denen vorgeworfen wurde, Drogengelder zu waschen. Es ging weiter darum abzuklären, ob allenfalls mit dem Drogenhandel in Zusammenhang stehende Geldbeträge eingezogen werden könnten. Der Inhalt dieser Berichte sowie der Umstand, dass sich die Bundesanwaltschaft mit der Angelegenheit befasste, waren nicht jedermann, sondern nur einem beschränkten Personenkreis bekannt. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass es sich bei den Inhalten der beiden Berichte um Amtsgeheimnisse im Sinne von
Art. 320 StGB
handelte. Ob sie materiell teilweise unrichtig waren und nur Mutmassungen enthielten, ist unerheblich. Feststellungen in hängigen Strafverfahren beruhen vielfach zunächst auf blossen Mutmassungen, die sich nachträglich als unrichtig erweisen können; dennoch besteht jedenfalls bis zum Abschluss des Verfahrens ein dringendes Interesse an ihrer Geheimhaltung.
b) Katharina Schoop und Elisabeth Kopp haben in objektiver Hinsicht ohne Zweifel ein Amtsgeheimnis offenbart, als sie Informationen aus den Berichten Kaeslin an Hans W. Kopp weitergaben. Auch steht fest, dass sie das Geheimnis in ihrer amtlichen Stellung wahrgenommen haben.
Zu prüfen ist, wie es sich damit bei Renate Schwob verhält. Diese versicherte glaubhaft, dass es ihr nur um die Orientierung von Bundesrätin Kopp ging und dass sie der Ansicht war, die Information sei "für die Amtsführung des Departements relevant". Da sie auch nicht damit rechnen musste, dass Katharina Schoop oder Elisabeth Kopp die erhaltenen Informationen einer unberechtigten Drittperson weitergeben würden, hat sich Renate
BGE 116 IV 56 S. 66
Schwob durch die Weiterleitung ihrer Kenntnisse an die Departementsvorsteherin ungeachtet der Umgehung des Dienstweges nicht strafbar gemacht (s. oben vor E. II/1). Renate Schwob ist folglich von der Anklage der Verletzung des Amtsgeheimnisses im Sinne von
Art. 320 StGB
freizusprechen.
Es ist hier darauf hinzuweisen, dass der Ankläger in anderem Zusammenhang diese Auffassung teilt, wirft er doch der Mitangeklagten Katharina Schoop nur die Preisgabe ihres Wissens an Hans W. Kopp, nicht aber die interne Weiterleitung an die Departementsvorsteherin vor.
II.2.
In subjektiver Hinsicht verlangt
Art. 320 StGB
Vorsatz.
a) Die Verteidigung machte geltend, Katharina Schoop könne kein vorsätzliches Verhalten angelastet werden. Dieser Einwand ist unbegründet. Gemäss ihren Aussagen an der Hauptverhandlung hatte sie jedenfalls erkannt, dass die Berichte an den Bundesanwalt gerichtet waren. Es muss ihr auch bewusst gewesen sein, dass Hans W. Kopp über den Inhalt solcher Berichte grundsätzlich nicht hätte orientiert werden dürfen. Ob sie sich wegen der entsprechenden Aufforderung der Departementsvorsteherin in einem Rechtsirrtum im Sinne von
Art. 20 StGB
befand, wird gesondert zu prüfen sein. Da sämtliche Tatbestandsmerkmale von
Art. 320 StGB
erfüllt sind, ist Katharina Schoop der Verletzung des Amtsgeheimnisses schuldig zu sprechen.
b) Was Elisabeth Kopp betrifft, ist vorerst zweierlei klarzustellen.
In formeller Hinsicht ist die Kognition des Bundesstrafgerichts durch die Anklageschrift begrenzt. Der Beurteilung unterliegt nur, was Gegenstand der Anklage ist (
Art. 169 Abs. 1 BStP
). Diese beschränkt sich klar auf den Vorwurf, Frau Kopp habe die von Frau Schoop erhaltenen Informationen im Wissen um ihre amtsinterne Herkunft einem Aussenstehenden preisgegeben. Sowohl aus der Anklageschrift selber wie auch aus der Argumentation des Anklägers gegenüber den Einwänden der Verteidigung geht eindeutig hervor, dass die Weiterleitung von Informationen, die Frau Schoop aus Quellen ausserhalb des Departementes bezogen haben könnte, Frau Kopp nicht zum Vorwurf gemacht wird. Das Gericht hat daher die Frage, ob von aussen eingehende Informationen zu Amtsgeheimnissen werden können, nicht zu prüfen.
Des weiteren verstünde es sich auch bei Prüfung dieser Frage von selbst, dass sich das Gericht an den Wortlaut des Gesetzes zu halten hätte. Auch Amtsträgern steht ein amtsfreier privater
BGE 116 IV 56 S. 67
Lebensraum zu. Was ihnen nicht in ihrer Eigenschaft als Mitglied einer Behörde oder als Beamter anvertraut worden ist, oder was sie nicht in ihrer amtlichen oder dienstlichen Stellung wahrgenommen haben, untersteht dem Amtsgeheimnis nicht (
Art. 320 Ziff. 1 Abs. 1 StGB
). Wie es sich damit im vorliegenden Fall verhält, hat nach dem Gesagten offenzubleiben.
In dem durch die Anklage vorgegebenen Rahmen ist einzig entscheidend, ob Frau Kopp um die interne Quelle der erhaltenen und weitergeleiteten Informationen gewusst oder die Verletzung eines solchen Geheimnisses in Kauf genommen hat. Nach dem Beweisergebnis lässt sich das nicht zweifelsfrei bejahen. Frau Schoop hat ihre Quelle nicht genannt, mehrfach auch Informationen aus externen Quellen beigebracht und durch die Art dieser Quellen die Vermutung nahegelegt, sie könnten auch im vorliegenden Fall die Informationen geliefert haben. Da sich diese Möglichkeit nicht mit letzter Gewissheit ausschliessen lässt, hat die Beweiswürdigung zugunsten der Angeklagten auszufallen. Daher kann die Elisabeth Kopp zur Last gelegte Tat als nicht hinreichend erwiesen und die Schuld damit nicht als erstellt gelten (s. oben vor E. II/1). Das Gericht hat deshalb davon auszugehen, sie habe weder mit Vorsatz noch mit Eventualvorsatz gehandelt. Die fahrlässige Tatbegehung ist nicht strafbar. Elisabeth Kopp ist daher freizusprechen.
II.3.
a) Die Verteidigung Katharina Schoops berief sich an der Hauptverhandlung auf
Art. 32 und 320 Ziff. 2 StGB
und machte geltend, die Angeklagte sei verpflichtet gewesen, der Weisung von Elisabeth Kopp, deren Ehemann zu orientieren, nachzukommen; sie habe deshalb in Erfüllung einer Amtspflicht gehandelt; eventuell habe sie sich in einem Irrtum über das Bestehen eines Rechtfertigungsgrundes befunden.
Nach dem Gesagten ist zunächst davon auszugehen, dass Katharina Schoop das Amtsgeheimnis in objektiver und in subjektiver Hinsicht verletzt hat. Obwohl sie darum wusste, dass ihre Informationen für den Bundesanwalt bestimmt waren, orientierte sie auf Anweisung von Frau Kopp ohne weiteres deren Ehemann. Es ist ihr jedoch zu glauben, dass sie wegen der entsprechenden Aufforderung von Frau Kopp der Ansicht war, sie sei zu diesem Vorgehen berechtigt. Dass sie die Befugnisse eines Bundesrates ausserordentlich hoch einschätzte, legte sie an der Hauptverhandlung glaubwürdig dar. Sie meinte also, das Geheimnis gestützt auf die Anweisung ihrer Vorgesetzten offenbaren zu dürfen oder
BGE 116 IV 56 S. 68
sogar in Erfüllung einer Amtspflicht zu handeln. Diese Ansicht war zwar objektiv unrichtig. Im Zweifel ist aber nach den gesamten Umständen des Falles zu ihren Gunsten davon auszugehen, dass die Angeklagte subjektiv überzeugt war, zur Tat berechtigt zu sein.
Die irrtümliche Annahme, ein tatbestandsmässiges Verhalten sei im konkreten Fall rechtmässig, weil ein Rechtfertigungsgrund das Vorgehen erlaube, stellt einen Verbotsirrtum im Sinne von
Art. 20 StGB
dar (vgl.
BGE 101 IV 404
f.). Wie fast jeder Irrtum über die Rechtmässigkeit wäre natürlich auch der vorliegend zu beurteilende bei entsprechender Abklärung zu vermeiden gewesen. Diese theoretische Möglichkeit der richtigen Erkenntnis der Rechtslage schliesst die Anwendung von
Art. 20 StGB
jedoch nicht aus. Entscheidend ist, ob dem Täter das Fehlen der richtigen Erkenntnis zum Vorwurf zu machen ist. Das Gesetz bringt diesen Gedanken darin zum Ausdruck, dass es verlangt, der Täter müsse "aus zureichenden Gründen" angenommen haben, er sei zur Tat berechtigt.
Wie bereits festgestellt, schätzte Katharina Schoop die Befugnisse eines Bundesrates ausserordentlich hoch ein. Sie versicherte, sich im Tatzeitpunkt nicht darüber im klaren gewesen zu sein, "dass ein Bundesrat etwas nicht machen" dürfe. Eine solche Äusserung muss bei einer promovierten Juristin zwar erstaunen. An der Hauptverhandlung bestätigte sich aber der Eindruck, dass Katharina Schoop der Departementsvorsteherin, zu der sie nach ihren Angaben ein enges und vertrautes Verhältnis hatte, sowohl als Person als auch als erste Bundesrätin eine aussergewöhnliche Verehrung entgegenbrachte. Dies wird gut durch den Umstand illustriert, dass es ihr geradezu "übel" wurde, nachdem sie bei Renate Schwob in die Berichte Kaeslin hatte Einsicht nehmen können. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang auch, dass Katharina Schoop fälschlich der Ansicht war, die in den Berichten enthaltenen Angaben seien "schon erwiesen" und die in Frage stehenden Gelder "schon beschlagnahmt worden"; unter diesen Umständen kann ihr geglaubt werden, dass es ihr nur um das "persönliche Umfeld" von Elisabeth Kopp und nicht eigentlich darum ging, Hans W. Kopp zu warnen; auch dies mag sie in ihrer Annahme bestärkt haben, sie sei dazu berechtigt, den Auftrag von Elisabeth Kopp auszuführen. Unter Berücksichtigung aller Umstände ist zugunsten der Angeklagten davon auszugehen, dass sie sich aus zureichenden Gründen zur Tat berechtigt wähnte
BGE 116 IV 56 S. 69
und sich mithin in einem strafrechtlich relevanten Rechtsirrtum befand.
b) Gemäss
Art. 20 StGB
kann der Richter die Strafe beim Vorliegen eines Verbotsirrtums nach freiem Ermessen mildern oder von einer Bestrafung Umgang nehmen. Katharina Schoop hat in einer schwierigen Situation und auf vermeintlich rechtmässige Anweisung der Departementsvorsteherin unüberlegt falsch gehandelt. Es rechtfertigt sich daher, von Strafe Umgang zu nehmen. III.
III.
Der freigesprochene Angeklagte kann zur Tragung von Kosten verurteilt werden, wenn er die Einleitung der Untersuchung durch schuldhaftes Benehmen verursacht oder das Verfahren durch trölerisches Verhalten wesentlich erschwert hat (
Art. 173 Abs. 2 BStP
). Ein schuldhaftes Benehmen liegt bei der "Verletzung allgemeiner gesetzlicher Pflichten" vor (
BGE 114 Ia 306
mit Hinweis). Der öffentliche Dienst - als besonderes Rechtsverhältnis - fordert von jedem Amtsträger treue und gewissenhafte Erfüllung der mit dem Amte verbundenen Obliegenheiten: Er hat alles zu tun, was die Interessen des Staates fördert, und alles zu unterlassen, was sie beeinträchtigt. Dieser Grundsatz wird ausdrücklich zwar nur für Beamte des Bundes in Art. 22 des Beamtengesetzes (SR 172.221.10) erwähnt. Er gilt selbstverständlich aber auch für Bundesräte. Diese sind wegen ihrer verfassungsrechtlichen Stellung und Funktion als Mitglieder der obersten leitenden und vollziehenden Behörde der Eidgenossenschaft und als Departementsvorsteher (
Art. 95 BV
; Art. 1 und 27 des Verwaltungsorganisationsgesetzes - SR 172.010) sowie auch aufgrund des abgelegten Amtseides (Dekret betreffend den von den obersten Bundesbehörden zu leistenden Amtseid - SR 170.31) in besonderem (noch höherem) Masse der Sorge um das Wohl der Eidgenossenschaft verpflichtet.
Das Verhalten von Elisabeth Kopp liess die erforderliche Sorgfalt vermissen. Es ist unverständlich, weshalb sie sich nach der Orientierung durch Katharina Schoop nicht nach der Quelle der Informationen erkundigte. Hätte sie diese Vorsicht beobachtet, zu der sie nach den gesamten Umständen und ihren persönlichen Verhältnissen verpflichtet gewesen wäre, hätte sie erkennen müssen, dass die Informationen aus der Bundesanwaltschaft stammten. Durch ihr unüberlegtes und leichtfertiges Benehmen
BGE 116 IV 56 S. 70
hat sie den Interessen des Bundes zuwidergehandelt. Diesem Umstand ist bei der Kosten- und Entschädigungsregelung Rechnung zu tragen.
Die übrige Kosten- und Entschädigungsregelung ergibt sich aus den Erwägungen des Urteils. | de |
5587bcf5-a9ec-42a1-a8b4-f7c7029e87ef | 232.21 1 Bundesgesetz über den Schutz des Schweizerwappens und anderer öffentlicher Zeichen (Wappenschutzgesetz, WSchG) vom 21. Juni 2013 (Stand am 1. Januar 2022) Die Bundesversammlung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, gestützt auf Artikel 122 der Bundesverfassung1, nach Einsicht in die Botschaft des Bundesrates vom 18. November 20092, beschliesst: 1. Kapitel: Öffentliche Zeichen der Schweiz 1. Abschnitt: Definitionen Art. 1 Schweizerkreuz Das Schweizerkreuz ist ein im roten Feld aufrechtes, freistehendes weisses Kreuz, dessen unter sich gleiche Arme je einen Sechstel länger als breit sind. Art. 2 Schweizerwappen 1 Das Wappen der Schweizerischen Eidgenossenschaft (Schweizerwappen) ist ein Schweizerkreuz in einem Dreieckschild. 2 Für Form, Farbe und Grössenverhältnisse ist das in Anhang 1 abgebildete Muster massgebend. Art. 3 Schweizerfahne 1 Die Schweizerfahne zeigt ein Schweizerkreuz in einem quadratischen Feld. 2 Für Form, Farbe und Grössenverhältnisse ist das in Anhang 2 abgebildete Muster massgebend. 3 Vorbehalten bleiben: a. Seeschifffahrtsgesetz vom 23. September 19533; b. Luftfahrtgesetz vom 21. Dezember 19484; c. Militärgesetz vom 3. Februar 19955. AS 2015 3679 1 SR 101 2 BBl 2009 8533 3 SR 747.30 4 SR 748.0 5 SR 510.10 232.21 Gewerblicher Rechtsschutz 2 232.21 Art. 4 Andere Hoheitszeichen der Eidgenossenschaft Der Bundesrat bezeichnet die anderen Hoheitszeichen der Eidgenossenschaft; darun- ter fallen insbesondere die eidgenössischen Kontroll- oder Garantiezeichen. Art. 5 Wappen, Fahnen und andere Hoheitszeichen der Kantone, Bezirke, Kreise und Gemeinden Die Wappen, Fahnen und anderen Hoheitszeichen der Kantone, Bezirke, Kreise und Gemeinden werden durch das kantonale Recht bestimmt. Art. 6 Amtliche Bezeichnungen Als amtliche Bezeichnungen gelten die folgenden Ausdrücke: a. «Eidgenossenschaft», «Bund»; b. «eidgenössisch»; c. «Kanton»; d. «kantonal»; e. «Gemeinde»; f. «kommunal»; g. andere Ausdrücke, die auf eine Behörde der Schweiz oder auf eine behörd- liche oder behördennahe Tätigkeit schliessen lassen. Art. 7 Nationale Bild- oder Wortzeichen Als nationale Bild- oder Wortzeichen der Schweiz gelten Zeichen, die sich auf nationale Symbole wie Wahrzeichen, Heldengestalten, Stätten oder Denkmäler der Schweiz beziehen. 2. Abschnitt: Gebrauch Art. 8 Wappen 1 Das Schweizerwappen, die Wappen der Kantone, Bezirke, Kreise und Gemeinden, die charakteristischen Bestandteile der Kantonswappen im Zusammenhang mit einem Wappenschild sowie mit ihnen verwechselbare Zeichen dürfen nur von dem Gemeinwesen, zu dem sie gehören, gebraucht werden. 2 Absatz 1 ist auch anwendbar auf Wortzeichen, die sich auf das Schweizerwappen oder auf das Wappen eines Kantons, Bezirks, Kreises oder einer Gemeinde bezie- hen. 3 Die Zeichen nach den Absätzen 1 und 2 können nicht lizenziert und nicht übertra- gen werden. Wappenschutzgesetz 3 232.21 4 Der Gebrauch der Wappen nach Absatz 1 durch andere Personen als das berech- tigte Gemeinwesen ist in den folgenden Fällen zulässig: a. als Abbildung in Wörterbüchern, Nachschlagewerken, wissenschaftlichen und ähnlichen Werken; b. bei der Ausschmückung von Festen und Veranstaltungen; c. bei der Ausschmückung von kunstgewerblichen Gegenständen wie Bechern, Wappenscheiben und Gedenkmünzen für Feste und Veranstaltungen; d. als Bestandteil des schweizerischen Patentzeichens nach den Bestimmungen des Patentgesetzes vom 25. Juni 19546; e. in Kollektiv- oder Garantiemarken, die von einem Gemeinwesen hinterlegt worden sind und gemäss dem Markenreglement durch Private benützt wer- den dürfen; f. wenn ein Weiterbenützungsrecht nach Artikel 35 vorliegt. 5 Die Kantone, Bezirke, Kreise und Gemeinden können den Gebrauch ihrer Wappen durch andere Personen in weiteren Fällen vorsehen. Art. 9 Amtliche Bezeichnungen 1 Amtliche Bezeichnungen und mit ihnen verwechselbare Ausdrücke dürfen für sich allein nur von dem Gemeinwesen, zu dem sie gehören, verwendet werden. 2 Der Gebrauch von Bezeichnungen nach Absatz 1 durch andere Personen als das berechtigte Gemeinwesen ist nur zulässig, wenn diese Personen eine behördliche oder behördennahe Tätigkeit ausüben. 3 Bezeichnungen nach Absatz 1 dürfen in Verbindung mit anderen Wort- oder Bildelementen gebraucht werden, es sei denn der Gebrauch ist irreführend oder verstösst gegen die öffentliche Ordnung, die guten Sitten oder geltendes Recht. Art. 10 Fahnen und andere Hoheitszeichen Die Fahnen und die andern Hoheitszeichen der Eidgenossenschaft, der Kantone, Bezirke, Kreise und Gemeinden sowie mit ihnen verwechselbare Zeichen dürfen gebraucht werden, es sei denn der Gebrauch ist irreführend oder verstösst gegen die öffentliche Ordnung, die guten Sitten oder geltendes Recht. Art. 11 Nationale Bild- und Wortzeichen Nationale Bild- und Wortzeichen dürfen gebraucht werden, es sei denn der Ge- brauch ist irreführend oder verstösst gegen die öffentliche Ordnung, die guten Sitten oder geltendes Recht. 6 SR 232.14 Gewerblicher Rechtsschutz 4 232.21 Art. 12 Öffentliche Zeichen der Schweiz und öffentliche Zeichen des Auslandes Der Gebrauch von Wappen, Fahnen und andern Hoheitszeichen der Schweiz, die nach diesem Gesetz gebraucht werden dürfen, darf nicht aus dem Grund untersagt werden, dass das Zeichen mit einem öffentlichen Zeichen eines ausländischen Staa- tes verwechselt werden kann. Art. 13 Gebrauch von Zeichen als Herkunftsangaben Werden die Zeichen nach den Artikeln 8 Absätze 1 und 2, 10 und 11 von den mass- gebenden Verkehrskreisen als Hinweis auf die geografische Herkunft von Waren oder Dienstleistungen verstanden, so gelten sie als Herkunftsangaben im Sinne des Markenschutzgesetzes vom 28. August 19927 (MSchG) und unterstehen den Arti- keln 47–50 MSchG. 3. Abschnitt: Eintragungsverbot Art. 14 1 Ein Zeichen, dessen Gebrauch nach den Artikeln 8–13 unzulässig ist, darf nicht als Marke, Design, Firma, Vereins- oder Stiftungsname oder als Bestandteil davon eingetragen werden. 2 Das Eintragungsverbot gilt auch in den Fällen, in denen Artikel 8 Absätze 4 und 5 den Gebrauch zulässt. 3 Vom Eintragungsverbot ausgenommen sind Zeichen, für die das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement ein Weiterbenützungsrecht nach Artikel 35 erteilt hat. 2. Kapitel: Öffentliche Zeichen des Auslandes 1. Abschnitt: Gebrauch und Ermächtigung Art. 15 Gebrauch 1 Wappen, Fahnen und andere Hoheitszeichen oder mit ihnen verwechselbare Zei- chen sowie nationale Bild- und Wortzeichen ausländischer Staaten dürfen nur von dem Staat gebraucht werden, zu dem sie gehören; vorbehalten bleibt Artikel 16. 2 Der berechtigte Staat darf die Zeichen nach Absatz 1 gebrauchen, es sei denn der Gebrauch ist irreführend oder verstösst gegen die öffentliche Ordnung, die guten Sitten oder geltendes Recht. 7 SR 232.11 Wappenschutzgesetz 5 232.21 3 Wappen, Fahnen und andere Hoheitszeichen anderer ausländischer Gemeinwesen, insbesondere von Gemeinden, dürfen gebraucht werden, es sei denn der Gebrauch ist irreführend oder verstösst gegen die öffentliche Ordnung, die guten Sitten oder geltendes Recht. 4 Werden die Zeichen nach den Absätzen 1 und 3 von den massgebenden Verkehrs- kreisen als Hinweis auf die geografische Herkunft von Waren oder Dienstleistungen verstanden, so gelten sie als Herkunftsangaben im Sinne des MSchG8 und unterste- hen den Artikeln 48 Absatz 5 und 49 Absatz 4 MSchG. Art. 16 Ermächtigung 1 Das berechtigte Gemeinwesen kann Dritte zum Gebrauch seiner Zeichen ermächti- gen. Artikel 15 Absätze 2–4 bleibt anwendbar. 2 Als Ermächtigung gilt insbesondere: a. der Nachweis einer identischen Eintragung des Zeichens als Marke, Design, Firma, Vereins- oder Stiftungsname durch eine entsprechende Eintragungs- bescheinigung der zuständigen ausländischen Behörde; b. jeder andere Nachweis der zuständigen ausländischen Behörde, der den Ge- brauch oder die Eintragung des Zeichens als Marke, Design, Firma, Vereins- oder Stiftungsname erlaubt. 2. Abschnitt: Eintragungsverbot Art. 17 Ein Zeichen, dessen Gebrauch nach Artikel 15 unzulässig ist, darf nicht als Marke, Design, Firma, Vereins- oder Stiftungsname oder als Bestandteil davon eingetragen werden. 3. Kapitel: Elektronisches Verzeichnis der geschützten öffentlichen Zeichen Art. 18 1 Das Eidgenössische Institut für Geistiges Eigentum (IGE) führt ein elektronisches Verzeichnis: a. der öffentlichen Zeichen der Schweiz; b. der öffentlichen Zeichen, die ihm ausländische Staaten mitgeteilt haben. 2 Es macht das Verzeichnis elektronisch zugänglich. 3 Die Kantone teilen dem IGE die Zeichen nach Artikel 5 mit. 8 SR 232.11 Gewerblicher Rechtsschutz 6 232.21 4. Kapitel: Rechtsschutz 1. Abschnitt: Zivilrechtlicher Schutz Art. 19 Beweislastumkehr Die Benutzerin oder der Benutzer eines öffentlichen Zeichens muss beweisen, dass sie oder er dieses gebrauchen darf. Art. 20 Klage und Klageberechtigung 1 Wer durch widerrechtlichen Gebrauch öffentlicher Zeichen in den wirtschaftlichen Interessen verletzt oder gefährdet wird, kann vom Gericht verlangen, dass es: a. eine drohende Verletzung verbietet; b. eine bestehende Verletzung beseitigt; c. die beklagte Partei verpflichtet, Herkunft und Menge der in ihrem Besitz be- findlichen Gegenstände, die widerrechtlich mit dem öffentlichen Zeichen versehen sind, anzugeben und Adressatinnen und Adressaten sowie Ausmass einer Weitergabe an gewerbliche Abnehmerinnen und Abnehmer zu nennen; d. die Widerrechtlichkeit einer Verletzung feststellt, wenn sich diese weiterhin störend auswirkt. 2 Vorbehalten bleiben insbesondere die Klagen nach dem Obligationenrecht9 auf Schadenersatz, auf Genugtuung und auf Herausgabe eines Gewinns entsprechend den Bestimmungen über die Geschäftsführung ohne Auftrag. Art. 21 Klageberechtigung der Verbände und Konsumentenorganisationen Zu Klagen nach Artikel 20 Absatz 1 sind berechtigt: a. Berufs- und Wirtschaftsverbände, die nach ihren Statuten zur Wahrung der wirtschaftlichen Interessen ihrer Mitglieder befugt sind; b. Organisationen von gesamtschweizerischer oder regionaler Bedeutung, die sich nach ihren Statuten dem Konsumentenschutz widmen. Art. 22 Klageberechtigung des berechtigten Gemeinwesens und des IGE 1 Das zum Gebrauch eines öffentlichen Zeichens berechtigte Gemeinwesen kann gegen jeden widerrechtlichen Gebrauch seiner geschützten Zeichen nach den Arti- keln 1–7 und 15 Klage nach Artikel 20 Absatz 1 einreichen. 2 Das IGE ist zu Klagen berechtigt, die den Schutz von Zeichen nach den Arti- keln 1–4 und 7 oder von amtlichen Bezeichnungen nach Artikel 6 betreffen, soweit deren Gebrauch auf eine nationale Behörde oder eine behördliche oder behörden- nahe Tätigkeit schliessen lassen. 9 SR 220 Wappenschutzgesetz 7 232.21 3 Die Kantone bestimmen, wer zu Klagen berechtigt ist, die den Schutz von Zeichen nach Artikel 5 oder von amtlichen Bezeichnungen nach Artikel 6 betreffen, soweit deren Gebrauch auf eine kantonale oder kommunale Behörde oder eine behördliche oder behördennahe Tätigkeit schliessen lassen. Art. 23 Einziehung 1 Das Gericht kann die Einziehung von Gegenständen, die widerrechtlich mit einem öffentlichen Zeichen oder einem damit verwechselbaren Zeichen gekennzeichnet sind, und von vorwiegend zu ihrer Herstellung dienenden Einrichtungen, Geräten und sonstigen Mitteln anordnen. 2 Es entscheidet darüber, ob das öffentliche Zeichen unkenntlich zu machen ist oder ob die Gegenstände unbrauchbar zu machen, zu vernichten oder in einer bestimmten Weise zu verwenden sind. Art. 24 Einzige kantonale Instanz Die Kantone bezeichnen das Gericht, das für das ganze Kantonsgebiet als einzige Instanz für Zivilklagen nach diesem Gesetz zuständig ist. Art. 25 Vorsorgliche Massnahmen Ersucht eine Person um die Anordnung vorsorglicher Massnahmen, so kann sie insbesondere verlangen, dass das Gericht Massnahmen anordnet: a. zur Beweissicherung; b. zur Ermittlung der Herkunft widerrechtlich mit öffentlichen Zeichen verse- hener Gegenstände; c. zur Wahrung des bestehenden Zustandes; oder d. zur vorläufigen Vollstreckung von Unterlassungs- und Beseitigungsansprü- chen. Art. 26 Veröffentlichung des Urteils Das Gericht kann auf Antrag der obsiegenden Partei anordnen, dass das Urteil auf Kosten der anderen Partei veröffentlicht wird. Es bestimmt Art und Umfang der Veröffentlichung. Art. 27 Mitteilung von Entscheiden Das Gericht stellt dem IGE Entscheide, einschliesslich solcher über vorsorgliche Massnahmen, und Abschreibungsbeschlüsse nach ihrem Erlass ohne Verzug in vollständiger Ausfertigung und unentgeltlich zu. Gewerblicher Rechtsschutz 8 232.21 2. Abschnitt: Strafrechtlicher Schutz Art. 28 Unzulässiger Gebrauch öffentlicher Zeichen 1 Mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer vor- sätzlich und unrechtmässig: a. nach diesem Gesetz geschützte öffentliche Zeichen des In- oder Auslandes oder damit verwechselbare Zeichen auf Gegenständen anbringt oder so ge- kennzeichnete Gegenstände verkauft, feilhält, ein-, aus- oder durchführt oder sonst in Verkehr setzt; b. Zeichen nach Buchstabe a auf Geschäftsschildern, Anzeigen, Prospekten, Geschäftspapieren, Internetseiten oder dergleichen verwendet; c. Zeichen nach Buchstabe a für Dienstleistungen gebraucht oder mit solchen Zeichen für Dienstleistungen wirbt; d. eine amtliche Bezeichnung oder eine damit verwechselbare Bezeichnung gebraucht; e. ein nationales Bild- oder Wortzeichen des In- oder Auslandes gebraucht. 2 Handelt die Täterin oder der Täter gewerbsmässig, so ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe. Mit der Freiheitsstrafe ist eine Geldstrafe zu verbinden. 3 Artikel 64 MSchG10 bleibt vorbehalten. Art. 29 Widerhandlungen in Geschäftsbetrieben Bei Widerhandlungen in Geschäftsbetrieben durch Untergebene, Beauftragte oder Vertreterinnen oder Vertreter gelten die Artikel 6 und 7 des Bundesgesetzes vom 22. März 197411 über das Verwaltungsstrafrecht. Art. 30 Einziehung Das Gericht kann, selbst im Falle eines Freispruchs die Einziehung oder Vernich- tung der Gegenstände, die widerrechtlich mit einem von diesem Gesetz geschützten Zeichen versehen sind, und der vorwiegend zur Herstellung solcher Gegenstände dienenden Einrichtungen, Geräte und sonstigen Mittel anordnen. Art. 31 Strafverfolgung 1 Die Strafverfolgung ist Sache der Kantone. 2 Das IGE kann bei der zuständigen Strafverfolgungsbehörde Anzeige erstatten und im Verfahren die Rechte einer Privatklägerschaft wahrnehmen. 10 SR 232.11 11 SR 313.0 Wappenschutzgesetz 9 232.21 5. Kapitel: Hilfeleistung des Bundesamtes für Zoll und Grenzsicherheit12 Art. 32 1 Für die Hilfeleistung des Bundesamtes für Zoll und Grenzsicherheit (BAZG) gelten die Artikel 70–72h MSchG13 sinngemäss.14 2 Wer nach Artikel 20, 21 oder 22 zur Zivilklage berechtigt ist, kann Antrag auf Hilfeleistung stellen. 6. Kapitel: Schlussbestimmungen Art. 33 Vollzug Der Bundesrat erlässt die Ausführungsbestimmungen. Art. 34 Aufhebung und Änderung bisherigen Rechts Die Aufhebung und die Änderung bisherigen Rechts werden in Anhang 3 geregelt. Art. 35 Weiterbenützungsrecht 1 In Abweichung von Artikel 8 dürfen nach bisherigem Recht gebrauchte Wappen und damit verwechselbare Zeichen noch längstens zwei Jahre nach Inkrafttreten dieses Gesetzes weiter gebraucht werden. 2 Das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement kann auf begründeten Antrag hin die Weiterbenützung des Schweizerwappens oder des mit diesem verwechselba- re Zeichens gestatten, wenn besondere Umstände vorliegen. Der Antrag muss spä- testens innerhalb von zwei Jahren nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes gestellt werden. 3 Besondere Umstände liegen vor, wenn nachgewiesen wird, dass: a. das Schweizerwappen oder ein damit verwechselbares Zeichen seit mindestens 30 Jahren durch dieselbe Person oder ihre Rechtsnachfolgerin ununterbrochen und unangefochten für die Kennzeichnung der von ihr hergestellten Waren o- der angebotenen Dienstleistungen verwendet worden ist; und b. an der Weiterbenützung ein schutzwürdiges Interesse besteht. 4 Bei Dienstleistungsmarken liegen besondere Umstände vor, wenn nachgewiesen wird, dass: 12 Fassung gemäss Ziff. I 5 der V vom 12. Juni 2020 über die Anpassung von Gesetzen infolge der Änderung der Bezeichnung der Eidgenössischen Zollverwaltung im Rahmen von deren Weiterentwicklung, in Kraft seit 1. Jan. 2022 (AS 2020 2743). 13 SR 232.11 14 Fassung gemäss Ziff. I 5 der V vom 12. Juni 2020 über die Anpassung von Gesetzen infolge der Änderung der Bezeichnung der Eidgenössischen Zollverwaltung im Rahmen von deren Weiterentwicklung, in Kraft seit 1. Jan. 2022 (AS 2020 2743). Gewerblicher Rechtsschutz 10 232.21 a. das Schweizerwappen oder ein damit verwechselbares Zeichen Bestandteil einer vor dem 18. November 2009 eingetragenen oder hinterlegten Marke ist; und b. an der Weiterbenützung ein schutzwürdiges Interesse besteht. 5 Die zuständige kantonale Behörde kann auf Antrag hin die Weiterbenützung des Wappens der Kantone, Bezirke, Kreise und Gemeinden gestatten. Das kantonale Recht regelt die entsprechenden Voraussetzungen. 6 Die Weiterbenützung darf nicht zu einer Täuschung über die geografische Her- kunft im Sinne der Artikel 47–50 MSchG15, über die Nationalität der Benutzerin oder des Benutzers, des Geschäfts, der Firma, des Vereins, der Stiftung oder über geschäftliche Verhältnisse der benutzenden Person, wie namentlich über angebliche amtliche Beziehungen zur Eidgenossenschaft oder zu einem Kanton, führen. Das Weiterbenutzungsrecht kann nur mit dem Geschäftsbetrieb oder dem Teil des Ge- schäftsbetriebes, zu dem das Zeichen gehört, vererbt oder veräussert werden. Art. 36 Bisher nicht eingetragene Kennzeichen Sind beim Inkrafttreten dieses Gesetzes Eintragungsgesuche für Marken oder De- signs hängig, die nach dem bisherigen, nicht aber nach dem neuen Recht von der Eintragung ausgeschlossen sind, so gilt als Hinterlegungsdatum der Tag des Inkraft- tretens dieses Gesetzes. Art. 37 Referendum und Inkrafttreten 1 Dieses Gesetz untersteht dem fakultativen Referendum. 2 Es tritt zusammen mit der Änderung vom 21. Juni 201316 des MSchG17 in Kraft. Inkrafttreten: 1. Januar 201718 15 SR 232.11 16 AS 2015 3631 17 SR 232.11 18 BRB vom 2. Sept. 2015 Wappenschutzgesetz 11 232.21 Anhang 1 (Art. 2) Schweizerwappen Farbdefinition Rot: CMYK 0 / 100 / 100 / 0 Pantone 485 C / 485 U RGB 255 / 0 / 0 Hexadezimal #FF0000 Scotchcal 100 -13 RAL 3020 Verkehrsrot NCS S 1085-Y90R Gewerblicher Rechtsschutz 12 232.21 Anhang 2 (Art. 3) Schweizerfahne Farbdefinition Rot: CMYK 0 / 100 / 100 / 0 Pantone 485 C / 485 U RGB 255 / 0 / 0 Hexadezimal #FF0000 Scotchcal 100 -13 RAL 3020 Verkehrsrot NCS S 1085-Y90R Wappenschutzgesetz 13 232.21 Anhang 3 (Art. 34) Aufhebung und Änderung bisherigen Rechts I Folgende Erlasse werden aufgehoben: 1. Bundesgesetz vom 5. Juni 193119 zum Schutz öffentlicher Wappen und an- derer öffentlicher Zeichen 2. Bundesbeschluss vom 12. Dezember 188920 betreffend das eidgenössische Wappen II Die nachstehenden Erlasse werden wie folgt geändert: ...21 19 [BS 2 935; AS 2006 2197 Anhang Ziff. 25, 2008 3437 Ziff. II 13] 20 [AS 1 147] 21 Die Änderungen können unter AS 2015 3679 konsultiert werden. Gewerblicher Rechtsschutz 14 232.21 1. Kapitel: Öffentliche Zeichen der Schweiz 1. Abschnitt: Definitionen Art. 1 Schweizerkreuz Art. 2 Schweizerwappen Art. 3 Schweizerfahne Art. 4 Andere Hoheitszeichen der Eidgenossenschaft Art. 5 Wappen, Fahnen und andere Hoheitszeichen der Kantone, Bezirke, Kreise und Gemeinden Art. 6 Amtliche Bezeichnungen Art. 7 Nationale Bild- oder Wortzeichen 2. Abschnitt: Gebrauch Art. 8 Wappen Art. 9 Amtliche Bezeichnungen Art. 10 Fahnen und andere Hoheitszeichen Art. 11 Nationale Bild- und Wortzeichen Art. 12 Öffentliche Zeichen der Schweiz und öffentliche Zeichen des Auslandes Art. 13 Gebrauch von Zeichen als Herkunftsangaben 3. Abschnitt: Eintragungsverbot Art. 14 2. Kapitel: Öffentliche Zeichen des Auslandes 1. Abschnitt: Gebrauch und Ermächtigung Art. 15 Gebrauch Art. 16 Ermächtigung 2. Abschnitt: Eintragungsverbot Art. 17 3. Kapitel: Elektronisches Verzeichnis der geschützten öffentlichen Zeichen Art. 18 4. Kapitel: Rechtsschutz 1. Abschnitt: Zivilrechtlicher Schutz Art. 19 Beweislastumkehr Art. 20 Klage und Klageberechtigung Art. 21 Klageberechtigung der Verbände und Konsumentenorganisationen Art. 22 Klageberechtigung des berechtigten Gemeinwesens und des IGE Art. 23 Einziehung Art. 24 Einzige kantonale Instanz Art. 25 Vorsorgliche Massnahmen Art. 26 Veröffentlichung des Urteils Art. 27 Mitteilung von Entscheiden 2. Abschnitt: Strafrechtlicher Schutz Art. 28 Unzulässiger Gebrauch öffentlicher Zeichen Art. 29 Widerhandlungen in Geschäftsbetrieben Art. 30 Einziehung Art. 31 Strafverfolgung 5. Kapitel: Hilfeleistung des Bundesamtes für Zoll und Grenzsicherheit Art. 32 6. Kapitel: Schlussbestimmungen Art. 33 Vollzug Art. 34 Aufhebung und Änderung bisherigen Rechts Art. 35 Weiterbenützungsrecht Art. 36 Bisher nicht eingetragene Kennzeichen Art. 37 Referendum und Inkrafttreten Anhang 1 Schweizerwappen Anhang 2 Schweizerfahne Anhang 3 Aufhebung und Änderung bisherigen Rechts | de |
139216b4-c95f-4674-b691-23f5f940af10 | Sachverhalt
ab Seite 304
BGE 133 IV 303 S. 304
A.
Mit Urteil vom 20. Juni 2006 sprach das Bezirksgericht Zürich X. und A. des mehrfachen Steuerbetrugs und der mehrfachen Urkundenfälschung schuldig und bestrafte sie je mit fünf Monaten Gefängnis, bedingt vollziehbar bei einer Probezeit von zwei Jahren.
Gegen dieses Urteil reichte X. Berufung ans Obergericht des Kantons Zürich, I. Strafkammer, ein und beantragte, auf die Anklage betreffend mehrfacher Urkundenfälschung sei nicht einzutreten. Eventualiter sei er vom Vorwurf der mehrfachen Urkundenfälschung freizusprechen. A. sah von einem Weiterzug des Urteils ab.
B.
Mit Urteil vom 15. März 2007 stellte das Obergericht des Kantons Zürich, I. Strafkammer, fest, dass das erstinstanzliche Urteil in Rechtskraft erwachsen ist, soweit X. des mehrfachen Steuerbetrugs für schuldig erklärt wurde. Des Weiteren befand es X. der mehrfachen Urkundenfälschung für schuldig und verurteilte ihn zu einer Geldstrafe von insgesamt 150 Tagessätzen zu Fr. 150.-, bedingt vollziehbar bei einer Probezeit von zwei Jahren.
C.
X. führt Beschwerde in Strafsachen mit den Anträgen, auf die Anklage betreffend mehrfacher Urkundenfälschung sei nicht einzutreten. Eventualiter sei er vom Vorwurf der mehrfachen Urkundenfälschung freizusprechen.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
BGE 133 IV 303 S. 305 Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Den Verurteilungen liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
Der Beschwerdeführer hat zusammen mit seinem Geschäftspartner A. 1991 eine Aktiengesellschaft (AG) gegründet, bei welcher A. als Präsident und der Beschwerdeführer als Vize-Präsident des Verwaltungsrats mit Einzelunterschrift amteten. Zwischen 1995 und 2001 veranlassten die beiden Geschäftspartner mit fiktiven Rechnungen Zahlungen der AG auf ein Bankkonto und verwendeten die einbezahlten Beträge zu privaten Zwecken. Diese Privatbezüge belasteten sie dem Aufwandkonto "Leistungen Dritter" der AG und reichten den Steuerbehörden zusammen mit der Steuererklärung Erfolgsrechnungen ein, welche einen fiktiv erhöhten Geschäftsaufwand auswiesen. Hierdurch wurden der steuerbare Geschäftsgewinn um insgesamt Fr. 622'790.- geschmälert und im Ergebnis rund Fr. 191'000.- an Steuern hinterzogen.
(...)
4.
(...)
4.5
Zu klären bleibt das Verhältnis zwischen den Tatbeständen des Steuerbetrugs und der Urkundenfälschung.
Wer mit einem Urkundenfälschungsdelikt ausschliesslich Steuervorschriften umgehen will, ist einzig nach Steuerstrafrecht zu beurteilen. Ist hingegen nachgewiesen, dass der Täter mit seiner Fälschung oder Falschbeurkundung nicht nur einen steuerlichen Vorteil erstrebte, sondern auch eine - objektiv mögliche - Verwendung des Dokuments im nicht-fiskalischen Bereich beabsichtigte oder zumindest in Kauf nahm, so liegt echte Konkurrenz zwischen Steuerdelikt und gemeinrechtlichem Urkundendelikt vor (MARKUS BOOG, Basler Kommentar, StGB II, 2003,
Art. 251 StGB
N. 107; ANDREAS DONATSCH/WOLFGANG WOHLERS, Strafrecht IV, Delikte gegen die Allgemeinheit, 3. Aufl., Zürich 2004, S. 155; STEFAN TRECHSEL, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Kurzkommentar, 2. Aufl., Zürich 1997,
Art. 251 StGB
N. 20; GÜNTER STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil II: Straftaten gegen Gemeininteressen, 5. Aufl., Bern 2000, § 36 N. 59;
derselbe
, Urkundendelikte unter dem Aspekt der Wirtschaftskriminalität, SJZ 76/1980 S. 10 f.; HANS SCHULTZ, Die strafrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichts im Jahre 1996, ZBJV 133/1997 S. 401; vgl. auch ANDREAS DONATSCH, Besprechung von
BGE 122 IV 25
ff., SZW 1997 S. 262; GUIDO JENNY, Zur Frage
BGE 133 IV 303 S. 306
der Konkurrenz zwischen Steuerstrafrecht und gemeinem Strafrecht im Bereich der Urkundendelikte, ZStrR 97/1980 S. 121 ff.; A. HAEFLIGER, Urkundendelikte des Strafgesetzbuches und kantonales Steuerstrafrecht, ZStrR 71/1956 S. 68 f.).
4.6
Während bei einfachen Gesellschaften - auf welche sich der vom Beschwerdeführer angeführte
BGE 108 IV 27
bezieht - das Vermögen der Gesellschaft lediglich abstrakt ausgeschieden ist und die Gesellschafter unbeschränkt für Gesellschaftsschulden haften, kommt der Buchhaltung bei Aktiengesellschaften eine erhöhte Bedeutung zu, da diese dem Nachweis des Gesellschaftsvermögens dient. Die Handelsbilanz einer AG hat stets die Funktion, nicht nur im Verhältnis zu den Steuerbehörden, sondern auch und vor allem gegenüber Dritten als Ausweis über die finanzielle Situation der Gesellschaft zu dienen. Wer eine inhaltlich unrichtige Handelsbilanz erstellt, nimmt daher in aller Regel in Kauf, dass diese nicht nur im Verhältnis zu den Steuerbehörden, sondern auch im nicht-fiskalischen Bereich Verwendung findet. Das reicht grundsätzlich für die Anwendung von
Art. 251 StGB
aus, denn der Täter muss sich - wie die Vorinstanz zutreffend festhält - sein Wissen um die Relevanz der Dokumente im Rechtsverkehr anrechnen lassen. Einer tatsächlichen Überlassung der Urkunden an Drittpersonen bedarf es nicht (vgl. auch BOOG, a.a.O.,
Art. 251 StGB
N. 107).
Art. 251 StGB
wäre einzig nicht anwendbar, wenn neben einer inhaltlich richtigen Handelsbilanz eine inhaltlich falsche, ausschliesslich für Steuerzwecke erstellte und als solche bezeichnete Steuerbilanz errichtet würde (vgl. zum Ganzen
BGE 122 IV 25
E. 3c). Dies aber ist vorliegend nicht der Fall.
(...)
4.8
Im Übrigen ist entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers bei Erfolgsrechnungen, welche das Ergebnis der Unternehmung negativer darstellen, als dies in Tat und Wahrheit der Fall ist, die Erlangung eines eigenen Vorteils oder einer Schädigung Dritter - wie namentlich von Gläubigern oder der AHV - nicht per se ausgeschlossen:
Wird zum Zwecke der Steuerhinterziehung der Geschäftsgewinn fiktiv geschmälert, besteht für die Gesellschaft insbesondere das Risiko, dass Nach- und Strafsteuern bezahlt werden müssen, wenn die Sache entdeckt wird. Diese Zahlungen mindern die Liquidität der Gesellschaft und können so Gläubigerinteressen tangieren.
BGE 133 IV 303 S. 307
Ebenso kann die Falschbeurkundung sozialversicherungsrechtlich bedeutsam sein. Gemäss
Art. 7 lit. h der Verordnung über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVV; SR 831.101)
gehören Tantiemen, feste Entschädigungen und Sitzungsgelder an die Mitglieder der Verwaltung und der geschäftsführenden Organe zum massgeblichen beitragspflichtigen Lohn. Richtet eine AG Leistungen an Arbeitnehmer aus, die gleichzeitig Inhaber gesellschaftlicher Beteiligungsrechte sind oder Inhabern solcher Rechte nahestehen, erhebt sich bei der Festsetzung sowohl der direkten Bundessteuer als auch der Sozialversicherungsbeiträge die Frage, ob und inwieweit es sich dabei um Arbeitsentgelt (massgebenden Lohn) oder aber um eine verdeckte Gewinnausschüttung (Kapitalertrag) handelt. Letztere unterliegt der direkten Bundessteuer im Sinne von
Art. 20 Abs. 1 lit. c des Bundesgesetzes über die direkte Bundessteuer (DBG; SR 642.11)
, da sie ihren Grund in der Aktionärseigenschaft des Empfängers hat.
Die Sozialversicherung ist daran interessiert zu verhindern, dass massgebender Lohn fälschlicherweise als Kapitalertrag deklariert wird und dadurch der Beitragserhebung entgeht (
BGE 103 V 1
E. 2b; ROLAND MÜLLER, Der Verwaltungsrat als Arbeitnehmer, Zürich/Basel/Genf 2005, S. 377 ff.). Es ist dabei Sache der Ausgleichskassen, selbstständig zu beurteilen, ob ein Einkommensbestandteil als massgebender Lohn oder als Kapitalertrag zu qualifizieren ist. Allerdings halten sich die Ausgleichskassen bei ihrem Entscheid in der Regel an die bundessteuerrechtliche Betrachtungsweise (vgl.
Art. 23 AHVV
). Die Falschbeurkundung des Beschwerdeführers kann mithin durchaus dazu führen, dass dieser seiner AHV-Beitragspflicht nicht (vollumfänglich) nachkommt und hierdurch einen unrechtmässigen Vorteil erwirkt, bzw. die Sozialversicherung schädigt (vgl. auch
Art. 87 des Bundesgesetzes über die Alters- und Hinterlassenenversicherung [AHVG; SR 831.10]
).
4.9
Zusammenfassend ist somit festzuhalten, dass der Beschwerdeführer durch seine Erstellung einer inhaltlich unrichtigen Handelsbilanz zum Zwecke der Steuerhinterziehung die Verwendung der Urkunden im nicht-fiskalischen Bereich und die Täuschung von Dritten zwangsläufig billigend in Kauf genommen hat, konnte er doch nicht von vornherein wissen, wofür die Erfolgsrechnung noch Verwendung findet. Es liegt folglich echte Konkurrenz zwischen den Tatbeständen des Steuerbetrugs und der Urkundenfälschung vor. | de |
5ae85649-3848-4e9d-8e3a-eeb998e4c318 | Sachverhalt
ab Seite 227
BGE 146 IV 226 S. 227
A.
Das Bezirksgericht Bülach erklärte A. am 26. April 2018 der mehrfachen, teilweise groben Verletzung der Verkehrsregeln schuldig. Es bestrafte sie mit einer bedingten Geldstrafe von 110 Tagessätzen zu Fr. 150.- sowie einer Busse von Fr. 4'000.-. Dagegen erhob A. Berufung. Das Obergericht des Kantons Zürich bestätigte am 9. Oktober 2018 das erstinstanzliche Urteil.
B.
A. führt Beschwerde in Strafsachen. Sie beantragt, sie sei von Schuld und Strafe freizusprechen. Eventualiter sei die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Der Beschwerde sei die aufschiebende Wirkung zu erteilen.
BGE 146 IV 226 S. 228
C.
Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen. Das Obergericht verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
2.1
Die Strafprozessordnung enthält Bestimmungen zu den verbotenen Beweiserhebungen (
Art. 140 StPO
) und zur Verwertbarkeit rechtswidrig erlangter Beweise (
Art. 141 StPO
). Wieweit die Beweisverbote auch greifen, wenn nicht staatliche Behörden, sondern Privatpersonen Beweismittel sammeln, wird in der Strafprozessordnung nicht explizit geregelt. Die bundesgerichtliche Rechtsprechung geht in Anlehnung an die Doktrin davon aus, dass von Privaten rechtswidrig erlangte Beweismittel nur verwertbar sind, wenn sie von den Strafverfolgungsbehörden rechtmässig hätten erlangt werden können und kumulativ dazu eine Interessenabwägung für deren Verwertung spricht (Urteile 1B_22/2012 vom 11. Mai 2012 E. 2.4.4; 6B_786/2015 vom 8. Februar 2016 E. 1.2; je mit Hinweisen).
2.2
Bei der Interessenabwägung hat das Bundesgericht bereits vor Inkrafttreten der Schweizerischen Strafprozessordnung festgehalten, dass es einer Güterabwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der Wahrheitsfindung und dem privaten Interesse der angeklagten Person bedarf, dass der fragliche Beweis unterbleibt (
BGE 137 I 218
E. 2.3.4 mit Hinweisen). Hinsichtlich staatlich erhobener Beweise nimmt
Art. 141 Abs. 2 StPO
eine solche Interessenabwägung nunmehr selber vor. Demnach dürfen Beweise, die Strafbehörden in strafbarer Weise oder unter Verletzung von Gültigkeitsvorschriften erhoben haben, nicht verwertet werden, es sei denn, ihre Verwertung sei zur Aufklärung einer schweren Straftat unerlässlich. Aus der Sicht der beschuldigten Person ist es unerheblich, durch wen die Beweise erhoben worden sind, mit welchen sie in einem gegen sie gerichteten Strafverfahren konfrontiert wird. Es erscheint deshalb angemessen, bei der Interessenabwägung im Sinne der oben erwähnten Rechtsprechung denselben Massstab wie bei staatlich erhobenen Beweisen anzuwenden und Beweise, die von Privaten rechtswidrig erlangt worden sind, nur zuzulassen, wenn dies zur Aufklärung schwerer Straftaten unerlässlich ist. Dies drängt sich umso mehr auf, als Art. 150 des Vorentwurfes zur Schweizerischen Strafprozessordnung noch vorsah, dass Beweise, die von Privaten auf strafbare
BGE 146 IV 226 S. 229
Weise erlangt wurden, nur verwertet werden dürfen, wenn das öffentliche oder private Interesse an der Wahrheitsfindung die durch die verletzten Strafbestimmungen geschützten Interessen überwiegt und diese Bestimmung nach scharfer Kritik im Vernehmlassungsverfahren keinen Eingang in die Botschaft fand. Kritisiert wurde unter anderem, dass die blosse Interessenabwägung bei der rechtswidrigen Beweiserhebung durch Private eine nicht gerechtfertigte Besserstellung gegenüber rechtswidrigen staatlichen Beweiserhebungen darstelle (zum Ganzen: GUNHILD GODENZI, Private Beweisbeschaffung im Strafprozess, 2008, S. 335 f.).
3.
3.1
Das Erstellen von Aufnahmen im öffentlichen Raum, auf welchen Personen oder Autokennzeichen erkennbar sind, stellt ein Bearbeiten von Personendaten im Sinne von Art. 3 lit. a und e des Bundesgesetzes vom 19. Juni 1992 über den Datenschutz (DSG; SR 235.1) dar (
BGE 138 II 346
E. 6.5; SOPHIE HAAG, Die private Verwendung von Dashcams und der Persönlichkeitsschutz, in: Jahrbuch zum Strassenverkehrsrecht, 2016, S. 171 ff., 172).
Art. 4 Abs. 4 DSG
bestimmt, dass die Beschaffung von Personendaten und insbesondere der Zweck ihrer Bearbeitung für die betroffene Person erkennbar sein muss. Die Missachtung dieses Grundsatzes stellt eine Persönlichkeitsverletzung dar (
Art. 12 Abs. 2 lit. a DSG
).
3.2
Die Erstellung von Videoaufnahmen aus einem Fahrzeug heraus ist für andere Verkehrsteilnehmer nicht ohne Weiteres erkennbar. Die Datenbearbeitung ist damit als heimlich im Sinne von
Art. 4 Abs. 4 DSG
zu qualifizieren. Der zutreffenden Auffassung von HAAG folgend würden auch allfällige am Fahrzeug angebrachte Hinweisschilder daran nichts ändern, zumal solche bei grossem Verkehrsaufkommen oder auf Distanz nur schwer zu erkennen sind und die betroffenen Personen diese - wenn überhaupt - erst wahrnehmen, wenn sie bereits gefilmt werden. Zudem sind Fahrzeugführer verpflichtet, ihre Aufmerksamkeit dem Verkehrsgeschehen zu widmen, weshalb von ihnen nicht erwartet werden kann, dass sie nach Hinweisen an anderen Fahrzeugen Ausschau halten (HAAG, a.a.O, S. 174; siehe auch
BGE 138 II 346
E. 9.1).
3.3
Eine Persönlichkeitsverletzung im Sinne von
Art. 12 DSG
ist gemäss
Art. 13 Abs. 1 DSG
widerrechtlich, wenn kein Rechtfertigungsgrund - namentlich ein überwiegendes öffentliches oder privates Interesse - vorliegt. In der Doktrin wird teilweise die Auffassung
BGE 146 IV 226 S. 230
vertreten, dass solche materiellrechtlichen Rechtfertigungsgründe die Rechtswidrigkeit einer (privaten) Beweiserhebung im verfahrensrechtlichen Kontext nicht zu heilen vermögen. Massgebend sei einzig, dass im Rahmen der Beschaffungshandlung gegen eine Bestimmung des materiellen, objektiv gesetzten schweizerischen Rechts verstossen worden sei. Die Rechtswidrigkeit folge damit im Verfahrensrecht einer autonomen Definition. Begründet wird dies unter anderem damit, dass den widerstreitenden Interessen an der (verfahrensrechtlichen) Verwertbarkeit oder Unverwertbarkeit eines Beweismittels im Rahmen einer bloss materiellrechtlichen Prüfung eines Rechtfertigungsgrundes nicht angemessen Rechnung getragen werde (CAROLINE GUHL, Trotz rechtswidrig beschaffter Beweise zu einem gerechten Straf- und Zivilurteil, 2018, S. 103 ff., mit Hinweis auf YVES RÜEDI, Materiell rechtswidrig beschaffte Beweismittel im Zivilprozess, 2009, S. 161 ff.). Dieser Auffassung ist beizupflichten. Bei der Frage, ob ein Rechtfertigungsgrund gemäss
Art. 13 Abs. 1 DSG
vorliegt, ist eine Abwägung zwischen den Interessen des Datenbearbeiters und denjenigen der verletzten Person vorzunehmen (AMÉDÉO WERMELINGER, in: Datenschutzgesetz [DSG], Baeriswyl/Pärli [Hrsg.], 2015, N. 2 zu
Art. 13 DSG
). Bei der Frage der strafprozessualen Verwertbarkeit eines Beweismittels sind hingegen der Strafanspruch des Staates und der Anspruch der beschuldigten Person auf ein faires Verfahren in erster Linie entscheidend; die Interessen des privaten Datenbearbeiters treten dabei zurück.
4.
Die Videoaufzeichnung erfolgte in Missachtung von
Art. 4 Abs. 4 DSG
und ist damit rechtswidrig. Die Vorinstanz qualifizierte das Verhalten der Beschwerdeführerin teils als einfache, teils als grobe Verletzung der Verkehrsregeln (
Art. 90 Abs. 1 und 2 SVG
). Dabei handelt es sich um Übertretungen und Vergehen, die nach der Rechtsprechung nicht als schwere Straftaten im Sinne von
Art. 141 Abs. 2 StPO
zu qualifizieren sind (
BGE 137 I 218
E. 2.3.5.2). Dieser Massstab ist auch bei der Verwertung privat erhobener Beweise anzuwenden (siehe oben, E. 2.2), was dazu führt, dass die Interessenabwägung zuungunsten der Verwertung ausfällt (im Ergebnis übereinstimmend: NIKLAUS RUCKSTUHL, Die strafprozessuale Verwertung von Dashcam-Aufnahmen, in: Jahrbuch zum Strassenverkehrsrecht, 2018, S. 117 ff.; URSULA UTTINGER, Nutzung von Dashcams als Beweismittel, in: Jusletter 12. Februar 2018). Ob die zur Diskussion stehenden Aufzeichnungen rechtmässig durch die Strafverfolgungsbehörden hätten erlangt werden können, kann dabei offenbleiben. | de |
5cc77c5e-078c-4c85-aac2-b13659fa4530 | Sachverhalt
ab Seite 71
BGE 144 I 70 S. 71
A.
A. erstattete am 24. Februar 2017 gegen Dr. med. B. Strafanzeige wegen Ausstellung eines falschen Arztzeugnisses, Falschbeurkundung und möglichen weiteren Delikten. Mit Verfügung vom 12. Oktober 2017 nahm die Staatsanwaltschaft des Kantons Bern das Verfahren nicht an die Hand. Dagegen erhob A. Beschwerde ans Obergericht des Kantons Bern. In seiner Beschwerde machte er vorab geltend, er lehne das Gericht in seiner jetzigen Besetzung wegen der Besorgnis der Befangenheit ab.
Die mit der Sache befasste Verfahrensleitung der Beschwerdekammer in Strafsachen leitete das mit der Beschwerde verbundene Ausstandsgesuch an die Strafkammern des Obergerichts weiter. Die 2. Strafkammer beschloss in der Folge unter Mitwirkung der Oberrichter Niklaus, Geiser und Kiener am 15. November 2017, das Ausstandsgesuch abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei. (...)
B.
Mit Beschwerde in Strafsachen ans Bundesgericht vom 4. Dezember 2017 beantragt A., der Beschluss des Obergerichts sei aufzuheben und das Ausstandsgesuch gutzuheissen. Die Sache sei an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit diese in einer auf Gesetz beruhenden Besetzung neu entscheide, wobei die Oberrichter Niklaus, Geiser und Kiener in den Ausstand zu treten hätten. (...)
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
(Auszug) Erwägungen
Aus den Erwägungen:
4.
4.1
Der Beschwerdeführer kritisiert, am Obergericht bestünden keine gesetzlichen Bestimmungen, die die Richterzuteilung im Voraus abstrakt regelten. Auch gebe es keinen Geschäftsverteilungsplan.
Art. 6 EMRK
verlange indessen, dass die Besetzung des Gerichts klar und eindeutig geregelt sei. Es sei unzulässig, wenn der Gerichtspräsident insofern über einen weiten Spielraum verfüge. Die
BGE 144 I 70 S. 72
angeblich von der Sekretariatsleitung bewirtschaftete, auf dem Zufallsprinzip basierende "Excel"-Tabelle genüge den Vorgaben der EMRK nicht. Nach Art. 44 Abs. 1 des Gesetzes des Kantons Bern vom 11. Juni 2009 über die Organisation der Gerichtsbehörden und der Staatsanwaltschaft (GSOG; BSG 161.1) sei der Abteilungspräsident für die Fallzuteilung und den Belastungsausgleich zuständig. Durch die Verwendung einer "Excel"-Tabelle ohne Beteiligung der Oberrichter teile das Obergericht die Fälle im Widerspruch zu spezifischem Verfahrensrecht zu, was dem umissverständlichen Wortlaut von Art. 44 Abs. 1 GSOG widerspreche. Es sei zudem offensichtlich, dass das Obergericht selbst keine Verfahrensvorschrift benennen könne, welche die Einsetzung eines Präsidenten (i.V.) gesetzlich bestimme. Schliesslich habe das Obergericht am 8. November 2017 über acht Ausstandsbegehren in derselben Besetzung entschieden. Dies bestätige, dass der Anspruch auf den gesetzlichen Richter verletzt worden sei.
4.2
Nach
Art. 30 Abs. 1 BV
hat jede Person, deren Sache in einem gerichtlichen Verfahren beurteilt werden muss, Anspruch auf ein durch Gesetz geschaffenes, zuständiges, unabhängiges und unparteiisches Gericht. Ausnahmegerichte sind untersagt. Mit ähnlichen Worten garantiert
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
das Recht jeder Person, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird.
4.3
Die Besetzung der Richterbank am Obergericht Bern ist in Art. 44 f. GSOG geregelt. Die beiden Bestimmungen haben, soweit vorliegend von Interesse, folgenden Wortlaut:
Art. 44 Abteilungspräsidentin oder Abteilungspräsident
1 Die Abteilungspräsidentin oder der Abteilungspräsident führt die Abteilung und ist verantwortlich für die Fallzuteilung und den Belastungsausgleich.
2 Sie oder er entscheidet über den Beizug von Ersatzrichterinnen und Ersatzrichtern.
(...)
Art. 45 Spruchkörper
1 Die Urteilsfindung erfolgt in Dreierbesetzung, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt.
(...)
BGE 144 I 70 S. 73
4.4
Die Vorinstanz führt aus, Rechtsanwalt B. (Rechtsvertreter von A.), der eine ganze Reihe von Ausstandsgesuchen in verschiedenen Verfahren eingereicht habe, sei die Anwendung von Art. 44 und 45 GSOG bereits einlässlich erläutert worden. Mit Schreiben vom 25. September 2017 habe ihm Oberrichterin Schnell erklärt, dass sie als Präsidentin der Beschwerdekammer in der Regel sowohl in der Instruktions- als auch in der Entscheidphase beteiligt sei. Welche weiteren Kammermitglieder zum Entscheid beigezogen werden könnten, zeige sich in der Regel erst im Zeitpunkt des Beginns der Zirkulation, weil erst dann sicher sei, wer von den in der Beschwerdekammer tätigen Oberrichtern anwesend und auch tatsächlich verfügbar sei. Mit Schreiben vom 3. Oktober 2017 habe Oberrichterin Schnell festgehalten, dass es keine Listenplätze oder "Excel"-Tabellen gebe und dass sie die Kammerzusammensetzung im betreffenden Verfahren nach dem Kriterium der Verfügbarkeit vorgenommen habe.
Weiter hält die Vorinstanz fest, aus dem Staatskalender sei ersichtlich, dass die Beschwerdekammer seit dem 1. Januar 2017 aus sechs Mitgliedern bestehe. Davon sei ein Mitglied (Oberrichter Niklaus) französischer Muttersprache. Er wirke - unter Vorbehalt von Abwesenheiten und Aushilfe insbesondere in Haftsachen - an deutschsprachigen Verfahren nicht mit.
5.
5.1
Art. 30 Abs. 1 BV
will verhindern, dass Gerichte eigens für die Beurteilung einer Angelegenheit gebildet werden. Die Rechtsprechung soll auch nicht durch eine gezielte Auswahl der Richter im Einzelfall beeinflusst werden können. Jede Besetzung, die sich nicht mit sachlichen Gründen rechtfertigen lässt, verletzt die Garantie des verfassungsmässigen Richters (
BGE 137 I 340
E. 2.2.1 S. 342 mit Hinweis). Das Bundesgericht hat in seiner bisherigen Rechtsprechung ein gewisses Ermessen bei der Besetzung des Spruchkörpers sowie beim Entscheid über den Beizug von Ersatzrichtern nicht ausgeschlossen (a.a.O., S. 343). Soweit das massgebliche Verfahrensrecht keine oder nur lückenhafte Regeln zur Besetzung des Spruchkörpers enthält, obliegt es danach dem Vorsitzenden, die Richterbank im Einzelfall nach objektiven Kriterien zu besetzen und das ihm dabei zustehende Ermessen pflichtgemäss auszuüben (Urteil 6P.102/2005 vom 26. Juni 2006 E. 2.2, in: ZBl 108/2007 S. 43 mit Hinweis auf
BGE 105 Ia 172
E. 5b S. 178 ff.; vgl. zum Ganzen auch
BGE 144 I 37
E. 2.1 S. 38 mit Hinweisen).
BGE 144 I 70 S. 74
5.2
In der Literatur wird die bundesgerichtliche Praxis zum Teil als zu wenig streng kritisiert. Eine Manipulation in der Besetzung des Spruchkörpers könne erst dann ausgeschlossen werden, wenn jeder mitwirkende Richter im Voraus benennbar sei. Die Arbeitsverteilung habe sachlichen Kriterien zu folgen, etwa der Aktennummer, dem Eingangsdatum oder dem Alphabet (REGINA KIENER, Richterliche Unabhängigkeit, 2001, S. 376 ff.; ähnlich CHRISTOPH BANDLI, Zur Spruchkörperbildung an Gerichten: Vorausbestimmung als Fairnessgarantin, in: Aus der Werkstatt des Rechts, 2006, S. 210; ERWIN BEYELER, Das Recht auf den verfassungsmässigen Richter als Problem der Gesetzgebung, 1978, S. 27; LORENZ KNEUBÜHLER, Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht: Spruchkörperbestimmung und Kognition, in: Das Bundesverwaltungsgericht, 2008, S. 297 f.; JOHANNES REICH, in: Basler Kommentar, Bundesverfassung, 2015, N. 16 zu
Art. 30 BV
). Andere Autoren weisen darauf hin, dass der Spielraum, den die Gesetzgebung in dieser Hinsicht gewähre, eine Rücksichtnahme auf Arbeitsbelastung, Fachkenntnisse, Sprache und Geschlecht erlaube und damit neben der Flexibilität auch der Effizienz zuträglich sei. Sie räume jedoch Bedenken, dass dabei auch illegitime Motive verfolgt werden könnten, nicht ganz aus dem Weg (MÜLLER/SCHEFER, Grundrechte in der Schweiz, 4. Aufl. 2008, S. 934 f.; GIOVANNI BIAGGINI, BV Kommentar, 2. Aufl. 2017, N. 5 zu
Art. 30 BV
; differenzierend auch ANDREAS MÜLLER, Rechtlicher Rahmen für die Geschäftslastbewirtschaftung in der schweizerischen Justiz, 2016, S. 250 ff.).
5.3
Der EGMR hat die Frage, ob die Bestellung des Spruchkörpers im Einzelfall in den Anwendungsbereich von
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
falle, lange Zeit offengelassen (Urteil des EGMR
Piersack gegen Belgien
vom 1. Oktober 1982, Nr. 8692/79, Serie A Bd. 85 § 33) und erst im Jahr 2000 bejaht (Entscheid des EGMR
Buscarini gegen San Marino
vom 4. Mai 2000, Nr. 31657/96). Seither hat er Verletzungen festgestellt in Fällen, in welchen Vorschriften des nationalen Rechts über die Zusammensetzung des Spruchkörpers offensichtlich missachtet worden waren (vgl. etwa Urteil des EGMR
Posokhov gegen Russland
vom 4. März 2003, Nr. 63486/00,
Recueil CourEDH 2003-IV S. 151
§ 39 ff.) oder sich eine nachträgliche Umteilung von Fällen nicht gestützt auf transparente, vorhersehbare Kriterien stützte (Urteil des EGMR
DMD Group, a.s. gegen Slowakei
vom 5. Oktober 2010, Nr. 19334/03, § 69 ff.). Im zuletzt genannten Urteil wies der Gerichtshof darauf hin, dass die Zuteilung im
BGE 144 I 70 S. 75
anwendbaren slowakischen Recht nicht erschöpfend geregelt sei und dem Präsidenten einen grossen Ermessensspielraum einräume, ohne jedoch aus diesem Umstand allein auf eine Verletzung der EMRK zu schliessen (a.a.O., § 68). Im Urteil
Miracle Europe Kft gegen Ungarn
vom 12. Januar 2016, Nr. 57774/13, befasste sich der Gerichtshof mit dem Transfer eines Zivilverfahrens vom örtlich zuständigen erstinstanzlichen Gericht zu einem anderen erstinstanzlichen Gericht. Das Fehlen von Bestimmungen für dieses Vorgehen bewirkte eine Konventionsverletzung, wobei erschwerend hinzutrat, dass die Umteilung nicht von einem Organ der Rechtsprechung vorgenommen worden war und damit keinen Akt von Selbstverwaltung der Justiz darstellte (a.a.O., § 61 ff.). Über die konkreten Umstände des Falls hinausgehend wies der Gerichtshof in seinen Erwägungen auf die durch die Einräumung von Ermessen hervorgerufene Missbrauchsgefahr hin. So sei es beispielsweise möglich, Richter zu überlasten und auf diese Weise unter Druck zu setzen, oder auch, ihnen politisch heikle Fälle gezielt zuzuweisen oder aber vorzuenthalten (a.a.O., § 58).
5.4
Mit dem Thema der Zuteilung von Fällen im Zusammenhang mit dem Anspruch auf den gesetzlich vorgesehenen Richter hat sich auch die Europäische Kommission für Demokratie durch Recht des Europarats (auch "Venedig-Kommission" genannt) befasst. In einem Bericht aus dem Jahr 2010 hält sie fest, zur Stärkung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz werde dringend empfohlen, die Reihenfolge der Zuteilung von Fällen an die einzelnen Richter auf der Grundlage abstrakter Kriterien festzulegen. Dies könne in alphabetischer Reihenfolge, mithilfe eines Computerprogramms oder nach anderen objektiven Kriterien erfolgen. Regeln und Ausnahmen sollten in Gesetzen oder Reglementen verankert sein. Die Kommission räumt ein, dass es nicht durchwegs möglich sein dürfte, ein umfassendes abstraktes System einzurichten, welches keinen Raum für Entscheide im Einzelfall lasse. So sei denkbar, dass der Arbeitsbelastung oder dem Spezialwissen eines Richters - insbesondere in komplexen Angelegenheiten - Rechnung zu tragen sei. Die Kriterien, nach denen der Gerichtspräsident die Zuteilung vornehme, sollten jedoch im Voraus definiert werden und die Zuteilung selbst der Überprüfung zugänglich sein (Venedig-Kommission, Report on the Independence of the Judicial System, Part I: The Independence of Judges, 16. März 2010, CDL-AD(2010)004, Ziff. 80).
BGE 144 I 70 S. 76
5.5
Die Frage der Spruchkörperbildung stellte sich ebenfalls im Rahmen der Totalrevision der Bundesrechtspflege. Der Bundesrat hielt in seiner Botschaft dazu fest, die Geschäftsverteilung könne wegen der Gefahr des Missbrauchs nicht ins freie Ermessen einzelner Amtsträger gestellt werden. Das Recht, von einem durch Gesetz geschaffenen Gericht gehört zu werden, verlange auch, dass in generell-abstrakter Weise in einer Vorschrift festgehalten werden müsse, nach welchen Kriterien die Verteilung der Geschäfte stattfinde. Dies erfordere keine erschöpfende, alle Fälle abdeckende Regelung. Erreicht werden solle ein gewisser Grad an Voraussicht (Botschaft vom 28. Februar 2001 zur Totalrevision der Bundesrechtspflege, BBl 2001 4286 Ziff 4.1.1.3).
Das Reglement vom 20. November 2006 für das Bundesgericht (BGerR; SR 173.110.131) sieht in diesem Sinne in Art. 40 Abs. 2 vor, dass der Präsident der zuständigen Abteilung bei der Bildung des Spruchkörpers neben den zwingenden gesetzlichen Bestimmungen namentlich folgende Kriterien und Umstände berücksichtigt:
a. Ausgewogenheit der Belastung der Richter und Richterinnen; dabei ist den funktionsbedingten Zusatzbelastungen (z. B. Bundesgerichtspräsidium) Rechnung zu tragen;
b. Sprache; dabei soll soweit möglich die Muttersprache des Referenten oder der Referentin der Verfahrenssprache entsprechen;
c. Mitwirkung von Mitgliedern beiderlei Geschlechts in Fällen, in denen es die Natur der Streitsache als angezeigt erscheinen lässt;
d. spezifische Fachkenntnisse in einem bestimmten Bereich;
e. Mitwirkung an früheren Entscheiden im gleichen Sachgebiet;
f. Abwesenheiten, insbesondere Krankheit, Ferien usw.
Seit 2013 wird der Spruchkörper in sämtlichen Abteilungen des Bundesgerichts teilweise durch eine Software festgelegt: Während der Abteilungspräsident von Amtes wegen der Besetzung angehört und er den Referenten gestützt auf die in
Art. 40 Abs. 2 BGerR
aufgelisteten Kriterien und Umstände selbst bestimmt, übernimmt diese Aufgabe für die weiteren mitwirkenden Mitglieder der Computer (vgl. im Einzelnen die Geschäftsberichte des Bundesgerichts 2012 S. 12 und 2013 S. 12,
www.bger.ch
unter Bundesgericht/Publikationen [besucht am 28. Februar 2018]). Konnexe Fälle werden gemäss
Art. 40 Abs. 4 BGerR
in der Regel vom gleichen Spruchkörper beurteilt. Zur Gewährleistung der Transparenz und Kontrolle der Bildung der Spruchkörper sieht
Art. 42 BGerR
ergänzend vor, dass die Verwaltungskommission dem Gesamtgericht gestützt auf
BGE 144 I 70 S. 77
die Angaben der Abteilungen jährlich einen Bericht über die Einhaltung von
Art. 40 BGerR
erstattet.
Am Bundesstrafgericht bilden die Kammerpräsidenten gemäss Art. 15 Abs. 2 des Organisationsreglements vom 31. August 2010 für das Bundesstrafgericht (BStGer OR; SR 173.713.161) die Spruchkörper nach ähnlichen Kriterien. Demgegenüber verlangen Art. 31 Abs. 3 und Art. 32 Abs. 1 des Geschäftsreglements vom 17. April 2008 für das Bundesverwaltungsgericht (VGR; SR 173.320.1) eine Verteilung der Geschäfte nach einem im Voraus festgelegten Schlüssel, der sich auf die Reihenfolge der Geschäftseingänge stützt. Angemessen zu berücksichtigen sind danach ferner sachliche Kriterien wie etwa die Amtssprachen und der Beschäftigungsgrad (vgl. dazu MOSER/BEUSCH/KNEUBÜHLER, Prozessieren vor dem Bundesverwaltungsgericht, 2. Aufl. 2013, Rz. 3.54).
Bezüglich der Rechtslage auf kantonaler Ebene sei beispielhaft auf folgende Regelungen hingewiesen: Am Verwaltungsgericht Zürich bestimmt gemäss § 13 der Organisationsverordnung des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich vom 23. August 2010 (OV VGR; LS 175.21) der Abteilungspräsident den Spruchkörper nach sachlichen Kriterien, wie besonderen fachlichen Kenntnissen und zeitlicher Verfügbarkeit, unter Wahrung der Entscheidoffenheit (Abs. 2). Der Beizug von Mitgliedern anderer Abteilungen oder von Ersatzmitgliedern bedarf der Begründung (Abs. 4). Nach Art. 18 Abs. 5 des Organisationsreglements des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 22. September 2010 (OrR VG; BSG 162.621) sorgen die Abteilungen für die sachgerechte Zuteilung der Eingänge auf die Instruktionsrichter und Zusammensetzung des Spruchkörpers. Im Kanton Schaffhausen organisieren sich das Kantonsgericht und das Obergericht laut Art. 27 Abs. 1 und Art. 39 Abs. 1 des Justizgesetzes vom 9. November 2009 (JG; SHR 173.200) selbst. Das Obergericht hat im Internet ein Schema zur Gerichtsbesetzung für das Jahr 2017 publiziert (
www.sh.ch
unter Gerichte/Obergericht [besucht am 28. Februar 2018]). Der Vorsitz und die mitwirkenden Richter bestimmen sich danach im Wesentlichen nach dem Sachgebiet und der Geschäftslaufnummer. Am Verwaltungsgericht des Kantons Neuenburg ist der Gerichtspräsident nach Art. 3 lit. d des Règlement d'organisation du Tribunal administratif vom 8. Januar 2008 (RSN 162.114.1) gehalten, bei der Geschäftsverteilung auf eine gleichmässige Arbeitsverteilung zu achten. Ähnlich ist am Kantonsgericht Waadt in Art. 12 Abs. 2, Art. 31 Abs. 1 und Art. 33 Abs. 3 des
BGE 144 I 70 S. 78
Règlement organique du Tribunal cantonal vom 13. November 2007 (ROTC; RSV 173.31.1) der Einsatz der Richter der Reihenfolge nach vorgesehen.
5.6
Mit der Statuierung von Kriterien kann ein Ausgleich zwischen den erwähnten Vor- bzw. Nachteilen einer freien und einer schematischen Bildung der Spruchkörper geschaffen werden. Dies entspricht der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, die ein gewisses Ermessen in dieser Hinsicht nicht ausschliesst und gleichzeitig verlangt, dass dieses pflichtgemäss, mithin nach sachlichen Kriterien zu handhaben ist. Wie dargelegt, betont auch die europäische Praxis die Bedeutung einer regelorientierten Bestimmung der urteilenden Richter. Sie verlangt aber nicht nach einer gesetzlichen Festlegung, solange abstrakte Kriterien in transparenter Weise im Voraus definiert werden, was auch in Form einer gefestigten Praxis erfolgen kann. Dass jegliches Ermessen ausgeschlossen und die Festlegung rein regelgebunden ausgestaltet wird, ist ebenfalls nicht erforderlich. Unabdingbar ist andererseits, dass die Spruchkörperbildung im konkreten Fall als Akt der Selbstverwaltung der Justiz erscheint und insbesondere nicht dem Einfluss der Exekutive unterliegt.
6.
6.1
Im vorliegenden Fall ist nicht abstrakt zu prüfen, ob die gesetzlichen Bestimmungen im Kanton Bern in jeder Hinsicht dem verfassungs- und konventionsrechtlichen Anspruch auf den gesetzlichen Richter genügen. Prozessgegenstand ist vielmehr, ob dieser Anspruch in Bezug auf das vorliegend zu beurteilende Verfahren der Beschwerdekammer betreffend die Nichtanhandnahme der Strafuntersuchung verletzt worden ist. In dieser Hinsicht sind die gesetzlichen Grundlagen zur Spruchkörperbildung und ihre allgemeine Handhabung in der Praxis der Beschwerdekammer dennoch von wesentlicher Bedeutung.
6.2
Am Obergericht des Kantons Bern bestehen keine detaillierten gesetzlichen Kriterien, nach denen sich die Spruchkörperbildung zu richten hat. Immerhin sieht Art. 44 Abs. 1 GSOG vor, dass die Abteilungspräsidentin bzw. der Abteilungspräsident für die Fallzuteilung und den Belastungsausgleich verantwortlich ist. Daraus ergibt sich, dass die Abteilungspräsidentin bei der Spruchkörperbildung für eine ausgewogene Belastung der Kammermitglieder zu sorgen hat. Aus dem angefochtenen Beschluss geht zudem hervor, dass die Präsidentin den Spruchkörper nach dem Kriterium der Verfügbarkeit zusammensetzt. Dieses Kriterium ist sachlicher Natur und
BGE 144 I 70 S. 79
gewährleistet eine beförderliche Behandlung, indem es die Rücksichtnahme auf Abwesenheiten wegen Ferien oder Krankheit und auf die Mitwirkung der Richter an anderen Verfahren zulässt. Dies ist bei der Beschwerdekammer, die als Beschwerdeinstanz gemäss StPO und JStPO regelmässig dringende Verfahrensfragen zu beantworten hat, von besonderer Bedeutung (vgl. Art. 29 Abs. 2 des Organisationsreglements des Kantons Bern vom 23. Dezember 2010 [OrR OG; BSG 162.11]). Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang, dass die Beschwerdekammer, wie von der Vorinstanz angeführt, aus lediglich sechs Mitgliedern besteht, wobei Oberrichter Niklaus französischer Muttersprache ist und - unter Vorbehalt von Abwesenheiten und Aushilfe insbesondere in Haftsachen - an deutschsprachigen Verfahren nicht mitwirkt.
6.3
In der Beschwerdekammer des Obergerichts gibt es nach den unmissverständlichen Feststellungen der Vorinstanz keine "Excel"-Tabelle bzw. keinen Geschäftsverteilungsplan, der die in einem konkreten Verfahren mitwirkenden Richter vorweg und schematisch bestimmt. Die Spruchkörperbildung orientiert sich nach dem Ausgeführten stattdessen zum einen an der Sprache, zum andern an der Ausgewogenheit der Belastung der Richter und deren Verfügbarkeit. Das Ermessen der Abteilungspräsidentin ist damit in ähnlicher Weise an Kriterien gebunden, wie dies gemäss
Art. 40 BGerR
am Bundesgericht der Fall ist. Zwar sind die betreffenden Kriterien für den Rechtssuchenden nicht auf den ersten Blick aus einer generell-abstrakten Bestimmung ersichtlich, was wünschbar wäre (vgl. E. 5.4 hiervor), doch ergeben sie sich immerhin in hinreichender Klarheit aus Art. 44 Abs. 1 GSOG und der dazugehörigen Praxis. Sie wurden Rechtsanwalt B. auf Anfrage hin auch schriftlich näher erläutert. Das Ermessen, das die Abteilungspräsidentin bei der Spruchkörperbesetzung geniesst, ist damit unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände in einer Weise regelgebunden, die mit den Vorgaben von
Art. 30 Abs. 1 BV
und
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
vereinbar ist.
Daran vermag nichts zu ändern, wenn der Beschwerdeführer kritisiert, das Obergericht habe am 8. November 2017 über acht Ausstandsbegehren in derselben Besetzung entschieden, worin er offenbar einen Beleg für die Verletzung des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter sieht. Die Vorinstanz hielt dazu in ihrer Stellungnahme vom 17. Januar 2018 fest, zum einen hätten die zahlreichen Ausstandsbegehren von Rechtsanwalt B. ein koordiniertes Vorgehen erfordert, zum andern habe es sich bei den Oberrichtern
BGE 144 I 70 S. 80
Niklaus, Geiser und Kiener um die einzigen verbleibenden Mitglieder der Strafkammern gehandelt, die von den Ausstandsbegehren nicht betroffen seien. Das Obergericht hat sich somit auch in dieser Hinsicht von sachlichen Gesichtspunkten leiten lassen, nämlich der Regel, dass konnexe Fälle im Allgemeinen vom gleichen Spruchkörper zu behandeln sind (wie dies
Art. 40 Abs. 4 BGerR
für das Bundesgericht ausdrücklich vorsieht) sowie der Regel, dass von einem Ausstandsgesuch betroffene Personen am Entscheid über dessen Begründetheit nicht mitwirken (vgl. dazu
Art. 59 StPO
). | de |
f9a0056c-3aea-4920-a595-0c3a7a1ec4c1 | Sachverhalt
ab Seite 10
BGE 147 IV 9 S. 10
A.
Mit Strafbefehl vom 16. Mai 2017 wirft die Staatsanwaltschaft Bern-Mittelland A. zusammengefasst vor, er habe am 25. April 2015 an der unbewilligten Kundgebung "B." in Bern teilgenommen. Zu dieser hätten sich ungefähr 300 Personen versammelt. Auf dem Bundesplatz seien diverse Reden gehalten worden und es sei zu Sachbeschädigungen an den Bauabschrankungen rund um die Bank C. gekommen. Bei der Filiale der Bank D. am Bahnhofplatz, beim Hotel E., beim Coiffeur F. am Bollwerk und am Kopf der Lorrainebrücke sei es zu weiteren Sachbeschädigungen durch Sprayereien gekommen. Der Demonstrationszug sei nach aussen als geeinte Menge aufgetreten und von einer die Friedensordnung bedrohenden Grundhaltung getragen worden, bei der mit vereinten Kräften Sachbeschädigungen verübt worden seien. Die vermummten Sprayer seien von den übrigen Kundgebungsteilnehmern wiederholt im Umzug versteckt worden, um sie so einer Kontrolle der Polizei zu entziehen. A. habe eine aktive Rolle gespielt und während des Umzugs Flugblätter verteilt.
Die Staatsanwaltschaft erklärte A. des Landfriedensbruchs schuldig und belegte ihn mit einer bedingten Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je Fr. 30.-. A. erhob Einsprache gegen den Strafbefehl. Die Staatsanwaltschaft hielt daran fest und überwies die Akten dem erstinstanzlichen Gericht.
B.
Das Regionalgericht Bern-Mittelland sprach A. am 3. September 2018 des Landfriedensbruchs schuldig. Von einer Bestrafung nahm es in Anwendung von
Art. 52 StGB
Umgang.
Auf Berufung von A. hin bestätigte das Obergericht des Kantons Bern am 10. April 2019 das regionalgerichtliche Urteil.
BGE 147 IV 9 S. 11
C.
A. beantragt, das Urteil des Obergerichts sei vollumfänglich aufzuheben und zu neuer Entscheidung an dieses zurückzuweisen. Eventualiter sei er vom Vorwurf des Landfriedensbruchs freizusprechen.
D.
Das Obergericht und die Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern verzichten auf Vernehmlassung.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
(...)
1.3
Art. 141 Abs. 2 StPO
zufolge dürfen Beweise, die Strafbehörden in strafbarer Weise oder unter Verletzung von Gültigkeitsvorschriften erhoben haben, nicht verwertet werden, es sei denn, ihre Verwertung sei zur Aufklärung schwerer Straftaten unerlässlich.
1.3.1
Von Privaten rechtswidrig erlangte Beweismittel sind nur verwertbar, wenn sie von den Strafverfolgungsbehörden rechtmässig hätten erlangt werden können und kumulativ dazu eine Interessenabwägung für deren Verwertung spricht. Bei der Interessenabwägung ist derselbe Massstab wie bei staatlich erhobenen Beweisen anzuwenden. Die Verwertung ist damit nur zulässig, wenn dies zur Aufklärung einer schweren Straftat unerlässlich ist (
BGE 146 IV 226
E. 2; Urteil 6B_902/2019 vom 8. Januar 2020 E. 1.2; je mit Hinweisen).
Als schwere Straftaten im Sinne des Gesetzes fallen vorab Verbrechen in Betracht (
BGE 146 I 11
E. 4.2;
BGE 137 I 218
E. 2.3.5.2; MOREILLON/PAREIN-REYMOND, CPP, Code de procédure pénale, 2. Aufl. 2016, N. 13 zu
Art. 141 StPO
).
Je schwerer die zu beurteilende Straftat ist, umso eher überwiegt das öffentliche Interesse an der Wahrheitsfindung das private Interesse der beschuldigten Person an der Unverwertbarkeit des fraglichen Beweises (
BGE 131 I 272
E. 4.1.2 S. 279;
BGE 130 I 126
E. 3.2; je mit Hinweisen).
1.3.2
Das Erstellen von Aufnahmen im öffentlichen Raum, auf denen Personen erkennbar sind, stellt ein Bearbeiten von Personendaten im Sinne von Art. 3 lit. a und lit. e des Bundesgesetzes vom 19. Juni 1992 über den Datenschutz (DSG; SR 235.1) dar (vgl.
BGE 138 II 346
E. 6.5). Gemäss
Art. 4 Abs. 2 DSG
hat ihre Bearbeitung nach Treu und Glauben zu erfolgen und muss verhältnismässig sein.
Art. 4 Abs. 4 DSG
bestimmt, dass die Beschaffung von
BGE 147 IV 9 S. 12
Personendaten und insbesondere der Zweck ihrer Bearbeitung für die betroffene Person erkennbar sein muss. Die Missachtung dieses Grundsatzes stellt eine Persönlichkeitsverletzung dar (
Art. 12 Abs. 2 lit. a DSG
).
Eine Persönlichkeitsverletzung im Sinne von
Art. 12 DSG
ist laut
Art. 13 Abs. 1 DSG
widerrechtlich, wenn kein Rechtfertigungsgrund - namentlich ein überwiegendes öffentliches oder privates Interesse - vorliegt. Bei der Frage, ob ein Rechtfertigungsgrund gemäss
Art. 13 Abs. 1 DSG
vorliegt, ist eine Abwägung zwischen den Interessen des Datenbearbeiters und denjenigen der verletzten Person vorzunehmen. Bei der Frage der strafprozessualen Verwertbarkeit eines Beweismittels sind hingegen der Strafanspruch des Staates und der Anspruch der beschuldigten Person auf ein faires Verfahren in erster Linie entscheidend; die Interessen des privaten Datenbearbeiters treten dabei zurück (
BGE 146 IV 226
E. 3 mit Hinweisen).
1.4
1.4.1
Die Vorinstanz qualifiziert die Videoaufnahmen wie der Beschwerdeführer als von Privaten rechtswidrig erlangte Beweismittel. Der Beschwerdeführer weist im Hinblick auf die Frage der hypothetischen Erreichbarkeit darauf hin, diese könne offen bleiben, da vorliegend die Verwertbarkeit der fraglichen Videos bereits an der Voraussetzung der Tatschwere scheitere. Er rügt damit zumindest nicht rechtsgenügend, dass diese Beweismittel durch die Strafverfolgungsbehörden nicht rechtmässig hätten erlangt werden können (vgl.
Art. 42 Abs. 2 BGG
). Demzufolge bleibt in Bezug auf die Verwertbarkeit der Videoaufnahmen zu prüfen, ob die Interessenabwägung für oder gegen eine solche spricht, mithin ob die Tat des Beschwerdeführers als eine schwere Tat im Sinne von
Art. 141 Abs. 2 StPO
zu qualifizieren ist.
1.4.2
Der Gesetzgeber verzichtete darauf, schwere Straftaten im Sinne von
Art. 141 Abs. 2 StPO
zu definieren. Das Bundesgericht klärte bisher nicht abschliessend, was generell unter diesem Begriff zu verstehen ist (vgl. Urteil 6B_287/2016 vom 13. Februar 2017 E. 2.4.4). Auch in der Lehre finden sich keine Vorschläge für eine Definition und die Ansichten gehen auseinander. Einige Autoren nehmen an, dass ausschliesslich mit Freiheitsstrafe bedrohte Tatbestände schwere Straftaten seien (WOLFGANG WOHLERS in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung [StPO], Donatsch/Hansjakob/Lieber [Hrsg.], 2. Aufl. 2014, N. 21a zu
Art. 141 StPO
; SABINE GLESS, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung,
BGE 147 IV 9 S. 13
2. Aufl. 2014, N. 72 zu
Art. 141 StPO
; LEU/STÜCKELBERGER, forum poenale 2020 S. 138). Demnach kämen Vergehen von vornherein nicht in Betracht und lediglich Verbrechen, die nicht zusätzlich mit Geldstrafe bedroht werden, stellten schwere Straftaten dar. Auch die Ansicht, es kämen nur Extremfälle oder Straftaten mit hoher Mindeststrafe in Betracht, wird vertreten (vgl. MARK PIETH, Schweizerisches Strafprozessrecht, 3. Aufl. 2016, S. 195), womit ein ungeklärter Begriff indessen bloss mit ebensolchen ersetzt würde. Laut anderen Lehrmeinungen seien schwere Straftaten sodann einzig solche, die in gewissen Deliktskatalogen der Strafprozessordnung genannt werden (MOREILLON/PAREIN-REYMOND, a.a.O., N. 13 zu Art. 141 CPP; DONATSCH/CAVEGN, Ausgewählte Fragen zum Beweisrecht nach der Schweizerischen Strafprozessordnung, ZStrR 126/2008 S. 166).
Ein auf der abstrakten Höchststrafe basierender Ansatz überzeugt insbesondere deshalb nicht, weil der Gesetzgeber in
Art. 141 Abs. 2 StPO
explizit den Begriff schwere Straftaten (infractions graves, gravi reati) und nicht wie in zahlreichen weiteren Bestimmungen der Strafprozessordnung die in
Art. 10 StGB
anhand der angedrohten Höchststrafe bestimmten Begriffe Verbrechen oder Vergehen (crimes et délits, crimini e delitti) verwendet. Auch einen Deliktskatalog sieht er in
Art. 141 StPO
im Gegensatz etwa zu
Art. 168 Abs. 4 lit. a StPO
,
Art. 172 Abs. 2 lit. b StPO
,
Art. 269 Abs. 2 StPO
oder
Art. 286 Abs. 2 StPO
gerade nicht vor.
Überzeugender ist die Lehrmeinung, wonach nicht generell gewisse Tatbestände und deren abstrakte Strafandrohungen, sondern die gesamten Umstände des konkreten Falls zu berücksichtigen sind (vgl. JÉRÔME BÉNÉDICT, in: Commentaire romand, Code de procédure pénale suisse, Jeanneret/Kuhn/Perrier Depeursinge [Hrsg.], 2. Aufl. 2019, N. 25 zu Art. 141 CPP). Zwar kann ein Abstellen auf abstrakt angedrohte Strafen oder abschliessende Deliktskataloge die Prüfung der Verwertbarkeit von Beweismitteln erleichtern. Eine solche vom Gesetzgeber wie dargelegt nicht beabsichtigte und starre Entscheidfindung würde jedoch überdies dazu führen, dass im Einzelfall leichte Verbrechen anders behandelt würden als schwerwiegende Vergehen, obwohl die konkrete Strafe für Letztere um ein Vielfaches höher ausfallen kann. Dies stünde im Widerspruch mit dem vom Gesetzgeber gewollten Grundsatz der Individualisierung und dem weiten Ermessensspielraum des Sachgerichts bei der Strafzumessung (vgl.
BGE 141 IV 61
E. 6.3.2 S. 69;
BGE 135 IV 191
E. 3.1), anlässlich welcher die Schwere der Tat zu bewerten ist. Das Sachgericht muss
BGE 147 IV 9 S. 14
den konkreten Umständen Rechnung tragen können. Entscheidend ist deshalb nicht das abstrakt angedrohte Strafmass, sondern die Schwere der konkreten Tat. Dabei kann auf Kriterien wie das geschützte Rechtsgut, das Ausmass dessen Gefährdung resp. Verletzung, die Vorgehensweise und kriminelle Energie des Täters oder das Tatmotiv abgestellt werden (vgl.
BGE 142 IV 289
E. 2.3;
BGE 141 IV 459
E. 4.1 S. 462; je mit Hinweisen).
1.4.3
Der Tatbestand des Landfriedensbruchs ist ein Vergehen (
Art. 260 Abs. 1 StGB
i.V.m.
Art. 10 Abs. 3 StGB
). Die abstrakte Qualifikation ist jedoch entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers auch nach der bisherigen bundesgerichtlichen Rechtsprechung nicht ausschliessliches Kriterium zur Beurteilung, ob eine schwere Straftat nach
Art. 141 Abs. 2 StPO
vorliegt (vgl. E. 1.3.1 hiervor, wonach als schwere Straftaten lediglich vorab Verbrechen in Betracht fallen). Landfriedensbruch als kollektive Gewalttätigkeit verletzt die bestehende, öffentliche Friedensordnung und das Vertrauen in deren Bestand (
BGE 145 IV 433
E. 3.5.3 S. 436; STRATENWERTH/BOMMER, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil II: Straftaten gegen Gemeininteressen, 7. Aufl. 2013, § 38 N. 20; je mit Hinweisen). Dabei handelt es sich um gewichtige Rechtsgüter. Hinzu kommt, dass der Tatbestand des Landfriedensbruchs den Beweisschwierigkeiten Rechnung trägt, die sich bei diesem Massendelikt ergeben können (Urteil 6B_862/2017 vom 9. März 2018 E. 1.3.2; GERHARD FIOLKA, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. II, 4. Aufl. 2019, N. 6 zu
Art. 260 StGB
; TRECHSEL/VEST, in: Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, Trechsel/Pieth [Hrsg.], 3. Aufl. 2018, N. 6 zu
Art. 260 StGB
; DONATSCH/THOMMEN/WOHLERS, Strafrecht IV, Delikte gegen die Allgemeinheit, 5. Aufl. 2017, S. 191 f.; STRATENWERTH/BOMMER, a.a.O.; je mit Hinweisen; Sten. Bull. 1921 N 773 [Votum Häberlin]). Diese durch den materiellen Tatbestand von
Art. 260 StGB
bezweckte prozessuale Entlastung steht dem potentiellen Ansinnen insbesondere derjenigen Täter, deren Handlung über eine einfache Teilnahme am Landfriedensbruch hinausgeht, in der Anonymität der öffentlichen Zusammenrottung unerkannt zu bleiben und sich auf eine Unverwertbarkeit von Videoaufnahmen berufen zu können, entgegen. Das öffentliche Interesse an der Wahrheitsfindung und der Verwertbarkeit von Beweismitteln wiegt bezogen auf diesen Tatbestand folglich grundsätzlich schwer, insbesondere weil es in dessen Rahmen zu schwerwiegenden Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder Sachen kommen kann.
BGE 147 IV 9 S. 15
1.4.4
Weiter ist nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz für die Bewertung der Schwere der Tat die Umstände der Demonstration als solche und nicht bloss das isolierte Verhalten des Beschwerdeführers resp. dessen blosse Teilnahme und individuellen Tatbeitrag am Landfriedensbruch als massgebend erachtet. Denn den Tatbestand von
Art. 260 StGB
erfüllt auch derjenige, welcher an der Zusammenrottung lediglich teilnimmt, ohne selbst Gewalttätigkeiten zu begehen und für die Erfüllung dieser objektiven Strafbarkeitsbedingung reicht es aus, dass ein einzelner Teilnehmer solche Handlungen verübt, sofern sie als von der die öffentliche Ordnung bedrohenden Grundstimmung der Zusammenrottung getragen wird (vgl.
BGE 124 IV 269
E. 2b S. 271 mit Hinweisen). Der Umstand, dass dem Beschwerdeführer kein aktiver Beitrag an Gewalttätigkeiten vorgeworfen wird und die Vorinstanzen in Anwendung von
Art. 52 StGB
von einer Bestrafung Umgang nahmen, ist bei der Beurteilung seines Verschuldens im Rahmen der Strafzumessung zu berücksichtigen. Für die Frage, ob mit dem Landfriedensbruch eine schwere Straftat im Sinne von
Art. 141 Abs. 2 StPO
vorliegt und für die Interessenabwägung ist das Ausmass seines individuellen Tatbeitrags hingegen nicht entscheidend. Die konkrete Beteiligung des Beschwerdeführers lässt sich denn auch erst abschliessend beurteilen, nachdem über die Verwertbarkeit der Videoaufnahmen entschieden wurde.
Im Ergebnis verletzt die Vorinstanz kein Bundesrecht, indem sie den vorliegenden Landfriedensbruch als schwere Straftat qualifiziert und das öffentliche Interesse an der Aufklärung dieser Tat höher als dasjenige des Beschwerdeführers an der rechtskonformen Erhebung resp. Unverwertbarkeit der privaten Videoaufnahmen gewichtet. Über die vorinstanzlichen Erwägungen hinaus (vgl. nicht publ. E. 1.2) ist darauf hinzuweisen, dass nicht etwa der Geheim- oder Privatbereich des Beschwerdeführers, sondern lediglich seine - laut vorinstanzlicher Feststellung bewusste - Teilnahme an einer unbewilligten Demonstration auf öffentlichem Grund gefilmt wurde. Die Vorinstanz durfte deshalb die aus den Videoaufnahmen der Hotel E. AG gewonnenen Erkenntnisse auch zu Lasten des Beschwerdeführers verwenden und dessen Beschwerde ist in diesem Punkt abzuweisen. | de |
2066faf2-a6a0-4f0d-8730-df51c2d589a3 | Sachverhalt
ab Seite 36
BGE 99 Ia 35 S. 36
A.-
Im Hinblick auf die Wohnungsnot und zur Erhaltung preisgünstiger Wohnungen erliess der Grosse Rat des Kantons Basel-Stadt am 25. April 1968 ein Gesetz über den Abbruch von Wohnhäusern (Abbruchgesetz; Basler Gesetzessammlung Bd. 48/1966-1968, S. 890 ff.). Dieses Gesetz enthielt unter anderem folgende Bestimmungen:
§ 1:
"Der vollständige oder teilweise Abbruch von Häusern, die vorwiegend Wohnzwecken dienen, bedarf der Bewilligung."
§ 2:
"Eine Bewilligung zum Abbruch von Wohnungen ist zu erteilen:
a) wenn der Abbruch von der Baupolizei aus Sicherheitsgründen verfügt wird;
b) wenn Wohnungen vom Gesundheitsamt aus hygienischen Gründen abgesprochen sind;
c) wenn der Abbruch zur Durchführung einer rechtsgültigen Korrektion oder zur Verwirklichung eines Gebäudes oder einer Anlage zu öffentlichen Zwecken erforderlich ist;
d) wenn es sich um einen Abbruch des als Eigenheim bewohnten Einfamilienhauses handelt;
e) wenn der Eigentümer oder Käufer nachweist, dass er auf dem Grundstück Räumlichkeiten seines Handels-, Fabrikations- oder eines anderen von ihm geführten Betriebes errichten will."
§ 3:
"Eine Bewilligung kann erteilt werden, wenn die Umstände es rechtfertigen, insbesondere:
a) wenn durch Errichtung eines Neubaus wesentlich mehr Wohnraum vorwiegend für Familien oder für Alterswohnungen entsteht; b) wenn die Mehrzahl der Wohnungen eines abzubrechenden Hauses zufolge ihrer räumlichen oder hygienischen Beschaffenheit auch bescheidenen Ansprüchen nicht mehr zu genügen vermag;
c) wenn die notwendige Renovation unzumutbare Kosten verursachen würde;
d) wenn sich ein Abbruch aus städtebaulichen Gründen aufdrängt;
e) wenn es sich um den Abbruch eines vermieteten Einfamilienhauses handelt."
§ 10:
"Dieses Gesetz gilt für die Dauer von drei Jahren."
Am 11. November 1971 beschloss der Grosse Rat, § 10 des Abbruchgesetzes zu streichen. Gegen diesen Beschluss wurde das Referendum ergriffen. Das Volk stimmte der Vorlage jedoch in der Abstimmung vom 23. April 1972 mit 24 394 gegen 10 492
BGE 99 Ia 35 S. 37
gültigen Stimmen zu. Das Abstimmungsergebnis wurde im Kantonsblatt Basel-Stadt vom 26. April 1972 veröffentlicht.
B.-
Die Genossenschaft Hausbesitzer-Verein Basel, die laut Art. 2 ihrer Statuten die Interessen ihrer Mitglieder unter anderem durch Einflussnahme auf die Gesetzgebung zu wahren hat, führt gegen das erwähnte Gesetz über die Abänderung des Abbruchgesetzes vom 11. November 1971 staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 22 ter mit dem Antrag, den angefochtenen Erlass aufzuheben.
C.- Das Büro des Grossen Rates, vertreten durch das Justizdepartement des Kantons Basel-Stadt, beantragt, die Beschwerde abzuweisen. Die Begründung dieses Antrages ergibt sich, soweit wesentlich, aus den nachfolgenden Erwägungen.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Art. 22 ter Abs. 2 BV
ermächtigt die Kantone, auf dem Wege der Gesetzgebung im öffentlichen Interesse liegende Eigentumsbeschränkungen vorzusehen und auf diese Weise im Rahmen ihrer verfassungsmässigen Befugnisse den Inhalt des Eigentums näher zu umschreiben. Vor der Institutsgarantie halten jedoch nur solche Eingriffe stand, die den Wesenskern des Privateigentums als fundamentale Einrichtung der schweizerischen Rechtsordnung unangetastet lassen (
BGE 96 I 558
ff. mit Hinweisen auf Rechtsprechung und Lehre). Der kantonale Gesetzgeber hat demnach von Bundesverfassungs wegen darauf zu achten, dass die sich aus dem Eigentum ergebenden privaten Verfügungs- und Nutzungsrechte im wesentlichen erhalten bleiben. Wie sich aus
Art. 22 ter Abs. 2 BV
ergibt, sind öffentlichrechtliche und aufgesetzlicher Grundlage beruhende Eigentumsbeschränkungen sodann mit der Bestandesgarantie nur vereinbar, wenn dafür ein erhebliches öffentliches Interesse besteht und der Eingriff nicht weiter geht, als es dieses öffentliche Interesse gebietet (Grundsatz der Verhältnismässigkeit). Kommen sie einer Enteignung gleich, so hat der betroffene Eigentümer nach Massgabe von
Art. 22 ter Abs. 3 BV
Anspruch auf volle Entschädigung (
BGE 98 Ia 376
Erw. 4 mit Verweisungen). Aus
Art. 22 ter Abs. 2 BV
folgt weiter, dass die Kantonsverfassungen allenfalls einen weitergehenden Schutz des Eigentums vorsehen können, den der kantonale Gesetzgeber im Rahmen seiner bundesrechtlichen Befugnisse zum Erlass von Eigentumsbeschränkungen zu beachten hat. § 5 der baselstädtischen
BGE 99 Ia 35 S. 38
Kantonsverfassung sichert das Eigentum vor willkürlicher Verletzung. Da diese kantonale Gewährleistung somit jedenfalls nicht weiter reicht als die bundesrechtliche Eigentumsgarantie, kann sie im folgenden ausser Betracht bleiben.
Die Beschwerdeführerin rügt, ein dauerndes, d.h. zeitlich unbefristetes Abbruchverbot, wie es mit dem angefochtenen Gesetz erlassen worden sei, verstosse gegen die bundesrechtliche Gewährleistung des Eigentums in ihrer Erscheinungsform als Bestandesgarantie. Sie macht geltend, für einen solchen Eingriff bestehe kein hinreichendes öffentliches Interesse, anerkennt aber ausdrücklich, dass ein befristetes Abbruchverbot für Wohnhäuser in städtischen Gebieten mit ausgeprägter Wohnungsnot nicht gegen die Eigentumsgarantie verstösst und schliesst sich damit den vom Bundesgericht im Urteil 89 I 462 sowie in zwei neueren, unveröffentlichten Entscheiden (vom 6. Oktober 1971 i.S. Société immobilière Toepffer-Galland, Erw. 3 und i.S. Société immobilière Rue de l'Ecole de Médecine, Erw. 2b) angestellten Erwägungen an.
a) Ob an einer Eigentumsbeschränkung ein erhebliches öffentliches Interesse besteht, das im Vergleich mit den ihm entgegenstehenden privaten Interessen überwiegt, und ob der fragliche Eingriff nicht weiter geht, als es dieses öffentliche Interesse erfordert, prüft das Bundesgericht grundsätzlich frei. Dabei übt es jedoch Zurückhaltung, soweit die Beurteilung von einer Würdigung der örtlichen Verhältnisse abhängt, welche die kantonalen Behörden besser kennen und überblicken als das Bundesgericht, und soweit sich ausgesprochene Ermessensfragen stellen (
BGE 98 Ia 376
Erw. 4 mit Verweisungen). Diese Zurückhaltung rechtfertigt sich insbesondere bei der Beurteilung von Beschwerden gegen generell-abstrakte Anordnungen des kantonalen Gesetzgebers, die - wie im vorliegenden Fall - vorwiegend aus wirtschafts- und sozialpolitischen Gründen getroffen worden sind. Ob an der angefochtenen Eigentumsbeschränkung ein hinreichendes öffentliches Interesse besteht, hängt in besonderem Masse von einer Würdigung der im Kanton Basel-Stadt vorhandenen wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten und Bedürfnisse ab. Dabei hat der kantonale Gesetzgeber nicht nur von den zur Zeit des umstrittenen Erlasses bestehenden tatsächlichen Verhältnissen auszugehen, sondern er ist im Rahmen der ihm zukommenden politischen Aufgaben berechtigt und verpflichtet, aufgrund einer vernünftigen Prognose insbesondere
BGE 99 Ia 35 S. 39
auch die künftige Entwicklung zu berücksichtigen. Gerade in diesem Bereich ist ihm ein verhältnismässig weiter Ermessensspielraum zuzuerkennen. Ob der Grosse Rat des Kantons Basel-Stadt in diesem Zusammenhang alle wesentlichen Gesichtspunkte in jeder Hinsicht richtig gewürdigt hat, vermag das Bundesgericht demnach nicht umfassend zu beurteilen, zumal es grundsätzlich nicht Sache des Verfassungsrichters sein kann, vom Gesetzgeber getroffene und gegebenenfalls vom Volk gebilligte politische Ermessensentscheidungen zu überprüfen (vgl. P. SALADIN, Grundrechte im Wandel, S. 353 und 398). Bei aller mit Rücksicht auf das gesetzgeberische Gestaltungsermessen gebotenen Zurückhaltung kann das Bestehen eines hinreichenden öffentlichen Interesses an einer Eigentumsbeschränkung der hier in Frage stehenden Art jedoch nur dann bejaht werden, wenn der Gesetzgeber einleuchtende Gründe für sein Vorgehen anzugeben vermag. Dabei sind an die massgebenden Bedürfnisse der Allgemeinheit um so höhere Anforderungen zu stellen, je stärker mit dem fraglichen Gesetz in das Eigentum eingegriffen wird. Ebenso ist in diesem Zusammenhang erheblich, ob bloss eine vorübergehende oder aber eine dauernde Eigentumsbeschränkung in Frage steht.
b) Laut Ingress bezweckt der angefochtene Erlass, die Wohnungsnot zu bekämpfen und der Erhaltung preisgünstiger Wohnungen zu dienen. Er soll demnach einer Entwicklung entgegenwirken, die kurz nach dem zweiten Weltkrieg eingesetzt und insbesondere wegen des stetigen Ansteigens der Baukosten, des wirtschaftlichen Aufschwungs und des damit verbundenen Bevölkerungszuwachses in städtischen Ballungsgebieten zu einer bedrohlichen Verknappung des Angebots an preisgünstigen Wohnungen geführt hat. Dieser Missstand trifft insbesondere die wirtschaftlich weniger leistungsfähigen Bevölkerungskreise. Seit langem ist deshalb die Bereitstellung billigen Wohnraums als Massnahme der sozialen Wohlfahrt und damit als öffentliche Aufgabe anerkannt (vgl. z.B. die entsprechenden gesetzgeberischen Massnahmen auf Bundesebene, namentlich den BB vom 31. Januar 1958 über Massnahmen zur Förderung des sozialen Wohnungsbaus, AS 1958, S. 419 ff., das BG vom 19. März 1965 über Massnahmen zur Förderung des Wohnungsbaues, AS 1966 S. 433, mit Abänderungen vom 30. März 1970, AS 1970 S. 891 ff.). Das gleiche gilt für den Mieterschutz (vgl.
BGE 98 Ia 498
Erw. 4 mit weiteren Hinweisen). Mit Rücksicht darauf wurden
BGE 99 Ia 35 S. 40
in den von Volk und Ständen am 5. März 1972 angenommenen
Art. 34 sexies und 34 septies BV
denn auch ausdrückliche verfassungsrechtliche Grundlagen für entsprechende Vorkehren des Bundesgesetzgebers geschaffen.
Wie das Bundesgericht sowohl unter dem Gesichtswinkel der Willkür (
BGE 89 I 462
) als auch bei freier Prüfung (unveröffentlichtes Urteil vom 6. Oktober 1971 i.S. S.I. Toepffer-Galland, Erw. 3a) erkannt hat, besteht unter diesen Umständen grundsätzlich ein erhebliches öffentliches Interesse am Erlass eines Abbruchverbots für Wohnhäuser. Wohl können damit - abgesehen von den daraus sich ergebenden Beschränkungen für die Eigentümer solcher Gebäude - verschiedene Unzukömmlichkeiten wirtschaftlicher und sozialer Art verbunden sein, und es mag diese Massnahme auch nicht die wirksamste aller erwägenswerten Vorkehren zur Erhaltung billigen Wohnraumes darstellen. Dennoch kann nicht bestritten werden, dass in ihr ein taugliches Mittel zur Bekämpfung der Wohnungsnot erblickt werden kann. Wie die Entwicklung in den letzten Jahrzehnten gezeigt hat, handelt es sich bei den Bemühungen um Erhaltung und Bereitstellung preisgünstiger Wohnungen voraussichtlich noch während längerer Zeit um eine vom Gemeinwesen zu erfüllende Aufgabe, zumal sich die Verhältnisse namentlich in städtischen Ballungsgebieten gerade in jüngster Zeit zu Ungunsten der Wohnungssuchenden entwickelt haben und keine Anzeichen für ein in Kürze bevorstehendes Abklingen der Wohnungsnot zu bestehen scheinen. So deutet insbesondere nichts darauf hin, dass die entsprechenden gesetzlichen Massnahmen in anderen Kantonen (z.B. das Genfer Abbruchgesetz vom 17. Oktober 1962 und die dem gleichen Zweck dienenden Dekrete in den Kantonen Waadt und Neuenburg vom 5. Dezember 1962 /19. November 1969 bzw. vom 18. Juni 1963) in absehbarer Zeit ausser Kraft gesetzt werden könnten. Entgegen der von der Beschwerdeführerin vertretenen Auffassung durfte mithin auch der baselstädtische Gesetzgeber davon ausgehen, er erfülle mit dem Erlass eines Abbruchverbots für Wohnhäuser voraussichtlich eine Daueraufgabe des Gemeinwesens, die nach den Umständen eine unbefristete Eigentumsbeschränkung rechtfertige (vgl. den entsprechenden Ratschlag des Regierungsrats vom 18. Mai 1971, S. 9 Ziff. IV). Nach den Akten besteht jedenfalls kein Grund zur Annahme, er habe damit den ihm zustehenden Handlungsspielraum überschritten oder missbraucht.
BGE 99 Ia 35 S. 41
Das Bestehen eines erheblichen öffentlichen Interesses an der angefochtenen Eigentumsbeschränkung ist daher zu bejahen.
c) Zu prüfen ist, ob dieses öffentliche Interesse gegenüber den ihm entgegenstehenden privaten Interessen überwiegt, d.h. ob die angefochtene Ordnung als verhältnismässig bezeichnet werden kann.
Das Abbruchverbot für Wohnhäuser stellt zwar einen erheblichen Eingriff in die Verfügungsfreiheit der betroffenen Eigentümer dar. Die wesentlichen, aus dem Eigentum sich ergebenden Befugnisse bleiben den Eigentümern jedoch erhalten. So ist es ihnen namentlich unbenommen, ihr Grundstück zu veräussern oder im bisherigen Rahmen wirtschaftlich sinnvoll zu nutzen. Unter welchen Voraussetzungen eine Abbruchbewilligung erteilt werden muss oder kann, ist im Gesetz zudem einlässlich geregelt (§§ 2 und 3). Wohl steht der zuständigen Behörde bei der Anwendung der Kann-Vorschrift in § 3 des Gesetzes ein erheblicher Ermessensspielraum offen. Wie der Grosse Rat mit Recht ausführt (Beschwerdeantwort S. 16), bedeutet dies jedoch keine Ermächtigung zum Entscheid nach Belieben (vgl.
BGE 89 I 464
). Die Behörde ist vielmehr verpflichtet, im Einzelfall eine sorgfältige Interessenabwägung vorzunehmen und dabei insbesondere auch den Grundsatz der Rechtsgleichheit und das Gebot des Handelns nach Treu und Glauben zu beachten. Sind die in § 3 beispielsweise erwähnten oder ihnen aufgrund einer Interessenabwägung allenfalls gleichzustellenden Voraussetzungen erfüllt, so ist die Abbruchbewilligung im konkreten Fall zu erteilen. Dies anerkennt auch der Grosse Rat (Beschwerdeantwort S. 16/17). Der kantonale Gesetzgeber ist sodann dabei zu behaften, dass § 3 des Abbruchgesetzes nicht starr angewendet, sondern um so ausdehender ausgelegt werden soll, je mehr die zu bekämpfende Wohnungsnot gegebenenfalls abklingt (Beschwerdeantwort S. 13 unten). Gesamthaft betrachtet, erlaubt die im Gesetz enthaltene Regelung der Bewilligungsgründe demnach ohne weiteres eine massvolle Praxis, die weder eine in vernünftigen Grenzen verlaufende Erneuerung des Wohnungsbestandes im besonderen, noch eine angemessene wirtschaftliche Weiterentwicklung im allgemeinen unterbindet, sondern gestattet, den berechtigten privaten Interessen im Einzelfall gebührend Rechnung zu tragen. Nichts hindert im übrigen den betroffenen Grundeigentümer, einen zu seinen Ungunsten ausgefallenen
BGE 99 Ia 35 S. 42
letztinstanzlichen kantonalen Entscheid über ein Abbruchgesuch mit staatsrechtlicher Beschwerde anzufechten und nachzuweisen, dass ein überwiegendes öffentliches Interesse an einem Abbruchverbot im konkreten Fall nicht oder nicht mehr besteht. Da die gesetzliche Ordnung nach dem Gesagten verfassungskonform angewendet werden kann und dem Betroffenen hinreichende Rechtsbehelfe zum Schutz seiner privaten Interessen zur Verfügung stehen, besteht im Rahmen der im vorliegenden Verfahren vorzunehmenden abstrakten Normenkontrolle kein Grund zur Annahme, das angefochtene unbefristete Abbruchverbot verstosse generell gegen den Grundsatz der Verhältnismässigkeit. Die Rüge, der angefochtene Erlass verletze die Eigentumsgarantie, erweist sich daher als unbegründet. | de |
8be6112b-9aa1-423c-b7e1-6e3bacc77bab | Erwägungen
ab Seite 21
BGE 114 IV 20 S. 21
Aus den Erwägungen:
1.
Das Obergericht hat die vorgelegte Tonbandaufzeichnung des zwischen dem Beschwerdeführer und Frau Y. geführten Telefongesprächs als zulässiges Beweismittel betrachtet. Der Beschwerdeführer rügt, das Gericht habe dadurch
Art. 179quinquies StGB
falsch ausgelegt. Gemäss dieser Bestimmung macht sich weder nach Art. 179bis Abs. 1 noch nach Art. 179ter Abs. 1 strafbar, wer ein Gespräch, das über eine dem Telefonregal unterstehende Telefonanlage geführt wird, mittels einer von den PTT-Betrieben bewilligten Sprechstelle oder Zusatzeinrichtung mithört oder auf einen Tonträger aufnimmt.
a) Die PTT-Betriebe erteilen die für eine Zusatzeinrichtung zur Aufzeichnung von Telefongesprächen erforderliche Bewilligung weder gestützt auf
Art. 179quinquies StGB
noch bei der Meldung des Anschlusses und der Aufnahme des Pick-up-Zeichens in das Telefonverzeichnis (
Art. 61 TVV 3
), sondern in Anwendung von
Art. 20 Abs. 2 TVG
, wonach der Teilnehmer ohne Zustimmung der PTT-Betriebe keine andern Leitungen oder Apparate mit denen der PTT-Betriebe verbinden darf (s. Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Verstärkung des strafrechtlichen Schutzes des persönlichen Geheimbereichs, BBl 1968 I 595). Bewilligungen für den Anschluss von Tonaufnahmegeräten an das Telefonnetz waren denn auch schon vor der Aufnahme der Art. 179bis ff. in das Strafgesetzbuch erforderlich. Die PTT-Betriebe erteilen sie ausschliesslich nach technischen Kriterien (Netzverträglichkeit, Störmöglichkeit usw.). Die von
Art. 20 Abs. 2 TVG
verlangte Zustimmung wird deshalb nicht in Form einer Einzelbewilligung an einen bestimmten Telefonabonnenten gegeben, sondern erfolgt in allgemeiner Weise durch blosse Typengenehmigung. Wer ein Tonaufnahmegerät für Telefongespräche gebrauchen will, hat also nichts anderes vorzukehren, als im Fachhandel
BGE 114 IV 20 S. 22
ein Gerät eines bewilligten Typs zu erwerben und es anzuschliessen. Zur Information der Telefonbenützer tragen die PTT-Betriebe hinter der Aufrufnummer des entsprechenden Abonnenten das Pick-up-Zeichen ein. Eine Meldepflicht über den vorgenommenen Anschluss einer Zusatzeinrichtung besteht indessen nur für den Inhaber einer Telefoninstallationskonzession, nicht aber für den Telefonabonnenten (
Art. 136 lit. a TVV 1
). Der im Telefonbuch S. 15 enthaltene Vermerk, die Bewilligung für die Aufnahme von Telefongesprächen gelte als erteilt, wenn der Abonnent im Telefonbucheintrag das Pick-up-Zeichen habe aufnehmen lassen, widerspricht demnach der Rechtslage.
Folglich ist weder für den Betrieb einer Zusatzeinrichtung zur Aufzeichnung von Telefongesprächen eine auf einen bestimmten Anschluss und dessen Inhaber lautende Bewilligung erforderlich, wie das
BGE 100 IV 50
E. 1 vermuten lassen könnte, noch ist zur Aufzeichnung von Gesprächen nur der betreffende Telefonabonnent berechtigt, wie der Beschwerdeführer meint. Nach den verbindlichen tatsächlichen Feststellungen des Obergerichts ist bei der Nummer ... das Pick-up-Zeichen im Telefonverzeichnis aufgeführt, und ein solcher Eintrag erfolgt nur, falls ein von den PTT-Betrieben typengenehmigtes Zusatzgerät angeschlossen worden ist. Das Gericht verletzte daher Bundesrecht nicht, als es annahm, Frau Y., die zumindest teilweise für die als Abonnentin eingetragene Z. AG arbeitete und in deren Privatwohnung sich der Anschluss befand, was der Beschwerdeführer wusste, sei zur Aufnahme von Telefongesprächen auf Tonband befugt gewesen. Dass der Anrufende um Vorhandensein und Verwendung einer solchen Zusatzeinrichtung wissen müsste, wie der Beschwerdeführer annimmt, lässt sich
Art. 179quinquies StGB
im übrigen nicht entnehmen. Bereits die Botschaft des Bundesrates hielt fest, dass jedermann, der zum Telefon greife, die Möglichkeit einer Gefährdung des persönlichen Geheimbereichs durch bestimmte Gesprächsaufnahme- und -wiedergabegeräte kenne und sich darauf einstelle, d.h. sich gleich verhalte wie bei einem Gespräch in Hörweite von Drittpersonen; deshalb bestehe in Fällen der vorliegenden Art auch kein Bedürfnis nach Strafbarerklärung im Sinne der
Art. 179bis und 179ter StGB
und werde die Strafbefreiung im
Art. 179quinquies StGB
ausdrücklich vorgesehen; es wäre, so wird besonders erwähnt, auch ausserordentlich schwierig, wenn nicht gar unmöglich, die unbedingt erforderliche und zudem sichere Abgrenzung zwischen der erlaubten und der strafbaren
BGE 114 IV 20 S. 23
Benützung einer Zusatzeinrichtung zu finden (BBl 1968 I S. 596).
b) Die Strafbefreiung gemäss
Art. 179quinquies StGB
erstreckt sich, wie bereits die bundesrätliche Botschaft hervorhebt, nicht nur auf das Mithören eines Gesprächs oder die Aufnahme auf einen Tonträger, sondern "natürlich auch auf die in Art. 179bis Abs. 2 und 3 sowie Art. 179ter Abs. 2 aufgeführten Nachfolgehandlungen"; denn deren Strafbarkeit ist nur gegeben, wenn ihnen eine nach Art. 179bis Abs. 1 oder
Art. 179ter Abs. 1 StGB
strafbare Handlung vorangegangen ist (BBl 1968 I S. 596). Das blieb in den parlamentarischen Beratungen unbestritten, wurde doch
Art. 179quinquies StGB
in National- und Ständerat diskussionslos angenommen (Sten.Bull. NR 1968 S. 344; Sten.Bull. SR 1968 S. 190). Diese Auffassung entspricht denn auch der überwiegenden Lehrmeinung (STRATENWERTH, BT I S. 161 N 65 mit Hinweisen).
Die Erwägung des Obergerichts, auch die Auswertung und Bekanntgabe der Tonbandaufzeichnung an Dritte durch Frau Y. bleibe gestützt auf
Art. 179quinquies StGB
straflos, verletzt Bundesrecht demnach ebenfalls nicht. Hängt die Zulässigkeit der Verwendung einer derartigen Aufzeichnung von Gesetzes wegen einzig davon ab, ob sie mittels einer von den PTT-Betrieben bewilligten Zusatzeinrichtung vorgenommen worden und daher straflos ist, so kommt es auf die besonderen Umstände, unter denen Frau Y. die Tonbandaufzeichnung als Beweismittel vorlegte, nicht an; dessen Verwendung im Strafprozess setzt ebensowenig eine Interessenabwägung voraus, wie sie in
BGE 109 Ia 244
Nr. 45 (= Pra 72 Nr. 275) vorgenommen worden ist. | de |
15487a78-9419-4971-845b-c1002b46558d | Sachverhalt
ab Seite 126
BGE 113 IV 126 S. 126
Der in Samedan als Apotheker tätige D. ist Inhaber eines Krankentransportunternehmens. Am 20. Januar 1986 transportierte er mit eingeschaltetem Blaulicht eine Frau, die ein schweres Knietrauma links erlitten hatte und unter einem leichten Schock stand, von einem Arzt in St. Moritz zur Operation nach Bern. In dem von der Polizei kontrollierten Abschnitt auf der Autobahn N 1 von der Einfahrt Dietikon bis nach Neuenhof über eine Distanz von ca. 3 km fuhr er nachts bei bedecktem Himmel und leichtem Regen mit einer Geschwindigkeit von 110-120 km/h auf der zweiten Überholspur.
Mit Strafbefehl des Bezirksamts Baden vom 25. Juni 1986 wurde der Sanitätsfahrer D. unter anderem wegen missbräuchlicher Verwendung des Blaulichtes zu einer Busse von Fr. 120.-- verurteilt. Auf seine Einsprache hin sprach ihn das Bezirksgericht Baden am 10. Februar 1987 von diesem und den anderen Vorwürfen frei. Dieser Freispruch wurde vom Obergericht des Kantons Aargau am 9. Juli 1987 bestätigt.
BGE 113 IV 126 S. 127
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau erhebt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, den Freispruch aufzuheben und die Sache zur Bestrafung von D. wegen missbräuchlicher Verwendung des Blaulichts an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Das Bundesgericht weist die Nichtigkeitsbeschwerde ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
a) Ob, wie die Staatsanwaltschaft meint, die Beanspruchung des besonderen Vortrittsrechtes nur beim kumulativen Einsatz sowohl des Blaulichtes wie auch des Martinshornes zulässig ist, braucht vorliegendenfalls nicht entschieden zu werden, da dem Beschwerdegegner nicht vorgeworfen wird, das besondere Vortrittsrecht beansprucht zu haben. Zu entscheiden ist einzig, ob ein Verletztentransport unter den vorliegenden Umständen mit andauernd eingeschaltetem Blaulicht durchgeführt werden darf.
b) Das Gesetz regelt die Frage, wann Sanitätsfahrzeuge Blaulicht einsetzen dürfen, nur unvollkommen.
Art. 27 Abs. 2 SVG
sagt lediglich, wie sich andere Verkehrsbeteiligte beim Wahrnehmen der besonderen Warnsignale verhalten müssen.
Art. 100 Ziff. 4 SVG
gestattet unter gewissen Voraussetzungen Verkehrsregelverletzungen auf einer dringlichen Dienstfahrt. In
Art. 16 Abs. 1 und 2 VRV
werden die Pflichten der anderen Verkehrsteilnehmer konkretisiert und in Abs. 3 wird klargestellt, dass die besonderen Warnsignale nur gebraucht werden dürfen, solange die Fahrt dringlich ist.
Art. 29 Abs. 4 VRV
verbietet in Konkretisierung von
Art. 40 SVG
den unnötigen Einsatz von Blaulicht und Wechselklanghörnern.
c) Sonderregeln für dringliche Fahrten von Sanitätsfahrzeugen stellen eine Konkretisierung der Grundsätze betreffend den rechtfertigenden Notstand (
Art. 34 Ziff. 2 StGB
i.V.m.
Art. 102 Ziff. 1 SVG
) dar. Sie beruhen auf dem Grundgedanken, dass im Interesse von Leben und Gesundheit eines Menschen gewisse Verkehrsregelverletzungen hingenommen werden müssen (vgl.
BGE 106 IV 1
ff.).
Vorliegendenfalls hatte D. von einem Arzt den Auftrag erhalten, einen medizinisch indizierten und als dringlich bezeichneten Patiententransport vorzunehmen. Er war also gehalten, die Patientin schnell und sicher von St. Moritz nach Bern zu transportieren. Die Fahrt mit Blaulicht war ein den Verhältnissen angemessenes Mittel
BGE 113 IV 126 S. 128
zur Erreichung dieses Zieles, indem er damit auch bei Respektierung der Höchstgeschwindigkeitsvorschriften schneller und, was vor allem für den transportierten Patienten von Bedeutung ist, in regelmässiger, durch wenige Bremsungen beeinträchtigte Fahrt vorankommen konnte. Von einer unnötigen Verwendung des Blaulichtes kann somit keine Rede sein. Vielmehr handelte es sich um einen angemessenen Gebrauch einer besonderen Warnvorrichtung auf einer dringlichen Fahrt.
Entgegen der Beschwerdeführerin ist Dringlichkeit nicht nur bei Lebensgefahr anzunehmen, sondern kommt prinzipiell bei jeder Verletzung in Betracht, die eine rasche Verlegung in ein bestimmtes Spital erforderlich macht. Dass D. sich trotz Dringlichkeit an die gesetzliche Höchstgeschwindigkeit gehalten hat, spricht nicht gegen den dringlichen Charakter der Fahrt, sondern dafür, dass er der Sicherheit des Transportes sowie der Verhältnismässigkeit der eingesetzten Mittel die nötige Beachtung geschenkt hat.
d) Auch aufgrund des Merkblattes über die Verwendung von Blaulicht und Wechselklanghorn (Beilage zum Kreisschreiben des EJPD vom 1. November 1974) muss das Verhalten des D. als korrekt bezeichnet werden. Dort wird nämlich ausgeführt, bei nächtlichen Einsatzfahrten könne "die Betätigung des Blaulichtes ohne Wechselklanghorn zur Lärmvermeidung solange angezeigt sein, als der Führer ohne wesentliche Abweichung von den Verkehrsregeln, und insbesondere ohne Beanspruchung eines besondern Vortritts, rasch vorankommt". | de |
6043f5b7-e8d0-4f48-985c-55038c851425 | Sachverhalt
ab Seite 474
BGE 118 Ib 473 S. 474
Am 30. Juni 1989 bzw. 11./17. August 1989 wurden beim Bundesgericht sieben verwaltungsrechtliche Klagen von Weichkäseproduzenten, die sich durch die Vorgänge um die Listeriose-Affäre beim Vacherin Mont d'Or geschädigt fühlten, eingereicht mit dem Begehren,
BGE 118 Ib 473 S. 475
die Schweizerische Eidgenossenschaft sei zur Zahlung von Schadenersatz zu verurteilen.
Die Klagen beruhen auf folgender grundsätzlicher Behauptung: Der Bund habe seit November 1987 nach dem Auftauchen von Listeria monocytogenes auf waadtländischem Vacherin Mont d'Or durch rechtlich und tatsächlich falsche, mangelhafte, verspätete oder ungeeignete warnende Informationen der Öffentlichkeit und ungerechtfertigte Herabsetzung der Produkte der Kläger in der Öffentlichkeit - bzw. durch Unterlassen der angebrachten Informationen - Bestimmungen des Bundesrechts verletzt und namentlich durch einen dadurch bewirkten allgemeinen Verkaufsrückgang bei Weichkäsen Schaden verursacht.
In der Klageantwort vom 3. Januar 1990 beantragt die eidgenössische Finanzverwaltung, die Klagen seien unter Kosten- und Entschädigungsfolge abzuweisen.
Auf Ersuchen der Kläger verfügte der Instruktionsrichter, dass vorweg das Verfahren der Laiteries Réunies (fortan: Klägerin) mit folgender, gemäss
Art. 34 Abs. 2 BZP
beschränkter Fragestellung durchgeführt werde:
- Haftung des Bundes für widerrechtliches oder auch für rechtmässiges Handeln?
- Als verletzt in Betracht fallende Schutznormen; insbesondere Begriff der Widerrechtlichkeit im Informationsbereich.
- Würdigung des von den Klägern beanstandeten Verhaltens der Bundesbehörden.
Am 19. Mai 1992 fand die Vorbereitungsverhandlung statt. Im Anschluss daran ordnete der Instruktionsrichter einen zweiten Schriftenwechsel an, worin den Parteien insbesondere Gelegenheit erteilt wurde, sich zu einer einschlägigen, aus einem gleichgelagerten parallelen Verfahren beigezogenen Expertise über die Zusammenhänge bei Listeriose-Erkrankungen zu äussern. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Die zu beurteilende Klage stützt sich auf das Bundesgesetz vom 14. März 1958 über die Verantwortlichkeit des Bundes sowie seiner Behördemitglieder und Beamten (Verantwortlichkeitsgesetz, VG; SR 170.32). Über streitige Ansprüche gegen den Bund aus diesem Gesetz urteilt das Bundesgericht als einzige Instanz im Verfahren der verwaltungsrechtlichen Klage (
Art. 10 Abs. 1 VG
;
Art. 116
BGE 118 Ib 473 S. 476
lit. c OG
[in der Fassung vom 20. Dezember 1968, d.h. vor der Änderung vom 4. Oktober 1991, vgl. Ziff. 3 der Schlussbestimmungen vom 4. Oktober 1991];
BGE 116 Ib 369
E. 1a).
2.
a) Gemäss
Art. 3 VG
haftet der Bund für den Schaden, den ein Beamter in Ausübung seiner amtlichen Tätigkeit Dritten widerrechtlich zufügt, ohne Rücksicht auf das Verschulden des Beamten.
b) Widerrechtlich im Sinne von
Art. 3 Abs. 1 VG
ist die Schadenzufügung dann, wenn die amtliche Tätigkeit des Beamten gegen Gebote oder Verbote der Rechtsordnung verstösst, die dem Schutz des verletzten Rechtsgutes dienen. Ein solcher Verstoss kann unter Umständen in der Überschreitung oder im Missbrauch des dem Beamten durch Gesetz eingeräumten Ermessens liegen. Die Rechtsprechung hat auch die Verletzung von allgemeinen Rechtsgrundsätzen als widerrechtlich bezeichnet (
BGE 116 Ib 195
E. 2a;
BGE 107 Ib 163
ff. E. 3a, mit Hinweisen). Das Element der Widerrechtlichkeit fehlt, wenn eine Amtspflicht ein bestimmtes Handeln gebietet und dieses fehlerfrei erfolgt (
BGE 91 I 453
).
Haftpflichtrechtlich massgebliche Widerrechtlichkeit setzt die Verletzung eines von der Rechtsordnung geschützten Gutes, eines Rechtsgutes voraus, sei es, dass ein absolutes Recht des Geschädigten verletzt (Erfolgsunrecht), sei es, dass eine reine Vermögensschädigung durch Verstoss gegen eine einschlägige Schutznorm bewirkt wird (Verhaltensunrecht;
BGE 116 Ib 374
E. 4b). Vorbehalten bleiben in jedem Fall Rechtfertigungsgründe. Das Vermögen als solches ist kein Rechtsgut, seine Schädigung für sich allein somit nicht widerrechtlich. Vermögensschädigungen ohne Rechtsgutsverletzung sind daher an und für sich nicht rechtswidrig; sie sind es nur, wenn sie auf ein Verhalten zurückgehen, das von der Rechtsordnung als solches, d.h. unabhängig von seiner Wirkung auf das Vermögen, verpönt wird (OFTINGER/STARK, Schweizerisches Haftpflichtrecht, Bd. II/1, 4. Aufl., Zürich 1987, S. 17 und S. 33). Vorausgesetzt wird, dass die verletzten Verhaltensnormen zum Schutz vor diesen Schädigungen dienen (vgl. OFTINGER/STARK, a.a.O., S. 35;
BGE 116 Ib 195
E. 2a).
Das gesetzlich geforderte Verhalten kann aus einem Tun oder einem Unterlassen bestehen. Wer allerdings eine Handlung unterlässt, zu der er nach der Rechtsordnung nicht verpflichtet ist, verstösst nicht gegen diese und handelt nicht rechtswidrig. Eine allgemeine Rechtspflicht, im Interesse anderer tätig zu werden, besteht nicht. Vielmehr ist auch die Handlungspflicht nur dann haftpflichtrechtlich von Bedeutung, wenn sie das Interesse des Geschädigten
BGE 118 Ib 473 S. 477
verfolgt und sich aus einer Schutzvorschrift zu dessen Gunsten ergibt. Widerrechtliche Unterlassung setzt damit eine Garantenstellung für den Geschädigten voraus (
BGE 116 Ib 374
E. 4c).
c) Da das Vermögen als solches nicht wie ein absolutes Recht geschützt ist, kann eine Vermögensschädigung durch staatliches Handeln - oder Unterlassen - eine Haftpflicht des Staates nur auslösen, wenn dieses Handeln Verhaltensunrecht darstellt. Grundsätzlich wäre daher zunächst zu untersuchen, ob sich im von der Klägerin geltend gemachten Zusammenhang eine Norm findet, die sie vor Vermögensschädigung schützt. Dies kann allerdings dann offenbleiben, wenn sich ergibt, dass das Behördenverhalten ohnehin nicht zu beanstanden war.
Es erübrigt sich daher, abschliessend und vollumfänglich darzulegen, welche Bestimmungen im vorliegenden Zusammenhang allenfalls Schutzwirkungen zu Gunsten der Klägerin entfalten, wenn die Untersuchung des Behördenverhaltens ergeben sollte, dass den Behörden diesbezüglich unter den gegebenen Umständen nichts vorzuwerfen ist. Eine eingehendere Auseinandersetzung mit den Schutznormen hat allerdings insoweit zu erfolgen, als daraus gerade konkretere Anforderungen an das Verhalten der Behörden herausgelesen werden können.
3.
a) Aus spezifischen Freiheitsrechten wie insbesondere aus der Handels- und Gewerbefreiheit nach
Art. 31 BV
und der Eigentumsgarantie gemäss
Art. 22ter BV
lassen sich keine weitergehenden Anforderungen an das Behördenverhalten ableiten, als sie auch aus den im vorliegenden Zusammenhang zu beachtenden, konkreteren Regelungen auf Gesetzesstufe geschlossen werden können. Es kann daher dahingestellt bleiben, wieweit solche Grundrechte eine Schutzwirkung zu Gunsten des Vermögens der Klägerin zu entfalten vermögen (vgl. dazu
BGE 118 Ib 249
E. 5).
b) Ferner bietet
Art. 4 BV
für sich allein keine Grundlage für die Feststellung rechtswidrigen Handelns. Rechtswidrigkeit liegt nur vor, wenn mit dem aus
Art. 4 BV
abgeleiteten Gebot zugleich auch eine materielle Rechtsnorm verletzt wurde. So wäre eine behördliche Information dann zu beanstanden, wenn sie nötige Unterscheidungen zum Schutze Dritter bei der Informationstätigkeit, wie sie in der rechtlichen Regelung vorgesehen sind, nicht vornimmt. Dies trifft im vorliegenden Fall nicht zu. Auch als Willkür zu wertende Ermessensfehler bei der gesundheitspolizeilichen Reaktion in der damaligen Krisenlage und unter Berücksichtigung der vorhandenen Kenntnisse lassen sich nicht feststellen.
BGE 118 Ib 473 S. 478
Als völlig unpraktikabel erscheint, von einem Anhörungsrecht für alle an der Informationstätigkeit des Bundes Interessierten auszugehen, wie dies die Klägerin tut. Die Anwendung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs kommt somit im vorliegenden Zusammenhang nur in Frage, soweit eine Beschlagnahmung oder ein Verbot des Verkaufs einer Käsesorte angeordnet wurde; dagegen standen aber die besondern Rechtsmittel gemäss der Lebensmittel- und Gesundheitsgesetzgebung zur Verfügung, die offenbar nicht ergriffen wurden.
4.
a) Das Bundesgesetz vom 19. September 1978 über die Organisation und die Geschäftsführung des Bundesrates und der Bundesverwaltung (Verwaltungsorganisationsgesetz, VwOG; SR 172.010) enthält in Art. 8 eine Bestimmung über die Information der Öffentlichkeit. Danach wird die Öffentlichkeit über die Arbeit der Bundesverwaltung durch einen Informationsdienst dauernd orientiert, soweit ein allgemeines Interesse besteht und dadurch keine wesentlichen schutzwürdigen öffentlichen oder privaten Interessen verletzt werden. Kennzeichnend ist, dass die Informationen aufgrund von
Art. 8 VwOG
vorwiegend gegenüber Medienvertretern abgegeben werden (vgl. ISABELLE HÄNER EGGENBERGER, Öffentlichkeit und Verwaltung, Zürich 1990, S. 235 ff.).
Art. 8 VwOG
bezweckt, die Transparenz der Verwaltung sicherzustellen; dabei geht es grundsätzlich um die allgemeine Information der Öffentlichkeit über die Staatstätigkeit (vgl. CHRISTIAN FURRER, Bundesrat und Bundesverwaltung, Bern 1986, S. 41 ff.). Nicht unmittelbar erfasst wird die Information im Bereich von Sachproblemen, die sich ausserhalb der eigentlichen Verwaltungstätigkeit ergeben.
Der Klägerin kann daher nicht gefolgt werden, wenn sie aus
Art. 8 VwOG
- im Sinne eines "Anspruchs auf Information" - eine generelle Schutznorm ableiten möchte. Was für eine Informationspolitik der Bund auf dem Sektor der Ernährung und öffentlichen Gesundheit insgesamt oder der Lebensmittelkontrolle als solcher zu verfolgen hat, wie diese zu organisieren ist und ob diesbezügliche Wünsche der Geschäftsprüfungskommission - die ohnehin keine Rechtskraft haben - verwirklicht wurden, hat das Bundesgericht nicht zu prüfen. Diesbezügliche Richtlinien für die Verwaltungsführung wie auch das Handbuch der Information sind keine Rechtsnormen. Es handelt sich um Leitbilder der Informationspolitik, welche dem Einzelnen keine Rechtsansprüche verleihen. Das gilt auch für die von der Klägerin aus
Art. 8 VwOG
abgeleiteten "neun Gebote". Diese sind normativ ohnehin zu unbestimmt.
BGE 118 Ib 473 S. 479
Aus
Art. 8 VwOG
ergibt sich somit nichts zu Gunsten der Klägerin. Namentlich kann die "allgemeine Informationspflicht" des Bundes nicht als Rechtsgrundlage für Schadenersatzbegehren in besonderen Sachbereichen dienen.
b) Abzustellen ist somit vorab auf allfällige Bestimmungen über die Öffentlichkeitsarbeit in den konkreten, sachbezogenen Regelungen über die in Frage stehenden Ereignisse und Verwaltungstätigkeiten. Allenfalls können die in
Art. 8 VwOG
enthaltenen Grundsätze sinngemäss beigezogen werden, wenn konkrete Regelungen fehlen oder sich als zu unbestimmt erweisen.
Aus diesen Grundsätzen folgt, dass Ziel und Aufgabe der Information sich am öffentlichen Interesse auszurichten haben; Schranken werden durch entgegenstehende wesentliche öffentliche und private Interessen gesetzt. Diese werden nicht überschritten, wenn die Information im Interesse der öffentlichen Gesundheit liegt, zutreffend und im Rahmen eines weitgespannten Ermessens vertretbar ist. Insofern wird auch die in Art. 27 des Beamtengesetzes vom 30. Juni 1927 (SR 172.221.10) vorgesehene Pflicht zur Verschwiegenheit über dienstliche Angelegenheiten, die nach ihrer Natur oder gemäss besonderer Vorschrift geheimzuhalten sind, nicht verletzt. Die Schweigepflicht findet dort ihre Grenze, wo überwiegende öffentliche Interessen oder gar ausdrückliche gesetzliche Vorschriften die Information gebieten. Ausserdem sind die Behörden bei der Informationstätigkeit an die allgemeinen Rechts- und Verfassungsgrundsätze wie das Rechtsgleichheitsgebot und das Willkürverbot gebunden (FURRER, a.a.O., S. 42).
5.
a) Im vorliegenden Fall beruhte das behördliche Handeln auf dem Bundesgesetz vom 18. Dezember 1970 über die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten des Menschen (Epidemiengesetz, EpG; SR 818.101). Gemäss
Art. 11 EpG
treffen die Kantone die Massnahmen zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten (unter Vorbehalt ausserordentlicher Umstände, in denen der Bundesrat für das ganze Land oder einzelne Landesteile die notwendigen Massnahmen anordnen kann; vgl.
Art. 10 EpG
). Der Bund übt die Oberaufsicht über die Durchführung des Gesetzes aus und koordiniert wenn nötig die Massnahmen der Kantone (
Art. 9 EpG
). Was für Massnahmen getroffen werden sollen, hängt weitgehend von faktischen und naturwissenschaftlichen Gegebenheiten ab. Ob diese richtig gewürdigt werden, gehört zur richtigen Anwendung des Gesetzes. In diesem Zusammenhang kommen auch Normierungen des Lebensmittelrechts in Betracht, wenn - wie im vorliegenden Fall - die Übertragung
BGE 118 Ib 473 S. 480
ansteckender Krankheiten über Lebensmittel erfolgt. Unter dem Gesichtspunkt der allgemeinen Rechts- und Verfassungsgrundsätze ist namentlich das Verhältnismässigkeitsprinzip zu beachten.
b) Die Klägerin leitet eine Verantwortlichkeit des Bundes aus seiner Oberaufsicht über die Kantone ab. Diese Aufsicht enthält jedoch nicht eine Garantiefunktion zur Wahrung des Bundesrechts auch gegenüber den von der Rechtsanwendung durch die Kantone betroffenen privaten Rechtssubjekten, auf welche sich diese unmittelbar berufen könnten.
Das Handeln der Kantone begründet jedenfalls dort keine Verantwortlichkeit des Bundes, wo die Aufsicht - wie im Sektor der Gesundheits- und insbesondere der Lebensmittelpolizei - in erster Linie dahingeht, dass die Kantone die ihnen obliegenden Aufgaben des Gesundheitsschutzes tatsächlich wahrnehmen, die Art und Weise des Vollzugs den Kantonen aber weitgehend freisteht. Diesfalls gehört es nicht zur Aufsichtsfunktion des Bundes, dafür einzustehen, wenn die Kantone bei der Erfüllung ihrer Vollzugsaufgabe die dadurch betroffenen entgegenstehenden Interessen Dritter nicht genügend berücksichtigen.
c) Das Epidemiengesetz enthält in Art. 3 eine Regelung der Informationstätigkeit der Behörden im Zusammenhang mit der Bekämpfung übertragbarer Krankheiten. Danach veröffentlicht das Bundesamt periodisch die gemäss Art. 27 erstatteten Meldungen (
Art. 3 Abs. 1 EpG
); bei Bedarf unterrichtet es die Behörden, die Ärzteschaft und die Öffentlichkeit durch weitere Mitteilungen (
Art. 3 Abs. 2 EpG
); es gibt zuhanden der Behörden und Ärzte technische Richtlinien zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten heraus (
Art. 3 Abs. 3 EpG
).
Indem
Art. 3 EpG
ausdrücklich eine Information der Öffentlichkeit vorsieht, ist in diesem Bereich die Geheimhaltungspflicht - soweit ein öffentliches Interesse an Information besteht - beseitigt. Der Hersteller von Lebensmitteln kann sich in diesem Geschäftsbereich nicht auf eine "Geheimsphäre" berufen, soweit die öffentliche Gesundheit in Frage steht; ganz abgesehen davon, dass sich die Bundesbehörde im vorliegenden Fall überhaupt nicht in die Geheimsphäre der Käsehersteller eingemischt hat.
Wie die Beklagte richtig ausführt, stellt
Art. 3 EpG
die gesetzliche Grundlage für die Informationstätigkeit der Gesundheitsbehörden des Bundes dar. Die Norm dient primär dem Schutz von Gesundheit und Leben. Die Lebensmittelgesetzgebung bezweckt ebenfalls den Schutz des Konsumenten vor Gesundheitsschädigung sowie, in zweiter
BGE 118 Ib 473 S. 481
Linie, des Produzenten vor unredlicher Konkurrenz. Insofern schützen die beiden gesetzlichen Regelungen gerade nicht vor staatlichen Eingriffen, sondern ermöglichen diese. Das heisst aber nicht, dass die damit verbundenen Schranken nicht ebenfalls eine Schutzfunktion für Dritte haben können. In diesem Sinne fiele eine Schadenersatzpflicht des Bundes allenfalls in Betracht.
d) Ausgangspunkt bleibt die Zweckrichtung des Informationsauftrags von
Art. 3 EpG
; danach steht der Schutz der Gesundheit der Bevölkerung und nicht derjenige anderweitig, insbesondere wirtschaftlich Betroffener im Vordergrund. Die dabei gesetzten Schranken, namentlich die ausdrücklich vorgesehene Rücksichtnahme auf schutzwürdige private Interessen, entfalten aber eine Schutzwirkung für die von der Information betroffenen Privaten.
Nur wenn in diesem Zusammenhang unverantwortbare Fehler gemacht werden - z.B. durch unsachgemässe Warnungen vor bestimmten Produkten -, kann dies zu einer Schadenersatzpflicht der Behörden gegenüber Lebensmittelproduzenten führen. Der Schutzbereich von
Art. 3 EpG
ist nicht so zu verstehen, dass der Bund die Pflicht hat, durch seine Information zum Schutz der Produzenten einzugreifen, wenn die Konsumenten aus gesundheitlichen Befürchtungen bestimmte Produkte meiden, ohne dass dies durch unzulässige Massnahmen oder Informationen der Behörden selbst verursacht wird. Eine weitergehende Gesetzesauslegung würde bedeuten, dass die Verwaltung nicht nur für Schaden infolge ihres eingreifenden Handelns (namentlich durch Information) einzustehen hat, sondern auch für die Nichtabwehr (durch Information) von Gefahren, die sie nicht selbst geschaffen hat. Eine solche Pflicht mit entsprechender Schutzwirkung hätte eine Überforderung der Ansprüche im Informationsbereich an den Staat zur Folge und ergibt sich aus dem schweizerischen Recht nicht.
6.
a) Die Klägerin beruft sich eventualiter auf eine Entschädigungspflicht für Schäden aus rechtmässigem Handeln; d.h. sie macht im vorliegenden Zusammenhang auch eine Verantwortlichkeit des Bundes geltend für den Fall, dass dessen Behörden nicht widerrechtlich gehandelt haben sollten.
b) Eine Ersatzpflicht für rechtmässiges Handeln wurde bisher, soweit keine Sondernorm für eine solche Haftung besteht, nicht anerkannt. Sie käme auch, wenn überhaupt, höchstens in Frage bei behördlichen Eingriffen in geschützte Rechtsgüter der Privaten (vgl. ANDRÉ GRISEL, Traité de droit administratif, Bd. II, Neuchâtel 1984, S. 788 ff.). Im vorliegenden Fall stellen die geltend gemachten
BGE 118 Ib 473 S. 482
Umsatzeinbussen nicht die Folge eines direkten staatlichen Eingriffs in ein geschütztes Rechtsgut dar.
Im übrigen fiele eine Entschädigungspflicht für rechtmässige Information zuallerletzt in Betracht. Die staatliche Informationstätigkeit hat einen ganz andern Charakter als die staatliche Eingriffsverwaltung oder staatliche Realakte (z.B. Tötung eines Passanten bei einer Verbrecherverfolgung). Wäre bei solchen Akten - oder einzelnen davon - de lege ferenda oder in Weiterentwicklung gewisser in
Art. 4 BV
enthaltener Grundsätze eine Haftung allenfalls ins Auge zu fassen, muss bei der staatlichen Informationstätigkeit den Besonderheiten derselben Rechnung getragen werden. Nicht nur ist bei dieser die Kausalität mit allfälligen Schädigungen besonders schwer nachweisbar, sondern die Informationstätigkeit mit ihrer primär fördernden - und gerade nicht hemmend eingreifenden - Zielsetzung würde dadurch selbst zu einschneidend belastet.
7.
Infolgedessen bleibt die Frage wesentlich, ob die Bundesbehörden widerrechtlich gehandelt haben. Geprüft werden muss, ob die im Zusammenhang mit der Listerioseepidemie getroffenen Massnahmen und die darüber erteilten konkreten Informationen korrekt und sachgemäss waren. Dabei ist das Verhalten der Behörden nicht nach dem heutigen, sondern nach dem damaligen Wissensstand zu beurteilen. War die Information nicht in diesem Sinne zu beanstanden, kann sie auch nicht rechtswidrig gewesen sein. Dies muss jedenfalls dann gelten, wenn, wie es im vorliegenden Fall zutrifft, die Information der Öffentlichkeit gerade zur Aufgabe der Behörde gehört (
BGE 107 Ib 7
/8 e contrario), wovon auch die Klägerin selbst mit Recht ausgeht.
Im übrigen kann aus Zugaben oder Forderungen von Verwaltungsstellen und Politikern, dass die Informationstätigkeit künftig verbessert werden sollte, nicht gefolgert werden, sie sei zuvor geradezu rechtswidrig gewesen. Dazu müsste sich vielmehr ergeben, dass die Informationstätigkeit im Hinblick auf den Schutzbereich des Epidemiengesetzes nicht vertretbar war. ...
(Bei der Würdigung der der Klage zugrundeliegenden tatsächlichen Umstände kommt das Bundesgericht im wesentlichen zu folgenden Schlüssen:
Die Bundesbehörden haben bei ihrer Informationstätigkeit im November/Dezember 1987 den damals bekannten wissenschaftlichen Erkenntnissen gebührend Rechnung getragen. Sie haben in den ergangenen Pressemitteilungen und Weisungen zwischen Vacherin Mont d'Or und anderen Käsesorten, insb. Weichkäsen, unterschieden, soweit dies angebracht war. Weitere
BGE 118 Ib 473 S. 483
Differenzierungen, namentlich nach den verschiedenen Typen [Sero- und Lysotyp] des Erregers Listeria monocytogenes, nach der Herstellungsart der Weichkäsesorten (insb. Rotschmierung und Weissschimmelreifung) sowie nach der Art der bei der Käseproduktion verwendeten Milch (pasteurisierte oder Rohmilch), drängten sich nicht auf oder wären sogar unangebracht gewesen. Auch bei den der Bevölkerung erteilten Verhaltensempfehlungen hat das Bundesamt die nötigen Unterscheidungen getroffen. Schliesslich waren Aussagen einzelner Behördemitglieder, die in offizieller Funktion oder unter Hinweis darauf gegenüber Medienvertretern oder in Interviews getätigt wurden, weder ungenau noch zu undifferenziert.) ...
18.
a) Somit ergibt sich, dass die Bundesbehörden ihrer Informationspflicht angemessen und sachgerecht nachgekommen sind. Ihre Informationstätigkeit entsprach den gesundheitspolizeilichen Anforderungen. Sie konnte vom Publikum vernünftigerweise nicht so verstanden werden, wie die Klägerin vorträgt, dass "vom Erwerb und Verzehr des Lebensmittels (sc. aller Weichkäse) abgeraten wird". Vielmehr war die ganze Information darauf ausgerichtet, die Weichkäse zu kontrollieren und bei Kontamination vom Markte zu entfernen, so dass das Publikum ungefährdet Weichkäse erwerben und konsumieren konnte. Hätten die Behörden nicht derart gehandelt, hätte der Bund allenfalls dafür haften müssen, wenn eine Krankheit oder ein Todesfall im Zusammenhang mit einem solchen Käse eingetreten wäre, was beim damaligen Wissensstand nicht auszuschliessen war.
b) Im übrigen muss klar unterschieden werden zwischen dem Informationsverhalten des Bundes einerseits und der in der Freiheit und Verantwortlichkeit jedes einzelnen Journalisten liegenden Umsetzung dieser behördlichen Information andererseits. Wenn die Primärinformation der Behörden grundsätzlich in Ordnung und damit rechtmässig war, hat die Behörde nicht für anderweitige Fehlinformationen einzustehen. Sofern die Medien die Behördeninformation als solche nicht verzerrt darstellen, besteht zudem keine Pflicht, korrigierend einzugreifen. Im vorliegenden Zusammenhang haben die Medien zum Teil selber recherchiert, und einzelne haben eine Geschichte aufgebaut, die mit der Behördeninformation nichts mehr zu tun hatte und auch nicht darauf zurückging.
Wenn gleichzeitig und nachträglich die Medien die Informationspolitik des Bundes kritisierten, ergibt sich daraus kein Nachweis für die Widerrechtlichkeit derselben. Vielmehr waren es einzelne Zeitungen, die, zum Teil sogar vor den Bundesbehörden, an die
BGE 118 Ib 473 S. 484
Öffentlichkeit gelangten und mit Sensationsartikeln eine Abwehrhaltung und entsprechende Vorsichtsmassnahmen seitens der Käsekonsumenten hervorriefen. Dafür hat der Bund nicht einzustehen.
c) Die Zurückhaltung des Publikums beim Konsum von Weichkäsen entsprach dem natürlichen Lauf der Dinge. Jede Medienmeldung über Krankheitsrisiken im Zusammenhang mit Lebensmitteln führt erfahrungsgemäss zu einer vorübergehenden Zurückhaltung beim Konsum dieser und gleichartiger oder ähnlicher Lebensmittel. Selbst wenn behördliche Informationen sorgfältig abgewogen und auf den Durchschnittsbürger zugeschnitten sind, kann die Gefahr, dass sie zu unerwünschten und unbeabsichtigten Schlussfolgerungen beim Empfänger führen können, nie gänzlich ausgeschlossen werden. Dabei spielt sowohl die Komplexität der Materie als auch der unterschiedliche Wissensstand des Zielpublikums (Medienschaffende und Konsumenten) sowie die Art der Umsetzung der Information durch die Medien eine Rolle. Das sind Risiken, die jeder Lebensmittelhersteller zu tragen hat, auch wenn seine eigenen Produkte einwandfrei sind. Er kann dafür nicht die Verantwortlichkeit der Gesundheitsbehörden in Anspruch nehmen, wenn diese nichts anderes getan haben, als das Publikum sachgerecht und angemessen zu informieren.
19.
Schliesslich fragt sich, ob der Bund die Käsehersteller gemäss dem Grundsatz, dass derjenige, der einen gefährlichen Zustand geschaffen hat, Schutzmassnahmen ergreifen muss, durch angemessene Gegenmassnahmen hätte schützen müssen.
Der gefährliche Zustand, dem die Behörden mit der Informationstätigkeit zu begegnen versuchten, war nicht vom Bund, sondern von den Herstellern bzw. allenfalls Anbietern der listerienbefallenen Käse geschaffen worden. Auch die Verunsicherung in der Bevölkerung wurde nicht durch unzureichende Information bewirkt, sondern beruhte auf einer Verunsicherung in den Fachkreisen selbst, die Folge des bescheidenen damaligen Wissenschaftsstandes war.
Im übrigen ist im Zusammenhang mit dem von der Klägerin angerufenen Entscheid Nyfeler (
BGE 89 I 493
) darauf hinzuweisen, dass ein gefährlicher Tatbestand geschaffen worden wäre, für den die Gesundheitsbehörden allenfalls einzutreten hätten, wenn sie die Öffentlichkeit nicht genügend - und entsprechend dem damaligen Wissensstand - über Gefahren und Probleme im Zusammenhang mit der Listerioseepidemie orientiert hätten. Eine Garantenstellung für die Käseproduzenten kam den Gesundheitsbehörden hingegen nicht zu.
BGE 118 Ib 473 S. 485
25.
Infolgedessen haben die Bundesbehörden im Zusammenhang mit den Listeriosevorfällen gegenüber der Klägerin nicht widerrechtlich gehandelt, weshalb eine Haftung des Bundes für den von der Klägerin geltend gemachten Schaden schon aus diesem Grunde und unabhängig davon, ob das Behördenverhalten für den eingetretenen Verkaufsrückgang überhaupt in wesentlicher Weise ursächlich war, entfällt. Die verwaltungsrechtliche Klage erweist sich somit als unbegründet und ist abzuweisen. | de |
f10ea6a0-2c66-46a7-b1ca-8530b6a71711 | Sachverhalt
ab Seite 55
BGE 110 V 54 S. 55
A.-
In einer vor dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen (nachfolgend: Versicherungsgericht) hängigen invalidenversicherungsrechtlichen Rentensache zog Pfeiffer seinen Rekurs im materiellen Streitpunkt zurück, nachdem die Ausgleichskasse des Grosshandels die angefochtene Verfügung vom 17. August 1981 lite pendente im Sinne seines Beschwerdeantrages geändert hatte. In der Rückzugserklärung liess er durch seinen Rechtsanwalt Dr. X. die Zusprechung einer Parteientschädigung von Fr. 3'081.-- beantragen. Mit Entscheid des Versicherungsgerichtes vom 30. Juni 1982 (Präsidialverfügung) wurde die Sache zufolge Rückzuges der Beschwerde als erledigt abgeschrieben, dies unter Zusprechung einer Parteientschädigung von Fr. 700.-- an Pfeiffer zu Lasten der Ausgleichskasse.
B.-
Entgegen der diesem Entscheid beigehefteten Rechtsmittelbelehrung erhob Rechtsanwalt X hiegegen nicht Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Eidg. Versicherungsgericht, sondern (kantonalrechtliche) Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen (nachfolgend: Verwaltungsgericht) mit dem Antrag, es sei für das Verfahren vor dem Versicherungsgericht eine Parteientschädigung in der Höhe von Fr. 3'081.-- zu gewähren. Das Verwaltungsgericht sprach in Gutheissung dieses Begehrens mit Entscheid vom 3. März 1983 Pfeiffer die verlangte Parteientschädigung von Fr. 3'081.-- zu und auferlegte der Ausgleichskasse für den Prozess vor dem Verwaltungsgericht die Verfahrenskosten in der Höhe von Fr. 662.-- sowie eine Parteientschädigung von Fr. 400.--.
C.-
Die Ausgleichskasse führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der Entscheid des Verwaltungsgerichtes sei aufzuheben. Pfeiffer lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen, soweit darauf einzutreten sei. Erwägungen
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
a) Gemäss
Art. 128 OG
beurteilt das Eidg. Versicherungsgericht letztinstanzlich Verwaltungsgerichtsbeschwerden gegen
BGE 110 V 54 S. 56
Verfügungen im Sinne von
Art. 97 und 98 lit. b-h OG
auf dem Gebiet der Sozialversicherung. Hinsichtlich des Begriffs der mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde anfechtbaren Verfügungen verweist
Art. 97 OG
auf
Art. 5 VwVG
. Nach
Art. 5 Abs. 1 VwVG
gelten als Verfügungen Anordnungen der Behörden im Einzelfall, die sich auf öffentliches Recht des Bundes stützen (und im übrigen noch weitere, nach dem Verfügungsgegenstand näher umschriebene Voraussetzungen erfüllen).
Gegenüber einer auf kantonales Recht gestützten Verfügung kann mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde gerügt werden, es sei zu Unrecht kantonales statt öffentliches Recht des Bundes angewendet worden (
BGE 107 Ib 173
,
BGE 101 V 131
Erw. 1b, je mit Hinweis; GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl., S. 90 mit zahlreichen Verweisungen auf die bundesgerichtliche Praxis).
b) Das Verwaltungsgericht hat seine Zuständigkeit mit einer kantonalrechtlichen Bestimmung (Art. 59 des Gesetzes vom 16. Mai 1965 über die Verwaltungsrechtspflege) begründet. Die Ausgleichskasse behauptet, das Verwaltungsgericht habe seine Kompetenz in Verletzung prozessualer Bestimmungen des Bundesrechts (
Art. 69 IVG
in Verbindung mit
Art. 85 AHVG
) bejaht. Die Ausgleichskasse macht somit sinngemäss geltend, es hätte kraft Bundesrecht kein auf kantonales Recht gestützter Beschwerdeentscheid des Verwaltungsgerichts ergehen dürfen. Hinsichtlich der Eintretensfrage ist dieser Einwand der Rüge gleichzustellen, es sei zu Unrecht kantonales statt öffentliches Recht des Bundes angewendet worden (vgl. Erw. 1a in fine hievor). Aus diesem Grund ist auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde einzutreten.
2.
Der angefochtene Entscheid des Verwaltungsgerichts hat die Verlegung von Partei- und Gerichtskosten zum Gegenstand. Da es sich somit nicht um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen handelt, hat das Eidg. Versicherungsgericht nur zu prüfen, ob der vorinstanzliche Richter Bundesrecht verletzt hat, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie
Art. 105 Abs. 2 OG
;
BGE 104 V 6
Erw. 1). Zudem ist das Verfahren kostenpflichtig (
Art. 134 OG
e contrario; Art. 156 in Verbindung mit
Art. 135 OG
).
3.
Streitig ist, ob in einem vor dem Versicherungsgericht durchgeführten invalidenversicherungsrechtlichen Beschwerdeverfahren
BGE 110 V 54 S. 57
dieses Gericht als einzige kantonale Instanz über die Höhe einer Parteientschädigung entscheidet oder ob diesbezüglich ein Weiterzug an das kantonale Verwaltungsgericht möglich ist.
a) Nach
Art. 69 IVG
erfolgt die Rechtspflege in Invalidenversicherungssachen in sinngemässer Anwendung der Art. 84 bis 86 AHVG. Entsprechende Verweisungen sehen
Art. 7 Abs. 2 ELG
für die Ergänzungsleistungen,
Art. 24 Abs. 2 EOG
für die Erwerbsersatzordnung und
Art. 22 Abs. 3 FLG
für die Familienzulagen in der Landwirtschaft vor. In
Art. 85 Abs. 2 AHVG
wird die Regelung des Rekursverfahrens grundsätzlich - unter Vorbehalt gewisser vereinheitlichender Richtlinien - den Kantonen anheimgestellt (vgl. die bundesrätliche Botschaft vom 24. Oktober 1958 zum Entwurf eines Bundesgesetzes betreffend die Änderung des AHVG, BBl 1958 II 1285). Lit. f der zitierten Bestimmung enthält bezüglich der Kostenfolge die bundesrechtliche Vorschrift, dass der obsiegende Beschwerdeführer "Anspruch auf Ersatz der Kosten der Prozessführung und Vertretung nach gerichtlicher Festsetzung" hat. Ob und unter welchen Voraussetzungen in einem kantonalen Beschwerdeverfahren im AHV-Bereich ein Anspruch des obsiegenden Beschwerdeführers oder weiterer Beteiligter auf Parteientschädigung besteht, beurteilt sich somit nach Bundesrecht. So hat das Eidg. Versicherungsgericht im Rahmen des
Art. 85 Abs. 2 lit. f AHVG
entschieden, dass u.a. in folgenden Fällen von Bundesrechts wegen ein Anspruch auf Parteientschädigung besteht: bei Gegenstandslosigkeit des Verfahrens, wenn die Prozessaussichten dies rechtfertigen (
BGE 108 V 271
Erw. 1 mit Hinweisen); wenn die Rekursbehörde auf Rückweisung der Sache an die Verwaltung zwecks ergänzender Abklärung entscheidet (nicht veröffentlichte Urteile Zuberbühler vom 8. Juni 1982 und Bourquin vom 24. März 1977); bei nur teilweisem Obsiegen des Beschwerdeführers (ZAK 1980 S. 124 Erw. 5); wenn das Begehren um Zusprechung einer Parteientschädigung erst (nachträglich) im Laufe des kantonalen Rekursverfahrens erhoben wird (ZAK 1980 S. 438); wenn der Versicherte in einem zürcherischen EL-rechtlichen Verfahren in die Rolle des (obsiegenden) Beschwerdegegners versetzt wird (
BGE 108 V 111
); wenn der Rechtsanwalt des Versicherten zugleich dessen Vormund (nicht veröffentlichtes Urteil Asper vom 26. Februar 1982) oder der Vertreter nicht im Besitz des kantonalrechtlichen Patentes ist (ZAK 1980 S. 123 Erw. 4) oder wenn die Anwaltskosten des Versicherten von seiner Gewerkschaft getragen werden (
BGE 108 V 271
Erw. 2). Schliesslich ist
BGE 110 V 54 S. 58
auch der Anspruch des Mitinteressierten auf Parteientschädigung vom Bundesrecht beherrscht (
BGE 109 V 60
).
Anderseits enthält das Bundesrecht im AHV-Bereich und den beigeordneten Sozialversicherungszweigen - nebst dem Grundsatz des Entschädigungsanspruches als solchem - keine Bestimmungen über die Bemessung der Parteientschädigung, insbesondere keinen Tarif. Die Regelung dieser Fragen ist dem kantonalen Recht belassen. Mit diesem hat sich das Eidg. Versicherungsgericht grundsätzlich nicht zu befassen (Art. 128 in Verbindung mit
Art. 97 Abs. 1 OG
und
Art. 5 Abs. 1 VwVG
). Die Höhe einer Parteientschädigung hat deshalb das Eidg. Versicherungsgericht nur daraufhin zu überprüfen, ob die Anwendung der hierfür massgeblichen kantonalen Bestimmungen zu einer Verletzung von Bundesrecht (
Art. 104 lit. a OG
) geführt hat, wobei in diesem Bereich als Beschwerdegrund praktisch nur das Willkürverbot des
Art. 4 Abs. 1 BV
in Betracht fällt (
BGE 104 Ia 13
Erw. 2,
BGE 99 V 184
Erw. 1 in fine mit Hinweisen). Keine mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde zu rügende Bundesrechtswidrigkeit liegt darin, dass die kantonale Rekursbehörde bei der Bemessung der Parteientschädigung den kostenmässigen Eigenheiten des Sozialversicherungsprozesses (vgl.
BGE 98 V 126
Erw. 4c mit Hinweisen) nicht Rechnung getragen hat (
BGE 98 V 126
Erw. 4d, bestätigt in
BGE 99 V 128
oben; anders noch ZAK 1969 S. 598 mit Hinweisen).
b) Nach
Art. 85 Abs. 1 Satz 1 AHVG
bestimmen die Kantone zur Beurteilung von Beschwerden gemäss
Art. 84 AHVG
"eine von der Verwaltung unabhängige kantonale Rekursbehörde" (identisch die Formulierung in
Art. 7 Abs. 2 Satz 1 ELG
; vgl. auch Art. 69 Satz 1 am Anfang IVG,
Art. 22 Abs. 1 FLG
, Art. 24 Satz 1 am Anfang EOG). Im sozialen Kranken- und im bis Ende 1983 in Kraft gewesenen obligatorischen Unfallversicherungsrecht ist den Kantonen ausdrücklich eine "einzige Instanz" (Art. 30bis Abs. 1 am Anfang KUVG) bzw. ein "einziges Gericht" (
Art. 120 Abs. 1 KUVG
) vorgeschrieben; ebenso klar bestimmt
Art. 55 Abs. 2 MVG
, dass die Klagen "in erster Instanz von den kantonalen Versicherungsgerichten, in zweiter und letzter Instanz vom Eidgenössischen Versicherungsgericht beurteilt" werden. Unter der Herrschaft des alten Unfallversicherungsrechtes hatte das Eidg. Versicherungsgericht deshalb wiederholt entschieden, dass ein zweistufiges Beschwerdeverfahren um die Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege bundesrechtswidrig ist (EVGE 1937 S. 3; nicht veröffentlichtes Urteil Schneider vom 9. September 1976).
BGE 110 V 54 S. 59
Umgekehrt stellte das bis Ende 1983 in Kraft gewesene Arbeitslosenversicherungsgesetz es ausdrücklich den Kantonen anheim, zwei Rekursinstanzen vorzusehen (Art. 54 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 4 am Anfang AlVG); nach der neuen Ordnung sind sodann auf diesem Gebiet von Bundesrechts wegen mehrere Beschwerdeinstanzen vorgesehen, nämlich die kantonale Amtsstelle für Verfügungen der Gemeindearbeitsämter (
Art. 101 lit. a AVIG
) und ein Gericht oder eine verwaltungsunabhängige Rekurskommission als letzte kantonale Instanz für Verfügungen der kantonalen Amtsstellen und der Kassen (
Art. 101 lit. b AVIG
).
Im Gegensatz zu den genannten Bestimmungen aus dem Bereich der Kranken-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung lässt der Wortlaut des
Art. 85 Abs. 1 AHVG
nicht ohne weiteres erkennen, ob den Kantonen die Schaffung einer einzigen Rekursbehörde vorgeschrieben oder ob ihnen die Möglichkeit belassen ist, ein mehrstufiges Rekursverfahren (mit mehreren Spruchbehörden) einzuführen. Die Materialien sind indessen eindeutig. Schon in den Verhandlungen der Eidgenössischen Expertenkommission für die Einführung der AHV wurde festgehalten:
"Als Organe der Rechtspflege sind 25 kantonale Rekurskommissionen, deren Organisation die Kantone zu bestimmen haben, und eine vom Bundesrat zu wählende eidgenössische Berufungsinstanz vorgesehen. Die Dezentralisation der Rechtsprechung in erster Instanz entspricht einerseits der Dezentralisation der Verwaltung der Versicherung und anderseits auch der föderalistischen Struktur des Landes (Protokolle der Expertenkommission, Band 2, Beilage III zum Protokoll über die Session vom
16.
bis 20. Oktober 1944, S. 114)."
Diese Darstellung findet sich im Bericht der Expertenkommission vom 16. März 1945 (S. 173) und in der bundesrätlichen Botschaft zum Entwurf eines Bundesgesetzes über die AHV vom 24. Mai 1946 bestätigt (BBl 1946 II 514 ff. und 553). Hier wie auch in der parlamentarischen Beratung wurde überdies ausdrücklich festgehalten, dass "eine erste und eine zweite Rekursinstanz vorgesehen (ist). Die erste ist kantonal, die zweite eidgenössisch." (So der deutschsprachige nationalrätliche Kommissionsberichterstatter; vgl. Sten.Bull. 1946 N 686 S. 438.) Daran wurde auch bei der Erweiterung der bundesrechtlichen Verfahrensbestimmungen anlässlich der Einführung des Invalidenversicherungsgesetzes (
Art. 82 IVG
) festgehalten (BBl 1958 II 1216).
Diese aus den Materialien klar hervorgehende Einstufigkeit des kantonalen Rekursverfahrens hat im Gesetz positivrechtlichen
BGE 110 V 54 S. 60
Ausdruck gefunden. So sind die verfahrensrechtlichen Bestimmungen des
Art. 85 Abs. 2 AHVG
, auf das Ganze besehen, offensichtlich nicht für ein mehrstufiges Rechtsmittelverfahren konzipiert worden; dies zeigt sich gerade am Beispiel des
Art. 85 Abs. 2 lit. f AHVG
, der lediglich vom obsiegenden Beschwerdeführer spricht (
BGE 108 V 112
). Sodann liegt der Gedanke einer einzigen kantonalen Rekursbehörde auch dem
Art. 86 AHVG
zugrunde, welcher gegen deren Entscheide die Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Eidg. Versicherungsgericht vorsieht. Noch deutlicher war diesbezüglich der bis Ende 1972 in Kraft gewesene
Art. 86 AHVG
formuliert, laut welchem gegen die Entscheide "der kantonalen Rekursbehörde" Berufung beim Eidg. Versicherungsgericht eingelegt werden konnte. Entsprechend ist die Vollzugsverordnung formuliert, welche bei der Gerichtsstandsregelung durchwegs von "der Rekursbehörde des Kantons" spricht (
Art. 200 AHVV
). Rechtsprechung und Doktrin sind denn auch seit je von der Einstufigkeit des kantonalen Rekursverfahrens im AHV/IV-Bereich ausgegangen (
BGE 108 V 112
,
BGE 102 V 241
Erw. 2a,
BGE 100 V 54
Erw. 2a am Anfang; EVGE 1959 S. 145; BINSWANGER, Kommentar zum AHVG, 1950, S. 302 f.; OSWALD/DUCOMMUN, Aktuelle Rechtsfragen aus dem Gebiet der AHV, 1955, S. 87a; H.R. SCHWARZENBACH, Der Rechtsschutz des Versicherten in der Eidgenössischen AHV, Diss. Zürich 1952, S. 17 ff.).
Aus dem Gesagten ergibt sich, dass mindestens hinsichtlich des materiellen AHV/IV-Rechts und des bundesrechtlichen Grundsatzes der Parteientschädigungspflicht eine zweite kantonale Beschwerdeinstanz unzulässig ist. Nicht zu entscheiden ist hier, ob im Bereich der Ergänzungsleistungen - entgegen der erklärten Absicht des Gesetzgebers (vgl. BBl 1964 II 707) - ein zweifacher Instanzenzug, wie ihn die Kantone Zürich und Genf kennen (vgl.
BGE 108 V 111
), aus spezifisch EL-rechtlichen Gründen zulässig ist (z.B. im Hinblick darauf, dass die Kantone Gemeindestellen als Durchführungsorgane mit Verfügungsbefugnis beiziehen können; vgl.
Art. 6 Abs. 1 Satz 1 ELG
).
4.
a) Das Verwaltungsgericht verkennt die eben dargestellte Rechtslage nicht. Es beruft sich jedoch auf Art. 59 Ingress und lit. b des bereits erwähnten kantonalen Verwaltungsrechtspflegegesetzes, wonach gegen Entscheide des Versicherungsgerichts Beschwerde an das Verwaltungsgericht erhoben werden kann, "sofern gegen den letztinstanzlichen kantonalen Entscheid kein anderes Bundesrechtsmittel als die staatsrechtliche Beschwerde an das
BGE 110 V 54 S. 61
Bundesgericht offensteht". Da das Eidg. Versicherungsgericht die kantonalrechtliche Höhe (Bemessung) der Parteientschädigung nach
Art. 85 Abs. 2 lit. f AHVG
nur auf Willkür überprüfe (vgl. Erw. 3a in fine hievor) - wie dies in einem staatsrechtlichen Beschwerdeverfahren der Fall wäre -, sei das Verwaltungsgericht zuständig, eine gegen die Bemessung einer Parteientschädigung durch das Versicherungsgericht erhobene Beschwerde zu behandeln. Eine solche Verfahrensweise werde durch keine bundesrechtliche Bestimmung untersagt.
In ähnlichem Sinne hat sich der Beschwerdegegner geäussert.
b) Unter dem Gesichtspunkt einer strikten Unterteilung der Parteientschädigung in den bundesrechtlichen Grundsatz der Anspruchsberechtigung einerseits und in die - allenfalls mit Hilfe eines Tarifes vorgenommene - kantonalrechtliche Bemessung anderseits erscheint diese Auffassung als folgerichtig. Das Verwaltungsgericht lässt jedoch die weitere bundesrechtliche Vorschrift des
Art. 85 Abs. 2 lit. a AHVG
ausser Betracht, wonach das kantonale Verfahren - im Sinne einer Minimalanforderung - einfach und rasch sein muss. Da
Art. 85 Abs. 2 lit. a AHVG
Ausdruck eines allgemeinen sozialversicherungsrechtlichen Grundsatzes ist (
BGE 103 V 195
Erw. 4), gilt die Einfachheitsanforderung nicht nur für das einzelne Verfahrensstadium, sondern ebenso für den Verfahrensablauf insgesamt wie für die der Gerichtsorganisation zuzurechnende Ausformung des Rechtsmittelsystems.
Die Auffassung des Verwaltungsgerichtes würde zu einer mit erheblichen Komplikationen verbundenen Gabelung des Rechtsweges führen. So müsste nämlich die Partei, welche weder materiell noch hinsichtlich der Parteientschädigung mit dem Entscheid des Versicherungsgerichtes einverstanden ist, bezüglich des materiellen Punktes und des grundsätzlichen Anspruchs auf eine Parteientschädigung Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Eidg. Versicherungsgericht einlegen, bezüglich der Höhe der Parteientschädigung aber gleichzeitig (auch) kantonalrechtliche Beschwerde beim Verwaltungsgericht zwecks Wahrung der kantonalrechtlichen Beschwerdefrist führen. Das Eidg. Versicherungsgericht seinerseits könnte - selbst im Rahmen der praxisgemäss beschränkten Überprüfungsbefugnis betreffend die Höhe der Parteientschädigungen (vgl. Erw. 3a in fine hievor) - nicht urteilen, weil das Erkenntnis des Versicherungsgerichts diesbezüglich kein endgültiger, d.h. mit keinem ordentlichen kantonalen Rechtsmittel mehr anfechtbarer
BGE 110 V 54 S. 62
Entscheid darstellen würde (Art. 129 Abs. 3 in Verbindung mit
Art. 102 lit. d OG
;
BGE 98 V 119
). Das Verwaltungsgericht wiederum - als zweite und letzte kantonale Instanz - müsste den Grundsatzentscheid des Eidg. Versicherungsgerichts betreffend die Parteientschädigung abwarten und könnte erst danach in masslicher Hinsicht entscheiden.
Eine derartige Gabelung des Prozessweges (Eidg. Versicherungsgericht für die Grundsatzfrage, zweite kantonale Instanz für das Quantitativ) lässt sich mit der bundesrechtlichen Anforderung eines einfachen und raschen Verfahrens gemäss
Art. 85 Abs. 2 lit. a AHVG
nicht vereinbaren. Es ist daher als ein qualifiziertes Schweigen des Gesetzes zu betrachten, wenn das AHVG die Möglichkeit einer zweiten kantonalen Instanz zur Beurteilung der an sich kantonalrechtlichen Frage der Höhe der Parteientschädigung unerwähnt lässt. Auch diesbezüglich ist vielmehr nur die kantonale Rekursbehörde als eine einzige kantonale Instanz zulässig.
c) Im Urteil Casutt vom 13. Juni 1973 (
BGE 99 V 125
) - einem Militärversicherungsfall mit einer
Art. 85 Abs. 2 lit. a und f AHVG
entsprechenden Rechtsgrundlage (
Art. 56 Abs. 1 lit. a und e MVG
) - hat das Eidg. Versicherungsgericht allerdings eine kantonale Regelung (Basel-Stadt) als zulässig erklärt, laut welcher das kantonale Versicherungsgericht die Parteientschädigung lediglich dem Grundsatz nach, ohne sie zu beziffern, zuspricht, wobei dann erst die Anwaltsrechnung der obsiegenden Partei in einem nachträglichen Moderations- oder Tarifierungsverfahren gerichtlich überprüft werden kann. Indessen unterscheidet sich dieser Militärversicherungsfall vom vorliegenden wesentlich, weil keine gleichzeitige Gabelung des Rechtsweges vorliegt. Vielmehr erfolgt im Kanton Basel-Stadt der Entscheid über die Höhe der Parteientschädigung, sofern ein solcher überhaupt erforderlich wird, in einem nachträglichen, separaten Verfahren. Es müssen hier also im Gegensatz zum vorliegenden Fall nicht gleichzeitig und im gleichen Verfahren zwei Beschwerden erhoben werden, was, wie dargestellt, zu einer mit der Einfachheitsanforderung gemäss
Art. 85 Abs. 2 lit. a AHVG
nicht mehr vereinbaren Verfahrenskomplizierung führt.
5.
a) Aus dem Gesagten folgt, dass der Entscheid des Verwaltungsgerichts aufzuheben ist.
b) Das Versicherungsgericht hat seinem Entscheid eine korrekte Rechtsmittelbelehrung beigefügt. Der Beschwerdegegner hat in bewusstem Gegensatz hiezu das Verwaltungsgericht angerufen. Mangels rechtzeitiger Einreichung einer Verwaltungsgerichtsbeschwerde
BGE 110 V 54 S. 63
beim Eidg. Versicherungsgericht ist die Abschreibungsverfügung des Versicherungsgerichts vom 30. Juni 1982 in Rechtskraft erwachsen und daher der Überprüfung durch das Eidg. Versicherungsgericht entzogen (Art. 135 in Verbindung mit
Art. 106 Abs. 1 OG
).
Art. 107 Abs. 1 und Abs. 2 OG
kommt bei der geschilderten Sachlage nicht zur Anwendung. | de |
17f02aef-5146-4d63-ac03-e5010c805567 | 414.20 1 Bundesgesetz über die Förderung der Hochschulen und die Koordination im schweizerischen Hochschulbereich (Hochschulförderungs- und -koordinationsgesetz, HFKG) vom 30. September 2011 (Stand am 1. März 2021) Die Bundesversammlung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, gestützt auf die Artikel 63a, 64 Absatz 2, 66 Absatz 1 und 95 Absatz 1 der Bundesverfassung1, nach Einsicht in die Botschaft des Bundesrates vom 29. Mai 20092, beschliesst: 1. Kapitel: Allgemeine Bestimmungen Art. 1 Zweck und Gegenstand 1 Der Bund sorgt zusammen mit den Kantonen für die Koordination, die Qualität und die Wettbewerbsfähigkeit des gesamtschweizerischen Hochschulbereichs. 2 Zu diesem Zweck schafft dieses Gesetz die Grundlagen für: a. die gesamtschweizerische hochschulpolitische Koordination, namentlich durch die Vorgabe gemeinsamer Organe; b. die Qualitätssicherung und die Akkreditierung; c. die Finanzierung von Hochschulen und von anderen Institutionen des Hoch- schulbereichs; d. die Aufgabenteilung in besonders kostenintensiven Bereichen; e. die Gewährung der Bundesbeiträge. Art. 2 Geltungsbereich 1 Dieses Gesetz gilt für die Hochschulen und die anderen Institutionen des Hoch- schulbereichs von Bund und Kantonen. 2 Hochschulen im Sinne dieses Gesetzes sind: a. die universitären Hochschulen: die kantonalen Universitäten und die Eidge- nössischen Technischen Hochschulen (ETH); b. die Fachhochschulen und die pädagogischen Hochschulen. AS 2014 4103 1 SR 101 2 BBl 2009 4561 414.20 Hochschule 2 414.20 3 Für die ETH und die anderen eidgenössischen Institutionen des Hochschulbereichs gilt dieses Gesetz mit Ausnahme der Bestimmungen über die Grundbeiträge sowie die Bauinvestitions- und die Baunutzungsbeiträge. 4 Für die Akkreditierung privater Universitäten, Fachhochschulen, pädagogischer Hochschulen und anderer privater Institutionen des Hochschulbereichs gelten die Bestimmungen des 5. und des 9. Kapitels dieses Gesetzes. Für die Teilnahme dieser Hochschulen an der Rektorenkonferenz der schweizerischen Hochschulen gilt Artikel 19 Absatz 2. Art. 3 Ziele Der Bund verfolgt im Rahmen der Zusammenarbeit im Hochschulbereich insbeson- dere die folgenden Ziele: a. Schaffung günstiger Rahmenbedingungen für eine Lehre und Forschung von hoher Qualität; b. Schaffung eines Hochschulraums mit gleichwertigen, aber andersartigen Hochschultypen; c. Förderung der Profilbildung der Hochschulen und des Wettbewerbs, insbe- sondere im Forschungsbereich; d. Gestaltung einer kohärenten schweizerischen Hochschulpolitik in Abstim- mung mit der Forschungs- und Innovationsförderungspolitik des Bundes; e. Durchlässigkeit und Mobilität zwischen den Hochschulen; f. Vereinheitlichung der Studienstrukturen, der Studienstufen und ihrer Über- gänge sowie gegenseitige Anerkennung der Abschlüsse; g. Finanzierung der Hochschulen nach einheitlichen und leistungsorientierten Grundsätzen; h. gesamtschweizerische hochschulpolitische Koordination und Aufgabentei- lung in besonders kostenintensiven Bereichen; i. Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen bei Dienstleistungen und Ange- boten im Weiterbildungsbereich von Institutionen des Hochschulbereichs gegenüber Anbietern der höheren Berufsbildung. Art. 4 Aufgaben und Kompetenzen des Bundes im Hochschulbereich 1 Der Bund leitet die Koordination der gemeinsamen Aktivitäten von Bund und Kantonen im Hochschulbereich. 2 Er gewährt Beiträge nach diesem Gesetz. 3 Er führt und finanziert die ETH gestützt auf das ETH-Gesetz vom 4. Oktober 19913 und die anderen eidgenössischen Institutionen des Hochschulbereichs gestützt auf deren Rechtsgrundlagen. 3 SR 414.110 Hochschulförderungs- und -koordinationsgesetz 3 414.20 4 Er kann durch Verordnung der Bundesversammlung Hochschulinstitutionen, die von erheblicher Bedeutung für die Tätigkeit des Bundes sind, mit Zustimmung des Trägers ganz oder teilweise übernehmen. Er hört vorgängig den Hochschulrat an. 5 Er gewährt gestützt auf Spezialgesetze Beiträge an den Schweizerischen National- fonds, an die Schweizerische Agentur für Innovationsförderung (Innosuisse) sowie an nationale und internationale Bildungs- und Forschungsprogramme.4 Art. 5 Grundsätze der Aufgabenerfüllung 1 Der Bund achtet auf die von den Trägern gewährleistete Autonomie der Hochschu- len sowie auf die Grundsätze der Freiheit und der Einheit von Lehre und Forschung. 2 Er nimmt zur Erfüllung seiner Aufgaben Rücksicht auf die Besonderheiten von universitären Hochschulen, Fachhochschulen, pädagogischen Hochschulen und anderen Institutionen des Hochschulbereichs. 2. Kapitel: Zusammenarbeitsvereinbarung Art. 6 1 Bund und Kantone schliessen auf der Grundlage dieses Gesetzes sowie des inter- kantonalen Vertrags über die Zusammenarbeit im Hochschulbereich (Hochschul- konkordat) zur Erfüllung ihrer Aufgaben eine Zusammenarbeitsvereinbarung ab. 2 Die Zusammenarbeitsvereinbarung schafft die gemeinsamen Organe nach diesem Gesetz. 3 Sie kann den gemeinsamen Organen die in diesem Gesetz vorgesehenen Zustän- digkeiten übertragen. 4 Sie regelt, soweit dieses Gesetz keine Bestimmungen enthält, überdies: a. die Konkretisierung und die Umsetzung der gemeinsamen Ziele; b. die Zuständigkeiten, die Organisation und das Verfahren der gemeinsamen Organe. 5 Widerspricht die Vereinbarung einer Bestimmung dieses Gesetzes, so geht das Gesetz vor. 6 Die Vereinbarung wird seitens des Bundes vom Bundesrat abgeschlossen. 4 Fassung gemäss Anhang Ziff. 1 des Innosuisse-Gesetzes vom 17. Juni 2016, in Kraft seit 1. Jan. 2018 (AS 2016 4259; BBl 2015 9487). Hochschule 4 414.20 3. Kapitel: Gemeinsame Organe 1. Abschnitt: Allgemeine Bestimmungen Art. 7 Die Organe Die gemeinsamen Organe sind: a. die Schweizerische Hochschulkonferenz in der Zusammensetzung als Ple- narversammlung oder als Hochschulrat; b. die Rektorenkonferenz der schweizerischen Hochschulen; c. der Schweizerische Akkreditierungsrat. Art. 8 Anwendbares Recht 1 Für das Personal der gemeinsamen Organe und der Schweizerischen Akkreditie- rungsagentur gelten das Bundespersonalrecht und das Haftungsrecht des Bundes. Der Hochschulrat kann gestützt auf die Zusammenarbeitsvereinbarung Abweichun- gen vom Bundespersonalrecht vorsehen, soweit es für die Aufgabenerfüllung erfor- derlich ist. 2 Die gemeinsamen Organe und die Schweizerische Akkreditierungsagentur unter- stehen dem Datenschutz- und dem Beschaffungsrecht des Bundes. Art. 9 Kostentragung 1 Der Bund trägt die Kosten für die Führung der Geschäfte der Schweizerischen Hochschulkonferenz nach Artikel 14. 2 Die übrigen Kosten der Hochschulkonferenz tragen Bund und Kantone je zur Hälfte. 3 Die Plenarversammlung regelt gestützt auf die Zusammenarbeitsvereinbarung die Tragung der Kosten der anderen gemeinsamen Organe und der Schweizerischen Akkreditierungsagentur. 2. Abschnitt: Schweizerische Hochschulkonferenz Art. 10 Stellung und Funktion 1 Die Schweizerische Hochschulkonferenz ist das oberste hochschulpolitische Organ der Schweiz. Sie sorgt für die gesamtschweizerische Koordination der Tätigkeiten von Bund und Kantonen im Hochschulbereich. 2 Sie tagt als Plenarversammlung oder als Hochschulrat. 3 Sie verfügt über ein eigenes Budget und eine eigene Rechnung. 4 Ihr Organisationsreglement wird vom Hochschulrat erlassen. Hochschulförderungs- und -koordinationsgesetz 5 414.20 Art. 11 Plenarversammlung 1 Als Plenarversammlung setzt sich die Schweizerische Hochschulkonferenz zu- sammen aus: a. dem vom Bundesrat bezeichneten zuständigen Mitglied des Bundesrates; b. je einem Mitglied der Regierungen aller Kantone. 2 Die Plenarversammlung behandelt im Rahmen dieses Gesetzes Geschäfte, welche die Rechte und Pflichten des Bundes und aller Kantone betreffen. Die Zusammen- arbeitsvereinbarung kann ihr folgende Zuständigkeiten übertragen: a. Festlegung von finanziellen Rahmenbedingungen für die gesamtschweizeri- sche hochschulpolitische Koordination von Bund und Kantonen unter Vor- behalt von deren Finanzkompetenzen; b. Festlegung der Referenzkosten und der Beitragskategorien; c. Formulierung von Empfehlungen für die Gewährung von Stipendien und Darlehen durch die Kantone; d. weitere Zuständigkeiten, die sich aus diesem Gesetz ergeben. Art. 12 Hochschulrat 1 Als Hochschulrat setzt sich die Schweizerische Hochschulkonferenz zusammen aus: a. dem vom Bundesrat bezeichneten zuständigen Mitglied des Bundesrates; b. vierzehn Mitgliedern der Regierungen der Trägerkantone der Universitäten, der Fachhochschulen und der pädagogischen Hochschulen. 2 Einem Kanton steht nur ein Sitz im Hochschulrat zu. Das Hochschulkonkordat regelt, wie die Trägerkantone im Hochschulrat vertreten sind. 3 Der Hochschulrat behandelt im Rahmen dieses Gesetzes Geschäfte, welche die Aufgaben der Hochschulträger betreffen. Die Zusammenarbeitsvereinbarung kann ihm folgende Zuständigkeiten übertragen: a. Erlass von Vorschriften über: 1. Studienstufen und deren Übergänge, die einheitliche Benennung der Ti- tel sowie die Durchlässigkeit und Mobilität zwischen den und innerhalb der universitären Hochschulen, der Fachhochschulen und der pädagogi- schen Hochschulen, 2. die Gewährleistung der Qualitätssicherung und die Akkreditierung auf Antrag des Schweizerischen Akkreditierungsrates, 3. die Anerkennung von Abschlüssen sowie Verfahren zur Anerkennung von Bildungsleistungen, 4. die Weiterbildung in Form von einheitlichen Rahmenvorschriften; b. Festlegung der Merkmale der Hochschultypen; Hochschule 6 414.20 c. Formulierung von Empfehlungen für die Mitwirkungsrechte der Hochschul- angehörigen, insbesondere der Studentinnen und Studenten, sowie für die Erhebung von Studiengebühren; d. Formulierung von Empfehlungen für die Führung der Bezeichnungen nach Artikel 29; e. Beschluss der gesamtschweizerischen hochschulpolitischen Koordination für den Hochschulbereich und der Aufgabenteilung in besonders kosteninten- siven Bereichen; f. Entscheid über die Gewährung der projektgebundenen Bundesbeiträge; g. Koordination der allenfalls erforderlichen Beschränkung des Zugangs zu einzelnen Studiengängen; h. Oberaufsicht über die von ihm gewählten Organe; i. weitere Zuständigkeiten, die sich aus diesem Gesetz ergeben. Art. 13 Teilnahme mit beratender Stimme Mit beratender Stimme nehmen an den Sitzungen der Schweizerischen Hochschul- konferenz teil: a. die Staatssekretärin oder der Staatssekretär für Bildung, Forschung und In- novation5; b.6 … c. die Generalsekretärin oder der Generalsekretär der Schweizerischen Konfe- renz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK); d. die Präsidentin oder der Präsident und die Vizepräsidentin oder der Vizeprä- sident der Rektorenkonferenz der schweizerischen Hochschulen; e. die Präsidentin oder der Präsident des ETH-Rates; f. die Präsidentin oder der Präsident des Forschungsrats des Schweizerischen Nationalfonds; g.7 eine Vertreterin oder ein Vertreter der Innosuisse; h.8 die Präsidentin oder der Präsident des Schweizerischen Wissenschaftsrats9; i. je eine Vertreterin oder ein Vertreter der Studierenden, des Mittelbaus und des Lehrkörpers der schweizerischen Hochschulen; 5 Die Bezeichnung der Verwaltungseinheit wurde in Anwendung von Art. 16 Abs. 3 der Publikationsverordnung vom 17. Nov. 2004 (AS 2004 4937) angepasst. 6 Gegenstandslos. 7 Fassung gemäss Anhang Ziff. 1 des Innosuisse-Gesetzes vom 17. Juni 2016, in Kraft seit 1. Jan. 2018 (AS 2016 4259; BBl 2015 9487). 8 Fassung gemäss Art. 57 Abs. 3 des BG vom 14. Dez. 2012 über die Förderung der For- schung und der Innovation, in Kraft seit 1. Jan. 2014 (AS 2013 4425; BBl 2011 8827). 9 Die Bezeichnung des Rates wurde in Anwendung von Art. 20 Abs. 2 der Publikations- verordnung vom 7. Okt. 2015 (AS 2015 3989) auf den 1. Jan. 2018 angepasst. Hochschulförderungs- und -koordinationsgesetz 7 414.20 j. die Präsidentinnen und Präsidenten der ständigen Ausschüsse, sofern sie nicht Mitglieder der Hochschulkonferenz sind; der ständige Ausschuss ge- mäss Artikel 15 Absatz 1 Buchstabe b nimmt mit je zwei Vertretungen der Arbeitnehmer- und der Arbeitgeberorganisationen teil; k. weitere Organisationen und Personen auf Einladung hin, wenn es die Trak- tanden erfordern. Art. 14 Präsidium und Geschäftsführung 1 Das Präsidium der Schweizerischen Hochschulkonferenz besteht aus der Präsiden- tin oder dem Präsidenten und zwei Vizepräsidentinnen oder Vizepräsidenten. 2 Präsidentin oder Präsident ist das vom Bundesrat bezeichnete zuständige Mitglied des Bundesrates. Dieses leitet die Hochschulkonferenz. Der Bundesrat legt die Stellvertretung fest. 3 Vizepräsidentinnen oder Vizepräsidenten sind Vertreterinnen und Vertreter der Hochschulträgerkantone. Sie wirken an der Leitung der Hochschulkonferenz mit. 4 Der Bundesrat beauftragt ein Departement mit der Führung der Geschäfte der Hochschulkonferenz. 5 Das Präsidium lädt bei der Vorbereitung wichtiger Beschlüsse die interessierten Kreise zur Stellungnahme ein. Art. 15 Ausschüsse 1 Der Hochschulrat schafft zur Vorbereitung von Entscheiden: a. einen ständigen Ausschuss für Fragen der Hochschulmedizin; b. einen ständigen Ausschuss aus Vertreterinnen und Vertretern der Organisa- tionen der Arbeitswelt; c. weitere ständige und nichtständige Ausschüsse nach Bedarf. 2 Den Ausschüssen können auch Personen angehören, die nicht Mitglieder der Schweizerischen Hochschulkonferenz sind. 3 Der ständige Ausschuss aus Vertreterinnen und Vertretern der Organisationen der Arbeitswelt nimmt Stellung zu den Geschäften der Hochschulkonferenz nach den Artikeln 11 Absatz 2 und 12 Absatz 3. 4 Die ständigen Ausschüsse aus Vertreterinnen und Vertretern der Organisationen der Arbeitswelt und für Fragen der Hochschulmedizin können aus eigener Initiative oder im Auftrag der Hochschulkonferenz zu einzelnen gesamtschweizerischen hochschulpolitischen Entwicklungen Stellung nehmen und Anträge stellen. 5 Das Präsidium der Hochschulkonferenz pflegt die Beziehung zu den ständigen Ausschüssen aus Vertreterinnen und Vertretern der Organisationen der Arbeitswelt und für Fragen der Hochschulmedizin. Es führt periodisch Zusammenkünfte mit ihnen durch. Hochschule 8 414.20 Art. 16 Entscheidverfahren in der Plenarversammlung 1 Jedes Mitglied der Plenarversammlung hat eine Stimme. 2 Die Entscheide der Plenarversammlung bedürfen: a. des qualifizierten Mehrs von zwei Dritteln der Stimmen der anwesenden Mitglieder; und b. der Stimme des Bundes. 3 Die Zusammenarbeitsvereinbarung kann anstelle der Regelung nach Absatz 2 für Wahlen, Verfahrensbeschlüsse und Stellungnahmen ein einfaches Mehr der anwe- senden Mitglieder vorsehen. Art. 17 Entscheidverfahren im Hochschulrat 1 Jedes Mitglied des Hochschulrates hat eine Stimme. Zusätzlich erhalten die Vertre- terinnen und Vertreter der Kantone eine bestimmte Anzahl Punkte gemäss ihren Studierendenzahlen. Die Zuteilung der Punkte ist Sache des Hochschulkonkordats. 2 Die Entscheide des Hochschulrates bedürfen: a. des qualifizierten Mehrs von zwei Dritteln der Stimmen der anwesenden Mitglieder; b. der Stimme des Bundes; und c. des einfachen Mehrs an Punkten. 3 Die Zusammenarbeitsvereinbarung kann anstelle der Regelung nach Absatz 2 für Verfahrensbeschlüsse und Stellungnahmen ein einfaches Mehr der anwesenden Mitglieder vorsehen. Art. 18 Einbezug der Bundesversammlung Der Bundesrat informiert die für die Bildung und Forschung zuständigen parlamen- tarischen Kommissionen über die wichtigen Entwicklungen in der schweizerischen Hochschulpolitik sowie über die Aufgabenteilung in besonders kostenintensiven Bereichen. 3. Abschnitt: Rektorenkonferenz der schweizerischen Hochschulen Art. 19 Zusammensetzung und Organisation 1 Die Rektorenkonferenz der schweizerischen Hochschulen setzt sich zusammen aus den Rektorinnen, Rektoren, Präsidentinnen oder Präsidenten der schweizerischen Hochschulen. 2 Sie konstituiert sich selbst. Sie gibt sich ein Organisationsreglement. Dieses regelt auch die Teilnahme der Rektorinnen, Rektoren, Präsidentinnen und Präsidenten der nach diesem Gesetz akkreditierten privaten Hochschulen. Das Organisationsregle- ment bedarf der Genehmigung durch den Hochschulrat. Hochschulförderungs- und -koordinationsgesetz 9 414.20 3 Die Rektorenkonferenz der schweizerischen Hochschulen verfügt über ein eigenes Budget und führt eine eigene Rechnung. Art. 20 Aufgaben und Zuständigkeiten Die Rektorenkonferenz der schweizerischen Hochschulen hat die Aufgaben und die Zuständigkeiten, die ihr die Zusammenarbeitsvereinbarung überträgt. 4. Abschnitt: Schweizerischer Akkreditierungsrat und Schweizerische Agentur für Akkreditierung und Qualitätssicherung Art. 21 Schweizerischer Akkreditierungsrat 1 Der Schweizerische Akkreditierungsrat besteht aus 15–20 unabhängigen Mitglie- dern; diese vertreten insbesondere die Hochschulen, die Arbeitswelt, die Studieren- den, den Mittelbau und den Lehrkörper. Die Lehr- und Forschungsbereiche der Hochschulen sowie die Geschlechter müssen angemessen vertreten sein. Eine Min- derheit von mindestens fünf Mitgliedern muss hauptsächlich im Ausland tätig sein. 2 Der Hochschulrat wählt gestützt auf die Zusammenarbeitsvereinbarung die Mit- glieder des Akkreditierungsrates für eine Amtsdauer von vier Jahren. Eine einmalige Wiederwahl ist zulässig. 3 Der Akkreditierungsrat entscheidet gestützt auf die Zusammenarbeitsvereinbarung über Akkreditierungen nach diesem Gesetz. 4 Er ist weisungsunabhängig. 5 Er organisiert sich selbst. Er erlässt ein Organisationsreglement; dieses bedarf der Genehmigung durch den Hochschulrat. 6 Er verfügt für sich und für die Schweizerische Akkreditierungsagentur je über ein eigenes Budget und führt je eine eigene Rechnung. 7 Er kann weitere in- oder ausländische Akkreditierungsagenturen anerkennen. 8 Er erlässt auf Antrag der Direktorin oder des Direktors der Schweizerischen Ak- kreditierungsagentur ein Organisationsreglement für die Schweizerische Akkreditie- rungsagentur; dieses bedarf der Genehmigung durch den Hochschulrat. Art. 22 Schweizerische Akkreditierungsagentur 1 Die Schweizerische Agentur für Akkreditierung und Qualitätssicherung (Schwei- zerische Akkreditierungsagentur) ist eine rechtlich unselbstständige Anstalt. 2 Sie ist dem Schweizerischen Akkreditierungsrat unterstellt. Hochschule 10 414.20 4. Kapitel: Zulassung zu Hochschulen und Studiengestaltung an Fachhochschulen Art. 23 Zulassung zu den universitären Hochschulen 1 Die universitären Hochschulen verlangen für die Zulassung zur ersten Studienstufe eine gymnasiale Maturität. 2 Sie können die Zulassung zur ersten Studienstufe aufgrund einer gleichwertigen Vorbildung vorsehen. Zur Qualitätssicherung erlässt der Hochschulrat gestützt auf die Zusammenarbeitsvereinbarung Richtlinien über die Gleichwertigkeit. Art. 24 Zulassung zu den pädagogischen Hochschulen 1 Die pädagogischen Hochschulen verlangen für die Zulassung zur ersten Studien- stufe eine gymnasiale Maturität. 2 Sie verlangen für die Zulassung zur ersten Studienstufe für die Vorstufen- und Primarlehrerausbildung entweder eine gymnasiale Maturität oder eine Fachmaturität pädagogischer Ausrichtung oder unter bestimmten Voraussetzungen eine Berufsma- turität; der Hochschulrat legt die Voraussetzungen fest. 3 Sie können die Zulassung zur ersten Studienstufe aufgrund einer gleichwertigen Vorbildung vorsehen. Zur Qualitätssicherung erlässt der Hochschulrat gestützt auf die Zusammenarbeitsvereinbarung Richtlinien über die Gleichwertigkeit. Art. 25 Zulassung zu den Fachhochschulen 1 Die Fachhochschulen verlangen für die Zulassung zur ersten Studienstufe: a. eine Berufsmaturität in Verbindung mit einer beruflichen Grundbildung in einem dem Fachbereich verwandten Beruf; b. eine gymnasiale Maturität und eine mindestens einjährige Arbeitswelterfah- rung, die berufspraktische und berufstheoretische Kenntnisse in einem dem Fachbereich verwandten Beruf vermittelt hat; oder c. eine Fachmaturität in einer dem Fachbereich verwandten Studienrichtung. 2 Der Hochschulrat konkretisiert gestützt auf die Zusammenarbeitsvereinbarung die Zulassungsvoraussetzungen für die einzelnen Fachbereiche. Er kann auch ergän- zende Zulassungsvoraussetzungen vorsehen. Art. 26 Studiengestaltung an den Fachhochschulen 1 Die Fachhochschulen bereiten durch praxisorientierte Studien und durch anwen- dungsorientierte Forschung und Entwicklung auf berufliche Tätigkeiten vor, welche die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden sowie, je nach Fachbereich, gestalterische und künstlerische Fähigkeiten erfordern. 2 Auf der ersten Studienstufe bereiten sie die Studierenden in der Regel auf einen berufsqualifizierenden Abschluss vor. Hochschulförderungs- und -koordinationsgesetz 11 414.20 5. Kapitel: Qualitätssicherung und Akkreditierung Art. 27 Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung Die Hochschulen und anderen Institutionen des Hochschulbereichs überprüfen periodisch die Qualität ihrer Lehre und Forschung sowie ihrer Dienstleistungen und sorgen für die langfristige Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung. Art. 28 Institutionelle Akkreditierung und Programmakkreditierung 1 Akkreditiert werden: a. Hochschulen und andere Institutionen des Hochschulbereichs (institutionelle Akkreditierung); b. Studienprogramme von Hochschulen und anderen Institutionen des Hoch- schulbereichs (Programmakkreditierung). 2 Die institutionelle Akkreditierung ist Voraussetzung für: a. das Bezeichnungsrecht; b. die Gewährung von Bundesbeiträgen; c. die Programmakkreditierung. 3 Die Programmakkreditierung ist freiwillig. Art. 29 Bezeichnungsrecht 1 Mit der institutionellen Akkreditierung erhält die Hochschule oder die andere Institution des Hochschulbereichs das Recht, in ihrem Namen die Bezeichnung «Universität», «Fachhochschule» oder «Pädagogische Hochschule» oder eine davon abgeleitete Bezeichnung zu führen, wie insbesondere «universitäres Institut» oder «Fachhochschulinstitut». 2 Das Bezeichnungsrecht gilt auch für die Entsprechungen in anderen Sprachen als den Landessprachen. Art. 30 Voraussetzungen für die institutionelle Akkreditierung 1 Für die institutionelle Akkreditierung gelten die folgenden Voraussetzungen: a. Die Hochschule oder die andere Institution des Hochschulbereichs verfügt über ein Qualitätssicherungssystem, das Gewähr dafür bietet, dass: 1. Lehre, Forschung und Dienstleistung von hoher Qualität sind und das Personal entsprechend qualifiziert ist; 2. die Zulassungsvoraussetzungen nach Artikel 23, 24 oder 25 erfüllt so- wie gegebenenfalls die Grundsätze über die Studiengestaltung an Fach- hochschulen nach Artikel 26 eingehalten sind; 3. eine leistungsfähige Hochschulorganisation und -leitung vorhanden sind; Hochschule 12 414.20 4. den Hochschulangehörigen angemessene Mitwirkungsrechte zustehen; 5. die Aufgaben so erfüllt werden, dass die Chancengleichheit und die tat- sächliche Gleichstellung von Mann und Frau gefördert werden; 6. die Aufgaben im Einklang mit einer wirtschaftlich, sozial und ökolo- gisch nachhaltigen Entwicklung erfüllt werden; 7. überprüft werden kann, ob die Institution ihren Auftrag erfüllt. b. Die universitäre Hochschule und die Fachhochschule bieten Lehre, For- schung und Dienstleistungen in mehreren Disziplinen oder Fachbereichen an. c. Die Hochschule und die andere Institution des Hochschulbereichs sowie ihr Träger bieten Gewähr dafür, dass die Institution auf Dauer betrieben werden kann. 2 Der Hochschulrat konkretisiert die Voraussetzungen in einer Verordnung.10 Dabei trägt er den Besonderheiten und der Autonomie von universitären Hochschulen, Fachhochschulen, pädagogischen Hochschulen und anderen Institutionen des Hoch- schulbereichs Rechnung. Art. 31 Voraussetzungen für die Programmakkreditierung Für die Programmakkreditierung gelten die folgenden Voraussetzungen: a. Die Hochschule und die andere Institution des Hochschulbereichs bieten Gewähr für eine Lehre von hoher Qualität. b. Die Hochschule und die andere Institution des Hochschulbereichs sowie ihr Träger bieten Gewähr dafür, dass das Studienprogramm abgeschlossen wer- den kann. Art. 32 Akkreditierungsverfahren Die Schweizerische Akkreditierungsagentur und die anderen vom Akkreditierungs- rat anerkannten Akkreditierungsagenturen führen gestützt auf die Zusammenarbeits- vereinbarung das Akkreditierungsverfahren nach diesem Gesetz durch. Das Verfah- ren muss internationalen Standards entsprechen. Art. 33 Entscheid Der Schweizerische Akkreditierungsrat entscheidet aufgrund des Antrags der Schweizerischen Akkreditierungsagentur oder anderer von ihm anerkannter in- oder ausländischer Agenturen über die institutionelle Akkreditierung und die Pro- grammakkreditierung. Art. 34 Dauer der Akkreditierung Der Hochschulrat bestimmt die Geltungsdauer der Akkreditierung. 10 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 25. Sept. 2020, in Kraft seit 1. März 2021 (AS 2021 68; BBl 2020 3681). Hochschulförderungs- und -koordinationsgesetz 13 414.20 Art. 35 Gebühren 1 Der Schweizerische Akkreditierungsrat und die Schweizerische Akkreditierungs- agentur erheben für ihre Verfügungen und Dienstleistungen grundsätzlich kosten- deckende Gebühren. 2 Der Akkreditierungsrat erlässt das Gebührenreglement; dieses bedarf der Geneh- migung durch den Hochschulrat. 6. Kapitel: Gesamtschweizerische hochschulpolitische Koordination und Aufgabenteilung Art. 36 Grundsätze 1 Der Bund legt zusammen mit den Kantonen im Rahmen der Schweizerischen Hochschulkonferenz eine gesamtschweizerische hochschulpolitische Koordination und eine Aufgabenteilung in besonders kostenintensiven Bereichen fest; er wahrt dabei die Autonomie der Hochschulen und berücksichtigt die unterschiedlichen Aufgaben von universitären Hochschulen, Fachhochschulen und pädagogischen Hochschulen. 2 Die Koordination umfasst: a. die Festlegung von Prioritäten im Rahmen der gemeinsamen Ziele nach Ar- tikel 3 Buchstaben a‒g und von dazu erforderlichen hochschulübergreifen- den Massnahmen; b. die Finanzplanung auf gesamtschweizerischer Ebene, namentlich hinsicht- lich der Abstimmung zwischen den Beiträgen des Bundes und der Kantone sowie der Trägerfinanzierung. 3 Die Aufgabenteilung in besonders kostenintensiven Bereichen dient dazu, die Bildungs- und Forschungsschwerpunkte innerhalb des Hochschulbereiches wir- kungsvoll und angemessen zuzuordnen. Art. 37 Auf der Ebene der einzelnen Hochschulen 1 Die Hochschulen und die anderen Institutionen des Hochschulbereichs erarbeiten eine mehrjährige Entwicklungs- und Finanzplanung. Diese enthält die mehrjährigen Ziele und Schwerpunkte sowie den Finanzbedarf. 2 Die Hochschulen, die anderen Institutionen des Hochschulbereichs und ihre Träger berücksichtigen die Vorgaben der Schweizerischen Hochschulkonferenz und die Empfehlungen der Rektorenkonferenz der schweizerischen Hochschulen. Hochschule 14 414.20 Art. 38 Auf der Ebene der Rektorenkonferenz der schweizerischen Hochschulen 1 Die Rektorenkonferenz der schweizerischen Hochschulen stellt der Schweize- rischen Hochschulkonferenz Antrag zur gesamtschweizerischen hochschulpoli- tischen Koordination und Aufgabenteilung in besonders kostenintensiven Bereichen. 2 Sie stützt sich dabei auf die Entwicklungs- und Finanzplanung der Hochschulen und der anderen Institutionen des Hochschulbereichs und berücksichtigt: a. die Vorgaben der Hochschulkonferenz; b. die Finanzplanung von Bund und Kantonen. 3 Sie ermittelt für die jeweilige Planungsperiode den Koordinationsbedarf unter den Hochschulen und trifft im Hinblick darauf die entsprechenden Massnahmen. Art. 39 Auf der Ebene der Schweizerischen Hochschulkonferenz 1 Der Hochschulrat legt die gesamtschweizerische hochschulpolitische Koordination und Aufgabenteilung in besonders kostenintensiven Bereichen fest und bestimmt darin die Prioritäten und die dazu erforderlichen hochschulübergreifenden Mass- nahmen im Rahmen der gemeinsamen Ziele. 2 Er macht zuhanden der zuständigen Behörden von Bund und Kantonen periodisch eine Aufstellung der für die Zielerreichung erforderlichen finanziellen Mittel. 3 Er kann Massnahmen vorsehen zum Aufbau von Studienangeboten, die im gesamt- schweizerischen Interesse liegen und die im Angebot der einzelnen Hochschulen eine ungenügende Berücksichtigung finden. Art. 40 Aufgabenteilung in besonders kostenintensiven Bereichen 1 Der Hochschulrat bestimmt auf Antrag der Rektorenkonferenz der schweizerischen Hochschulen die besonders kostenintensiven Bereiche und beschliesst die Aufga- benteilung in diesen Bereichen. 2 Zur Bestimmung der besonders kostenintensiven Bereiche sind die Aufwendungen in einem Fachbereich oder einer Disziplin in Beziehung zu setzen zu den Aufwen- dungen im gesamten Hochschulbereich. Die Aufwendungen für einen besonders kostenintensiven Bereich müssen einen erheblichen Anteil an den Gesamtausgaben im schweizerischen Hochschulbereich ausmachen. 3 Kommt ein Träger den Beschlüssen nach Absatz 1 nicht nach, so können die Bundesbeiträge nach diesem Gesetz gekürzt oder verweigert werden. Hochschulförderungs- und -koordinationsgesetz 15 414.20 7. Kapitel: Finanzierung 1. Abschnitt: Grundsätze Art. 41 1 Der Bund stellt zusammen mit den Kantonen sicher, dass die öffentliche Hand für den Hochschulbereich ausreichende finanzielle Mittel für eine Lehre und Forschung von hoher Qualität bereitstellt. 2 Er beteiligt sich mit den Kantonen an der Finanzierung der Hochschulen und der anderen Institutionen des Hochschulbereichs und wendet dabei einheitliche Finan- zierungsgrundsätze an. 3 Er stellt zusammen mit den Kantonen sicher, dass die Beiträge der öffentlichen Hand wirtschaftlich und wirksam verwendet werden. 4 Die Hochschulen und die anderen Institutionen des Hochschulbereichs bemühen sich um angemessene Drittmittel. 2. Abschnitt: Ermittlung des Bedarfs an öffentlichen Finanzmitteln Art. 42 Vorgehen 1 Der Hochschulrat ermittelt den Bedarf an öffentlichen Finanzmitteln für die Hoch- schulen und die anderen Institutionen des Hochschulbereichs für jede Finanzie- rungsperiode. 2 Er stützt sich dabei insbesondere auf: a. die einschlägigen statistischen Resultate des Bundesamtes für Statistik; b. die Kostenrechnung der Hochschulen und der anderen Institutionen des Hochschulbereichs; c. die Entwicklungs- und die Finanzpläne der Hochschulen und der anderen Institutionen des Hochschulbereichs; d. die Referenzkosten; e. die zu erwartenden Studierendenzahlen; f. die gesamtschweizerische hochschulpolitische Koordination. Art. 43 Finanzielle Rahmenbedingungen Die Plenarversammlung legt im Rahmen der Finanzplanungen des Bundes und der Kantone die finanziellen Rahmenbedingungen fest, die in einer Finanzierungs- periode zu beachten sind; dazu hört sie vorgängig die Rektorenkonferenz der schweizerischen Hochschulen an. Hochschule 16 414.20 Art. 44 Referenzkosten 1 Die Referenzkosten sind die notwendigen Aufwendungen für eine Lehre von hoher Qualität pro Studentin oder Student. 2 Ausgangswerte für die Festlegung der Referenzkosten bilden die durchschnitt- lichen Kosten der Lehre gemäss den Kostenrechnungen der Hochschulen. 3 Die Ausgangswerte werden so angepasst, dass die öffentlichen Beiträge die Finan- zierung einer Lehre von hoher Qualität und der dazu erforderlichen Forschung sicherstellen. Dabei wird den Besonderheiten von universitären Hochschulen und von Fachhochschulen sowie ihrer Fachbereiche und Disziplinen Rechnung getragen. 4 Die Plenarversammlung legt die Referenzkosten fest und überprüft sie periodisch. 8. Kapitel: Bundesbeiträge 1. Abschnitt: Beitragsberechtigung Art. 45 Voraussetzungen 1 Eine Hochschule kann vom Bund als beitragsberechtigt anerkannt werden, wenn sie: a. institutionell akkreditiert ist; b. öffentliche Bildungsdienstleistungen anbietet; und c. eine sinnvolle Ergänzung, Erweiterung oder Alternative zu bestehenden Ein- richtungen darstellt. 2 Andere Institutionen des Hochschulbereichs können vom Bund als beitragsberech- tigt anerkannt werden, wenn sie: a. institutionell akkreditiert sind; b. öffentliche Bildungsdienstleistungen anbieten; c. nicht zweckmässig in eine bestehende Hochschule eingegliedert werden können; und d. eine im hochschulpolitischen Interesse liegende Aufgabe wahrnehmen und sich in die vom Hochschulrat beschlossene gesamtschweizerische hoch- schulpolitische Koordination einfügen. 3 Öffentliche Bildungsdienstleistungen sind Bildungsdienstleistungen: a. die einem öffentlichen Bedürfnis entsprechen; b. die in öffentlichem und rechtlich festgelegtem Auftrag erfolgen; und c. deren Curricula oder Abschlüsse im Rahmen der öffentlichen Bildungs- politik vorgegeben sind. Hochschulförderungs- und -koordinationsgesetz 17 414.20 Art. 46 Entscheid 1 Der Bundesrat entscheidet über die Beitragsberechtigung der Hochschulen und der anderen Institutionen des Hochschulbereichs. 2 Er hört vorgängig die Plenarversammlung an. 2. Abschnitt: Beitragsarten und Finanzierung Art. 47 Beitragsarten 1 Der Bund richtet im Rahmen der bewilligten Kredite zugunsten beitragsberechtig- ter kantonaler Universitäten, Fachhochschulen und anderer Institutionen des Hoch- schulbereichs Finanzhilfen aus in Form von: a. Grundbeiträgen; b. Bauinvestitions- und Baunutzungsbeiträgen; c. projektgebundenen Beiträgen. 2 Pädagogische Hochschulen können nur projektgebundene Beiträge erhalten. 3 Der Bund kann Finanzhilfen in Form von Beiträgen an gemeinsame Infrastruktur- einrichtungen der Hochschulen und der anderen Institutionen des Hochschulbe- reichs gewähren, wenn die Infrastruktureinrichtungen Aufgaben von gesamtschwei- zerischer Bedeutung erfüllen. Diese Beiträge betragen höchstens 50 Prozent des Betriebsaufwandes. Art. 48 Kreditbewilligung 1 Die Bundesversammlung bestimmt die finanziellen Mittel für die Bundesbeiträge mit mehrjährigen Zahlungsrahmen und Verpflichtungskrediten. 2 Sie beschliesst mit einfachem Bundesbeschluss je einen Zahlungsrahmen: a. für die Grundbeiträge für die kantonalen Universitäten und für andere Insti- tutionen des Hochschulbereichs; b. für die Grundbeiträge für die Fachhochschulen und für andere Institutionen des Hochschulbereichs. 3 Die Zahlungsrahmen müssen so bemessen sein, dass die entsprechenden jährlichen Zahlungskredite die Beitragssätze gewährleisten. 4 Die Bundesversammlung beschliesst mit einfachem Bundesbeschluss je einen Ver- pflichtungskredit für: a. die Bauinvestitions- und Baunutzungsbeiträge sowie für die Beiträge an ge- meinsame Infrastruktureinrichtungen der Hochschulen und der anderen In- stitutionen des Hochschulbereichs; b. die projektgebundenen Beiträge. Hochschule 18 414.20 3. Abschnitt: Grundbeiträge Art. 49 Verwendungszweck Grundbeiträge werden an die Betriebsaufwendungen gewährt. Art. 50 Beitragssätze Der Bund übernimmt vom Gesamtbetrag der Referenzkosten: a. 20 Prozent bei den kantonalen Universitäten; b. 30 Prozent bei den Fachhochschulen. Art. 51 Bemessungsgrundsätze 1 Der jährliche Gesamtbetrag wird den Beitragsberechtigten zur Hauptsache entspre- chend ihren Leistungen in Lehre und Forschung ausgerichtet. 2 Der Anteil Lehre wird auf der Grundlage der Referenzkosten bemessen. Dabei werden die folgenden Kriterien berücksichtigt: a. Anzahl Studierende; b. Anzahl Studienabschlüsse; c. durchschnittliche Studiendauer; d. Betreuungsverhältnisse; e. Zugehörigkeit der Studierenden zu bestimmten Disziplinen oder Fachberei- chen; f. die Qualität der Ausbildung. 3 Für die Bemessung des Anteils Forschung werden berücksichtigt: a. Forschungsleistungen; b. die Akquisition von Drittmitteln, insbesondere von Mitteln des National- fonds, der EU-Forschungsprogramme, der Kommission für Technologie und Innovation sowie weiterer öffentlicher und privater Quellen. 4 Höchstens 10 Prozent des jährlichen Gesamtbetrags werden den Beitragsberechtig- ten ausgerichtet entsprechend dem Anteil ihrer ausländischen Studierenden an der Gesamtzahl der an Schweizer Hochschulen studierenden Ausländerinnen und Aus- länder. 5 Der Bundesrat legt die Anteile nach den Absätzen 2‒4 sowie die Kombination und die Gewichtung der Bemessungskriterien fest. Er legt sie so fest, dass sie zur Ver- wirklichung der Ziele gemäss Artikel 3 beitragen. Er berücksichtigt dabei: a. die von der Plenarversammlung gestützt auf die Zusammenarbeitsverein- barung festgelegten Disziplinen- und Fachbereichsgruppen sowie deren Ge- wichtung und die maximale Studiendauer; b. die Besonderheiten von universitären Hochschulen und Fachhochschulen sowie ihrer Fachbereiche. Hochschulförderungs- und -koordinationsgesetz 19 414.20 6 Er überprüft die Festlegungen periodisch. 7 Er erlässt die für die Berechnung notwendigen Ausführungsbestimmungen. 8 Er hört vorgängig die Plenarversammlung an. Art. 52 Entscheid 1 Das zuständige Departement entscheidet über die Gewährung der Grundbeiträge. 2 Es kann den Entscheid dem zuständigen Bundesamt übertragen. Art. 53 Feste Beiträge an Hochschulinstitutionen 1 Das zuständige Bundesamt kann beitragsberechtigten Institutionen des Hochschul- bereichs, die nicht Hochschulen sind, Leistungsaufträge erteilen oder Leistungsver- einbarungen mit ihnen abschliessen und ihnen anstelle von Grundbeiträgen nach den Artikeln 50–52 feste Beiträge an den Betriebsaufwand ausrichten. 2 Ein solcher Beitrag darf 45 Prozent des Betriebsaufwands nicht überschreiten. 3 Der Hochschulrat erlässt gestützt auf die Zusammenarbeitsvereinbarung Grund- sätze über die Gewährung fester Beiträge. 4. Abschnitt: Bauinvestitions- und Baunutzungsbeiträge Art. 54 Verwendungszweck und Ausnahmen 1 Bauinvestitions- und Baunutzungsbeiträge werden gewährt für den Erwerb, die langfristige Nutzung, die Erstellung oder die Umgestaltung von Bauten, die der Lehre, der Forschung oder anderen Hochschulzwecken zugute kommen. 2 Keine Beiträge werden gewährt an: a. die Kosten von Landerwerb und -erschliessung; b. die Aufwendungen für den Gebäudeunterhalt; c. öffentliche Abgaben, Abschreibungen und Kapitalzinsen. 3 Für Universitätskliniken werden keine Bauinvestitions- und Baunutzungsbeiträge gewährt. Art. 55 Voraussetzungen 1 Bauinvestitionsbeiträge werden gewährt, wenn das Vorhaben: a. Kosten von mehr als fünf Millionen Franken auslöst; b. wirtschaftlich ist; c. die Erfordernisse der Aufgabenteilung und der Zusammenarbeit unter den Hochschulen erfüllt; d. hohe ökologische und energetische Standards beachtet; und Hochschule 20 414.20 e. behindertengerecht ausgestaltet wird. 2 Baunutzungsbeiträge werden gewährt, wenn: a. die Nutzung jährlich wiederkehrende Kosten von mehr als 300 000 Franken auslöst; b. die Nutzung für mindestens fünf Jahre fest vereinbart ist; c. die Nutzung wirtschaftlich ist; d. die Nutzung die Erfordernisse der Aufgabenteilung und der Zusammenarbeit unter den Hochschulen erfüllt; e. der genutzte Bau hohe ökologische und energetische Standards erfüllt; und f. der genutzte Bau behindertengerecht ausgestaltet ist. Art. 56 Höchstbeitragssatz Der vom Bund finanzierte Anteil beträgt höchstens 30 Prozent der anrechenbaren Aufwendungen. Art. 57 Berechnung 1 Der Bundesrat regelt die Berechnung der anrechenbaren Aufwendungen. Er hört vorgängig den Hochschulrat an. 2 Er kann eine pauschale Berechnungsmethode, namentlich Höchstansätze je Qua- dratmeter Nutzfläche, vorsehen. Art. 58 Entscheid 1 Das zuständige Departement entscheidet über Gesuche um Bauinvestitions- und Baunutzungsbeiträge. 2 Es kann den Entscheid dem zuständigen Bundesamt übertragen. 5. Abschnitt: Projektgebundene Beiträge Art. 59 Verwendungszweck und Voraussetzungen 1 Mehrjährige projektgebundene Beiträge können für Aufgaben von gesamtschwei- zerischer hochschulpolitischer Bedeutung ausgerichtet werden. 2 Aufgaben von gesamtschweizerischer hochschulpolitischer Bedeutung liegen insbesondere vor, wenn sie zum Gegenstand haben: a. die Bildung von Kompetenzzentren von nationaler oder regionaler Bedeu- tung, welche von mehreren Hochschulen oder anderen Institutionen des Hochschulbereichs gemeinsam getragen werden; b. die Verwirklichung von international herausragenden Programmen; c. die Profilbildung und die Aufgabenteilung unter den Hochschulen; Hochschulförderungs- und -koordinationsgesetz 21 414.20 d. die Förderung der Mehrsprachigkeit im Bereiche der Landessprachen; e. die Förderung der Chancengleichheit und der tatsächlichen Gleichstellung von Mann und Frau; f. die Förderung der nachhaltigen Entwicklung zum Wohle heutiger wie auch zukünftiger Generationen; g. die Förderung der Mitwirkung der Studierenden. 3 Die an den Projekten beteiligten Kantone, Hochschulen und anderen Institutionen des Hochschulbereichs haben eine angemessene Eigenleistung zu erbringen. 4 Projektgebundene Beiträge für pädagogische Hochschulen setzen die Beteiligung mehrerer Fachhochschulen oder universitärer Hochschulen voraus. Art. 60 Bemessungsgrundlagen und Befristung 1 Die projektgebundenen Beiträge werden aufgrund der Kosten für Planung, Aufbau und Betrieb eines Projektes ausgerichtet. 2 Sie werden befristet ausgerichtet. Art. 61 Entscheid und Leistungsvereinbarung 1 Der Hochschulrat entscheidet über die Ausrichtung projektgebundener Beiträge. 2 Gestützt auf den Entscheid des Hochschulrats schliesst das zuständige Departe- ment mit den Begünstigten eine Leistungsvereinbarung ab. Darin werden festgelegt: a. die zu erreichenden Ziele; b. die Formen der Ergebniskontrolle; c. die Folgen mangelhafter Zielerreichung. 9. Kapitel: Bezeichnungs- und Titelschutz, Sanktionen und Rechtsschutz Art. 62 Bezeichnungs- und Titelschutz 1 Die Bezeichnungen «Universität», «Fachhochschule», «Pädagogische Hoch- schule» sowie davon abgeleitete Bezeichnungen (wie «universitäres Institut» oder «Fachhochschulinstitut»), sei es in einer Landessprache oder in einer anderen Spra- che, dürfen nur Institutionen in ihrem Namen führen, die nach diesem Gesetz akkre- ditiert sind. 2 Die Titel der Absolventinnen und Absolventen der diesem Gesetz unterstehenden universitären Hochschulen, Fachhochschulen, pädagogischen Hochschulen und anderen Institutionen des Hochschulbereichs sind nach ihren jeweiligen Rechts- grundlagen geschützt. Hochschule 22 414.20 Art. 63 Strafbestimmungen 1 Führt eine Institution ohne Akkreditierung nach diesem Gesetz die Bezeichnung «Universität», «Fachhochschule», «Pädagogische Hochschule» oder eine davon abgeleitete Bezeichnung, sei es in einer Landessprache oder in einer anderen Spra- che, so werden die Verantwortlichen der Institution bestraft: a. mit Busse bis zu 200 000 Franken bei Vorsatz; b. mit Busse bis zu 100 000 Franken bei Fahrlässigkeit. 2 Die Strafverfolgung obliegt dem Kanton, in dem die Einrichtung ihren Sitz hat. Art. 64 Verwaltungsmassnahmen 1 Sind die Voraussetzungen für die Akkreditierung nicht mehr erfüllt oder werden allfällige Auflagen nicht innert der gesetzten Frist erfüllt, so trifft der Schweizeri- sche Akkreditierungsrat die erforderlichen Verwaltungsmassnahmen. 2 Als Verwaltungsmassnahmen fallen insbesondere in Betracht: a. die Mahnung; b. die Auferlegung von Auflagen; c. der Entzug der Akkreditierung. 3 Die Verwaltungsmassnahmen der Subventionsbehörden des Bundes richten sich nach dem Subventionsgesetz vom 5. Oktober 199011, diejenigen der Kantone nach dem Hochschulkonkordat. Art. 65 Rechtsschutz 1 Verfügungen, die aufgrund dieses Gesetzes, seiner Ausführungsbestimmungen oder der Zusammenarbeitsvereinbarung erlassen werden, können mit Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht angefochten werden. 2 Verfügungen des Bundesrates über die Beitragsberechtigung sind nicht anfecht- bar.12 3 Im Übrigen gelten die allgemeinen Bestimmungen der Bundesrechtspflege. 10. Kapitel: Kompetenz des Bundesrates zum Abschluss internationaler Verträge Art. 66 1 Der Bundesrat kann für den Bereich der Hochschulen völkerrechtliche Verträge abschliessen über: 11 SR 616.1 12 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 25. Sept. 2020, in Kraft seit 1. März 2021 (AS 2021 68; BBl 2020 3681). Hochschulförderungs- und -koordinationsgesetz 23 414.20 a. die internationale Zusammenarbeit, insbesondere im Bereich der Studien- strukturierung sowie der Anerkennung von Studienleistungen, Studien- abschlüssen und Gleichwertigkeiten im Hochschulbereich; b. die Förderung der internationalen Mobilität; c. die Beteiligung an internationalen Förderungsprogrammen und -projekten. 2 In den Verträgen nach Absatz 1 kann der Bundesrat auch Vereinbarungen treffen über: a. die Finanzkontrolle und die Audits; b. die Personensicherheitsprüfungen; c. die Sicherung und die Zuteilung des im Rahmen der wissenschaftlichen Zu- sammenarbeit entstehenden oder benötigten geistigen Eigentums; d. die Beteiligung des Bundes an öffentlich-rechtlichen oder privatrechtlichen juristischen Personen; e. den Beitritt zu internationalen Organisationen. 3 Der Hochschulrat und die Rektorenkonferenz der schweizerischen Hochschulen wirken gestützt auf die Zusammenarbeitsvereinbarung an der Vorbereitung dieser Abkommen mit. Die Zusammenarbeitsvereinbarung regelt das Verfahren der Mit- wirkung. 11. Kapitel: Schlussbestimmungen 1. Abschnitt: Vollzug Art. 67 Ausführungsbestimmungen Der Bundesrat erlässt die Ausführungsbestimmungen, soweit der Vollzug dieses Gesetzes in seine Zuständigkeit fällt. Art. 68 Allgemeinverbindlicherklärung von Hochschulkonkordaten Die Allgemeinverbindlicherklärung interkantonaler Verträge im Hochschulbereich richtet sich nach Artikel 14 des Bundesgesetzes vom 3. Oktober 200313 über den Finanz- und Lastenausgleich. Art. 69 Evaluation 1 Der Bundesrat unterbreitet der Bundesversammlung alle vier Jahre einen Bericht über: a. die Wirksamkeit der aufgewendeten öffentlichen Mittel; 13 SR 613.2 Hochschule 24 414.20 b. die Auswirkungen des Finanzierungssystems auf die Haushalte von Bund und Kantonen, auf ihre Hochschulen, auf die Disziplinen und auf die von diesem Gesetz erfassten anderen Institutionen des Hochschulbereichs; c. die Wettbewerbsfähigkeit der Hochschulen; d. die Beschäftigungsfähigkeit und die Tätigkeiten der Absolventinnen und Absolventen nach Abschluss der Hochschulstudien. 2 Er hört dazu vorgängig den Hochschulrat an. Art. 7014 Anerkennung ausländischer Abschlüsse 1 Das zuständige Bundesamt anerkennt auf Gesuch hin mit Verfügung ausländische Abschlüsse im Hochschulbereich für die Ausübung eines reglementierten Berufs. 2 Es kann Dritte mit der Anerkennung beauftragen. Diese können für ihre Leistun- gen Gebühren erheben. 3 Die Zuständigkeit der Kantone für die Anerkennung von Abschlüssen interkan- tonal geregelter Berufe bleibt vorbehalten. 2. Abschnitt: Aufhebung und Änderung bisherigen Rechts Art. 71 Die Aufhebung und die Änderung bisherigen Rechts sind im Anhang geregelt. 3. Abschnitt: Übergangsbestimmungen Art. 72 Anpassung der Beitragssätze 1 Weicht der Umfang der erstmals nach diesem Gesetz ermittelten durchschnitt- lichen jährlichen Grundbeiträge des Bundes erheblich ab vom Umfang der durch- schnittlich jährlich entrichteten Betriebs- und Grundbeiträge des Bundes für kanto- nale Universitäten und Fachhochschulen innerhalb einer vierjährigen Periode nach bisherigem Recht, so beantragt der Bundesrat gleichzeitig mit dem erstmals auf der Grundlage dieses Gesetzes beantragten Zahlungsrahmen für die Grundbeiträge die Anpassung der Beitragssätze nach Artikel 50. 2 Der Bundesrat legt die vierjährige Beitragsperiode und die Kriterien der Erheb- lichkeit nach Absatz 1 fest. 3 Er hört vorgängig die Plenarversammlung an. 14 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 30. Sept. 2016, in Kraft seit 1. Febr. 2017 (AS 2017 159; BBl 2016 3089). Hochschulförderungs- und -koordinationsgesetz 25 414.20 Art. 73 Zulassung zu Fachhochschulen 1 Bis zur Festlegung durch den Hochschulrat gelten für die Zulassung zu Fachhoch- schulen die Bestimmungen nach den Absätzen 2–4. 2 Die prüfungsfreie Zulassung zum Fachhochschulstudium auf der Bachelorstufe in den Bereichen Technik und Informationstechnologie, Architektur, Bau- und Pla- nungswesen, Chemie und Life Sciences, Land- und Forstwirtschaft, Wirtschaft und Dienstleistungen sowie Design setzt voraus: a. eine Berufsmaturität in Verbindung mit einer beruflichen Grundbildung in einem der Studienrichtung verwandten Beruf; b. eine eidgenössische oder eidgenössisch anerkannte Maturität und eine min- destens einjährige Arbeitswelterfahrung, die berufspraktische und berufs- theoretische Kenntnisse in einem der Studienrichtung verwandten Beruf vermittelt hat. 3 Für die Zulassung zum Fachhochschulstudium auf der Bachelorstufe in den Berei- chen Gesundheit, soziale Arbeit, Musik, Theater und andere Künste, angewandte Psychologie sowie angewandte Linguistik gelten die folgenden am 31. August 200415 massgeblichen Beschlüsse: a. Beschluss der Plenarversammlung der Schweizerischen Konferenz der kan- tonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren über den Fachhochschul- bereich Gesundheit; b. Beschluss der Plenarversammlung der Erziehungsdirektorenkonferenz über den Fachhochschulbereich soziale Arbeit; c. Beschlüsse der Plenarversammlung der Erziehungsdirektorenkonferenz über die Musikhochschulen, die Hochschulen für Theater, die Hochschulen für Gestaltung und Kunst, den Fachhochschulbereich angewandte Psychologie und den Fachhochschulbereich angewandte Linguistik. 4 Das zuständige Departement bestimmt: a. welche zusätzlichen Zulassungsvoraussetzungen vorgesehen werden dürfen; b. welche Zulassungsvoraussetzungen für Absolventinnen und Absolventen anderer Ausbildungsgänge gelten; c. die Lernziele der einjährigen Arbeitswelterfahrung in den einzelnen Fach- bereichen. Art. 74 Kohäsionsbeiträge 1 In den ersten Jahren nach Inkrafttreten dieses Gesetzes können durchschnittlich 6 Prozent der Mittel, die für die Ausrichtung der Grundbeiträge zur Verfügung stehen, eingesetzt werden, um diejenigen Hochschulen zu unterstützen, deren 15 Nicht in der AS veröffentlicht. Der Text dieser Beschlüsse kann beim Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI), Einsteinstrasse 2, 3003 Bern, bezogen und unter www.sbfi.admin.ch eingesehen werden. Hochschule 26 414.20 Grundbeiträge durch die Änderung der Berechnungsmethode bei der Finanzierung um mehr als 5 Prozent sinken. 2 Die Ausrichtung von Kohäsionsbeiträgen ist degressiv auszugestalten und spätes- tens acht Jahre nach Inkrafttreten dieses Gesetzes einzustellen. Art. 75 Beitragsberechtigung und Akkreditierung 1 Die Hochschulen und die anderen Institutionen des Hochschulbereichs müssen sich bis spätestens acht Jahre nach Inkrafttreten dieses Gesetzes institutionell akkreditie- ren lassen. 1bis Das Gesuch um Beitragsberechtigung ist innerhalb eines Monats nach der insti- tutionellen Akkreditierung beim Bundesrat einzureichen.16 2 Die Beitragsberechtigungen aufgrund des Universitätsförderungsgesetzes vom 8. Oktober 199917 sowie des Fachhochschulgesetzes vom 6. Oktober 199518 bleiben bis zur Entscheidung des Bundesrates über die Beitragsberechtigung nach diesem Gesetz bestehen.19 Die pädagogischen Hochschulen sowie die ETH und die anderen eidgenössischen Institutionen des Hochschulbereichs gelten bis zur Entscheidung des Schweizerischen Akkreditierungsrates über die institutionelle Akkreditierung, längstens jedoch bis acht Jahre nach Inkrafttreten dieses Gesetzes, bezüglich projekt- gebundenen Beiträgen als beitragsberechtigt. 3 Die Hochschulen und die anderen Institutionen des Hochschulbereichs, die nach dem 1. Januar 2011 nach bisherigem Recht akkreditiert worden sind, gelten bis acht Jahre nach Inkrafttreten dieses Gesetzes als institutionell akkreditiert. Art. 76 Bezeichnungsrecht und Sanktionen Für die Hochschulen und die anderen Institutionen des Hochschulbereichs, die nicht nach diesem Gesetz institutionell akkreditiert werden oder gemäss Artikel 75 Ab- satz 3 als institutionell akkreditiert gelten, richten sich das Bezeichnungsrecht und die entsprechenden straf- und verwaltungsrechtlichen Sanktionen bis acht Jahre nach Inkrafttreten dieses Gesetzes nach bisherigem Recht. Art. 77 Hängige Gesuche 1 Gesuche, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Gesetzes hängig sind, werden nach neuem Recht beurteilt. 2 Der Bundesrat kann in begründeten Fällen Ausnahmen vorsehen. 16 Eingefügt durch Ziff. I des BG vom 30. Sept. 2016, in Kraft seit 1. Febr. 2017 (AS 2017 159; BBl 2016 3089). 17 [AS 2000 948, 2003 187 Anhang Ziff. II 3, 2004 2013, 2007 5779 Ziff. II 5, 2008 307 3437 Ziff. II 18, 2012 3655 Ziff. I 10] 18 [AS 1996 2588, 2002 953, 2005 4635, 2006 2197 Anhang Ziff. 37, 2012 3655 Ziff. I 11] 19 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 30. Sept. 2016, in Kraft seit 1. Febr. 2017 (AS 2017 159; BBl 2016 3089). Hochschulförderungs- und -koordinationsgesetz 27 414.20 Art. 78 Schutz erworbener Titel im Fachhochschulbereich 1 Die Titel für eidgenössisch anerkannte Fachhochschul-, Bachelor-, Master- oder Weiterbildungsmasterdiplome nach bisherigem Recht bleiben geschützt. 2 Der Bundesrat regelt das Verfahren zur Überführung anerkannter höherer Fach- schulen in Fachhochschulen und die Titelführung der bisherigen Absolventinnen und Absolventen.20 3 Das zuständige Bundesamt sorgt für die notwendigen Umwandlungen von nach bisherigem Recht verliehenen Titeln. Es kann Dritte mit dieser Aufgabe beauftragen. Diese können für ihre Leistungen Gebühren erheben.21 Art. 79 Vorläufige Regelungen der Kantone im Fachhochschulbereich Die Kantonsregierungen können die Anpassungen ihrer Fachhochschulgesetzgebun- gen während fünf Jahren ab Inkrafttreten dieses Gesetzes auf dem Verordnungsweg erlassen, soweit dies unerlässlich ist. Art. 80 Weitergeltung von Bestimmungen des Universitätsförderungsgesetzes und des Fachhochschulgesetzes Der Bundesrat kann bei einer Inkraftsetzung nach Artikel 81 Absatz 3 vorsehen, dass die folgenden Bestimmungen für längstens fünf Jahre anwendbar bleiben: a. Universitätsförderungsgesetz vom 8. Oktober 199922: die Bestimmungen über die Bundesbeiträge (Art. 13–21) sowie Artikel 23; b. Fachhochschulgesetz vom 6. Oktober 199523: die Bestimmungen über die Bundesbeiträge (Art. 18–21) sowie Artikel 23. 4. Abschnitt: Referendum und Inkrafttreten Art. 81 1 Dieses Gesetz untersteht dem fakultativen Referendum. 2 Der Bundesrat bestimmt das Inkrafttreten. 3 Er setzt die Bestimmungen über die gesamtschweizerische hochschulpolitische Koordination und Aufgabenteilung (6. Kap.; Art. 36–40), über die Finanzierung (7. Kap.; Art. 41–44) und die Bundesbeiträge (8. Kap.; Art. 45–61) spätestens fünf Jahre nach Inkrafttreten der übrigen Bestimmungen in Kraft. 20 Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 30. Sept. 2016, in Kraft seit 1. Febr. 2017 (AS 2017 159; BBl 2016 3089). 21 Eingefügt durch Ziff. I des BG vom 30. Sept. 2016, in Kraft seit 1. Febr. 2017 (AS 2017 159; BBl 2016 3089). 22 AS 2000 948, 2003 187 Anhang Ziff. II 3, 2007 5779, 2012 3655 23 AS 1996 2588, 2005 4635 Hochschule 28 414.20 Datum des Inkrafttretens:24 Die Artikel 1–35, 45, 46 und 62–81 am 1. Januar 2015; die Artikel 36–44 und 47–49, 51–61 am 1. Januar 2017; Artikel 50 am 1. Januar 202025. 24 BRB vom 12. Nov. 2014 25 BRB vom 23. Nov. 2016 (AS 2016 4855). Hochschulförderungs- und -koordinationsgesetz 29 414.20 Anhang (Art. 71) Aufhebung und Änderung bisherigen Rechts I Die nachstehenden Bundesgesetze werden aufgehoben: 1. Universitätsförderungsgesetz vom 8. Oktober 199926; 2. Fachhochschulgesetz vom 6. Oktober 199527. II Die nachstehenden Bundesgesetze werden wie folgt geändert: …28 26 [AS 2000 948, 2003 187 Anhang Ziff. II 3, 2004 2013, 2007 5779 Ziff. II 5, 2008 307 3437 Ziff. II 18, 2012 3655 Ziff. I 10] 27 [AS 1996 2588, 2002 953, 2005 4635, 2006 2197 Anhang Ziff. 37, 2012 3655 Ziff. I 11] 28 Die Änderungen können unter AS 2014 4103 konsultiert werden. Hochschule 30 414.20 1. Kapitel: Allgemeine Bestimmungen Art. 1 Zweck und Gegenstand Art. 2 Geltungsbereich Art. 3 Ziele Art. 4 Aufgaben und Kompetenzen des Bundes im Hochschulbereich Art. 5 Grundsätze der Aufgabenerfüllung 2. Kapitel: Zusammenarbeitsvereinbarung Art. 6 3. Kapitel: Gemeinsame Organe 1. Abschnitt: Allgemeine Bestimmungen Art. 7 Die Organe Art. 8 Anwendbares Recht Art. 9 Kostentragung 2. Abschnitt: Schweizerische Hochschulkonferenz Art. 10 Stellung und Funktion Art. 11 Plenarversammlung Art. 12 Hochschulrat Art. 13 Teilnahme mit beratender Stimme Art. 14 Präsidium und Geschäftsführung Art. 15 Ausschüsse Art. 16 Entscheidverfahren in der Plenarversammlung Art. 17 Entscheidverfahren im Hochschulrat Art. 18 Einbezug der Bundesversammlung 3. Abschnitt: Rektorenkonferenz der schweizerischen Hochschulen Art. 19 Zusammensetzung und Organisation Art. 20 Aufgaben und Zuständigkeiten 4. Abschnitt: Schweizerischer Akkreditierungsrat und Schweizerische Agentur für Akkreditierung und Qualitätssicherung Art. 21 Schweizerischer Akkreditierungsrat Art. 22 Schweizerische Akkreditierungsagentur 4. Kapitel: Zulassung zu Hochschulen und Studiengestaltung an Fachhochschulen Art. 23 Zulassung zu den universitären Hochschulen Art. 24 Zulassung zu den pädagogischen Hochschulen Art. 25 Zulassung zu den Fachhochschulen Art. 26 Studiengestaltung an den Fachhochschulen 5. Kapitel: Qualitätssicherung und Akkreditierung Art. 27 Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung Art. 28 Institutionelle Akkreditierung und Programmakkreditierung Art. 29 Bezeichnungsrecht Art. 30 Voraussetzungen für die institutionelle Akkreditierung Art. 31 Voraussetzungen für die Programmakkreditierung Art. 32 Akkreditierungsverfahren Art. 33 Entscheid Art. 34 Dauer der Akkreditierung Art. 35 Gebühren 6. Kapitel: Gesamtschweizerische hochschulpolitische Koordination und Aufgabenteilung Art. 36 Grundsätze Art. 37 Auf der Ebene der einzelnen Hochschulen Art. 38 Auf der Ebene der Rektorenkonferenz der schweizerischen Hochschulen Art. 39 Auf der Ebene der Schweizerischen Hochschulkonferenz Art. 40 Aufgabenteilung in besonders kostenintensiven Bereichen 7. Kapitel: Finanzierung 1. Abschnitt: Grundsätze Art. 41 2. Abschnitt: Ermittlung des Bedarfs an öffentlichen Finanzmitteln Art. 42 Vorgehen Art. 43 Finanzielle Rahmenbedingungen Art. 44 Referenzkosten 8. Kapitel: Bundesbeiträge 1. Abschnitt: Beitragsberechtigung Art. 45 Voraussetzungen Art. 46 Entscheid 2. Abschnitt: Beitragsarten und Finanzierung Art. 47 Beitragsarten Art. 48 Kreditbewilligung 3. Abschnitt: Grundbeiträge Art. 49 Verwendungszweck Art. 50 Beitragssätze Art. 51 Bemessungsgrundsätze Art. 52 Entscheid Art. 53 Feste Beiträge an Hochschulinstitutionen 4. Abschnitt: Bauinvestitions- und Baunutzungsbeiträge Art. 54 Verwendungszweck und Ausnahmen Art. 55 Voraussetzungen Art. 56 Höchstbeitragssatz Art. 57 Berechnung Art. 58 Entscheid 5. Abschnitt: Projektgebundene Beiträge Art. 59 Verwendungszweck und Voraussetzungen Art. 60 Bemessungsgrundlagen und Befristung Art. 61 Entscheid und Leistungsvereinbarung 9. Kapitel: Bezeichnungs- und Titelschutz, Sanktionen und Rechtsschutz Art. 62 Bezeichnungs- und Titelschutz Art. 63 Strafbestimmungen Art. 64 Verwaltungsmassnahmen Art. 65 Rechtsschutz 10. Kapitel: Kompetenz des Bundesrates zum Abschluss internationaler Verträge Art. 66 11. Kapitel: Schlussbestimmungen 1. Abschnitt: Vollzug Art. 67 Ausführungsbestimmungen Art. 68 Allgemeinverbindlicherklärung von Hochschulkonkordaten Art. 69 Evaluation Art. 70 Anerkennung ausländischer Abschlüsse 2. Abschnitt: Aufhebung und Änderung bisherigen Rechts Art. 71 3. Abschnitt: Übergangsbestimmungen Art. 72 Anpassung der Beitragssätze Art. 73 Zulassung zu Fachhochschulen Art. 74 Kohäsionsbeiträge Art. 75 Beitragsberechtigung und Akkreditierung Art. 76 Bezeichnungsrecht und Sanktionen Art. 77 Hängige Gesuche Art. 78 Schutz erworbener Titel im Fachhochschulbereich Art. 79 Vorläufige Regelungen der Kantone im Fachhochschulbereich Art. 80 Weitergeltung von Bestimmungen des Universitätsförderungsgesetzes und des Fachhochschulgesetzes 4. Abschnitt: Referendum und Inkrafttreten Art. 81 Anhang Aufhebung und Änderung bisherigen Rechts | de |
501f539c-1cbb-4a12-a7c0-94066921f85c | SR 414.205 1 Vereinbarung zwischen dem Bund und den Kantonen über die Zusammenarbeit im Hochschulbereich (ZSAV-HS) vom 26. Februar 2015 (Stand am 3. März 2015) genehmigt durch den Bundesrat am 12. November 20141 Der Schweizerische Bundesrat, gestützt auf Artikel 6 Absatz 6 des Hochschulförderungs- und -koordinationsgesetzes vom 30. September 20112 (HFKG), und die Regierungen der Hochschulkonkordatskantone, gestützt auf Artikel 4 Absatz 1 der Interkantonalen Vereinbarung vom 20. Juni 2013 über den schweizerischen Hochschulbereich (Hochschulkonkordat), vereinbaren: Art. 1 Gemeinsame Ziele Der Bund und die Hochschulkonkordatskantone verfolgen und konkretisieren im Rahmen der Zusammenarbeit im schweizerischen Hochschulbereich die in Artikel 3 HFKG definierten Ziele. Art. 2 Schaffung der gemeinsamen Organe und Übertragung der Zuständigkeiten 1 Der Bund und die Hochschulkonkordatskantone schaffen mit dieser Vereinbarung die gemeinsamen Organe des schweizerischen Hochschulbereichs gemäss Artikel 7 HFKG. 2 Sie übertragen diesen Organen die folgenden Zuständigkeiten, deren Übertragung durch diese Vereinbarung im HFKG vorgesehenen ist (Art. 6 Abs. 3 HFKG) oder die sie ihnen gestützt auf Artikel 6 Absatz 4 Buchstabe b HFKG übertragen können: a. der Schweizerischen Hochschulkonferenz als Plenarversammlung: 1. die Zuständigkeiten nach den Artikeln 9 Absatz 3, 11 Absatz 2 Buch- staben a–c, 43, 44 Absatz 4, 46 Absatz 2 und 51 Absätze 5 Buchstabe a und 8 HFKG, 2. im Weiteren die Zuständigkeit: AS 2014 4149 1 Berichtigung vom 3. März 2015 (AS 2015 715). 2 SR 414.20 414.205 Hochschule 2 414.205 – für Stellungnahmen zur Errichtung neuer Hochschulen und ande- rer Institutionen des Hochschulbereichs des Bundes und der Kan- tone, – für die Wahl der Vizepräsidentinnen oder Vizepräsidenten der Schweizerischen Hochschulkonferenz, – für die Verabschiedung des Budgets und für die Genehmigung der Jahresrechnung der Schweizerischen Hochschulkonferenz; b. der Schweizerischen Hochschulkonferenz als Hochschulrat: 1. die Zuständigkeiten nach den Artikeln 4 Absatz 4, 8 Absatz 1, 10 Ab- satz 4, 12 Absatz 3 Buchstaben a–h, 19 Absatz 2, 21 Absätze 2, 5 und 8, 23 Absatz 2, 24 Absätze 2 und 3, 25 Absatz 2, 30 Absatz 2, 35 Ab- satz 2, 39, 40 Absatz 1, 53 Absatz 3, 57 Absatz 1, 61 Absatz 1, 66 Ab- satz 3 und 69 Absatz 2 HFKG, 2. im Weiteren die Zuständigkeit: – für die Verabschiedung der Budgets und für die Genehmigung der Jahresrechnungen der Rektorenkonferenz der schweizerischen Hochschulen, des Schweizerischen Akkreditierungsrats und der Schweizerischen Akkreditierungsagentur, – für Stellungnahmen gemäss dem Forschungs- und Innovationsför- derungsgesetz vom 14. Dezember 20123 und gemäss dem Medizi- nalberufegesetz vom 23. Juni 20064, – für weitere Wahlen in verschiedene Gremien, soweit dies vom HFKG nicht bereits vorgesehen ist; c. der Rektorenkonferenz der schweizerischen Hochschulen: 1. die Zuständigkeiten nach den Artikeln 19 Absätze 2 und 3, 37 Absatz 2, 38, 43 und 66 Absatz 3 HFKG, 2. die Zuständigkeit für die Unterstützung der Kooperation und Koordina- tion unter den Hochschulen, 3. die Zuständigkeit für die Vertretung der Hochschulen in der Schweize- rischen Hochschulkonferenz; d. dem Schweizerischen Akkreditierungsrat: 1. die Zuständigkeiten nach den Artikeln 12 Absatz 3 Buchstabe a Zif- fer 2, 21 Absätze 3 und 5–8, 33 und 35 Absatz 2 HFKG, 2. die Zuständigkeit, die Direktorin oder den Direktor der Schweizeri- schen Akkreditierungsagentur sowie die Stellvertreterin oder den Stell- vertreter zu ernennen. 3 SR 420.1 4 SR 811.11 Vereinb. zwischen dem Bund und den Kantonen über die Zusammenarbeit im Hochschulbereich 3 414.205 Art. 3 Personalrechtliche Bestimmungen zur Umsetzung von Artikel 8 Absatz 1 HFKG 1 Die Schweizerische Hochschulkonferenz als Hochschulrat ist Arbeitgeberin für das Personal der Rektorenkonferenz, des Schweizerischen Akkreditierungsrats sowie der Schweizerischen Akkreditierungsagentur. 2 Sie erlässt ein Personalreglement. 3 Sie kann im Personalreglement der Rektorenkonferenz der schweizerischen Hoch- schulen und dem Schweizerischen Akkreditierungsrat Arbeitgeberentscheide dele- gieren und die Regelung von Einzelheiten zum Personalreglement übertragen. 4 Sie betreibt ein eigenes Personalinformationssystem. 5 Sie versichert das Personal gegen die wirtschaftlichen Folgen von Alter, Invalidität und Tod bei der Pensionskasse des Bundes (PUBLICA) im Vorsorgewerk «Ange- schlossene Organisationen». 6 Sie übernimmt als zuständige Arbeitgeberin die Rentenbeziehenden, die im Vor- sorgewerk «Angeschlossene Organisationen» vorher der Rektorenkonferenz der Schweizer Universitäten, der Rektorenkonferenz der Fachhochschulen der Schweiz, der Schweizerischen Konferenz der Rektorinnen und Rektoren der Pädagogischen Hochschulen, der Schweizerischen Universitätskonferenz oder dem Organ für Ak- kreditierung und Qualitätssicherung der Schweizerischen Hochschulen zugewiesen waren. Art. 4 Zusammenarbeit in der Geschäftsführung 1 Der Bund arbeitet bei der Führung der Geschäfte der Schweizerischen Hochschul- konferenz mit den Kantonen zusammen. 2 Die zuständige Bundesstelle arbeitet bei der Vorbereitung der Geschäfte des Hoch- schulrats mit den zuständigen Amtschefinnen und Amtschefs der im Hochschulrat vertretenen Kantone und einer Vertretung des Generalsekretariats der Schweizeri- schen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren zusammen. Art. 5 Vereinfachtes Entscheidverfahren in der Schweizerischen Hochschulkonferenz Die Entscheidverfahren der Plenarversammlung und des Hochschulrats für Wahlen, Verfahrensbeschlüsse und Stellungnahmen werden in Anwendung der Artikel 16 Absatz 3 und 17 Absatz 3 HFKG wie folgt festgelegt: a. Für Wahlen, Verfahrensbeschlüsse und Stellungnahmen in der Plenarver- sammlung gilt das einfache Mehr der Stimmen der anwesenden Mitglieder. b. Für Verfahrensbeschlüsse und Stellungnahmen im Hochschulrat gilt das ein- fache Mehr der Stimmen der anwesenden Mitglieder. c. Zirkularbeschlüsse sind in der Plenarversammlung und im Hochschulrat ausnahmsweise zulässig, sofern: Hochschule 4 414.205 1. Dringlichkeit besteht, und 2. kein Mitglied des betreffenden Organs die Behandlung des Geschäfts an einer Sitzung verlangt. Art. 6 Aufgaben und Befugnisse der Rektorenkonferenz der schweizerischen Hochschulen 1 Die Rektorenkonferenz der schweizerischen Hochschulen wirkt bei der Vorberei- tung der Geschäfte der Schweizerischen Hochschulkonferenz mit. 2 Sie hat gegenüber der Schweizerischen Hochschulkonferenz ein Antragsrecht. 3 Sie setzt sich für die Umsetzung der Beschlüsse in den Hochschulen ein. 4 Sie hört die gesamtschweizerischen Organisationen der Hochschulangehörigen, insbesondere der Studierenden, an und lädt sie zur Mitwirkung in Kommissionen und Arbeitsgruppen ein. 5 Sie lädt für Fragen von gemeinsamem Interesse die Präsidentinnen oder Präsiden- ten folgender Gremien mit beratender Stimme zu den Sitzungen ein: a. Nationaler Forschungsrat; b. Kommission für Technologie und Innovation; c. Schweizerischer Wissenschaftsrat5. 6 Sie führt eine Informationsstelle für die Anerkennung der Gleichwertigkeit inländi- scher und ausländischer Studienausweise; vorbehalten bleibt die Zuständigkeit des für den Hochschulbereich zuständigen Bundesamtes. Art. 7 Aufgaben und Befugnisse der Schweizerischen Akkreditierungsagentur 1 Die Schweizerische Agentur für Akkreditierung und Qualitätssicherung (Schwei- zerische Akkreditierungsagentur) erfüllt die Aufgaben gemäss den Artikeln 21 Absatz 8, 32, 33 und 35 Absatz 1 HFKG. 2 Sie kann im Rahmen ihrer Kapazitäten auch Aufträge Dritter im Bereich der Ak- kreditierung und Qualitätssicherung erfüllen. Art. 8 Tragung der Kosten der Rektorenkonferenz der schweizerischen Hochschulen, des Schweizerischen Akkreditierungsrats und der Schweizerischen Akkreditierungsagentur; Revision 1 Der Bund sowie die Kantone nach Massgabe des Hochschulkonkordats beteiligen sich je zur Hälfte an den Kosten: a. der Rektorenkonferenz der schweizerischen Hochschulen, soweit sich diese Kosten aus der Erfüllung der Aufgaben gemäss HFKG ergeben; 5 Die Bezeichnung des Rates wurde in Anwendung von Art. 20 Abs. 2 der Publikations- verordnung vom 7. Okt. 2015 (SR 170.512.1) auf den 1. Jan. 2018 angepasst. Vereinb. zwischen dem Bund und den Kantonen über die Zusammenarbeit im Hochschulbereich 5 414.205 b. des Schweizerischen Akkreditierungsrats und der Schweizerischen Akkredi- tierungsagentur, soweit diese Kosten sich aus der Erfüllung der Aufgaben gemäss HFKG ergeben und nicht durch Gebühren gemäss Artikel 35 Ab- satz 1 HFKG gedeckt sind. 2 Die Plenarversammlung legt die Einzelheiten, insbesondere die anrechenbaren Kosten, fest. 3 Die Eidgenössische Finanzkontrolle unterzieht die Rechnungen der gemeinsamen Organe und der Schweizerischen Akkreditierungsagentur einer eingeschränkten Revision. Im Rahmen ihrer Revisionen überprüft sie die Kostentragung zwischen Bund und Kantonen. Art. 9 Abschluss internationaler Verträge 1 Der Bund informiert den Hochschulrat und die Rektorenkonferenz der schweizeri- schen Hochschulen rechtzeitig und umfassend über Vorhaben, die zum Abschluss internationaler Verträge nach Artikel 66 HFKG führen können. 2 Bevor der Bund Verhandlungen aufnimmt, hört er den Hochschulrat und die Rek- torenkonferenz der schweizerischen Hochschulen an. Die Anhörung ergänzt das Vernehmlassungsverfahren zu völkerrechtlichen Verträgen. 3 Der Bund zieht für die Vorbereitung der Verhandlungsmandate und in der Regel auch für die Verhandlungen Vertreterinnen und Vertreter des Hochschulrats sowie der Rektorenkonferenz der schweizerischen Hochschulen bei. Art. 10 Rechtsgültigkeit und Inkrafttreten 1 Diese Vereinbarung wird rechtsgültig, wenn der Bund und die Konferenz der Vereinbarungskantone des Hochschulkonkordats sie unterzeichnet haben. 2 Der Bundesrat bestimmt im Einvernehmen mit der Konferenz der Vereinbarungs- kantone des Hochschulkonkordats das Inkrafttreten; er kann die Vereinbarung rückwirkend in Kraft setzen. Art. 11 Kündigung Die vorliegende Vereinbarung kann vom Bund und von der Konferenz der Verein- barungskantone des Hochschulkonkordats unter Beachtung einer Kündigungsfrist von vier Jahren auf Ende eines Kalenderjahres gekündigt werden. Art. 12 Aufhebung anderer Erlasse Die folgenden Erlasse werden aufgehoben: 1. Vereinbarung vom 14. Dezember 20006 zwischen dem Bund und den Uni- versitätskantonen über die Zusammenarbeit im universitären Hochschulbe- reich; 6 [AS 2001 67] Hochschule 6 414.205 2. Richtlinien der Schweizerischen Universitätskonferenz vom 7. Dezember 20067 für die Qualitätssicherung an den schweizerischen universitären Hochschulen; 3. Richtlinien der Schweizerischen Universitätskonferenz vom 28. Juni 20078 für die Akkreditierung im universitären Hochschulbereich; 4. Vereinbarung vom 23. Mai 20079 zwischen dem WBF und der EDK über die Übertragung der Prüfung und Akkreditierung von Fachhochschulen und ihren Studiengängen auf Dritte. Datum des Inkrafttretens: 1. Januar 201510 7 [AS 2007 727] 8 [AS 2007 4011] 9 [AS 2007 2411] 10 BRB vom 12. Nov. 2014 | de |
6df02d81-ae41-464a-8560-d62815dfdffe | Sachverhalt
ab Seite 66
BGE 132 II 65 S. 66
Die ukrainische Staatsangehörige X. (geb. 1970) heiratete 1996 einen in der Schweiz lebenden Türken. Aus dieser Ehe ging der Sohn Y. (geb. 2000) hervor, welcher in die Niederlassungsbewilligung des Vaters für den Kanton St. Gallen einbezogen wurde und die Staatsangehörigkeit der Mutter erhielt. X. ist seit Mai 2003 ebenfalls im Besitz der Niederlassungsbewilligung für den Kanton St. Gallen. Wegen ehelicher Probleme begab sich X. im Sommer 2003 in ein Frauenhaus im Kanton Zürich. Anfang 2004 wurde der Sohn Y. eheschutzrichterlich unter ihre Obhut gestellt.
Die Direktion für Soziales und Sicherheit des Kantons Zürich lehnte es in der Folge jedoch ab, X. und Y. eine Niederlassungsbewilligung für den Kanton Zürich zu erteilen, und forderte sie auf, das Kantonsgebiet zu verlassen. Den hiergegen gerichteten Rekurs wies der Regierungsrat des Kantons Zürich am 8. September 2004 ab. Auf die dagegen erhobene Beschwerde trat das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich mit Beschluss vom 11. Mai 2005 nicht ein.
X. und Y. haben am 17. Juni 2005 beim Bundesgericht Verwaltungsgerichtsbeschwerde eingereicht. Sie beantragen, den Entscheid
BGE 132 II 65 S. 67
des Verwaltungsgerichts aufzuheben und den Kantonswechsel zu bewilligen.
Das Bundesgericht tritt auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde nicht ein. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Die beim Bundesgericht eingereichte Rechtsschrift richtet sich gegen den Entscheid einer nach
Art. 98a OG
zuständigen kantonalen Gerichtsinstanz, welche aufgrund einer Art. 100 Abs. 1 lit. b Ziff. 3 OG entsprechenden kantonalen Zugangsregelung auf das bei ihr erhobene Rechtsmittel nicht eingetreten ist, da sie einen Rechtsanspruch auf die streitige fremdenpolizeiliche Bewilligung verneint hat. Soweit die Beschwerdeführer geltend machen, es bestehe ein Rechtsanspruch auf den Kantonswechsel bzw. auf die anbegehrte Niederlassungsbewilligung für den Kanton Zürich, weswegen das Verwaltungsgericht zu Unrecht auf das (anspruchsabhängige) kantonale Rechtsmittel nicht eingetreten sei, ist ihre Eingabe als Verwaltungsgerichtsbeschwerde zu behandeln (
BGE 127 II 161
E. 3a S. 167). Da die Zulässigkeit dieses Rechtsmittels gemäss Art. 100 Abs. 1 lit. b Ziff. 3 OG vom grundsätzlichen Vorhandensein eines Rechtsanspruches abhängt (
BGE 127 II 60
E. 1a S. 62 f.,
BGE 127 II 161
E. 1a S. 164, je mit Hinweisen), ist diese Frage im Rahmen der Eintretenserwägungen zu prüfen (
BGE 127 II 161
E. 1b S. 165; Urteil 2A.471/2001 vom 29. Januar 2002, E. 2 Ingress).
2.
2.1
Die unbefristete Niederlassungsbewilligung (Art. 6 des Bundesgesetzes vom 26. März 1931 über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer [ANAG; SR 142.20]) gilt wie die Aufenthaltsbewilligung nur für den Kanton, der sie ausgestellt hat (
Art. 8 Abs. 1 ANAG
). Will ein Ausländer mit Niederlassungsbewilligung den Kanton wechseln, benötigt er dazu eine neue Bewilligung, deren Erteilung grundsätzlich im freien Ermessen (
Art. 4 ANAG
) der Behörde des Kantons steht, in den er neu zuziehen will (
Art. 8 Abs. 1 und 3 ANAG
in Verbindung mit
Art. 14 Abs. 3 der Vollziehungsverordnung vom 1. März 1949 zum Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer [ANAV; SR 142.201]
). Einen Anspruch auf Kantonswechsel verschafft die Niederlassungsbewilligung als solche nicht (
BGE 127 II 177
E. 2a S. 179 f.;
BGE 123 II 145
E. 2a S. 149;
BGE 116 Ib 1
E. 1c S. 4).
BGE 132 II 65 S. 68
Allerdings kann sich ein Anspruch auf Kantonswechsel ergeben, wenn der Ausländer aus einem Land stammt, mit dem die Schweiz einen Niederlassungsvertrag abgeschlossen hat. Gemäss
Art. 14 Abs. 4 ANAV
kann bei einem Kantonswechsel die Bewilligung im neuen Kanton dem niedergelassenen Ausländer, der heimatliche Ausweispapiere eines Staates besitzt, mit dem ein Niederlassungsvertrag besteht, nur verweigert werden, wenn ein Widerrufs- oder Erlöschensgrund gemäss
Art. 9 Abs. 3 und 4 ANAG
besteht (
BGE 127 II 177
E. 2b S. 180;
BGE 123 II 145
E. 2b S. 149).
2.2
Die Beschwerdeführer berufen sich auf einen zwischen Russland und der Schweiz am 26./14. Dezember 1872 abgeschlossenen Niederlassungs- und Handelsvertrag (abgedruckt in AS XI [1872-1874] 376 und BBl 1873 III 91; im Folgenden: Niederlassungsvertrag). Dieser enthält in seinem Art. 1 folgende Regelung:
"(1) Zwischen der schweizerischen Eidgenossenschaft und dem russischen Kaiserreich soll gegenseitige Niederlassungs- und Handelsfreiheit bestehen. Die Schweizerbürger dürfen auf dem Gebiete des russischen Kaiserreichs unter den nämlichen Bedingungen und auf dem nämlichen Fusse sich aufhalten, wie die russischen Staatsangehörigen; ebenso dürfen die Unterthanen Seiner Majestät des Kaisers aller Reussen sich in jedem schweizerischen Kanton unter den nämlichen Bedingungen und auf dem nämlichen Fusse aufhalten wie die Bürger der andern schweizerischen Kantone.
(2) Infolge dessen können die Bürger und die Unterthanen jedes der beiden kontrahirenden Staaten, sowie ihre Familien, wenn sie den Gesezen des Landes nachkommen, in jedem Theile des Staatsgebietes des Andern frei eintreten, sich aufhalten, wohnen und sich niederlassen. (...)
(3) Dabei bleibt indessen verstanden, dass die vorstehenden Bestimmungen den in jedem der beiden Staaten bestehenden besondern Gesezen, Verfügungen und Reglementen über Handel, Industrie und Polizei, die auf alle Fremden überhaupt ihre Anwendung finden, keinen Eintrag thun."
Die obigen Grundsätze entsprechen denjenigen, welche die Schweiz damals in gleichartigen Verträgen mit anderen europäischen Staaten vereinbarte (vgl. Botschaft vom 10. Juli 1873 zum erwähnten Vertrag, in: BBl 1873 III 89).
2.3
Seit dem Ersten Weltkrieg werden diese Vertragsbestimmungen grundsätzlich, und meist ohne dass dies in zusätzlichen Abkommen festgelegt wurde, in stillschweigendem gegenseitigen Einverständnis restriktiv ausgelegt. Sie werden nur noch auf diejenigen
BGE 132 II 65 S. 69
Staatsangehörigen der Vertragspartner angewandt, die eine Niederlassungsbewilligung besitzen, was hier der Fall ist. Für alle anderen ausländischen Staatsangehörigen gelten die alten Staatsverträge nur unter dem Vorbehalt entgegenstehenden Landesrechts (
BGE 119 IV 65
E. 1 S. 67 ff.;
BGE 111 Ib 169
E. 2 S. 171 f.;
BGE 110 Ib 63
E. 2a S. 66;
BGE 108 Ib 125
E. 2b S. 128;
BGE 106 Ib 125
E. 2b S. 128, mit Hinweisen; vgl. auch WALTER A. STOFFEL, Die völkervertraglichen Gleichbehandlungsverpflichtungen der Schweiz gegenüber den Ausländern, Diss. Freiburg 1978/1979, S. 122 ff. und 253 ff.; HELEN KELLER, Rezeption des Völkerrechts, Berlin etc. 2003, S. 671 f.; BBl 1
BGE 924 II 495
ff.; Postulat Stähelin vom 27. September 2004, Ziff. 04.3464, und Antwort des Bundesrates vom 17. November 2004, in: AB 2004 S 879 sowie Beilagen der Wintersession 2004 S. 42 f.). Trotz eingeschränkter Tragweite könnten die Beschwerdeführer, die bereits über eine Niederlassungsbewilligung für den Kanton St. Gallen verfügen, demnach einen Anspruch auf Kantonswechsel aus diesem Abkommen ableiten.
3.
3.1
Das Verwaltungsgericht geht indessen sinngemäss davon aus, dass der Niederlassungsvertrag aktuell in Bezug auf die Ukraine und ihre Staatsangehörigen keine Anwendung finde. Daher gelangt es zum Schluss, dass die Beschwerdeführer keine Anspruchsbasis für einen Kantonswechsel haben. Zu prüfen ist somit, ob der Vertrag heute - entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts - für das Begehren der Beschwerdeführer noch Geltung beanspruchen kann.
3.2
Das Verwaltungsgericht verweist darauf, dass Weissrussland, die Ukraine und Russland zwar am 8. Dezember 1991 im Minsker Abkommen über die Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) erklärt hätten, deren Teilnehmer würden das Einhalten der internationalen Verpflichtungen gewährleisten, die für sie aus den Verträgen der früheren Sowjetunion flössen. In der Deklaration von Alma-Ata vom 21. Dezember 1991, anlässlich derer sich auch zentralasiatische Staaten der GUS anschlossen, sei diese Erklärung um den Passus "in Übereinstimmung mit ihren Verfassungsprozeduren" ergänzt worden (französische Übersetzungen der Erklärungen von Minsk und Alma-Ata in: ROMAIN YAKEMTCHOUK, L'indépendance de l'Ukraine, Studia Diplomatica Bd. 46, Brüssel 1993, S. 366 und 375 f.). Am 20. März 1992 hätten die Staatschefs der GUS (ausser jenem Turkmenistans) anerkannt, deren Mitglieder
BGE 132 II 65 S. 70
seien Rechte- und Pflichtennachfolger der ehemaligen Sowjetunion; sie hätten eine Kommission zwecks Durchführung von Verhandlungen sowie Vorbereitung von Vorschlägen eingesetzt, um Fragen der Rechtsnachfolge zu entscheiden (hierzu THEODOR SCHWEISFURTH, Vom Einheitsstaat [UdSSR] zum Staatenbund [GUS], in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Bd. 52, Heidelberg 1992, S. 673 f.). Daraus schliesst das Verwaltungsgericht unter Berufung auf zwei Bundesgerichtsentscheide (
BGE 123 II 511
E. 5d S. 518 f.; Urteil 1A.54/2000 vom 3. Mai 2000, E. 6f/bb), dass es einer speziellen Annahme der Verträge durch die Nachfolgestaaten nach Einholung der verfassungsrechtlich notwendigen Zustimmung bedürfe. Eine entsprechende Anfrage beim Bundesamt für Migration sei hierzu ergebnislos verlaufen. Daher sei davon auszugehen, dass "die Ukraine den Niederlassungsvertrag mit Russland - wenn er denn überhaupt noch besteht - nicht sonst wie ausdrücklich oder stillschweigend übernehmen" wolle.
3.3
Wie das Verwaltungsgericht zunächst richtig angenommen hat, hat der Niederlassungsvertrag nicht bereits infolge der revolutionären Wandlung des Zarenreichs zur Sowjetunion seine Gültigkeit verloren. Veränderungen in der Regierungsform und inneren Organisation eines Staates haben grundsätzlich keinen Einfluss auf seine völkerrechtlichen Rechte und Pflichten und heben die Rechte und Pflichten aus von ihm abgeschlossenen Staatsverträgen nicht auf; sie geben dem anderen Vertragsstaat allenfalls ein Recht zum Rücktritt (vgl.
BGE 49 I 188
E. 3 S. 194 f.; JÖRG PAUL MÜLLER/LUZIUS WILDHABER, Praxis des Völkerrechts, 3. Aufl., Bern 2001, S. 244 f.; MICHAEL SILAGI, Staatsuntergang und Staatennachfolge, Habilitationsschrift Göttingen 1996, S. 59; HEINZ KLARER, Die schweizerische Praxis der völkerrechtlichen Anerkennung, Diss. Zürich 1980, S. 353; IGNAZ SEIDL-HOHENVELDERN, Völkerrecht, 9. Aufl., Köln 1997, S. 142 N. 674; NGUYEN QUOC DINH/PATRICK DAILLIER/ALAIN PELLET, Droit international public, 7. Aufl., Paris 2002, S. 417 N. 273; Anmerkung von GEORGES DROZ, in: Revue critique de droit international privé 1967 S. 78).
3.4
3.4.1
Das Wiener Übereinkommen vom 23. Mai 1969 über das Recht der Verträge (SR 0.111), das für die Schweiz am 6. Juni 1990 und für die Ukraine am 13. Juni 1986 in Kraft getreten ist, lässt gemäss seinem Art. 73 Fragen unberührt, die sich hinsichtlich eines Vertrages aus der Nachfolge von Staaten ergeben können. In
BGE 132 II 65 S. 71
BGE 105 Ib 286
E. 1c S. 291 hat das Bundesgericht festgehalten, es könne nicht auf eine gewohnheitsrechtliche Regel geschlossen werden, wonach Verträge, die ein Gebietsvorgänger abgeschlossen hat, ohne weiteres im Verhältnis zwischen einem neu entstandenen Staat und der Gegenpartei des Gebietsvorgängers Gültigkeit behalten. Ein bilateraler Vertrag behalte seine Gültigkeit nur, wenn der neu entstandene Staat und die Gegenpartei übereinkommen, den Vertrag aufrechtzuerhalten; dies könne ausdrücklich oder durch konkludentes Handeln erfolgen (ebenso
BGE 111 Ib 52
E. 2a S. 53,
BGE 120 Ib 138
E. 2 S. 141;
BGE 120 Ib 120
E. 1b S. 123,
BGE 120 Ib 189
E. 2b S. 190; anders noch in
BGE 78 I 124
E. 4 S. 131). Inzwischen ist am 6. November 1996 die Wiener Konvention vom 22. August 1978 über die Staatennachfolge in Verträge in Kraft getreten. Die Ukraine gehört zu den Unterzeichnerstaaten, die Schweiz hat sich diesem Übereinkommen hingegen bislang nicht angeschlossen. Dieses Übereinkommen enthält in Art. 24 eine der zuvor zitierten Praxis des Bundesgerichts vergleichbare Regelung (vgl.
BGE 120 Ib 189
E. 2b S. 190 f.). Bei Staatennachfolge infolge der Teilung eines Staates sieht Art. 34 dieses Übereinkommens hingegen grundsätzlich ein automatisches Eintreten in die bereits bestehenden Verträge vor.
3.4.2
In Bezug auf die Ukraine hatte das Bundesgericht in einem Urteil vom 16. Januar 1996 (1A.249/1995, E. 2) ausgeführt, der um die Auslieferung ersuchende Staat (die Ukraine) habe sich nicht auf den am 17. November 1873 zwischen der Schweiz und Russland abgeschlossene Auslieferungsvertrag (SR 0.353.977.2; BS 12 S. 251) berufen. Da die Fortgeltung dieses Abkommens für das Gebiet der Ukraine bisher weder ausdrücklich noch konkludent bestätigt worden sei, sei davon auszugehen, dass das Abkommen bezüglich dieses Staates nicht mehr gelte (Urteilserwägung publiziert bei LUCIUS CAFLISCH, La pratique suisse en matière de droit international public 1996, SZIER 1997 S. 685; vgl. zu dieser Praxis im Auslieferungsrecht bei Staatennachfolge:
BGE 111 Ib 138
E. 2 S. 141;
BGE 105 Ib 286
E. 1d S. 291). Diese Rechtsprechung zum Auslieferungsrecht kann allerdings nicht vorbehaltlos auf den vorliegenden Fall übertragen werden. In Auslieferungsverfahren treten Landesbehörden beider Vertragsstaaten auf, hier hingegen nicht, so dass nur auf das Verhalten des anderen Staates ausserhalb des zu beurteilenden Verfahrens abgestellt werden kann.
3.5
Ob die in Erwägung 3.3 erwähnten Erklärungen der Ukraine für eine Nachfolge in die bilateralen Verträge mit der Schweiz
BGE 132 II 65 S. 72
genügen, was das Verwaltungsgericht verneint hat, braucht hier nicht abschliessend beurteilt zu werden (vgl. die nicht einheitliche Literatur dazu: ANDREAS ZIMMERMANN, Staatennachfolge in völkerrechtliche Verträge, Habilitationsschrift Heidelberg 1999, Berlin etc. 2000, S. 372 ff., insbes. S. 376, 378 f. und 421 f.; THEODOR SCHWEISFURTH, Vom Einheitsstaat [UdSSR] zum Staatenbund [GUS], a.a.O., S. 675;
ders
., Ausgewählte Fragen der Staatensukzession im Kontext der Auflösung der UdSSR, in: Archiv des Völkerrechts 32/1994 S. 99 ff., insbes. S. 113;
ders
., Das Recht der Staatensukzession, Die Staatenpraxis der Nachfolge in völkerrechtliche Verträge, Staatsvermögen, Staatsschulden und Archive in den Teilungsfällen Sowjetunion, Tschechoslowakei und Jugoslawien, in: Ulrich Fastenrath et al. [Hrsg.], Das Recht der Staatensukzession, Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, Heidelberg 1996, S. 63-66; BRIGITTE STERN, La succession d'Etats, in: Recueil des cours de l'Académie de droit international de La Haye, Bd. 262, Den Haag 1996, S. 242-244 und 252-255; CLAUDIA WILLERSHAUSEN, Zerfall der Sowjetunion, Diss. Marburg 2002, S. 324 ff.; PHOTINI PAZARTZIS, La succession d'Etats aux traités multilatéraux, Paris 2002, S. 78 ff. und 215 ff.; vgl. Urteil 1A.54/2000 vom 3. Mai 2000, E. 6f nicht publ. in
BGE 126 II 212
). Offenbar sind die Europäische Gemeinschaft, Deutschland, die USA, Grossbritannien, Italien, die Slowakei, Tschechien und Österreich in der Praxis von einer (zumindest vorübergehenden) Weitergeltung bilateraler Verträge der Sowjetunion für GUS-Staaten ausgegangen, während Frankreich eher dem Prinzip der tabula rasa zuneigt und verlangt, dass der neue Staat und Frankreich zunächst Erklärungen zur Übernahme der bilateralen Verträge abgeben müssen (vgl. MICHAEL SILAGI, a.a.O., S. 89 ff., insbes. S. 93 f.; BRIGITTE STERN, a.a.O., S. 314-321; ANDREAS ZIMMERMANN, a.a.O., S. 400 ff.). Das Verwaltungsgericht hat jedenfalls Folgendes in seine Ausführungen nicht einbezogen:
3.5.1
Nach dem Zerfall der Sowjetunion hat die Schweiz die Ukraine am 23. Dezember 1991 anerkannt (CHARLES-EDOUARD HELD, Quelques réflexions relatives à la pratique récente de la Suisse concernant la reconnaissance de nouveaux Etats, SZIER 1994 S. 232). Das Parlament der Ukraine hat bereits zuvor am 22. September 1991 ein "Gesetz über die Nachfolge der Ukraine" erlassen (französische Übersetzung in: ROMAIN YAKEMTCHOUK, a.a.O., S. 354 f.). Nach Art. VII dieses Gesetzes ist die Ukraine in Bezug auf die Rechte und Pflichten aus internationalen Abkommen, die
BGE 132 II 65 S. 73
von der Sowjetunion abgeschlossen worden sind, Rechtsnachfolgerin, soweit sie nicht im Widerspruch zur Verfassung der Ukraine und zu den Interessen der Republik stehen. Das hielt das ukrainische Parlament auch nochmals in einem "offenen Brief an die Parlamente und Völker der Erde" vom 5. Dezember 1991 fest (ROMAIN YAKEMTCHOUK, a.a.O., S. 164).
3.5.2
In einem Dokument der Direktion für Völkerrecht des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten vom 30. März 1992 wurde unter anderem in Bezug auf die Ukraine (und die übrigen GUS-Staaten sowie Georgien, Slowenien und Kroatien) festgehalten, dass auf dem Gebiet der Sukzession von Staaten in Abkommen keine weltweit allgemein anerkannten Rechtsgrundsätze bestünden; ebenso wenig würden Nachfolgestaaten automatisch in die Rechte und Pflichten des ursprünglichen Staates treten. Für jedes Abkommen müsse geprüft werden, ob die Übernahme der Rechte und Pflichten des ursprünglichen Staates durch den neu gebildeten Staat den Bedürfnissen der beiden Vertragsstaaten entspreche. Diese Prüfung beanspruche oftmals einige Zeit. Während dessen sollten die betreffenden Abkommen weniger aus juristischen als vielmehr aus praktischen Gründen provisorisch weiterhin zur Anwendung gelangen (Dokument in französischer Sprache auszugsweise publiziert in: LUCIUS CAFLISCH, La pratique suisse en matière de droit international public 1992, SZIER 1993 S. 709 f.). In einer weiteren Note vom 20. Januar 1994 wurde erklärt, dass es zwar nicht zu einer automatischen Fortgeltung komme. Die betroffenen Staaten könnten aber jederzeit eine Sukzessionserklärung abgeben oder aber ihre Absicht erklären, an den fraglichen Vertrag nicht gebunden sein zu wollen (auszugsweise abgedruckt in: LUCIUS CAFLISCH, La pratique suisse en matière de droit international public 1993, SZIER 1994 S. 611; ähnlich die weitere Note vom 4. April 1995, auszugsweise abgedruckt in: LUCIUS CAFLISCH, La pratique suisse en matière de droit international public 1995, SZIER 1996 S. 619; vgl. auch THEODOR SCHWEISFURTH, Das Recht der Staatensukzession, Die Staatenpraxis der Nachfolge in völkerrechtliche Verträge, Staatsvermögen, Staatsschulden und Archive in den Teilungsfällen Sowjetunion, Tschechoslowakei und Jugoslawien, a.a.O., S. 88 ff., insbes. S. 97 f. bezüglich der Schweiz; ANDREAS ZIMMERMANN, a.a.O., S. 416 f.).
Ohne hierauf ausdrücklich Bezug zu nehmen, äusserte sich das Bundesamt für Migration in seiner Stellungnahme vom 20. Januar
BGE 132 II 65 S. 74
2005 gegenüber dem Verwaltungsgericht noch ähnlich: Es könnten hinsichtlich der heutigen Geltung des Niederlassungsvertrages mit Russland zwar Vorbehalte angebracht werden; diese rechtfertigten es zum heutigen Zeitpunkt jedoch nicht, die Gültigkeit bzw. Anwendbarkeit dieses Vertrages auszuschliessen; der Niederlassungsvertrag gelte dabei auch für die Folgestaaten, so also insbesondere auch für die Ukraine.
3.5.3
Alsdann haben die Schweiz und die Ukraine am 31. Juli und 4. August 1997 - nach dem erwähnten Urteil 1A.249/1995 vom 16. Januar 1996 (vgl. oben E. 3.4.2) - Noten ausgetauscht (Titel französisch: Echange de notes entre la Suisse et l'Ukraine confirmant le maintien en vigueur et l'application de certains accords bilatéraux conclus entre la Suisse et l'URSS). In der Note der Schweiz vom 31. Juli 1997 (Nr. 013/58-488), in welcher auch seitens der Schweiz ausdrücklich festgehalten wird, die Ukraine sei ein Nachfolgestaat der Sowjetunion (UdSSR), heisst es:
"Le Département fédéral des affaires étrangères présente ses compliments à l'Ambassade de l'Ukraine et, considérant qu'à la suite de la disparition de l'Union des Républiques Socialistes Soviétiques l'Ukraine est un Etat successeur de l'ex-URSS, se réfère aux entretiens d'experts qui ont eu lieu à Berne, le 21 mai 1997 au sujet de la succession aux traités bilatéraux conclus entre la Suisse et l'Union des Républiques Socialistes Soviétiques et a l'honneur de lui proposer que les accords suivants demeurent en vigueur dans le cadre des relations bilatérales entre la Suisse et l'Ukraine:
1.-3. (...)
[Unter den Ziff. 1 bis 3 sowie 5 bis 7 werden verschiedene zwischen der Schweiz und der Sowjetunion von 1966 bis 1990 getroffene Vereinbarungen aufgeführt.]
4. Echange de lettres du 1
er
décembre 1990 relatif à l'édition d'un recueil commun de documents en Suisse et en Union des Républiques Socialistes Soviétiques sur le développement des relations bilatérales entre 1815 et 1955, entré en vigueur le 1
er
décembre 1990.
5.-7. (...)"
Die Botschaft der Ukraine in Bern antwortete dem Eidgenössischen Department für Auswärtige Angelegenheiten hierzu am 4. August 1997:
"L'Ambassade de l'Ukraine a l'honneur de notifier au Département que ce qui précède rencontre l'agrément des autorités ukrainiennes, et que la Note du Département ainsi que la présente réponse constituent la confirmation du maintien en vigueur des Accords susmentionnés dans les relations entre l'Ukraine et la Suisse."
BGE 132 II 65 S. 75
Im erwähnten Notenaustausch vom 1. Dezember 1990 zwischen der Schweiz und der Sowjetunion war Folgendes festgehalten worden (an den damaligen sowjetischen Aussenminister Schewardnadse gerichtetes Schreiben):
"Suite à l'échange de vues entre divers représentants de nos pays respectifs sur la possibilité de l'édition d'un recueil commun de documents en Suisse et en URSS, concernant les rapports entre nos deux pays, j'ai l'honneur de communiquer à Votre Excellence ce qui suit:
I. Le Département fédéral des affaires étrangères de la Confédération Suisse, en étroite collaboration avec le Département fédéral de l'intérieur, et le Ministère des affaires étrangères de l'Union des Républiques Socialistes Soviétiques en étroite collaboration avec la Direction principale des archives auprès du Conseil des Ministres de l'URSS, conviennent de préparer en commun un recueil de documents sur le développement de leurs relations bilatérales et de le publier en Suisse et en URSS. La période couverte par cette publication s'étend de 1815 à 1955.
II. (...) Les documents qui se trouvent dans les archives des deux pays seront étudiés et sélectionnés par les autorités compétentes et par les chercheurs des deux pays respectifs. Les deux parties s'efforceront de proposer pour le recueil non seulement des documents déjà publiés, mais en premier lieu des documents inédits.
III. - V. (...)"
3.5.4
Nach dem Gesagten - vor allem mit Blick auf das ukrainische Gesetz vom 22. September 1991 (vgl. E. 3.5.1 zuvor) - will die Ukraine entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts prinzipiell in die zwischen der Schweiz und der Sowjetunion geltenden bilateralen Vereinbarungen eintreten. Zwar ist die Sammlung von Dokumenten über die Entwicklung der bilateralen Beziehungen zwischen 1815 (also auch in Bezug auf das russische Zarenreich) und 1955, wie sie im erwähnten Notenaustausch vom 31. Juli/4. August 1997 vorgesehen ist (vgl. E. 3.5.3 zuvor), bisher nicht erstellt und publiziert worden; es liesse sich insofern im Übrigen fragen, welche Art von Dokumente gesammelt werden sollen und welche Wirkungen ihrer anschliessenden Publikation oder Nicht-Publikation zukommen würde. Trotzdem lässt sich daraus entnehmen, dass beide Länder davon ausgehen, dass nicht nur seit Gründung der Sowjetunion neu geschlossene Abkommen weiter gelten sollen, sondern gegebenenfalls ebenso frühere (seit 1815) zustande gekommene Vereinbarungen, sofern sie bei Auflösung der Sowjetunion noch existierten. Ergänzend sei bemerkt, dass sich hier keine Fragen zum territorialen Geltungsbereich stellen, da die Beschwerdeführerin aus
BGE 132 II 65 S. 76
Kiew stammt und sich diese Stadt bereits bei Inkrafttreten des Niederlassungsvertrages im Herrschaftsgebiet des russischen Zarenreichs befand.
4.
In seiner Vernehmlassung an das Bundesgericht hält das Bundesamt für Migration ohne weitere Ausführungen fest, es fänden sich keine Hinweise, wonach der in der Systematischen Rechtssammlung des Bundesrechts nicht publizierte Niederlassungsvertrag mit Russland noch gültig sei.
4.1
Seitens der Schweiz wurde der Niederlassungsvertrag mit Russland bisher nicht gekündigt. Wie das Verwaltungsgericht zutreffend bemerkt hat, ist es für die Weitergeltung von Staatsverträgen unerheblich, ob sie in die Systematische Sammlung des Bundesrechts (SR) oder zuvor in die Bereinigte Sammlung der Bundesgesetze und Verordnungen von 1848-1947 (BS) aufgenommen worden sind. Beiden Sammlungen ist für Staatsverträge (anders als für Bundesgesetze) zu keinem Zeitpunkt eine so genannte negative Rechtskraft in dem Sinne zugekommen, dass dort nicht enthaltene Staatsverträge als aufgehoben gelten (vgl.
BGE 81 II 319
E. 4 S. 330; BS 1 S. VI und BS 11 S. VIII; Ergänzungsbotschaft zum Rechtskraftgesetz, BBl 1
BGE 948 I 800
; AS 1951 S. 1151 f.; Botschaft über die Veröffentlichung einer neuen Bereinigten Sammlung der Gesetze und Verordnungen des Bundes, BBl 1
BGE 965 I 320
f.; AS 1967 S. 17 f.; Botschaft zu einem Bundesgesetz über die Gesetzessammlungen und das Bundesblatt, BBl 1
BGE 983 III 444
; Vorwort zur SR des Bundeskanzlers Huber vom November 1974).
4.2
4.2.1
Gemäss in der Amtlichen Sammlung von 1917 (AS XXXIII [1917] S. 954 f.) abgedruckter Mitteilung der Schweizerischen Bundeskanzlei wurde der Niederlassungsvertrag durch Note der russischen Gesandtschaft in Bern vom 2. November 1917 gekündigt; demnach würde der Vertrag gemäss seinem Art. 12 nach Ablauf eines Jahres erlöschen, falls inzwischen keine Verlängerung erfolge. Im Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Geschäftsführung im Jahre 1917 wurde alsdann festgehalten, durch eine Note vom 11./24. Oktober 1917 habe die russische Regierung den Vertrag gekündigt (BBl 1918 II 3). Im Bericht des Bundesrates für das Folgejahr wurde ausgeführt, der Vertrag mit Russland, den Kerensky gekündigt habe, sei dieses Jahr abgelaufen; die vom Eidgenössischen Politischen Departement zum
BGE 132 II 65 S. 77
Zwecke einer Verlängerung angebahnten Unterhandlungen seien durch die politischen Ereignisse in Russland unterbrochen worden (BBl 1919 II 242; vgl. dort auch S. 690 f.). Im Registerband der Bereinigten Sammlung der Bundesgesetze und Verordnungen 1848-1947 wurde unter den Rechtsakten des Jahres 1872 der Niederlassungsvertrag zwar noch genannt, jedoch mit dem Hinweis auf die in der AS XXXIII S. 954 erwähnte Note vom 2. November 1917 (BS 15 S. 99).
4.2.2
In einer internen Mitteilung vom 6. Januar 1920 hatte das Eidgenössische Politische Departement gegenüber dem Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement allerdings erklärt, die von der Regierung Kerensky ausgesprochene Kündigung des Niederlassungsvertrages werde als nichtig betrachtet, da sie von einer von der Schweiz nicht anerkannten Regierung stamme. Der Vertrag könne in Bezug auf die sowjetische Regierung als suspendiert gelten, keineswegs aber als aufgehoben (abgedruckt in: PAUL GUGGENHEIM et al., Répertoire suisse de droit international public, Basel 1975, Bd. 1, S. 160 Rz. 1.77).
4.2.3
Es fragt sich demnach, ob die Kündigung aus dem Jahre 1917 zum Erlöschen des Niederlassungsvertrages geführt hat. Zwar sind die politischen Behörden allein zuständig, einen Staatsvertrag zu kündigen (
BGE 49 I 188
E. 3 S. 194 f.). Die Gerichte entscheiden hingegen selbständig über die Rechtsfrage, ob ein Staatsvertrag noch gilt (
BGE 81 II 319
E. 4 S. 330;
78 I 124
E. 3 S. 130).
In einem Urteil vom 10. Dezember 1924 hatte das Bundesgericht ausgeführt, die Nichtanerkennung der sowjetischen Regierung habe zur Folge, dass dieser Regierung auf internationaler Ebene nicht die Handlungsfähigkeit zukomme, Russland gegenüber der Schweiz zu vertreten (
BGE 50 II 507
S. 512). Demnach werden Akte nicht anerkannter ausländischer Regierungen gegenüber der Schweiz als nichtig behandelt (vgl. EDUARD ZELLWEGER, Die völkerrechtliche Anerkennung nach schweizerischer Staatenpraxis, in: Schweizerisches Jahrbuch für internationales Recht Bd. 11/1954, S. 24; anders in Bezug auf die Wirkungen der sowjetrussischen Gesetzgebung:
BGE 51 II 259
;
52 I 218
;
54 II 225
;
60 I 67
; vgl. auch PETER STIERLIN, Die Rechtsstellung der nichtanerkannten Regierung im Völkerrecht, Diss. Zürich 1940, S. 91 ff.).
4.2.4
Unter dem Druck der so genannten Februarrevolution vom 12. März 1917 (27. Februar nach dem russischen Kalender)
BGE 132 II 65 S. 78
verzichtete der damalige russische Zar am 15. März 1917 auf den Thron. In der Folge wurde eine provisorische Regierung unter Ministerpräsident Georgi Fürst Lwow gebildet, die über ihren Geschäftsträger in der Schweiz das Eidgenössische Politische Departement mit Note vom 19. März 1917 entsprechend informierte. Hierauf befasste sich der Bundesrat in seiner Sitzung vom 24. März 1917 erstmals mit der Frage der Anerkennung der neuen revolutionären Regierung in Russland (bei PAUL GUGGENHEIM et al., a.a.O., S. 468 Rz. 3.62, und HEINZ KLARER, a.a.O., S. 104 f. auszugsweise wiedergegebenes Dokument). Er beschloss, geschäftliche Beziehungen zur provisorischen Regierung aufzunehmen. Von einer formellen Anerkennung nahm er damals "im Hinblick auf die provisorischen Verhältnisse" aber ausdrücklich Abstand.
4.2.5
Auch wenn die Schweiz "geschäftliche" Beziehungen zur ersten provisorischen Regierung aufgenommen hatte, ging sie zunächst davon aus, dass sie die Letztere nicht formell bzw. de iure anerkannt hatte. Wegen der provisorischen Verhältnisse wollte sie mit einer formellen Anerkennung zuwarten. Dementsprechend erkannte sie auch nie offiziell den neuen Vertreter in Bern an, den die provisorische Regierung Ende März 1917 zur Ablösung des bisherigen russischen Geschäftsträgers entsandt hatte (DIETRICH DREYER, Schweizer Kreuz und Sowjetstern, 1989, S. 14 f.). Es erwies sich in der Folge, dass die erste provisorische Regierung keine feste Grundlage zu schaffen vermochte, die Gewähr für ihre Dauerhaftigkeit bot; sie konnte sich weder effektiv noch endgültig durchsetzen. Im Juli 1917 wurde Alexander Kerensky neuer Ministerpräsident der provisorischen Regierung in Petrograd; im September 1917 proklamierte er die Republik Russland. In der Zwischenzeit hatte sich eine Doppelherrschaft der provisorischen Regierung und des Petrograder Arbeiter- und Soldatensowjets etabliert. Die provisorische Regierung verlor immer mehr an Ansehen und Autorität. Schliesslich nahmen die Bolschewiken anlässlich der so genannten Oktoberrevolution am 7. November 1917 (25. Oktober nach dem russischen Kalender) alle wichtigen Zentren Petrograds ein und setzten die Mitglieder der provisorischen Regierung ab. Hierauf wurde ein Rat der Volkskommissare unter Vorsitz Lenins (als neue provisorische Arbeiter- und Bauernregierung) eingesetzt. Kerensky tauchte unter und floh 1918 ins Ausland.
4.2.6
Damit waren die Voraussetzungen für eine formelle Anerkennung der ab Juli 1917 von Alexander Kerensky geführten
BGE 132 II 65 S. 79
Regierung nicht gegeben (vgl. allgemein: EDUARD ZELLWEGER, a.a.O., S. 12; GEORG DAHM/JOST DELBRÜCK/RÜDIGER WOLFRUM, Völkerrecht, Bd. I/1, 2. Aufl., Berlin 1989, S. 190 und 195; KNUT IPSEN, Völkerrecht, 5. Aufl., München 2004, S. 263 f. Rz. 13-17 und S. 273 f. Rz. 39-43). Nach dem Gesagten erscheint die Schlussfolgerung des Eidgenössischen Politischen Departements in der Mitteilung vom 6. Januar 1920 (vgl. E. 4.2.2 hiervor) als verständlich (vgl. auch EDUARD ZELLWEGER, a.a.O., S. 25 lit. g). In eine ähnliche Richtung mag auch der Bericht des Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements aus dem Jahre 1919 stossen, wonach eine klare Bestätigung der Kündigung von den späteren Regierungen nicht erlangt werden konnte (vgl. BBl 1919 II 690 f., aber mit einer E. 3.2 hievor widersprechenden Schlussfolgerung).
Allerdings ist es während der gesamten Sowjetzeit zu keiner Aktualisierung des Niederlassungsvertrags gekommen. Ende 1918 wurden gar die (damals ohnehin schon prekären) Kontakte zwischen der Schweiz und der Sowjetregierung abgebrochen, als der Bundesrat im Zusammenhang mit Unruhen im Lande die Sowjetmission in Bern zum Verlassen des Landes aufforderte (vgl. WALTHER BURCKHARDT, Schweizerisches Bundesrecht, Bd. 1, Frauenfeld 1930, S. 191 f., N. 81; PAUL GUGGENHEIM et al., a.a.O., S. 472 ff. Rz. 3.66 und 3.67). Doch auch als sich die diplomatischen Beziehungen später wieder normalisierten und die Schweiz die Sowjetunion sowie ihre Regierung anerkannt hatte (vor allem ab 1946; vgl. HEINZ KLARER, a.a.O., S. 105 ff.; EDGAR BONJOUR, Geschichte der schweizerischen Neutralität, Basel 1965 ff., Bd. 2 S. 686-707, Bd. 3 S. 360-376, Bd. 5 S. 373-425, Bd. 9 S. 324-370), berief sich keiner der beiden Staaten je gegenüber dem anderen auf den Niederlassungsvertrag von 1872. Dementsprechend wird er im Gegensatz zum Auslieferungsvertrag zwischen der Schweiz und Russland vom 17. November 1873 auch im Notenaustausch vom 2. September 1993 zwischen Russland und der Schweiz betreffend die mit der Sowjetunion abgeschlossenen bilateralen Verträge nicht namentlich erwähnt. Ausserdem wurde der Niederlassungsvertrag im 1955 erschienenen Registerband der Bereinigten Sammlung der Bundesgesetze und Verordnungen für die Jahre 1848-1947 (BS 15 S. 99) zusammen mit dem Hinweis (in AS XXXIII [1917] S. 954) auf die Note der russischen Gesandtschaft vom 2. November 1917, mit welcher die Kündigung ausgesprochen worden war, aufgeführt. Eine spätere Klarstellung im Sinne der erwähnten internen
BGE 132 II 65 S. 80
Mitteilung des Eidgenössischen Politischen Departements vom 6. Januar 1920 erfolgte nicht. Ebenso wenig ist eine Verständigung mit der sowjetischen Regierung hierzu bekannt geworden. Vielmehr wurde der Niederlassungsvertrag mit Russland in den Verzeichnissen der in Kraft stehenden bzw. nach
Art. 14 ANAV
zu berücksichtigenden Niederlassungsverträge in der Folge nicht mehr aufgeführt (Vertrag noch erwähnt bei PAUL MARX, Systematisches Register zu den geltenden Staatsverträgen der schweizerischen Eidgenossenschaft und der Kantone mit dem Ausland, Zürich 1918, S. 368; sodann nicht mehr erwähnt unter anderem bei: WALTHER BURCKHARDT, Schweizerisches Bundesrecht, Bd. 4, Frauenfeld 1931, S. 365 f., N. 1859; MAX RUTH, Das Fremdenpolizeirecht der Schweiz, Zürich 1934, S. 156; PETER KOTTUSCH, Die Niederlassungsbewilligung gemäss
Art. 6 ANAG
, ZBl 87/1986 S. 553; Bundesamt für Migration, Weisungen und Erläuterungen über Einreise, Aufenthalt und Arbeitsmarkt [ANAG-Weisungen], Anhang 0/1, letzte Änderung der Liste am 8. Juli 2003).
4.2.7
Demzufolge hat der Niederlassungsvertrag zumindest als weiterhin suspendiert zu gelten, wenn er nicht sogar als erloschen zu betrachten ist (etwa durch nachträgliche Anerkennung der Regierung Kerensky und ihrer Akte). Darüber werden sich die zuständigen Stellen Klarheit zu verschaffen haben (vgl. in diese Richtung zum Teil auch das vom Ständerat angenommene Postulat Stähelin vom 27. September 2004, Ziff. 04.3464, und Antwort des Bundesrates vom 17. November 2004, in: AB 2004 S 879 sowie Beilagen der Wintersession 2004 S. 42 f., und Ziff. 4 des erwähnten Notenaustauschs vom 31. Juli/4. August 1997, siehe oben E. 3.5.3). Nach dem Gesagten können sich die Beschwerdeführer derzeit jedenfalls nicht auf den mit Russland geschlossenen Niederlassungsvertrag von 1872 berufen und haben somit keinen Rechtsanspruch auf den Kantonswechsel. Mit Blick auf das oben in Erwägung 1 Ausgeführte tritt das Bundesgericht auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde demnach nicht ein. Etwaige im Rahmen einer staatsrechtlichen Beschwerde zu behandelnde Rügen wurden nicht erhoben (vgl.
Art. 90 Abs. 1 lit. b OG
;
BGE 114 Ia 307
E. 3c S. 312 f.;
BGE 127 II 161
E. 3b S. 167). | de |
2ab38134-a49f-4c02-9325-f43ebbce069b | Sachverhalt
ab Seite 26
BGE 119 III 26 S. 26
Das Betreibungsamt S. versteigerte am 10. Dezember 1992 in der Betreibung auf Grundpfandverwertung Nr. 32/1991 die Liegenschaft
BGE 119 III 26 S. 27
HB 586 im Eigentum von F. Der Zuschlag erfolgte für Fr. ... an die Schweizerische Kreditanstalt.
Dagegen richtete sich F. an das Obergericht X. als Aufsichtsbehörde über Schuldbetreibung und Konkurs, welches ihre Beschwerde am 13. Januar 1993 abwies.
F. hat sich mit Rekurs vom 10. Februar 1993 an die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer des Bundesgerichts gewandt. Sie beantragt, das angefochtene Urteil unter Kosten- und Entschädigungsfolge aufzuheben. Zudem stellt sie das Gesuch, ihrem Rekurs aufschiebende Wirkung zu erteilen. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Mit ihrer als "Appellation" bezeichneten Eingabe verlangt die Rekurrentin die Aufhebung des Zuschlags, da die Versteigerung ihrer Liegenschaft nicht einen Monat, allenfalls vierzehn Tage, zuvor bekanntgegeben worden sei.
a) Die Steigerungspublikation soll die Vorbereitung und auch die spätere, sachgemässe Durchführung der Versteigerung ermöglichen (AMONN, Grundriss des Schuldbetreibungs- und Konkursrechts, 4. A. Bern 1988, S. 236 N 15). Sie muss daher die gesetzlich vorgeschriebenen Angaben enthalten und mindestens einen Monat vor dem Versteigerungstermin erfolgen (
Art. 138 SchKG
,
Art. 29 VZG
). Ist das Lastenverzeichnis erstellt und endgültig bereinigt sowie die Liegenschaft neu geschätzt, dann sind die Steigerungsbedingungen festzulegen (
Art. 140 SchKG
; AMONN, a.a.O., S. 242 f. N 44 und 45) und mindestens zehn Tage vor der Versteigerung im Betreibungsamt öffentlich aufzulegen (
Art. 134 Abs. 2 SchKG
).
b) Im vorliegenden Fall musste die auf den 3. September 1992 angesetzte Versteigerung verschoben werden, da die Rekurrentin eine Schätzung durch einen Sachverständigen beantragt hatte. Die Steigerungsbedingungen und das Lastenverzeichnis waren zuvor in Rechtskraft erwachsen. Der von der kantonalen Aufsichtsbehörde festgelegte neue Schätzungswert wurde den Beteiligten mitgeteilt. Daraufhin legte das Betreibungsamt den neuen Versteigerungstermin auf den 10. Dezember 1992 fest. Die entsprechende Publikation im Amtsblatt des Kantons X. erfolgte am 27. November 1992.
c) Damit steht fest, dass das Vorbereitungsverfahren ordnungsgemäss durchgeführt worden ist. Entgegen der Ansicht der Rekurrentin ist die Versteigerung nicht etwa eingestellt, sondern bloss auf
BGE 119 III 26 S. 28
einen spätern Zeitpunkt verschoben worden. Das Gesetz legt fest, dass im Falle der Einstellung der Versteigerung die Ankündigung der neuen Versteigerung vierzehn Tage zuvor erfolgen muss (
Art. 31 VZG
). Wie lange im voraus nach einer Verschiebung der Versteigerung der neue Termin bekanntzugeben ist, ist nicht geregelt. Auch die Doktrin fordert hier keine Minimalfrist (JAEGER, Das Bundesgesetz betreffend Schuldbetreibung und Konkurs, erster Band, 3. A. Lausanne 1911, N 2 zu Art. 138). Gläubiger und Schuldner haben jedoch ein Interesse an einem bestmöglichen Verwertungserlös, was eine rechtzeitige Bekanntgabe des Versteigerungstermins an möglichst viele Interessenten erfordert (
BGE 110 III 32
f. E. 2). Es gibt keinerlei Anhaltspunkte, dass das Betreibungsamt durch den Zeitpunkt der Steigerungspublikation den Anliegen der an dieser Verwertung interessierten Parteien nicht gerecht geworden wäre. Eine Verletzung von Bundesrecht liegt somit nicht vor, weshalb eine Aufhebung des Zuschlags nicht in Frage kommt. | de |
c7dcca96-9304-43c6-a031-544bc9e8dbf0 | Sachverhalt
ab Seite 198
BGE 105 Ib 197 S. 198
Die Nordostschweizerische Kraftwerke AG (NOK) erstellt gemeinsam mit den SBB eine neue Hochspannungsleitung zwischen den Unterwerken Oftringen und Rupperswil. Die Leitung soll unter anderem über die in der Gemeinde Hunzenschwil gelegene Parzelle Nr. 687 von Ernst Rohr-Richner führen. Da Rohr das verlangte Überleitungsrecht nicht freiwillig abtrat, wurde gegen ihn ein Enteignungsverfahren eingeleitet. Rohr reichte gestützt auf
Art. 35 ff. EntG
eine als "Einsprache" bezeichnete Eingabe ein, in welcher er Realersatz oder Übernahme des ganzen Grundstückes durch die Leitungseigentümerinnen verlangte. Die Einigungsverhandlung verlief erfolglos, worauf die NOK den Stellvertreter des Präsidenten der Schätzungskommission um Bewilligung der vorzeitigen Besitzeinweisung ersuchte. Am 9. Juni 1979 gab der Präsident-Stellvertreter dem Gesuch der NOK statt. Gegen diesen Entscheid hat Rohr Verwaltungsgerichtsbeschwerde eingereicht. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut aus folgenden Erwägungen
Erwägungen:
1.
a) Das in Art. 1 umschriebene Enteignungsrecht kann entweder vom Bunde selbst ausgeübt oder an Dritte übertragen werden, und zwar - je nach Bedeutung des Werkes - durch Bundesbeschluss oder Bundesgesetz (
Art. 2 und
Art. 3 Abs. 2 EntG
). Ermächtigt der Bundesbeschluss oder das Bundesgesetz den Dritten nicht generell zur Enteignung, sondern muss das Enteignungsrecht in jedem Einzelfall noch ausdrücklich erteilt werden, so entscheidet darüber nach
Art. 3 Abs. 3 EntG
, sofern es sich nicht um Konzessionen handelt, das in der Sache zuständige Departement. Diese Bestimmung ist zur Klarstellung der Kompetenzverhältnisse am 18. März 1971 ins revidierte Enteignungsgesetz aufgenommen worden (vgl. Botschaft des Bundesrates vom 20. Mai 1970, BBl 1970 I, S. 1018 N. 3.5). Sie steht in Übereinstimmung mit dem zur gleichen Zeit abgeänderten
Art. 55 EntG
, welcher den Entscheid über Einsprachen gegen die Enteignung neu dem Departement statt dem Bundesrat überträgt und welcher seinerseits auf der vorangegangenen Neufassung des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege beruht, wonach Einsprachenentscheide in Enteignungssachen der Verwaltungsgerichtsbeschwerde ans Bundesgericht unterliegen (vgl.
Art. 99 lit. c OG
;
Art. 23 Abs. 2 VwOG
BGE 105 Ib 197 S. 199
in der durch das am 20. Dezember 1968 revidierte OG abgeänderten Fassung; HEINZ HESS, Probleme des enteignungsrechtlichen Einspracheverfahrens aus der Sicht des Eidg. Verkehrs- und Energiewirtschaftsdepartementes, ZBl 74/1973, S. 368).
b) Den Eigentümern von elektrischen Starkstromanlagen und den Bezügern elektrischer Energie steht in der Regel das Enteignungsrecht für die Einrichtungen zur Fortleitung und Verteilung der elektrischen Energie nicht schon von Gesetzes wegen zu; es muss ihnen in jedem Einzelfall ausdrücklich übertragen werden. Nach dem Text von
Art. 43 Abs. 1 ElG
, welcher leider bei der Revision des Enteignungsgesetzes im Jahre 1971 nicht an die neue Kompetenzordnung angepasst wurde, wäre die Gewährung des Enteignungsrechtes in diesen Fällen Sache des Bundesrates. Wie bereits ausgeführt, liegt jedoch die Zuständigkeit nach der geltenden Regelung beim Eidgenössischen Verkehrs- und Energiewirtschaftsdepartement beziehungsweise, wenn keine Einsprachen vorliegen, bei dessen Generalsekretariat (
Art. 23 Abs. 2 VwOG
; Art. 57 Ziff. 3 des Bundesratsbeschlusses betreffend die Zuständigkeit der Departemente und der ihnen unterstellten Amtsstellen zur selbständigen Erledigung von Geschäften vom 17. November 1914 und Art. 1 Ziff. 7 der Verfügung des Eidg. Post- und Eisenbahndepartementes betreffend die Übertragung von Geschäften an die Abteilung Rechtswesen und Sekretariat und an die Eisenbahnabteilung zur selbständigen Erledigung vom 1. Februar 1932).
c) Für die Verleihung des Enteignungsrechtes für Einrichtungen zur Fortleitung und Verteilung der elektrischen Energie ist ein spezielles, in der schweizerischen Rechtsordnung einzig dastehendes Verfahren vorgesehen. Das Unternehmen hat den Präsidenten der Schätzungskommission, noch bevor es mit dem Enteignungsrecht ausgestattet worden ist, um Einleitung des Enteignungsverfahrens zu ersuchen. Können sich in der Folge das Unternehmen und die betroffenen Grundeigentümer an der Einigungsverhandlung sowohl über die abzutretenden Rechte als auch über die Entschädigungen ins Einvernehmen setzen, so wird das Verfahren abgeschlossen. Wird dagegen an Einsprachen festgehalten oder können sich die Parteien über Entschädigungsfragen nicht einigen, so überweist der Präsident der Schätzungskommission die Akten dem Departement zur Erteilung des Enteignungsrechtes bzw. zum Entscheid darüber,
BGE 105 Ib 197 S. 200
welche Rechte das Unternehmen für sich in Anspruch nehmen kann und diesem demnach auf dem Enteignungswege zu übertragen sind (
Art. 43, 50 ElG
; vgl. unter Berücksichtigung der inzwischen erfolgten Gesetzesänderungen
BGE 96 I 191
E. 2; HESS, Das Enteignungsrecht des Bundes, N. 15, 16 zu
Art. 2 EntG
, N. 1, 11, 12 zu
Art. 43 ElG
und N. 4, 9, 10 ff. zu
Art. 50 ElG
).
d) Das Elektrizitätsgesetz enthält im weiteren besondere Vorschriften über das Enteignungsverfahren selbst, die den allgemeinen Bestimmungen des Enteignungsgesetzes, welche im übrigen anwendbar sind, vorgehen (
Art. 43 Abs. 1 und
Art. 49 ElG
; HESS, a.a.O., N. 11 zu
Art. 43 ElG
). So werden in
Art. 53 ElG
die Voraussetzungen für die vorzeitige Besitzeinweisung speziell umschrieben. Die heutige Fassung dieser Bestimmung, die durch eine Gesetzesänderung bei der Schaffung des Enteignungsgesetzes im Jahre 1930 entstand, führte damals für die Werkeigentümer im Vergleich zu den Vorschriften des Elektrizitätsgesetzes von 1902 einerseits zu Erschwerungen für den Bau von elektrischen Leitungen, andererseits zu Erleichterungen für die Erstellung anderer elektrischer Anlagen (HESS, a.a.O., N. 1, 2 zu
Art. 53 ElG
). Im Vergleich zu
Art. 76 EntG
in der Fassung von 1930 brachte hingegen die Bestimmung von
Art. 53 ElG
für die Elektrizitätswerke nur Vorteile. Sie ermöglichte die vorzeitige Besitzeinweisung vor Durchführung der Einigungsverhandlung, und zwar durch Entscheid des Präsidenten allein, ohne dass zuvor die ganze Kommission einen Augenschein vorgenommen hätte; zudem befreite sie den Enteigner vom Nachweis, dass ihm ohne die vorzeitige Inbesitznahme bedeutende Nachteile entstünden (vgl. Art. 76 aEntG; HESS, a.a.O., N. 7, 9 zu
Art. 53 ElG
, N. 6, 7, 8 zu Art. 76 aEntG).
Zum Verhältnis von
Art. 53 ElG
zum heute geltenden, seit 1972 in Kraft stehenden Text von
Art. 76 EntG
wird weiter unten (E. 2) die Rede sein.
e) Die vorzeitige Besitzeinweisung kann vom Präsidenten der Schätzungskommission in Anwendung von
Art. 53 ElG
, wie ausdrücklich im Gesetz festgehalten ist, erst "nach der Plangenehmigung" ("après approbation des plans", "approvati che siano i piani") bewilligt werden. Unter Plangenehmigung im Sinne von
Art. 53 ElG
ist die Genehmigung des Enteignungsplanes und die damit verbundene Erteilung des Enteignungsrechtes
BGE 105 Ib 197 S. 201
an das Elektrizitätswerk (die sog. Feststellung des Enteignungsfalles) zu verstehen, beziehungsweise der Entscheid über allfällige Einsprachen; im Einsprachenentscheid hat das Departement die im konkreten Falle dem Werkeigentümer zu übertragenden Rechte im einzelnen und - unter Vorbehalt einer Ausdehnung der Enteignung im Sinne von
Art. 12 und 13 EntG
oder eines verwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahrens vor Bundesgericht - endgültig zu bezeichnen (HESS, a.a.O., N. 1, 5 zu
Art. 53 ElG
; vgl.
BGE 96 I 191
f.).
Zu Unrecht geht der Präsident-Stellvertreter der Schätzungskommission im angefochtenen Entscheid davon aus, dass mit der Plangenehmigung im Sinne von
Art. 53 ElG
die - den Leitungseigentümerinnen am 13. Juli 1978 erteilte - Genehmigung des Eidg. Starkstrominspektorates gemeint sei. Die Genehmigung des Werkplanes durch das Starkstrominspektorat gemäss
Art. 15 Abs. 2 ElG
steht mit dem Enteignungsverfahren in keinem Zusammenhang; ihr kommt lediglich der Charakter einer Polizeierlaubnis zu (HESS, a.a.O., Vorbemerkungen zu Abschnitt V vor
Art. 55 EntG
, N. 1-3, 9, 20; vgl. über die beiden analogen Institute im Eisenbahngesetz
BGE 101 Ib 283
f. E. 2d). Dass
Art. 53 ElG
auf die Genehmigung des Enteignungsplanes durch das Starkstrominspektorat Bezug nimmt, ergibt sich übrigens auch klar aus der Verordnung über die Vorlagen für elektrische Stromanlagen vom 26. Mai 1939. Nach Art. 84 dieser Verordnung darf mit dem Bau einer elektrischen Anlage erst begonnen werden, wenn keine enteignungsrechtlichen Hindernisse mehr vorliegen, was vor dem Erwerb der expropriierten Rechte durch den Enteigner nur dann der Fall ist, "wenn nach Erteilung des Enteignungsrechtes durch den Bundesrat (heute durch das Eidg. Verkehrs- und Energiewirtschaftsdepartement) der Präsident der Schätzungskommission dem Enteigner die vorzeitige Besitzeinweisung (Art. 53 des Elektrizitätsgesetzes) bewilligt hat" (lit. b), wenn im bundesgerichtlichen Verfahren der Instruktionsrichter die vorläufige Vollstreckung der Enteignung verfügt (lit. c) oder der Enteignete den Enteigner ausdrücklich zur vorzeitigen Inbesitznahme ermächtigt hat (lit. d).
Da der NOK das Enteignungsrecht noch nicht erteilt worden ist, durfte ihr die vorzeitige Inbesitznahme, die als schwerwiegender und zwingender Eingriff in die Eigentumsrechte nur einem Inhaber hoheitlicher Machtbefugnisse zustehen kann,
BGE 105 Ib 197 S. 202
nicht bewilligt werden (vgl. zur Notwendigkeit der Übertragung des Enteignungsrechtes
BGE 104 Ib 343
E. 3b mit Hinweisen,
BGE 99 Ib 488
ff.). Daran ändert nichts, dass die am fraglichen Teilstück der Hochspannungsleitung mitbeteiligten SBB das Enteignungsrecht schon von Gesetzes wegen besitzen, und zwar nicht nur für eigentliche Eisenbahnanlagen, sondern auch für die dem Bahnbetrieb dienenden elektrischen Leitungen (Art. 3 des Eisenbahngesetzes vom 20. Dezember 1957). Wie das Bundesgericht bereits im nicht publizierten Entscheid i.S. Siber und Wehrli AG vom 21. Dezember 1977 entschieden hat, müssen alle Eigentümer einer Gemeinschaftsleitung mit dem Enteignungsrecht ausgestattet sein. Die angefochtene Verfügung des Stellvertreters des Präsidenten der Schätzungskommission ist daher aufzuheben.
2.
Ihrer grundsätzlichen Bedeutung wegen ist indessen noch die von der NOK aufgeworfene Frage des Verhältnisses zwischen
Art. 53 ElG
mit der neuen, seit 1972 in Kraft stehenden Bestimmung von
Art. 76 EntG
zu behandeln.
Art. 76 EntG
hat bei der Revision vom 18. März 1971 in verschiedener Hinsicht bedeutende Änderungen erfahren, die auf das Bestreben zurückzuführen sind, einerseits das Verfahren zu vereinfachen und andererseits die Parteirechte zu stärken. Während nach dem früheren Recht der Entscheid über die Besitzeinweisung endgültig war (Art. 76 Abs. 3 aEntG), kann er heute - hinsichtlich der Besitzeinweisung selbst und der Pflicht zur Sicherstellung, dagegen nicht in bezug auf allfällige Abschlagszahlungen - mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde angefochten werden (Art. 29 Abs. 4 der Verordnung für die eidgenössischen Schätzungskommissionen), wenn auch nur innert einer verkürzten Frist von 20 Tagen (
Art. 76 Abs. 6 EntG
). Im weiteren wird in der neuen Gesetzesbestimmung der Entscheid über die vorzeitige Besitzeinweisung, gemäss dem Vorbild des Elektrizitätsgesetzes (zit. Botschaft des Bundesrates, S. 1014), im Regelfall dem Präsidenten der Schätzungskommission allein übertragen. Und schliesslich ist als wichtigste Neuerung die vorzeitige Besitzeinweisung nunmehr auch vor der rechtskräftigen Erledigung der Einsprachen zu gewähren, doch darf dem Gesuch nur insoweit entsprochen werden, als keine bei nachträglicher Gutheissung nicht wieder gutzumachenden Schäden entstehen (
Art. 76 Abs. 4 EntG
, vgl. zit. Botschaft des Bundesrates, S. 1014; s. auch den abgeänderten Text von
Art. 52 EntG
,
BGE 105 Ib 197 S. 203
wonach das Festhalten an einer Einsprache in der Einigungsverhandlung nicht notwendigerweise zur Sistierung des Schätzungsverfahrens führt).
Aus dem Vergleich von
Art. 53 ElG
und
Art. 76 EntG
in der geltenden Fassung ergibt sich klar, dass die allgemeinen Bestimmungen des Enteignungsgesetzes über die vorzeitige Besitzeinweisung für die Unternehmen günstiger sind als die Spezialvorschriften des Elektrizitätsgesetzes, die im Zeitpunkt ihrer Aufnahme in das Gesetz im Jahre 1930 die Elektrizitätswerke gegenüber den anderen Unternehmungen privilegierten. Nun besteht kein Zweifel, dass der Gesetzgeber von 1970 nicht die Absicht hatte, gerade die vom früheren Recht begünstigten Elektrizitätswerke, die mit der Versorgung des Landes mit elektrischer Energie eine äusserst wichtige, im öffentlichen Interesse liegende Aufgabe erfüllen, von den Vorteilen des revidierten
Art. 76 EntG
auszuschliessen. Es würde daher zwar dem Wortlaut von
Art. 53 ElG
, nicht aber dem Willen des Gesetzgebers und dem Zweck dieser Bestimmung widersprechen, wenn bei Enteignungen für elektrische Anlagen
Art. 76 EntG
als allgemeiner, jedoch jüngerer Vorschrift gegenüber der Spezialvorschrift von
Art. 53 ElG
insoweit der Vorrang eingeräumt würde, als die vorzeitige Besitzeinweisung durch die Norm des Enteignungsgesetzes Erleichterungen erfährt.
Eine solche Gesetzesauslegung würde die Situation für die Elektrizitätswerke allerdings nur verbessern, wenn das Verfahren zur Erteilung des Enteignungsrechtes vom Einspracheverfahren abgetrennt und diesem vorangestellt würde. Erst die Aufteilung des Genehmigungsverfahrens ermöglichte es, den Elektrizitätswerken nach der Übertragung des Enteignungsrechtes - unabdingbare Voraussetzung zur Anwendung sowohl von
Art. 76 EntG
als auch von
Art. 53 ElG
- die vorzeitige Besitzeinweisung auch dann zu gewähren, wenn über Einsprachen noch nicht rechtskräftig entschieden ist. Eine solche Lösung, die durch blosse Praxisänderung der Verwaltungsbehörden zu verwirklichen wäre, wurde offenbar schon von Hess, noch während das alte Enteignungsgesetz in Kraft stand, für zweckmässiger als die heutige Regelung gehalten (HESS, a.a.O., N. 16 zu
Art. 3 EntG
, N. 9 ff. zu
Art. 50 Abs. 2 ElG
).
Es steht jedoch dem Bundesgericht nicht zu, darüber zu befinden, in welchem Zeitpunkt und welchem Verfahren die Übertragung des Enteignungsrechtes an Elektrizitätswerke zu
BGE 105 Ib 197 S. 204
erfolgen habe. Verwaltungsverfügungen, durch welche Dritten das Enteignungsrecht für ein bestimmtes Werk unter Vorbehalt des Einspracheverfahrens erteilt wird, sind nämlich nach
Art. 102 lit. d OG
der Verwaltungsgerichtsbarkeit entzogen. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht wäre im Falle einer Aufteilung des Genehmigungsverfahrens durch das Departement erst gegen den Einsprachenentscheid zulässig (
Art. 99 lit. c OG
). Immerhin kann das Bundesgericht in seiner Eigenschaft als Aufsichtsbehörde in Enteignungssachen das Eidg. Verkehrs- und Energiewirtschaftsdepartement auf die sich hier stellenden Fragen aufmerksam machen und ihm deren Prüfung nahelegen. | de |
7a7d7be2-1664-4e5b-af77-41987ff943d9 | Prüfung, ob der Sachverhalt vollständig und unter Wahrung des rechtlichen Gehörs abgeklärt worden sei (E. 9-13). Bejaht hinsichtlich der
- Notwendigkeit eines neuen Waffenplatzes (E. 10a)
- Berücksichtigung der landwirtschaftlichen Interessen (E. 10b)
Zusätzliche Abklärungen sind notwendig über
- Umfang der Enteignung (E. 11)
- Auswirkung der Anlagen auf Natur und Landschaft (E. 12a-c)
- Sicherheit bei Schiessübungen (E. 12d)
- Lärmimmissionen (E. 12e)
- Strassenverbindungen (E. 12f)
- Kasernenstandort (E. 13)
Im Einspracheverfahren hat die Einsprachebehörde nicht nur über die Kosten, sondern auch über die Parteientschädigungen zu befinden (E. 15).
Sachverhalt
ab Seite 283
BGE 112 Ib 280 S. 283
A.-
Die Schweiz. Eidgenossenschaft traf im Jahre 1978 mit den Kantonen Schwyz und Zug eine Vereinbarung über die Schaffung eines Waffenplatzes für die Leichten Truppen auf dem Gebiet der Gemeinden Rothenthurm (SZ) und Oberägeri (ZG). Auf diesem Waffenplatz sollen in jährlich je zwei Rekruten- und Unteroffiziersschulen die Aufklärer und Radfahrer sowie die Panzerabwehrlenkwaffen-Schützen ausgebildet werden; in der Zwischenzeit stünde der Platz für Wiederholungskurse, vor allem der Infanterie und der Radfahrer, zur Verfügung (Botschaft des Bundesrates über militärische Bauten und Landerwerb 1983, BBl 1983 II S. 41 f.).
Das geplante Kasernenareal liegt nördlich von Rothenthurm zwischen der Ersten und Zweiten Altmatt und neigt sich, von den Häusergruppen durch die Süd-Ost-Bahn-Linie getrennt, leicht gegen die Ebene des Ägeririedes hin. Die Kasernenanlage soll durch eine zum Teil bereits erstellte, unter der Bahnlinie durchführende neue Strasse mit der Kantonsstrasse Rothenthurm-Biberbrugg verbunden werden.
Als Ausbildungsgelände ist einerseits ein "Infanteriegelände" mit den Anlagen für die eigentliche Kampf- und Schiessausbildung, andererseits ein "Aufklärungsgelände" für die spezielle Ausbildung der Aufklärer und die Gefechtsschulung auf Stufe Zug und Kompanie vorgesehen (zit. Botschaft S. 42). Das "Aufklärungsgelände"
BGE 112 Ib 280 S. 284
schliesst westlich an das Kasernenareal an und erstreckt sich auf einer Breite von rund 1 km über das Ägeriried und die Biber bis zum Gegenhang, dem zukünftigen Zielhang, der hinaufreicht bis zum Nesseliwald. Nach der bundesrätlichen Botschaft müssen auf diesem Gebiet das bestehende Strassennetz erweitert und Waffenstellungen (Schiesspodeste) mit den zugehörigen Scheibenanlagen im Zielhang erstellt werden. Das "Infanteriegelände", das bereits im Eigentum des Bundes steht, liegt östlich der Dorfschaften und der Kantonsstrasse im hügeligen, teilweise bewaldeten Gebiet Cholmattli. Hier sollen Sturmgewehr- und Pistolenschiessanlagen, Anlagen für die infanteristische Panzerabwehr und Panzernahbekämpfung, Handgranatenwurfanlagen, Häuserkampfanlagen sowie Widerstandsnester und Grabensysteme für die Gefechtsausbildung entstehen (zit. Botschaft S. 43).
B.-
Das Kasernenareal und beinahe die ganze Fläche des "Aufklärungsgeländes" liegen im Schutzgebiet 2.34 ("Glaziallandschaft zwischen Lorzentobel und Sihl mit Höhronenkette") des KLN-Inventars 1979 der zu erhaltenden Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung. Die Grenze dieses Schutzobjektes verläuft östlich der Zweiten und Dritten Altmatt entlang der dem Hang folgenden Hochspannungsleitung und umfasst damit neben dem Ägeriried auch die genannten Weiler. Durch Verordnung des Bundesrates vom 19. Dezember 1983 (SR 451.111) sind ebenfalls grössere Flächen des geplanten Waffenplatzes in das Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler (BLN-Inventar) aufgenommen worden. So schliesst das den grösseren Teil des Hochtales von Rothenthurm bis Biberbrugg umfassende Schutzobjekt 1308 ("Moorlandschaft Rothenthurm-Altmatt-Biberbrugg") den in der Talebene liegenden Teil des "Aufklärungsgeländes" ein. Das Schutzgebiet endet im Westen am Hangfuss unterhalb des Nesseli; im Osten reicht es zwischen der Zweiten und der Dritten Altmatt bis zur Bahnlinie und verschmälert sich gegen Süden hin derart, dass das Kasernenareal ausserhalb des geschützten Bereiches liegen wird. Im weiteren gehört der nördliche Drittel des Zielhanges zwischen Rossboden und Tännli zum BLN-Objekt 1307 ("Glaziallandschaft zwischen Lorzentobel und Sihl mit Höhronenkette"), während der nach KLN-Inventar ebenfalls zu schützende übrige Westhang keine Aufnahme in das Bundesinventar gefunden hat.
Schliesslich sind für das Gebiet nördlich von Rothenthurm in jüngerer Zeit auch kantonale Schutzbestimmungen erlassen worden.
BGE 112 Ib 280 S. 285
Gestützt auf § 3 des Gesetzes über die Erhaltung und Pflege von Naturschutzgebieten vom 2. September 1982 und den gleichaltrigen Richtplan hat der Zuger Regierungsrat am 2. November 1982 den Schutzplan 2.001 Ägeriried erlassen, der die Ägeriried-Ebene westlich der Biber beschlägt. Im Bereich des "Aufklärungsgeländes" gehört die geschützte Fläche zwischen der Biber und dem Hangfuss zur Zone A (engerer Schutzbereich), in welchem insbesondere das Erstellen von Bauten und Anlagen jeder Art verboten ist (§ 5 Abs. 2 des zit. Gesetzes). Der Kanton Schwyz hat seinerseits am 29. Januar 1985 im Hinblick auf den noch zu erarbeitenden definitiven Schutzplan eine Planungszone mit vorläufigen Schutzbestimmungen erlassen. Gemäss § 9 dieser Bestimmungen richtet sich die zulässige militärische Nutzung des "Aufklärungsgeländes" nach der Vereinbarung zwischen den Kantonen Schwyz und Zug und der Eidgenossenschaft vom August 1978 sowie dem von der Bundesversammlung verabschiedeten bereinigten Projekt und nach einem zwischen dem Kanton Schwyz und der Eidgenossenschaft noch abzuschliessenden Zusatzvertrag. Im Regierungsratsbeschluss vom 29. Januar 1985 wird im übrigen dargelegt, dass das zukünftige Kasernenareal nicht in die Planungszone einbezogen worden sei, weil sich hier einerseits keine grossflächigen, besonders schützenswerten intakten und zusammenhängenden Moorkomplexe befänden und sich andererseits der Bund im Rahmen von Art. 164 Abs. 3 der Militärorganisation (MO) für militärische Bauten über allfälliges entgegenstehendes kantonales Recht hinwegsetzen könne; die Nichteinzonung sei damit auch ein Ausdruck der Subordination (Protokoll des Regierungsrates S. 12 f.).
C.-
Da nur ein Teil des Bodens für das Kasernenareal und das "Aufklärungsgelände" auf gütlichem Wege erworben werden konnte, liess die durch das Eidg. Militärdepartement (EMD) handelnde Eidgenossenschaft im April 1983 in den Gemeinden Rothenthurm und Oberägeri ein Enteignungsverfahren gegen insgesamt 42 Grundeigentümer eröffnen. In der Folge fochten verschiedene Eigentümer die vom Präsidenten der Eidgenössischen Schätzungskommission, Kreis 9, für die Planauflage getroffenen Anordnungen beim Bundesgericht an. Dieses forderte den Schätzungskommissions-Präsidenten mit Entscheid vom 3. Juni 1983 auf, die Planauflage nach vorgängiger Aussteckung zu wiederholen; im übrigen wies es die Beschwerden ab (
BGE 109 Ib 130
ff.). Eine weitere Beschwerde wegen angeblicher Mängel der Planauflage
BGE 112 Ib 280 S. 286
wurde am 9. Dezember 1983 abgewiesen. Während der Eingabefrist stellten 163 Enteignete und weitere Interessierte Entschädigungs- und andere Begehren. Nach der Vorladung zu den Einigungsverhandlungen wandte sich eine Gruppe von Enteigneten mit Aufsichtsbeschwerde erneut ans Bundesgericht und verlangte zweistufige Verhandlungen und zusätzliche Instruktionsmassnahmen. Dieses Begehren wurde am 10. Februar 1984 abgelehnt (
BGE 110 Ib 38
ff.). Die an sechs Tagen, vom 14. bis 28. Februar 1984 durchgeführten Einigungsverhandlungen verliefen praktisch erfolglos. An diesen Verhandlungen legte das EMD zwölf weitere Aktenstücke vor, die anschliessend auf Anordnung des Schätzungskommissions-Präsidenten bei der Gemeindekanzlei Oberägeri und - da die Gemeindekanzlei Rothenthurm jede Mithilfe verweigerte - bei der Staatskanzlei Schwyz eingesehen werden konnten.
Im April 1984 stellte das EMD ein Gesuch um vorzeitige Besitzergreifung von acht Grundstücken im Bereich des Kasernenareals sowie im "Aufklärungsgelände". Die Schätzungskommission wies das Begehren nach eingehenden Untersuchungen mit Entscheid vom 28. Februar 1985 ab. Beide Parteien gelangten hierauf ans Bundesgericht (der Enteigner in der Sache, die Enteigneten im Kostenpunkt), das die Verwaltungsgerichtsbeschwerden am 31. Juli 1985 abwies, jene des Enteigners im wesentlichen deshalb, weil nicht gewährleistet sei, dass bei allfälliger Gutheissung der Einsprachen der frühere Zustand wiederhergestellt werden könnte (
BGE 111 Ib 91
ff., 97 ff.).
Nach Abschluss der Einigungsverhandlungen hatte der Schätzungskommissions-Präsident die Akten mit einem Begleitschreiben dem EMD zum Entscheid über die Einsprachen zugestellt. Verschiedene Einsprecher verlangten für diese Übermittlung eine formelle, rekursfähige Verfügung, hatten jedoch mit ihrem Begehren weder beim Präsidenten noch beim Bundesgericht Erfolg (Entscheid vom 3. Januar 1983). Da die Einsprecher weiterhin die Zuständigkeit des EMD zur Behandlung der Einsprachen und Begehren im Sinne von
Art. 7-10 EntG
bestritten, bestätigte das Departement in einer Zwischenverfügung vom 12. April 1985 seine Kompetenz. Auch diese Verfügung wurde mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde angefochten, die das Bundesgericht am 3. Juli 1985 abwies (
BGE 111 Ib 227
ff.).
D.-
Inzwischen hatte am 28. September 1983 die Bundesversammlung den ihr mit bundesrätlicher Botschaft vom 23. Februar
BGE 112 Ib 280 S. 287
1983 unterbreiteten militärischen Bauvorhaben, Landerwerben und Zusatzkreditbegehren zugestimmt (BBl 1983 III S. 1087) und damit auch den Verpflichtungskredit von 108 Millionen Franken für den Bau des Waffenplatzes Rothenthurm bewilligt. Dem Beschluss waren sowohl im Ständerat als auch im Nationalrat ausgedehnte Debatten vorangegangen. Aus den entsprechenden Protokollen geht hervor, dass die Zustimmung zum Kreditbetrag unter verschiedenen Auflagen erteilt wurde, nämlich dass die Kasernenbauten um 50 m nach Süden verschoben würden, eine zusätzliche Vereinbarung mit den Kantonen über weitergehende Naturschutzmassnahmen abgeschlossen werde, die militärischen Nutzungs- und Ausbaupläne in die durch den Kanton Schwyz zu erlassende Schutzverordnung einbezogen würden sowie anstelle der vorgesehenen Enteignungen langfristige Nutzungsverträge abzuschliessen versucht und mit den Arbeiten erst nach Erfüllung aller Bedingungen und Auflagen begonnen werde.
E.-
Das Eidg. Militärdepartement wies sämtliche Einsprachen in dreizehn Entscheiden vom 3., 17., 19. und 24. Juni 1985 ab. Eine Kostenregelung ist nicht getroffen worden.
Gegen diese Departementsentscheide haben verschiedene Enteignete und Einsprecher beim Bundesgericht Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhoben und die Nichtigerklärung des Enteignungsverfahrens bzw. der angefochtenen Entscheide verlangt; allenfalls sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen oder es seien die Einsprachen in Abweisung des Enteignungsbegehrens materiell gutzuheissen.
Das EMD hat für die Schweiz. Eidgenossenschaft den Antrag gestellt, die Beschwerden seien abzuweisen, soweit auf sie einzutreten sei. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Die angefochtenen Entscheide sind als Verfügungen über Pläne grundsätzlich nur insofern mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde anfechtbar, als sie auf Einsprache gegen die Enteignung hin ergangen sind (
Art. 99 lit. c OG
). Die eingereichten Verwaltungsgerichtsbeschwerden sind daher zulässig, soweit sie von jenen Personen erhoben worden sind, die für das Werk Eigentum oder andere Rechte, allenfalls auch nachbarliche Abwehrrechte gegen Immissionen, abzutreten haben. Zulässig ist ebenfalls die Beschwerde der Stiftung WWF Schweiz, die durch Art. 12 Abs. 3 des
BGE 112 Ib 280 S. 288
Bundesgesetzes über den Natur- und Heimatschutz vom 1. Juli 1966 (NHG) zur Geltendmachung von Einsprachen und Begehren gemäss Art. 9, 35 und 55 des Bundesgesetzes über die Enteignung vom 20. Juni 1930 (EntG) ermächtigt wird; auch insofern muss der Departementsentscheid als Entscheid über eine Einsprache gegen die Enteignung im Sinne von
Art. 99 lit. c OG
gelten, obwohl es hier um keine Abtretung von Rechten geht. Allen anderen Einsprechern wäre dagegen die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ans Bundesgericht verwehrt und stünde nur die verwaltungsrechtliche Beschwerde an den Bundesrat offen (
Art. 73 Abs. 1 lit. c und
Art. 74 lit. a VwVG
). Werden indessen - wie hier - die selben Pläne sowohl von Enteigneten als auch von weiteren Interessierten mit gleichen oder ähnlichen Rügen angefochten, so behandelt das Bundesgericht aus Gründen der Rechtssicherheit und der Prozessökonomie kompetenzausweitend sämtliche Beschwerden (
BGE 110 Ib 401
E. 1c;
BGE 111 Ib 291
E. 1a). Unter diesem Gesichtswinkel kann auf alle Beschwerden eingetreten werden.
6.
Soweit der Einwand, das EMD sei zur Einleitung der Enteignung nicht befugt gewesen, von den Beschwerdeführern rechtzeitig erhoben worden ist, hat sich das Bundesgericht von neuem mit ihm zu befassen, da die in
BGE 109 Ib 134
ff. hiezu angestellten Erwägungen für den Entscheid nicht massgeblich, sondern nur sog. obiter dicta waren und als solche ohnehin keine Rechtskraft entfalten können. Die erneute Prüfung der Kompetenzordnung führt jedoch, wie das Bundesgericht bereits im Entscheid vom 18. Juni 1986 i.S. R. und M. gegen die Schweiz. Eidgenossenschaft festgestellt hat, zu keinem anderen Ergebnis.
Die Beschwerdeführer werfen unter anderem die Frage auf, ob Art. 98 des Beschlusses der Bundesversammlung über die Verwaltung der schweizerischen Armee vom 30. März 1949 (BBVers VA; SR 510.30), welcher das Eidg. Militärdepartement zur Enteignung für militärische Anlagen ermächtigt, nicht durch das Geschäftsverkehrsgesetz vom 23. März 1962 (Bundesgesetz über den Geschäftsverkehr der Bundesversammlung sowie über die Form, die Bekanntmachung und das Inkrafttreten ihrer Erlasse/GVG; SR 171.11) aufgehoben worden sei, da er sich mit dessen Bestimmungen, insbesondere mit
Art. 5 GVG
, nicht vereinbaren lasse. Diese Frage ist zu verneinen. Zwar trifft zu, dass
Art. 5 GVG
die Form des Bundesgesetzes unter anderem für Normen vorschreibt, die die Zuständigkeit und die Aufgaben der Behörden regeln. Das Geschäftsverkehrsgesetz von 1962 ist jedoch ausschliesslich auf
BGE 112 Ib 280 S. 289
Erlasse anwendbar, die nach seinem Inkrafttreten ergingen. Durch die Schlussbestimmungen sind einzig das vorangegangene Bundesgesetz und einige Artikel des Bundesgesetzes über das Verfahren bei Volksbegehren und Abstimmungen betreffend die Revision der Bundesverfassung aufgehoben worden (vgl. Art. 71 der heutigen Fassung); dagegen wurde an jene Erlasse, die von der Form oder ihrem Zustandekommen her den neuen Vorschriften nicht mehr entsprachen, nicht gerührt. Dass dem geltenden Geschäftsverkehrsgesetz keine Rückwirkung zukommt, ergibt sich ebenfalls daraus, dass eine Übergangsbestimmung nur für die Fristen für noch hängige Volksbegehren getroffen worden ist (Art. 72 der heutigen Fassung). Übrigens hebt auch die Bundesversammlung die unter der Herrschaft des alten Geschäftsverkehrsgesetzes in die Form des allgemein verbindlichen Bundesbeschlusses gekleideten Erlasse durch Akte gleicher Form auf, selbst wenn der neue Erlass nach dem revidierten GVG als einfacher Bundesbeschluss ergehen kann (vgl. VEB 1962 Nrn. 13 und 14; AUBERT, Traité de droit constitutionnel suisse, Bd. II S. 478 Ziff. 1314). Im weiteren ist der Beschluss der Bundesversammlung über die Verwaltung der schweizerischen Armee (nunmehr "Bundesbeschluss über die Verwaltung der schweizerischen Armee", vgl. BBl 1985 II S. 1237, Amtl.Bull. NR 1986 S. 493, StR 1986 S. 214) seit Inkrafttreten des heutigen Geschäftsverkehrsgesetzes verschiedene Male abgeändert worden, ohne dass es der Gesetzgeber je als notwendig erachtet hätte, die Bestimmung von Art. 98 aufzuheben.
Steht demnach Art. 98 BBVers VA auch heute noch in Kraft, so stellt sich die schon in
BGE 109 Ib 134
aufgeworfene Frage, ob das Bundesgericht aufgrund von
Art. 113 Abs. 3 BV
an nicht referendumspflichtige Beschlüsse der Bundesversammlung gebunden und daher jede weitere Kontrolle ausgeschlossen sei, oder ob - wie die Beschwerdeführer behaupten - solche Beschlüsse gleich wie Rechtsverordnungen des Bundesrates auf ihre Rechtsbeständigkeit hin überprüft werden könnten. Träfe letzteres zu, so wäre in Bestätigung der in
BGE 109 Ib 134
E. 2d angestellten Überlegungen die formelle Gesetzmässigkeit von Art. 98 BBVers VA erneut zu bejahen.
Es steht ausser Zweifel, dass für die blosse Delegation der Befugnis zur Ausübung des dem Bund zustehenden Enteignungsrechts vom Bundesrat an eine andere Bundesbehörde (
Art. 3 Abs. 1 EntG
) keine höheren Anforderungen an die Form gestellt werden können, als sie das Enteignungsgesetz selbst, das seinerzeit dem
BGE 112 Ib 280 S. 290
Referendum unterstand, für die Übertragung des Enteignungsrechts an Dritte vorsieht. Nun hält das Gesetz in diesem Zusammenhang ausdrücklich die "Werke, die im Interesse der Eidgenossenschaft oder eines grossen Teiles des Landes liegen" (Art. 3 Abs. 2 lit. a) und "andere im öffentlichen Interesse liegende Zwecke" (Art. 3 Abs. 2 lit. b) auseinander und bestimmt, dass für die ersten nur ein (nicht referendumspflichtiger) Bundesbeschluss genüge, während für die zweiten ein dem Referendum unterstehendes Bundesgesetz erforderlich sei. Damit hat der Gesetzgeber die bereits in
Art. 1 Abs. 1 EntG
getroffene Unterscheidung übernommen, die darauf zurückzuführen ist, dass bei der Schaffung des Enteignungsgesetzes allein für die Expropriation zugunsten von Werken "im Interesse der Eidgenossenschaft oder eines grossen Teils derselben" eine verfassungsmässige Grundlage (
Art. 23 BV
) bestand, und der Gesetzgeber Enteignungen für andere öffentliche Zwecke nur zulassen wollte, soweit sie sich auf ein Bundesgesetz stützen liessen (FRITZ HESS, Das Enteignungsrecht des Bundes, N. 1 zu
Art. 23 BV
, N. 2 und 3 zu
Art. 1 EntG
, N. 7-14 zu
Art. 3 EntG
). Da militärische Anlagen zur Kategorie der Werke im Interesse der Eidgenossenschaft zählen, muss somit für die Ermächtigung des Departementes, das Enteignungsrecht anstelle des Bundesrates auszuüben, ebenfalls ein einfacher, dem Referendum entzogener Bundesbeschluss genügen.
Gegen diese Argumentation wenden die Beschwerdeführer ein, bei der Übertragung des Enteignungsrechts an einen Dritten im Sinne von
Art. 3 Abs. 2 lit. a EntG
gehe es nur darum, den Dritten in einem Einzelfall zur Enteignung für ein bestimmtes Werk zu ermächtigen, und handle es sich nicht um die generelle Einräumung des ius expropriandi. Das trifft jedoch nicht zu. Stehen Werke im Interesse der Eidgenossenschaft oder eines grossen Teils derselben in Frage, so kann mit einem einfachen, nicht referendumspflichtigen Bundesbeschluss dem Dritten das Enteignungsrecht sowohl für ein bestimmtes Einzelwerk als auch ganz allgemein übertragen werden. Das ergibt sich klar aus den Bestimmungen von
Art. 2 und
Art. 3 Abs. 2 lit. a EntG
und deren Entstehungsgeschichte: Der Gesetzesentwurf vom Oktober 1916 sah ausdrücklich vor, dass das Enteignungsrecht "von der Bundesverwaltung oder von Dritten gestützt auf eine allgemein oder nur für den Einzelfall gültige Ermächtigung ausgeübt" werden könne; diese Ermächtigung werde - falls der Bund das öffentliche Werk nicht selbst errichtet - durch Bundesbeschluss für
BGE 112 Ib 280 S. 291
andere, dem öffentlichen Interesse der Eidgenossenschaft oder eines grossen Teiles derselben dienende Werke oder durch Bundesgesetz für sonstige, im öffentlichen Interesse des Bundes liegende Zwecke erteilt (Art. 1 Abs. 1 und Abs. 2 lit. b und c des Entwurfes). Im ergänzenden Bericht zu diesem Vorentwurf hielt der Verfasser, Bundesrichter Jaeger, auf die von der Berner-Alpenbahn-Gesellschaft aufgeworfene Frage, wann die Erteilung des Expropriationsrechts eine "allgemeine" und wann eine "nur für den Einzelfall gültige" sei, folgendes fest (Ergänzender Bericht zum Entwurf eines Bundesgesetzes über die Zwangsenteignung, S. 2 f.):
"Ob nun die zur Ermächtigung überhaupt zuständige Stelle die einte oder andere Art der Erklärung wählen will, ist doch eine reine Ermessensfrage, die von der - im Gesetze gar nicht vorauszusehenden - Gestaltung der einzelnen tatsächlichen Verhältnisse abhängt. Es ist nicht zutreffend, wie die Lötschbergbahn annimmt, dass nach dem Entwurf eine allgemeine Ermächtigung lediglich auf dem Wege der Bundesgesetzgebung erteilt werden könne. Da die Berechtigung zur Ausübung der Enteignung für öffentliche Werke des Bundes bereits in Art. 23 der Verfassung generell ausgesprochen worden ist, so kann auch durch einfachen Bundesbeschluss für eine ganze Kategorie von Werken, die unter diesen Begriff fallen, ein für allemal das Enteignungsrecht verliehen werden, wie dies z.B. seinerzeit für die von den Gemeinden zu errichtenden Schiessplätze geschehen ist. Die Form der Bundesgesetzgebung wird bewusst vom Entwurf nur als Minimalgarantie für die Erteilung des Rechts zur Enteignung zu andern öffentlichen Zwecken (also nicht zu öffentlichen Werken des Bundes) verlangt."
In der Folge wurde der in Art. 1 des Entwurfes enthaltene Passus "allgemein oder nur für den Einzelfall gültige" (Ermächtigung) als überflüssig gestrichen (Protokoll der Expertenkommission vom 15. Oktober 1917), die Vorschrift über die Übertragung des Enteignungsrechts an Dritte redaktionell bereinigt und in Art. 3 des endgültigen Entwurfes verwiesen, am Sinn der Bestimmung jedoch nichts geändert (vgl. die bundesrätliche Botschaft zum Entwurfe eines Bundesgesetzes über die Enteignung vom 21. Juni 1926, BBl 1926 II S. 10 f., 114). National- und Ständerat stimmten ihr diskussionslos zu (Sten.Bull. NR 1928 S. 612, StR 1929 S. 143). Dementsprechend wird in der bisherigen Lehre (FRITZ HESS, a.a.O. N. 7, 13 und 14 zu
Art. 3 EntG
), in der Praxis der Verwaltungsbehörden (VEB 24/1954 Nr. 154 S. 296) und in weiteren Entscheiden des Bundesgerichtes (
BGE 105 Ib 198
,
BGE 104 Ib 31
E. 3a) davon ausgegangen, dass zur Verleihung des Enteignungsrechtes an Dritte für die in
Art. 3 Abs. 2 lit. a EntG
genannten Werke in jedem Falle ein Bundesbeschluss genüge.
BGE 112 Ib 280 S. 292
Allerdings wird im unlängst erschienenen neuen Kommentar zum Enteignungsrecht (HEINZ HESS/HEINRICH WEIBEL, Das Enteignungsrecht des Bundes, 1986) die gegenteilige Auffassung vertreten und zu
Art. 3 Abs. 2 EntG
ausgeführt, "dass nach Bst. a Einzelfälle in Form individuell-konkreter Erlasse gemeint sind, während es sich nach Bst. b um allgemeine Übertragungen in Form generell-abstrakter Erlasse handelt" (Bd. I S. 66 N. 30 zu
Art. 3 EntG
). Diese Meinung findet jedoch, wie dargelegt, weder im Gesetzeswortlaut noch in den Gesetzesmaterialien eine Stütze und steht mit der bisherigen Doktrin und Rechtsprechung, mit der sich der Kommentar nicht auseinandersetzt, in Widerspruch. Übrigens kann auch der Ansicht nicht beigepflichtet werden, zur Übertragung der Enteignungsbefugnis vom Bundesrat auf eine andere Amtsstelle sei sogar ein Erlass der Verordnungsstufe ausreichend, da in
Art. 3 Abs. 1 EntG
von "Gesetzgebung" die Rede sei und unter diesen Begriff sämtliche generell-abstrakten Normen fielen (a.a.O. Bd. II S. 188 f. N. 47 zu Art. 98 BBVers VA). Diesem Schluss steht der bereits erwähnte
Art. 5 GVG
entgegen, nach welchem Bestimmungen, die die Zuständigkeit und Aufgaben der Behörden regeln, in die Form des Bundesgesetzes zu kleiden sind. Einzig aus der vom Bundesgesetzgeber in
Art. 3 Abs. 2 lit. a und b EntG
getroffenen unterschiedlichen Regelung lässt sich folgern, dass es für eine Delegation im Sinne von Art. 3 Abs. 1 nicht in jedem Falle eines formellen Bundesgesetzes bedürfe.
7.
In ihrer gemeinsamen Rechtsschrift anerkennen die Beschwerdeführer, dass sich das Bundesgericht in seinem Entscheid vom 3. Juli 1985 auf Zwischenverfügung des Departementes hin über die Zuständigkeit des EMD zur Behandlung der Einsprachen und über dessen Ausstandspflicht rechtskräftig ausgesprochen hat. Die Rechtskraft erstreckt sich aber entgegen der Annahme der Beschwerdeführer nicht nur auf die Beurteilung der damals aufgeworfenen Fragen nach Landesrecht, sondern umfasst auch den Entscheid über die Vereinbarkeit der Departementsverfügung mit
Art. 6 Abs. 1 EMRK
. Soweit diese Frage in der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde von neuem aufgegriffen wird, kann darauf nicht eingetreten werden.
8.
a) Vor dem Ausbau der eidgenössischen Verwaltungsgerichtsbarkeit im Jahre 1969 oblag der Entscheid über die Einsprachen in allen Enteignungsfällen dem Bundesrat, unabhängig davon, ob das Enteignungsverfahren durch den Bundesrat, durch
BGE 112 Ib 280 S. 293
eine andere Amtsstelle oder durch ein ausserhalb der Bundesverwaltung stehendes, mit dem Enteignungsrecht ausgestattetes oder noch auszustattendes Unternehmen veranlasst wurde. Dass der Bundesrat allenfalls selbst beschlossen hatte, das Enteignungsrecht in Anspruch zu nehmen in der vorläufigen Annahme, die Enteignung sei rechtmässig, hinderte ihn also nicht, im Einspracheverfahren auf seinen provisorischen, nur der Verfahrenseröffnung dienenden Entscheid zurückzukommen und unter Umständen das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Enteignung zu verneinen. Im bundesrätlichen Entwurf für die Änderung des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege wurde denn auch zunächst in Art. 99 lit. i die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen Verfügungen auf dem Gebiete der Enteignung als unzulässig erklärt, unter Vorbehalt der Weiterziehung von Verfügungen der Schätzungskommission nach
Art. 77 ff. EntG
(BBl 1965 II S. 1335). Der Bundesrat führte in seiner Botschaft zugunsten des bestehenden Rechtszustandes aus, beim Erlass von Verfügungen in Enteignungssachen, so etwa bei der Erteilung des Enteignungsrechts, stehe den Behörden ein sehr weiter Handlungs- und Beurteilungsspielraum zu; aus diesem Grunde eigneten sich solche Verfügungen nicht für eine verwaltungsgerichtliche Überprüfung. Über unerledigte Einsprachen gegen die Enteignung solle daher weiterhin der Bundesrat entscheiden (a.a.O. S. 1310).
Das Parlament folgte in diesem Punkte dem Bundesrat nicht. Der auf Anregung der nationalrätlichen Kommission neu entworfene
Art. 98bis OG
hielt abweichend vom bundesrätlichen Vorschlag fest, dass die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen die Genehmigung oder die Verweigerung der Genehmigung von Plänen und gegen den Erlass von rechtsgestaltenden Plänen ausgeschlossen sein soll, "soweit es sich nicht um Verfügungen auf dem Gebiet der Enteignung oder Landumlegung handelt". Trotz der von Bundesrat von Moos vorgetragenen Bedenken nahmen beide Kammern diese Bestimmung diskussionslos an, welche im Hinblick auf die Terminologie des in Überarbeitung stehenden Enteignungsgesetzes redaktionell bereinigt und schliesslich als
Art. 99 lit. c OG
in Kraft gesetzt wurde (vgl. Amtl.Bull. NR 1967 S. 25 Votum Tschäppät, S. 30 Votum von Moos, S. 35; StR 1968 S. 202 Votum Leu, S. 349 f.). Nachträglich passte der Gesetzgeber
Art. 55 EntG
noch rein formell an die neue Rechtslage an (vgl. BBl 1970 I S. 1016 f.;
BGE 111 Ib 230
). Mit der Vorschrift von
Art. 99 lit. c OG
war nun verwirklicht worden, was der Bundesrat schon 1926
BGE 112 Ib 280 S. 294
in seiner Botschaft zum Enteignungsgesetz für die Zukunft in Betracht gezogen hatte, als er erklärte: "Es wird nicht ausgeschlossen sein, solche Entscheide [...] seinerzeit der Überprüfung des Verwaltungsgerichts zu unterstellen, um dem Bürger die Möglichkeit zu geben, auch die Frage gerichtlich entscheiden zu lassen, ob der Bund das Enteignungsrecht berechtigterweise für ein eigenes Werk in Anspruch nehme, für das die Verfassung es ihm geben wollte" (BBl 1926 II S. 10). Andererseits ist damit die Enteignungsgesetzgebung verfahrensrechtlich auf den Stand gebracht worden, den die (damals für die Schweiz noch nicht in Kraft getretene) Bestimmung von
Art. 6 Abs. 1 EMRK
erheischt, welche nach der Praxis des Europäischen Gerichtshofes dem Enteigneten nicht nur im Entschädigungs-, sondern auch im Einspracheverfahren Anspruch auf einen Richter gibt (vgl.
BGE 111 Ib 231
/32 E. 2e).
Dieser Blick auf die gesetzgeberischen Arbeiten bestätigt die vom Bundesgericht schon in
BGE 98 Ib 421
und
BGE 111 Ib 231
getroffene Feststellung, dass der Entscheid der im Einzelfall zuständigen Behörde, den Enteignungsweg zu beschreiten, nur ein prima-facie-Entscheid sein kann, der mit dem Vorbehalt verbunden ist, dass der Einspracheentscheid für den Enteigner günstig laute, und der diesen grundsätzlich nicht präjudizieren kann. Dass der Rechtsmittelweg im revidierten OG neu geregelt worden ist, hat hieran nichts geändert. Eine andere Auslegung würde zur Folge haben, dass das Einspracheverfahren sinnlos und in Verletzung der verfassungsmässigen und gesetzlichen Verfahrensgarantien zur Enteignung geschritten würde, ohne dass die Betroffenen Gelegenheit erhielten, sich gegen den Eingriff zur Wehr zu setzen.
Nun wird indessen im zitierten neuen Kommentar HESS/WEIBEL die Meinung vertreten, in bestimmten Fällen bestehe wegen vorausgegangener Erlasse oder anderer Rechtsakte übergeordneter politischer Behörden von Anbeginn an die Gewissheit über das öffentliche Interesse am geplanten Werk ("praesumptio iuris et de iure"); Einsprachen, die dieses Interesse in Frage stellten, müssten von vornherein abgewiesen werden. Das treffe immer dann zu, wenn der Bundesrat selbst in Anwendung von
Art. 3 Abs. 1 EntG
die Eröffnung eines Enteignungsverfahrens beschlossen habe oder wenn ein solches von einem Departement angeordnet worden sei, nachdem die Bundesversammlung den entsprechenden Verpflichtungskredit beschlossen habe. Das Bundesgericht sollte beim Weiterzug von Einspracheentscheiden der Fachdepartemente der Gewaltentrennung wegen davon Abstand nehmen, die Beschlüsse des
BGE 112 Ib 280 S. 295
Bundesrates im Sinne von
Art. 3 Abs. 1 EntG
bezüglich des öffentlichen Interesses am Werk zu überprüfen, weil es sich bei ihnen nicht um blosse Verwaltungsverfügungen und nicht um Rechtsverordnungen handle, sondern um die Ausübung von Hoheitsrechten durch den Bund (a.a.O. Bd. I N. 13, 37, 40 und 42 zu
Art. 1 EntG
, N. 23, 25 und 26 zu
Art. 3 EntG
, Bd. II S. 461 N. 19 zu
Art. 15 NHG
). Diesen Ausführungen kann aus den schon angegebenen Gründen - Unwirksamwerden des im Gesetz vorgesehenen Einspracheverfahrens, Unvereinbarkeit mit den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und mit den Anforderungen der Europäischen Menschenrechtskonvention - nicht zugestimmt werden. Übrigens kann aus dem Umstand, dass bei der Teilrevision des Enteignungsgesetzes im Jahre 1971 die Befugnis zur Inanspruchnahme des Enteignungsrechtes beim Bundesrat belassen wurde, nichts zugunsten der dargestellten Meinung abgeleitet werden. Aus dem im Kommentar angeführten Passus der bundesrätlichen Botschaft zur Revision des EntG (Bd. I S. 40 N. 40 zu
Art. 1 EntG
; BBl 1970 I S. 1018) ergibt sich vielmehr, dass die in
Art. 3 Abs. 1 EntG
vorgesehene Kompetenzordnung beibehalten und auf die Einführung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde verzichtet wurde, weil im Falle der Geltendmachung des Enteignungsrechtes dem Betroffenen ja die Einsprache offenstehe, um seine Rechte zu wahren - also ein Hinweis mehr auf den rein vorläufigen Charakter des Beschlusses im Sinne von
Art. 3 Abs. 1 EntG
.
b) Die im Einspracheverfahren zu beantwortende Frage, welche der einander gegenüberstehenden öffentlichen und privaten Interessen oder der im Widerstreit liegenden öffentlichen Interessen überwögen, ist eine Rechtsfrage, die das Bundesgericht frei prüft. Das Gericht auferlegt sich jedoch eine gewisse Zurückhaltung, wenn sich technische Probleme stellen und die Einsprachebehörde gestützt auf die Berichte der ihr vom Gesetzgeber beigegebenen Fachinstanzen entschieden hat, wenn örtliche Verhältnisse zu würdigen sind, sofern die Vorinstanz diese besser kennt als das Bundesgericht, oder wenn sich andere Fragen im Grenzbereich zwischen Recht und Ermessen stellen (
BGE 109 Ib 300
, 108 Ib 181,
BGE 98 Ib 217
, 421 f.). Voraussetzung für diese Zurückhaltung ist allerdings, dass im konkreten Fall keine Anhaltspunkte für eine unrichtige oder unvollständige Feststellung des Sachverhaltes vorliegen und davon ausgegangen werden darf, dass die Vorinstanz die für den Entscheid wesentlichen Gesichtspunkte geprüft und die erforderlichen Abklärungen sorgfältig und umfassend vorgenommen
BGE 112 Ib 280 S. 296
hat (
BGE 109 Ib 80
E. 3a,
BGE 98 Ib 217
E. 2c; GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. A. S. 308; GRISEL, Traité de droit administratif, Bd. I, S. 344). Was Vorentscheide und Stellungnahmen anderer Behörden zum umstrittenen Werk anbelangt, so ist ihnen - ohne dass sie das Bundesgericht binden würden - im Rahmen der Interessenabwägung gebührend Rechnung zu tragen, insbesondere wenn die Realisierung eines Projektes notwendigerweise in Etappen vor sich gehen muss und ein Zusammenwirken von Bundes- und kantonalen Behörden oder zumindest gegenseitige Absprachen verlangt. Die Rücksichtnahme auf Beschlüsse und Vereinbarungen, die nur unter dem Vorbehalt des Einspracheentscheides ergehen konnten, darf indessen nicht so weit gehen, dass im Ergebnis die Privaten ihres Rechtsschutzes und die vom Gesetzgeber mit der Wahrung öffentlicher Interessen betrauten Vereinigungen ihrer Interventionsmöglichkeit verlustig gingen.
c) Zu den Vorarbeiten und Vorentscheiden, die hier bei der Interessenabwägung zu berücksichtigen sind, gehören unter anderem der Bericht der Planungskommission von 1974, in welchem verschiedene Varianten geprüft worden sind, sowie die Vereinbarung des Bundes mit den Kantonen Schwyz und Zug aus dem Jahre 1978. Sie können allerdings aus dem erwähnten Grunde nicht entscheidbestimmend sein. Hinzu kommt, dass sich hinsichtlich des Landschafts- und Naturschutzes insofern eine neue Situation ergeben hat, als 1979 die Talebene zwischen Rothenthurm und Biberbrugg in das KLN-Inventar aufgenommen worden ist und seit 1983 grössere Teile des umstrittenen Gebietes zu den Objekten 1307 und 1308 des Bundesinventars der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung gehören (vgl. den Anhang zur Verordnung über das Bundesinventar der Landschafts- und Naturdenkmäler vom 10. August 1977/19. Dezember 1983; SR 451.11). Dieser Anerkennung der Schutzwürdigkeit der fraglichen Region muss ebenfalls Rechnung getragen werden. Was die Abgrenzung der heutigen Schutzgebiete gemäss BLN-Inventar anbelangt, welche im Gegensatz zu jenen des KLN-Inventars das Kasernenareal und rund zwei Drittel des Zielhanges nicht mehr umfassen (vgl. oben Sachverhalt lit. B), so ist diese vom Bundesrat aufgrund seiner ihm in
Art. 5 NHG
zugewiesenen Kompetenz getroffen worden. Da Bundesratsentscheide der verwaltungsgerichtlichen Überprüfung entzogen sind, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt, fällt eine "Korrektur" der Grenzziehung - wie sie die Beschwerdeführer anregen - ausser Betracht. Es trifft wohl
BGE 112 Ib 280 S. 297
zu, dass bei der Abgrenzung insbesondere des Objektes 1308 auf das Waffenplatzprojekt Rücksicht genommen worden ist. Das bedeutet jedoch nur, dass der Bundesrat bereits in diesem Rahmen eine Interessenabwägung vorgenommen hat, an deren Ergebnis das Bundesgericht gebunden ist, insofern damit das Schutzgebiet selbst umschrieben worden ist. Die durch die Verfassung (Art. 24sexies) gebotene Rücksichtspflicht gegenüber Landschaft und Natur beschränkt sich aber, wie im Vorwort des Vorstehers des Eidgenössischen Departementes des Innern zum BLN-Inventar hervorgehoben wird, nicht nur auf die ausdrücklich inventarisierten Objekte. Eine besondere Beachtung der Aspekte des Landschaftsschutzes und der Anliegen der Naturerhaltung drängt sich vor allem auch dort auf, wo es wie hier um Gebiete geht, die an Objekte von nationaler Bedeutung angrenzen und deren Beeinträchtigung sich unmittelbar oder mittelbar auf diese auswirken könnte (vgl.
BGE 108 Ib 368
E. 6a).
9.
Mit den dem Rückweisungsbegehren zugrundeliegenden Rügen der Rechtsverweigerung machen die Beschwerdeführer im wesentlichen geltend, das EMD habe es unterlassen, den Sachverhalt sorgfältig und vollständig abzuklären und die für den Entscheid notwendigen Erhebungen, die für eine Bejahung des öffentlichen Interesses am Werk vorausgesetzt werden müssten, in einem unter Wahrung des rechtlichen Gehörs durchgeführten Instruktionsverfahren vorzunehmen.
a) (In E. 4c des Entscheides vom 3. Juni 1983 -
BGE 109 Ib 137
- ist nur geprüft worden, ob die in
Art. 27 und 30 EntG
an die Planauflage gestellten Anforderungen erfüllt worden seien, und nicht, ob im anschliessenden Einspracheverfahren die Sache genügend instruiert worden sei.)
In diesem Zusammenhang ist zu unterstreichen, dass die Tatsache, dass die Einsprachebehörde selbst Projektverfasserin und Bauherrin ist, keinen Einfluss auf die Art und Weise der Instruktion der Einsprachen und die Beteiligung der Parteien am Verfahren haben kann und darf. Insbesondere ist darauf zu achten, dass die Einspracheinstanz nicht aufgrund von Fakten entscheidet, die ihr als Projektverfasserin bekannt, den Einsprechern aber nie zur Kenntnis gegeben worden sind. Das Einspracheverfahren darf insgesamt nicht anders gestaltet werden, als wenn ein Departement über das Projekt einer relativ autonomen Anstalt der Bundesverwaltung (z.B. SBB) oder eines ausserhalb der Verwaltung stehenden Unternehmens (z.B. Elektrizitätswerk) zu entscheiden hat.
BGE 112 Ib 280 S. 298
b) Bei der Prüfung, ob der Sachverhalt für eine sorgfältige Abklärung der für und gegen das Werk sprechenden Interessen genügend bekannt sei oder ab - unter Wahrung der Parteirechte der Einsprecher - noch zusätzliche Erhebungen angestellt werden müssten, ist auf die verschiedenen Interessen im einzelnen einzugehen und im Hinblick auf deren Bedeutung für den Entscheid zu untersuchen, ob die wesentlichen Gesichtspunkte bekannt seien und eine Beurteilung bereits zuliessen. Das heisst, dass über den Vorwurf der formellen Rechtsverweigerung nicht völlig losgelöst von materiellen Fragen entschieden werden kann.
10.
Diese Prüfung ergibt, dass die Rügen der Beschwerdeführer in folgenden Punkten als unbegründet abzuweisen sind:
a) Die vom konkreten Projekt unabhängige prinzipielle Frage nach der Notwendigkeit eines neuen Waffenplatzes ist nach eingehenden Abklärungen bejaht worden und wird von den Einsprechern grundlos wieder aufgeworfen. Es genügt, in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass das Bedürfnis nach einer zusätzlichen Kaserne mit Ausbildungsplätzen von den zuständigen militärischen Instanzen und der Planungskommission festgehalten, von den kantonalen Behörden bestätigt, vom Bundesrat in verschiedenen Berichten und Botschaften unterstrichen und schliesslich auch vom Parlament anerkannt worden ist. Das Bundesgericht hat darauf schon in seinen Entscheiden vom 30. Mai 1984 (betreffend die Rodungsbewilligung) und vom 26. September 1984 (betreffend die Befreiung von der Baubewilligungspflicht) hingewiesen. Auf den Antrag der Beschwerdeführer, es sei zu untersuchen, ob das angebliche Bedürfnis nach einem weiteren Waffenplatz nicht durch vermehrte Belegung der bestehenden Plätze und entsprechende Rationalisierungsmassnahmen gedeckt werden könnte, ist nicht einzugehen. Wie das EMD zu Recht ausführt, ist einerseits dem seit bald zwanzig Jahren bestehenden Missstand abzuhelfen, der in der provisorischen Unterbringung der Rekrutenschule an drei verschiedenen Orten und im Fehlen von Ausbildungsanlagen und -plätzen liegt. Andererseits können die bestehenden Waffenplätze nicht ohne nachteilige Folgen für die Anwohner stärker ausgelastet werden. Ausserdem sind die je nach Truppengattung unterschiedlichen Bedürfnisse zu berücksichtigen. Im übrigen hat das Bundesgericht keinen Anlass, daran zu zweifeln, dass bei der Dimensionierung des Projektes der zu erwartenden Abnahme der Rekrutenbestände Rechnung getragen worden ist.
BGE 112 Ib 280 S. 299
b) Ausser Frage steht im weiteren, dass das von den Beschwerdeführern geltend gemachte Interesse an der ungeschmälerten Erhaltung ihrer Landwirtschaftsbetriebe - so wichtig dieses an sich auch ist - vor der Notwendigkeit der Schaffung eines Waffenplatzes zurückzuweichen hat, kann doch kein Waffenplatz erstellt werden, ohne landwirtschaftlich nutzbares Land in Anspruch zu nehmen, und haben bei einer Verlegung des Platzes lediglich andere Bauern das Opfer zu erbringen. Übrigens geht aus den Akten hervor, dass die Eidgenossenschaft vorgesorgt hat, um bei einer Verwirklichung des Projektes am vorgesehenen Orte allfälligen auf
Art. 18 EntG
gestützten Realersatzbegehren - die von der Eidgenössischen Schätzungskommission zu behandeln sind (
Art. 64 Abs. 1 lit. a EntG
; vgl.
BGE 105 Ib 90
ff.) - entsprechen zu können. Ausdrückliche Begehren um Erhaltung von Kulturland im Sinne von
Art. 8 EntG
, über die die Einspracheinstanz zu befinden hätte (sofern solche auch im Falle von Enteignungen durch den Bund erhoben werden können), haben die Beschwerdeführer nicht gestellt, so dass nicht näher auf diesen Punkt einzugehen ist. Damit ist allerdings noch nichts zur Frage gesagt, welches Gewicht den landwirtschaftlichen Interessen im Vergleich zu ihnen gegenüberstehenden Anliegen des Natur- und Landschaftsschutzes beizulegen sei und welche dieser Interessen im konkreten Falle bei der Alternativmöglichkeit, den Waffenplatz entweder im Naturschutz- oder im landwirtschaftlich intensiver nutzbaren Gebiet zu erstellen, hintanzutreten haben. Fest steht nur, dass der Vorwurf, die landwirtschaftlichen Interessen seien unberücksichtigt geblieben, in materieller und formeller Hinsicht unberechtigt ist.
c-d) (Keine zusätzlichen Abklärungen nötig hinsichtlich der Auswirkungen des Waffenplatzes auf den Tourismus, insbesondere auf den Langlaufbetrieb, sowie hinsichtlich der Waldbrandgefahr und der Gefährdung des Moorbodens durch giftige Munitionsrückstände.)
11.
Besondere Aufmerksamkeit ist der Frage zu schenken, ob die Enteignung nicht - jedenfalls für gewisse Teilflächen - eingeschränkt werden und sich die Enteignerin mit Dienstbarkeitsrechten statt des Eigentums begnügen könnte. Dieses Ansinnen hat das EMD ohne nähere Begründung in allen Fällen, auch gegenüber der Korporation Oberägeri, abgelehnt.
Der Erwerb blosser Servitute fällt für den Boden, auf dem Gebäude oder Anlagen errichtet werden sollen, ausser Betracht.
BGE 112 Ib 280 S. 300
Die Eidgenossenschaft müsste sich für diese Teile des Waffenplatzes Baurechte einräumen lassen, die im einzelnen zu umschreiben wären und als selbständige Rechte höchstens auf hundert Jahre begründet werden könnten (
Art. 779l Abs. 1 ZGB
), so dass nach Ablauf der festgesetzten Dauer erneut Verhandlungen aufzunehmen wären und allenfalls ein weiteres Mal zur Enteignung geschritten werden müsste (vgl.
BGE 99 Ia 478
ff.). Eine Übertragung von blossen Servituten könnte dagegen für jene Teile des Übungsgeländes in Erwägung gezogen werden, wo keine Anlagen vorgesehen sind und die in gewissem Umfang weiterhin landwirtschaftlich bewirtschaftet werden sollen; den Eigentümern dieses Bodens dürfte allenfalls ein schutzwürdiges Interesse an der Restnutzungsmöglichkeit, das über das reine Interesse an der "nuda proprietas" hinausgeht, zuerkannt werden. Andererseits lässt sich wohl auch für diese Teile die Inanspruchnahme des vollen Eigentums rechtfertigen: Ein Waffenplatz bildet ein Ganzes, das nach einer einheitlichen Rechtsgrundlage verlangt und dessen Aufteilung in verschiedene Sektoren zu Umtrieben sowie zusätzlichen Sicherheitsproblemen führen und Anpassungen an künftige Entwicklungen auf dem Waffen- und Ausbildungsbereich erschweren oder verunmöglichen könnte. Es ist nicht zu übersehen, dass bei solchen Anlagen die militärische Nutzung im Vordergrund steht und sich landwirtschaftliche oder andere Bewirtschaftungen dieser unterzuordnen haben, so dass die Restnutzungen wohl mit Vorteil im Rahmen von Pachtverträgen sicherzustellen sind. Ein endgültiger Entscheid wäre indessen in diesem Punkte verfrüht. Wie aus den vom EMD nachträglich zu den Akten gegebenen Unterlagen hervorgeht (Entwurf einer Zusatzvereinbarung zwischen den Kantonen Schwyz und Zug und der Eidgenossenschaft vom 8. Oktober 1985 samt Detailplan Nr. 783/B vom 21.6.1985), sollen im "Aufklärungsgelände" zum Schutze des Hochmoores fünf teils grossflächige Sperrzonen geschaffen werden, in denen militärische Übungen völlig untersagt und die, sofern erforderlich, durch Abschrankungen zu schützen sind. Diese Sperrgebiete können somit - falls das "Aufklärungsgelände" wie geplant verwirklicht wird - nur die Funktion einer Sicherheitszone übernehmen und werden aller Wahrscheinlichkeit nach auch in fernerer Zukunft nicht für militärische Zwecke zu gebrauchen sein. Dass das "Aufklärungsgelände" durch solche Schutzmassnahmen stark an Wert für die militärische Ausbildung einbüsst, hat der frühere Vorsteher des EMD in den parlamentarischen Beratungen selbst eingeräumt ("Les
BGE 112 Ib 280 S. 301
importantes restrictions d'usage que nous nous sommes imposées sur le site du Hochmoor diminuent sans doute - on l'a dit et il faut le reconnaître - fortement l'utilité militaire de ce terrain dit d'exploration." Amtl.Bull. NR 1983 S. 1279) und im selben Zusammenhang erklärt, es sei durchaus möglich, für bestimmte Flächen Benützungsverträge abzuschliessen statt zu enteignen ("Il est possible de définir, pour certains secteurs [...] en lieu et place de l'expropriation, des conventions d'utilisation." a.a.O.). Schliesslich haben sowohl der Nationalrat wie auch der Ständerat mit dem Einverständnis von Bundesrat Chevallaz ihre Zustimmung zum Verpflichtungskredit unter anderem davon abhängig gemacht, dass geprüft werde, ob nicht anstelle von Kauf und Enteignung langjährige Benützungsverträge abgeschlossen werden könnten (vgl. Amtl.Bull. StR 1983 S. 307 f. Votum Berichterstatter Baumberger, Amtl.Bull. NR 1983 S. 1284 Voten Berichterstatter Wellauer und Jeanneret sowie Bundesrat Chevallaz; s.o. Sachverhalt lit. D).
Im Rahmen des Einspracheverfahrens sind keine Angaben darüber gemacht worden, inwieweit dieser Auflage nachgekommen worden ist. Unter all diesen Umständen enthält sich das Bundesgericht, da die Sache - wie sich im folgenden zeigt - ohnehin an die Einsprachebehörde zurückgewiesen werden muss, eines definitiven Entscheides und überlässt es dem Departement, die hier behandelte Frage des Umfangs der Enteignung erneut zu untersuchen.
12.
Die Anträge und Einwendungen der Beschwerdeführer, die sich auf die vier Themen des Natur- und Landschaftsschutzes, der zu erwartenden Lärmimmissionen, der Sicherheit bei Schiessübungen und der Aufrechterhaltung der Wegverbindungen beziehen, sind im Einspracheverfahren ebenfalls zulässig, und zwar gemäss
Art. 35 lit. b EntG
in Verbindung mit
Art. 9 EntG
und Art. 1 lit. a und d,
Art. 2 lit. a,
Art. 3 Abs. 2 lit. a und Abs. 3 sowie
Art. 4 NHG
(Natur- und Landschaftsschutz), mit
Art. 7 Abs. 2 EntG
(Wegverbindungen) sowie mit
Art. 7 Abs. 3 EntG
allein (Sicherheitsfragen) und in Verbindung mit Art. 9 des am 1. Januar 1985 in Kraft getretenen Bundesgesetzes über den Umweltschutz vom 7. Oktober 1983 (Lärmimmissionen). Auch in diesem Zusammenhang beklagen sich die Beschwerdeführer in erster Linie über ungenügende Abklärung des Sachverhaltes und Verstösse gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör.
BGE 112 Ib 280 S. 302
Wie bereits erwähnt, vertritt das EMD die Auffassung, dass die Einsprachen ohne weitere Instruktion allein gestützt auf die Auflageakten und die weiteren Unterlagen der Schätzungskommission sowie die anlässlich der Einigungsverhandlung vorgelegten Dokumente, das heisst gestützt auf das während der Beschwerdefrist beim Bezirksgericht March in Lachen aufgelegte Dossier beurteilt bzw. abgewiesen werden konnten. Dieser Auffassung ist nicht zu folgen.
a) Es ist unbestritten, dass die Berichte der Eidgenössischen Natur- und Heimatschutzkommission Bestandteil des Dossiers bilden und den Parteien zugänglich sein müssen. Nun liegen wohl vier dieser Berichte bei den Akten der Schätzungskommission (Berichte vom 18. Dezember 1978, 19. März, 18. August und 30. Dezember 1982), doch fehlt die Vernehmlassung II, die offenbar am 27. November 1979 erstellt worden ist und sich mit dem Standort der Kaserne befasst. Zudem sind die vorliegenden Berichte, wie sich aus dem Aktenverzeichnis der Schätzungskommission ergibt, erst am 11. Juni 1985, also nach der Fällung der ersten Entscheide am 3. Juni, zu den Akten gegeben worden. Es ist daher anzunehmen, dass diese Unterlagen den Einsprechern vor dem Einspracheentscheid nicht zugänglich waren, doch kann offenbleiben, wie es sich im einzelnen damit verhält, da eine entsprechende Rüge nicht erhoben worden ist. Dagegen verlangen die Beschwerdeführer, Einsicht in die Protokolle der ENHK nehmen zu können; als interne Arbeitspapiere sind diese jedoch nicht vorzulegen. Was die angebliche Ausstandspflicht einzelner Mitglieder der ENHK anbelangt, kann der Kürze halber auf die hier dem Sinne nach ebenfalls gültige Erwägung 3 des Entscheides vom 3. Juli 1985 verwiesen werden, wonach eine Ausstandspflicht noch nicht dadurch begründet wird, dass die Mitglieder einer Behörde aufgrund ihres Amtes bestimmte öffentliche Interessen wahrzunehmen haben (s.a.
BGE 103 Ib 137
f.).
b) Das EMD hat die Berichte des Naturschutzbeauftragten Dr. Meyer-Grass zu internen Akten erklärt und deren Auflage verweigert. Zu Unrecht. Dr. Meyer gilt offiziell als der in der Sache massgebliche Spezialist für Naturschutzfragen; seine Ernennung zum "baubegleitenden Naturschutzfachmann" wurde in der Vereinbarung des EMD mit dem Schweizerischen Bund für Naturschutz vom 19. November 1982 vorgesehen, und der Auftrag an den Experten erging durch das EMD, die ENHK und das Bundesamt für Forstwesen und Landschaftsschutz gemeinsam. Hinzu
BGE 112 Ib 280 S. 303
kommt, dass in den Berichten der ENHK auf die Stellungnahmen Dr. Meyers Bezug genommen und häufig einfach auf sie verwiesen wird. Diese Unterlagen gehören daher zu den Akten. Dass sie den Beschwerdeführern nicht vorgelegt worden sind, verletzt deren Akteneinsichtsrecht.
c) Über die im Kasernenareal zu erstellenden Bauten gaben seinerzeit nur der Übersichtsplan 1:10 000, der Situationsplan 1:2000 und die Modellfotos Auskunft. Im Anschluss an die Einigungsverhandlungen sind im weiteren eine Ansichtsskizze der Kasernenanlage und eine Plankopie 1:2000 (Variante Mai 1983) über das nunmehr leicht reduzierte Kasernenareal und die Verschiebung der Gebäude um 50 m (oder 35 m?) nach Süden aufgelegt worden. Diese Unterlagen sind offensichtlich ungenügend, um sich fundiert und zuverlässig über die Auswirkungen der geplanten Bauten auf die Umgebung und das Landschaftsbild aussprechen zu können. In diesem Zusammenhang beruft sich das EMD vergeblich auf Art. 164 Abs. 3 des Bundesgesetzes über die Militärorganisation: Diese Bestimmung nimmt die im Interesse der Landesverteidigung liegenden Arbeiten von der kantonalen Bewilligungspflicht aus, befreit aber nicht von der Obliegenheit, die Projekte und Pläne so auszuarbeiten, dass sie den zuständigen Verwaltungsinstanzen und allenfalls dem Bundesgericht ein Urteil darüber erlauben, ob den Anforderungen des Natur- und Heimatschutzgesetzes, insbesondere von Art. 3 Abs. 2 lit. a in Verbindung mit
Art. 2 lit. a NHG
, entsprochen worden sei. Dass das Kasernenareal ausserhalb des BLN-Schutzobjektes 1308 liegt, spielt - wie schon erwähnt (E. 7c) - keine Rolle. Die in
Art. 3 Abs. 1 und 2 NHG
statuierte Pflicht des Bundes, das Landschaftsbild und Naturdenkmäler zu schonen oder zu erhalten, gilt denn auch unabhängig davon, ob es sich um ein Objekt von nationaler, regionaler oder nur lokaler Bedeutung handle (
Art. 3 Abs. 3 NHG
). Die Prüfung der Auswirkungen des Projekts auf Landschaft und Umgebung im einzelnen kann entgegen der Meinung des EMD auch nicht auf später, auf die "Detailprojektierung" verschoben werden. Nur hier, im jetzt durchgeführten enteignungsrechtlichen Einspracheverfahren hat der WWF als Natur- und Heimatschutzvereinigung Gelegenheit, seine Interessen mit Einsprache und Verwaltungsgerichtsbeschwerde zu vertreten; nach Abschluss des Enteignungsprozesses besteht für ihn keine Interventionsmöglichkeit mehr. Dass die ENHK ihrerseits dem Projekt grundsätzlich zugestimmt und sich auf einige
BGE 112 Ib 280 S. 304
Empfehlungen zur Gestaltung der Bauten beschränkt hat, ist in diesem Zusammenhang nicht von Bedeutung, da die Kommission im Gegensatz zum WWF und den Enteigneten auch in einem späteren Projektierungs- oder Baustadium noch mitreden kann. Übrigens ist das vom Gesetzgeber für die gesamtschweizerischen Vereinigungen geschaffene Beschwerderecht gerade der Einsicht entsprungen, dass die Naturschutzinteressen innerhalb der Verwaltung nicht immer die notwendige Unterstützung finden und sich die nach
Art. 103 lit. a OG
beschwerdeberechtigten Privaten häufig nur aus egoistischen Gründen auf solche Anliegen besinnen. An der Bedeutung dieses Rekursrechtes ist auch in der Praxis festzuhalten.
Im weiteren ergibt sich, dass nicht nur für die Beurteilung der landschaftlichen Aspekte ein ausgearbeitetes Projekt verlangt werden muss. Im Verfahren betreffend die vorzeitige Besitzeinweisung hat sich herausgestellt, dass für die Kasernenbauten ein Fundament aus 750-1000 Ortsbetonpfählen zu erstellen ist, welche die beiden grundwasserführenden Schichten durchstossen sollen, und dass im Kasernenareal das nicht tragfähige Ablagerungsmaterial, insbesondere Torfmaterial und Tonschichten, abgetragen und durch 107'000 m3 Fremdmaterial ersetzt werden soll. Die Stiftung WWF hat in der Beschwerde die Befürchtung geäussert, dass sich diese Arbeiten auf den labilen Wasserhaushalt auswirken könnten, und um sorgfältige Untersuchung der Grundwasserverhältnisse und der Folgen eines Eingriffs ersucht. In seiner Vernehmlassung bemerkt das EMD zu diesem Punkt, hydrologische Fragen seien in den Einsprachen nicht aufgeworfen worden, weshalb sich das Departement hiezu nicht habe äussern müssen. Indessen ist klarzustellen, dass das Gesuch der Beschwerdeführerin um Abklärung der Grundwasserverhältnisse nicht etwa als verwirkt betrachtet werden kann. Wie das Bundesgericht im bereits zitierten Entscheid Schnyder vom 10. Juli 1985 (s. E. 4) ausgeführt hat, erfasst
Art. 40 EntG
allein die Begehren, zu deren Geltendmachung die Planauflage objektiv Anlass gab. Nun ergab sich aber die Absicht, für den Bau der Kasernenanlage umfangreiche Pfählungen und Terrainverschiebungen vornehmen zu lassen, erst aus den Akten des Besitzeinweisungsverfahrens, so dass sich das Departement nicht auf Unterlassungen der Einsprecher berufen kann, die ihren Grund ausschliesslich in der Dürftigkeit des im Einspracheverfahren vorgelegten Dossiers finden.
BGE 112 Ib 280 S. 305
d) Genaueres ist auch über die Ausgestaltung des "Aufklärungsgeländes" nicht bekannt. Da die Einsprachen und Begehren im Sinne von
Art. 7-10 EntG
in vollem Umfange abgewiesen worden sind, wäre zu erwarten, dass das aufgelegte Projekt abgesehen von der Verschiebung des Kasernenareals unverändert geblieben wäre. Dem ist aber, wie sich aus den nachträglich dem Bundesgericht zur Verfügung gestellten Akten ergibt, keineswegs so. Zwar ist der Perimeter beibehalten worden, doch hat das Übungsgelände hinsichtlich der Anordnung der Anlagen und der Aufgliederung in verschiedene Sektoren wesentliche Änderungen erfahren. Die Frage, ob sich dies formell mit dem Ergebnis des Einspracheverfahrens vereinbaren lasse, darf übergangen werden. Dagegen kann nicht darüber hinweggesehen werden, dass den Einsprechern keine Pläne oder Skizzen vorgelegt worden sind, die Aufschluss gäben über die Natur und Gestalt der einzelnen baulichen Vorrichtungen und anderen Anlagen, eingeschlossen Terrainveränderungen, sowie über die Auswirkungen auf Landschaft, Flora und Fauna in der Ebene wie auch im Hanggebiet, also im Bereich des BLN-Schutzobjektes 1307 selbst und in der angrenzenden Zone. Wohl ist anlässlich der Einigungsverhandlungen ein Bericht des Naturschutzbeauftragten Dr. Meyer vom 10. Mai 1983 betreffend das "bereinigte Projekt" zu den Akten gegeben worden, dem eine Grob-Skizze über die Gestaltung der Sperrzone 4 (Nesseliried) beiliegt. Dieser Bericht enthält aber ebenfalls keine genauen Angaben über die Art der vorgesehenen baulichen Vorrichtungen. Ausserdem ist den Einsprechern nie Gelegenheit geboten worden, zu ihm Stellung zu nehmen.
Ähnliches gilt für den Bericht von Oberst i Gst Hemmi bzw. des Bundesamtes für Mechanisierte und Leichte Truppen vom 10. Juni 1983 über den Problemkreis Sicherheit. Abgesehen davon, dass sich der unter den Beilagen aufgeführte Situationsplan 1:2000 nicht bei den Akten befindet, wird auch hier von baulichen Massnahmen, insbesondere baulicher Gestaltung des Zielhanges und des Kugelfanges sowie von Erhöhung der Schiessstellungen gesprochen, ohne dass irgendwo erklärt würde, wie diese Vorrichtungen aussehen. Die Instruktion ist daher auch in dieser Beziehung mangelhaft und ist für alle im "Aufklärungsgelände" vorgesehenen Anlagen zu ergänzen. Es wäre denn auch irrig, anzunehmen, dass die Projektierung nicht über den Werkplan (
Art. 27 EntG
) hinaus weiterzutreiben sei, solange die Einsprachen nicht endgültig erledigt seien. Über die in den Einsprachen aufgeworfenen Fragen,
BGE 112 Ib 280 S. 306
insbesondere über die Bedeutung des noch verbleibenden militärischen Nutzens des "Aufklärungsgeländes", über die Vereinbarkeit der vorgesehenen Anlagen mit dem Gebot des Schutzes von Landschaft und Biotopen, über das Genügen der Sicherheitsvorkehren und allfälliger weiterer Vorrichtungen im Sinne von
Art. 7 Abs. 3 EntG
kann erst entschieden werden, wenn nach Ergänzung von Instruktion und Planung genauere Unterlagen als die jetzt zur Verfügung stehenden vorgelegt werden können.
Andererseits ist nicht einzusehen, inwiefern Berichte über die militärischen Anlagen auf anderen, bestehenden Waffenplätzen zur Beurteilung der Verhältnisse in Rothenthurm beitragen könnten; das Begehren der Beschwerdeführer um Edition solcher Dokumente ist daher abzuweisen.
e) Im weiteren wird von den Beschwerdeführern zu Recht gerügt, dass Lärmprognosen und -zonenpläne völlig fehlen. Die Notwendigkeit solcher Abklärungen ergibt sich einerseits aus dem Enteignungsrecht, spielt doch die Frage, welche Lärmbeeinträchtigungen der Waffenplatzbetrieb für die Umwelt mit sich bringen wird, sowohl im Rahmen der Interessenabwägung als auch bei der Prüfung des Projektes unter dem Gesichtswinkel von
Art. 7 Abs. 3 EntG
eine wesentliche Rolle. Andererseits schreibt Art. 9 des Umweltschutzgesetzes (USG) für Werke, welche die Umwelt erheblich belasten können, eine Umweltverträglichkeitsprüfung vor. Zwar ist die Verordnung, in der nach Art. 9 Abs. 1 zweiter Satz USG die der Umweltschutzverträglichkeitsprüfung unterstehenden Anlagen bezeichnet werden sollen, vom Bundesrat noch nicht erlassen worden, doch wurde schon in der bundesrätlichen Botschaft zum Gesetzesentwurf und ebenfalls in den parlamentarischen Beratungen erklärt, dass "Waffen-, Schiess- und Übungsplätze" zu diesen Anlagen gehören (BBl 1979 III S. 786; Amtl.Bull. NR 1982 S. 370 Votum Bundesrat Hürlimann). Das Bundesgericht ist denn auch unlängst in seinem einen Gemeindeschiessplatz betreffenden Entscheid (
BGE 112 Ib 46
E. 4) zum Schluss gelangt, dass das Umweltschutzgesetz anwendbar sei, obschon verschiedene Verordnungen zu diesem Gesetz noch nicht ergangen seien. Demgegenüber vermag das Argument des EMD, dass nach der Inbetriebnahme des Waffenplatzes lediglich Übungen fortgesetzt würden, die in Rothenthurm seit bald zwanzig Jahren stattfänden, nicht zu überzeugen. In Rothenthurm soll ein neues, von den vorgesehenen Anlagen und den eingesetzten finanziellen Mitteln her bedeutendes Werk geschaffen werden, das der Konzentrierung
BGE 112 Ib 280 S. 307
der früher an verschiedenen Orten stationierten Truppen dient und aller Voraussicht nach zu einer Intensivierung des gesamten militärischen und insbesondere des Schiessbetriebes führen wird.
Eine Prognose über die zu erwartenden Lärmimmissionen kann entgegen der Meinung des Departementes bereits heute angestellt werden und erfordert, wenn die Schiessstellungen, die Art der eingesetzten Waffen, die Häufigkeit der Schüsse und der Schiessübungen bekannt sind, weder einen sehr hohen technischen oder finanziellen noch einen übermässigen Zeitaufwand. Das EMD wird sich daher einen entsprechenden Expertenbericht beschaffen und ihn den Beschwerdeführern zur Stellungnahme unterbreiten müssen.
f) Die vom EMD für die Strassenverbindungen getroffenen Lösungen werden von den Beschwerdeführern in verschiedener Hinsicht beanstandet. Was die Linienführung der sogenannten Umfahrungsstrasse Rossboden-Rothenthurm anbelangt, so ist den Beschwerdeführern die von Dr. Meyer vorgeschlagene, von der ENHK genehmigte und nunmehr vom EMD übernommene Variante offensichtlich bekannt. Die an ihr geübte Kritik ist zurückzuweisen, da dem EMD keine Überschreitung des ihm bei der Trassewahl zustehenden Ermessens vorgeworfen werden kann und sich der für die Anwohner entstehende Mehrweg in den Grenzen des Zumutbaren hält. Weiter besteht kein Anlass, an der Erklärung des Departementes, dass die Umfahrungsstrasse jeweils nur kurzzeitig während der militärischen Übungen gesperrt werden müsse, zu zweifeln. Ob die Strasse unterhalb des Rossbodens zu steil und daher nicht wintersicher sei, wird im Rahmen der Detailprojektierung noch überprüft werden müssen. Ebenfalls wird das Departement noch zu untersuchen haben, wie dem bisher noch nicht behandelten Begehren der Korporation Oberägeri um Aufrechterhaltung der Wegverbindungen, die bei einer Totalenteignung der Parzellen Nrn. 1102, 1218 und 1219 für die ehemalige Eigentümerin verlorengingen, entsprochen werden kann. Was schliesslich die von den Beschwerdeführern als zu schmal bezeichneten Fahrschul-Strassen betrifft, so wird erst die Praxis zeigen, ob zusätzliche Benützungsvorschriften oder bauliche Vorkehren getroffen werden müssen. Jedenfalls wird das Departement eingeladen, dafür zu sorgen, dass die durch den Fahrschul-Betrieb für die Anwohner entstehenden Belästigungen auf ein Minimum beschränkt werden.
BGE 112 Ib 280 S. 308
e) Es ergibt sich somit, dass die Sache zur Ergänzung der Instruktion in den genannten, das Kasernenareal und das "Aufklärungsgelände" betreffenden Punkten und zu neuem Entscheid an das Departement zurückzuweisen ist.
13.
Über den Vorschlag der Beschwerdeführer, wenigstens die Kasernenanlage aus der Ägeriried-Ebene hinaus an einen anderen Ort zu verlegen, hat sich das Bundesgericht im heutigen Verfahren materiell nicht auszusprechen. Dazu kann einzig bemerkt werden, dass gemäss den vor dem Parlament abgegebenen Erklärungen eine Verlegung der Kaserne ins "Infanteriegelände Cholmattli" geprüft, aus verschiedenen Gründen aber abgelehnt worden ist, etwa weil eine solche, neu zu planende Lösung zu viel Zeit in Anspruch nähme, mit den gegenüber der Oberallmeind-Korporation Schwyz übernommenen Verpflichtungen nicht zu vereinbaren wäre, wertvolles Gelände für die Schiessausbildung verlorenginge und der Schiesslärm den Unterricht in der Kaserne behindern würde (Amtl.Bull. NR 1983 S. 1277 Votum Berichterstatter Wellauer, S. 1279 Votum Bundesrat Chevallaz). Eine Verschiebung des Kasernenareals auf die andere, östliche Seite des SOB-Dammes, wo der Bund ausserhalb des Waffenplatz-Perimeters bereits beachtliche Bodenflächen besitzt, ist offenbar nicht ins Auge gefasst worden. In seinem Schreiben vom 12. Juni 1986 erklärt das EMD zu diesen Grundstücken, sie seien als Realersatzflächen für die enteigneten Landwirte reserviert. In der Tat wird man bei der Überprüfung der Standortwahl - wie bereits in E. 10b angetönt - nicht darum herumkommen, die Interessen am Schutz wertvoller Naturlandschaften und Biotope einerseits und die Interessen an der Erhaltung von landwirtschaftlich wertvollem Boden andererseits gegeneinander abzuwägen. Es wird Sache der Bundesverwaltung sein, diese Abwägung im Lichte der neuen Erkenntnisse vorzunehmen, wozu ihr übrigens das Parlament den notwendigen Spielraum gelassen hat (vgl. Amtl.Bull. NR 1983 S. 1284 Voten Berichterstatter Wellauer und Jeanneret).
Wie erwähnt ist in diesem und in anderem Zusammenhang dem Faktor Zeit grosse Bedeutung beigemessen worden, da die Gefahr bestehe, dass die Oberallmeind-Korporation Schwyz das ihr im Kauf- und Tauschvertrag vom 22. Oktober 1978 vorbehaltene Rückkaufsrecht bei nicht rechtzeitiger Verwirklichung des Waffenplatzes ausüben könnte. So verständlich diese Befürchtungen und das Bestreben, sich an eingegangene Verpflichtungen zu halten, auch sind, so können sie doch den Anspruch der Einsprecher auf
BGE 112 Ib 280 S. 309
eine gesetzmässige Abwicklung des Verfahrens nicht schmälern und auf Entscheide anderer Behörden keinen Einfluss haben. Würden sich die Rückkaufsbedingungen tatsächlich erfüllen, bleibt der Eidgenossenschaft immer noch der Ausweg, das Rückkaufsrecht (vgl. Art. 5, 21, 23 und 37 EntG; HESS/WEIBEL, a.a.O. N. 7 und 24 zu
Art. 5 EntG
) oder die Grundstücke selbst zu enteignen.
15.
Schliesslich beanstanden die Beschwerdeführer zu Recht, dass das Departement nicht über die Kosten und die Parteientschädigungen entschieden hat. Selbst wenn angenommen werden könnte, dass das EMD die Kosten stillschweigend der Eidgenossenschaft auferlegt habe, so hätte es sich doch über die Parteientschädigung aussprechen müssen. Seit der Revision der
Art. 114 und 115 EntG
im Jahre 1971 hat die Schätzungskommission bzw. deren Präsident nur noch über die Parteientschädigungen für Einsprachen zu befinden, wenn diese an der Einigungsverhandlung erledigt werden können; sonst steht der Entscheid im Einspracheverfahren dem in der Sache zuständigen Departement zu (Art. 114 Abs. 4 in Verbindung mit
Art. 115 Abs. 4 EntG
). Die beim Bundesgericht eingereichten Kostennoten für das Einspracheverfahren vor dem Departement sind daher an dieses zu überweisen. | de |
4191a68c-5f65-45bf-b90b-866f73f854c3 | Sachverhalt
ab Seite 426
BGE 115 Ib 424 S. 426
Gestützt auf die Botschaft des Bundesrates über die Vereinabahn vom 19. Februar 1986 (BBl 1986 I 833 ff.) haben die Eidgenössischen Räte am 18. Dezember 1986 beschlossen, die der Rhätischen Bahn im Jahre 1970 erteilte Konzession auf die Strecke Klosters - Susch - Lavin auszudehnen und der Bahn für den Bau der Vereinalinie einen Bundesbeitrag zu gewähren (BBl 1987 I 61, 476). Dem Vereinaprojekt hatten der Grosse Rat des Kantons Graubünden bereits am 29. Mai 1985 und das Bündner Volk am 22. September 1985 zugestimmt.
Nach der Botschaft des Bundesrates soll die neue Bahnlinie die ganzjährige Verbindung zwischen der Deutschschweiz und dem Unterengadin sowie dem Münstertal sicherstellen, insbesondere während des Winters, wenn der Flüelapass (2383 m) wegen der Lawinengefahr oft ohne Vorankündigung geschlossen werden muss. Auf der Vereinalinie werden daher neben den Reise- und Güterzügen vor allem Autozüge verkehren. Die Strecke soll so ausgebaut werden, dass alle in der Schweiz zugelassenen Strassenmotorfahrzeuge im Huckepack (sog. rollende Strasse) sowie die meisten Normalspur-Eisenbahnwagen auf Rollschemeln befördert werden können (vgl. BBl 1986 I 835, 841).
In Anwendung der revidierten Bestimmungen des Eisenbahngesetzes und der Planvorlagenverordnung verfügte das Bundesamt für Verkehr am 31. August 1987, dass für das Vereinaprojekt ein kombiniertes Verfahren durchzuführen sei. Demgemäss erfolgte in den Gemeinden Klosters, Susch und Lavin eine gemeinsame Auflage der Werkpläne und der Enteignungspläne mit den Grunderwerbstabellen. Während der Auflagefrist gingen neben den Entschädigungsbegehren zahlreiche Einsprachen ein, darunter jene der Politischen und Bürgergemeinde Klosters-Serneus, des Kur- und Verkehrsvereins Klosters, des Hoteliervereins Klosters, der Schweizerischen Gesellschaft für Umweltschutz, des WWF
BGE 115 Ib 424 S. 427
Schweiz und des Schweizerischen Bundes für Naturschutz. An den Einigungsverhandlungen vor dem Präsidenten der Eidgenössischen Schätzungskommission, Kreis 12, wurde an den Einsprachen festgehalten. Dieser überwies daher die Akten am 23. März 1988 dem Bundesamt für Verkehr zum Entscheid.
Nach Eingang der Vernehmlassungen des Kantons Graubünden sowie der Bundesstellen und nach Durchführung verschiedener Einigungsverhandlungen mit den Einsprechern genehmigte das Bundesamt für Verkehr mit Verfügung vom 8. Juli 1988 die von der Rhätischen Bahn eingereichten Pläne mit gewissen Auflagen. Allfälligen Beschwerden gegen die Plangenehmigungsverfügung entzog das Bundesamt gestützt auf Art. 55 des Verwaltungsverfahrensgesetzes die aufschiebende Wirkung. Gegen die Plangenehmigungsverfügung erhoben zahlreiche Einsprecher - so auch die bereits erwähnten - Beschwerde an das Eidgenössische Verkehrs- und Energiewirtschaftsdepartement (EVED). Diese Beschwerden sind in der Hauptsache noch hängig. Dagegen entschied das Departement vorweg über die Begehren um Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung, hiess diese mit Zwischenverfügung vom 21. September 1988 teilweise gut und entzog den Beschwerden die aufschiebende Wirkung nur insoweit, "als dies für den Bau der- Eisenbahnlinie ohne rollende Strasse" erforderlich sei. Auf ein Erläuterungsgesuch verschiedener Beschwerdeführer hin präzisierte das EVED am 13. Oktober 1988, dass mit den Arbeiten für den Bau der Eisenbahnlinie begonnen werden dürfe, Arbeiten für den Bau der Verladeanlagen dagegen untersagt seien und Arbeiten, die beidem dienten, auf Risiko der Rhätischen Bahn vorgenommen werden könnten.
Die Zwischenverfügung des EVED vom 21. September 1988 ist sowohl von der Politischen und Bürgergemeinde Klosters-Serneus als auch vom Kur- und Verkehrsverein Klosters sowie vom Hotelierverein Klosters mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde angefochten worden. Die Beschwerdeführer verlangen, dass den beim Departement eingereichten Beschwerden vollumfänglich aufschiebende Wirkung zuerkannt und der Rhätischen Bahn demzufolge verboten werde, vor dem Vorliegen des Hauptentscheides mit den Bauarbeiten zu beginnen.
In der Zwischenzeit war die Rhätische Bahn am 13. Juli 1988 an den Präsidenten der Eidgenössischen Schätzungskommission gelangt und hatte diesen um Ermächtigung zur vorzeitigen Inbesitznahme verschiedener Grundstücke im Bereiche des Bahnhofes
BGE 115 Ib 424 S. 428
Klosters und in Selfranga ersucht. Nach Anhörung der Enteigneten gab der Präsident am 8. August 1988 dem Begehren hinsichtlich verschiedener Parzellen statt, die alle in Nähe des Bahnhofes Klosters liegen und der Gemeinde Klosters gehören oder an denen diese dienstbarkeitsberechtigt ist.
Anschliessend an die Zwischenverfügung des EVED vom 21. September 1988 änderte die Rhätische Bahn ihr ursprüngliches Gesuch um Besitzeinweisung ab und verlangte am 16. November 1988 nur noch die vorzeitige Inbesitznahme jener Grundstücksflächen, die für den Bau der Eisenbahnlinie ohne die Verladeanlage Selfranga benötigt würden. Da sich die Enteigneten auch diesem reduzierten Begehren widersetzten, wies der Schätzungskommissions-Präsident die Rhätische Bahn mit Verfügung vom 8. Dezember 1988 ab 1. Januar 1989 in den Besitz von acht in Selfranga liegenden Parzellen ein.
Gegen die beiden Entscheide des Präsidenten der Eidgenössischen Schätzungskommission, Kreis 12, vom 8. August und 8. Dezember 1988 hat zunächst die Politische und Bürgergemeinde Klosters-Serneus als Enteignete Verwaltungsgerichtsbeschwerden eingereicht, in welchen in erster Linie bestritten wird, dass eine vorzeitige Besitzeinweisung schon vor dem Vorliegen eines rechtskräftigen Ausführungsprojektes angeordnet werden könne. Durch Verfügung des Instruktionsrichters vom 18. Januar 1989 sind die zwei Verfahren vereinigt und ist den gesamtschweizerischen Organisationen, die Einsprache erhoben hatten, ebenfalls noch Gelegenheit geboten worden, die Besitzeinweisungs-Entscheide des Schätzungskommissions-Präsidenten anzufechten. Alle drei - die Schweizerische Gesellschaft für Umweltschutz, der WWF Schweiz und der Schweizerische Bund für Naturschutz - haben hierauf mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde geltend gemacht, die Bauarbeiten dürften jedenfalls auf Parzelle Nr. 732 nicht begonnen werden, solange im Plangenehmigungsverfahren noch kein rechtskräftiger Entscheid vorliege. Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
In allen vorliegenden Beschwerdeverfahren steht die Frage im Vordergrund, ob im jetzigen Stadium des Plangenehmigungs- und Enteignungsverfahrens überhaupt schon mit den Bauarbeiten für das Bahn-Projekt begonnen werden könne. Die Beschwerden
BGE 115 Ib 424 S. 429
sind daher gemeinsam zu behandeln, obschon sie sich gegen Entscheide verschiedener Behörden richten.
2.
a) Die Besitzeinweisungs-Entscheide der Eidgenössischen Schätzungskommissionen oder deren Präsidenten unterliegen nach
Art. 76 Abs. 6 und
Art. 77 des Bundesgesetzes über die Enteignung (EntG; SR 711)
in der Fassung vom 18. März 1971 (in Kraft seit 1. August 1972) der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
b) Der Entscheid des EVED über den Entzug der aufschiebenden Wirkung kann als Zwischenverfügung nur mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde angefochten werden, wenn diese gegen die Endverfügung - hier die Plangenehmigung - zulässig ist (
Art. 101 lit. a OG
). Gemäss
Art. 99 lit. c OG
ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen Verfügungen über Pläne ausgeschlossen, sofern es sich nicht um Entscheide über Einsprachen gegen Enteignungen oder Landumlegungen handelt. Um einen solchen Entscheid geht es aber bei der in Aussicht stehenden Endverfügung, erfolgt doch im vorliegenden Fall die Plangenehmigung im kombinierten Verfahren, in dem zugleich auch über die enteignungsrechtlichen Einsprachen befunden wird. Da im weiteren der teilweise Entzug der aufschiebenden Wirkung zu einem nicht wieder gutzumachenden Nachteil führen kann, ist die Zwischenverfügung des EVED ebenfalls selbständig mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde anfechtbar (
Art. 45 Abs. 2 lit. b VwVG
).
c) Die Legitimation der Gemeinde als Enteignete zur Anfechtung der Besitzeinweisungs-Verfügungen steht ausser Frage. Sie ist aber auch den gesamtschweizerischen Organisationen zuzuerkennen, welche die Plangenehmigungsverfügung des Bundesamtes für Verkehr beim EVED angefochten haben: Steht diesen nämlich nach ausdrücklicher Bestimmung von Art. 12 Abs. 3 des Bundesgesetzes über den Natur- und Heimatschutz vom 1. Juni 1966 (NHG; SR 451) das Recht zur Geltendmachung von Einsprachen und Begehren gemäss
Art. 9 EntG
zu, so müssen sie auch befugt sein, sich insofern einer vorzeitigen Besitzeinweisung zu widersetzen, als diese die im Plangenehmigungs- und Einspracheverfahren erhobenen und noch nicht rechtskräftig beurteilten Begehren zum Schutze von Natur und Landschaft in Frage stellen könnte oder gar gegenstandslos werden liesse (
BGE 115 Ib 95
; nicht publ. Entscheid vom 8. Juni 1984 i.S. Gemeinde Rothenthurm und WWF E. 2dd).
Zur Anfechtung der Zwischenverfügung des EVED mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde sind neben der Gemeinde auch der
BGE 115 Ib 424 S. 430
Kur- und Verkehrsverein Klosters sowie der Hotelierverein Klosters zuzulassen, da sie einerseits in den von ihnen vertretenen Interessen berührt sind (
Art. 103 lit. a OG
) und andererseits eine Überweisung ihrer Beschwerde an den Bundesrat die Rechtssicherheit in Frage stellen würde (vgl.
BGE 112 Ib 288
E. 5).
d) Die Beschwerden sind rechtzeitig innerhalb der zehn- bzw. zwanzigtägigen Frist eingegangen (
Art. 106 Abs. 1 OG
,
Art. 76 Abs. 6 EntG
).
3.
Das Bundesgericht überprüft die angefochtenen Entscheide, die weder von kantonalen Gerichten noch von Rekurskommissionen ausgegangen sind, in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht frei (vgl.
Art. 104 und 105 OG
;
BGE 112 Ib 421
). In die Rechtsprechung der Schätzungskommissionen kann das Bundesgericht als Aufsichtsbehörde unter gewissen Umständen auch von Amtes wegen eingreifen (
Art. 63 EntG
;
BGE 115 Ib 17
E. 1,
BGE 111 Ib 25
E. 9).
4.
Die hier interessierende Frage, wann mit der Erstellung eines öffentlichen Werkes, für welches das Enteignungsrecht ausgeübt werden kann, begonnen werden dürfe und inwieweit dieser Zeitpunkt durch Einsprachen beeinflusst werden könne, ist in den gesetzlichen Vorschriften und der Praxis der letzten Jahrzehnte unterschiedlich beantwortet worden. Der Übersicht halber sind die Entwicklungen des massgebenden Bundesrechts bis zum Inkrafttreten der heute geltenden eisenbahnrechtlichen Bestimmungen im folgenden kurz zu skizzieren:
a) Vor der Schaffung des Nationalstrassengesetzes im Jahre 1960 galt allgemein, dass für öffentliche Werke zuerst ein Plangenehmigungsverfahren durchgeführt werden musste und erst nach dessen Abschluss das Enteignungsverfahren eingeleitet werden konnte. Die sog. technische Plangenehmigung - die weitgehend der Baubewilligung entspricht - war einem reinen Behördenverfahren vorbehalten, von dem die Privaten mit unterschiedlicher Begründung ausgeschlossen wurden: Den bloss in ihren tatsächlichen Interessen Betroffenen wurde gestützt auf
Art. 103 Abs. 1 OG
in seiner ursprünglichen Fassung, der nur die in "ihren Rechten" Verletzten zur Beschwerde zuliess, die Legitimation abgesprochen, und die in ihren Rechten betroffenen Enteigneten wurden auf das nachfolgende Enteignungsverfahren verwiesen, in welchem sie Einsprache erheben und Planänderungsgesuche stellen könnten. Das Nacheinander der Verfahren hatte zur Folge, dass bei der Plangenehmigung stets noch allfällige Projektänderungen im
BGE 115 Ib 424 S. 431
nachfolgenden enteignungsrechtlichen Einspracheverfahren vorbehalten werden mussten. Mit dem Bau konnte erst begonnen werden, wenn die Plangenehmigung rechtskräftig geworden und das Enteignungsverfahren abgeschlossen war oder dem Enteigner gemäss
Art. 76 EntG
in der Fassung vom 20. Juni 1930 nach endgültiger Erledigung der Einsprachen die vorzeitige Inbesitznahme der Enteignungsobjekte gestattet wurde (vgl.
BGE 108 Ib 247
E. 2a und dort zitierte Entscheide; FRITZ HESS, Das Enteignungsrecht des Bundes, Vorbemerkungen zu Abschnitt V, N. 2-5, 20 ff., 45, 47).
Diese Regelung galt sowohl unter der Herrschaft des alten Eisenbahngesetzes von 1872 wie unter jener des Eisenbahngesetzes vom 20. Dezember 1957 (EBG; SR 742.101) grundsätzlich auch für Bauten und Anlagen, die dem Bahnbetrieb dienen (HESS/ WEIBEL, Das Enteignungsrecht des Bundes, Bd. II S. 69 ff. N. 26-34 und dort zitierte Entscheide, PHILIPPE GAUDERON, L'approbation de plans en matière ferroviaire, Revue de droit administratif et de droit fiscal 1986/42 S. 342 ff.). Allerdings bestand aufgrund von
Art. 30 Abs. 2 der Verordnung über die Planvorlagen für Eisenbahnbauten vom 23. Dezember 1932 (PVV; SR 742.142.1)
die Möglichkeit, unter besonderen Umständen das Enteignungsverfahren ausnahmsweise zur gleichen Zeit wie das Plangenehmigungsverfahren einzuleiten. Mit dem Bau durfte indessen auch in diesem Fall erst begonnen werden, wenn die Genehmigung der Pläne rechtskräftig war (Art. 34 PVV).
b) Die Trennung und die zeitliche Aufeinanderfolge von Plangenehmigungs- und Enteignungsverfahren wirkte sich in der Praxis häufig negativ aus, nicht nur wegen der langen Dauer, sondern auch wegen der Doppelspurigkeiten der beiden Verfahren, die es zuliessen, dass gewisse Einwände gegen das Werk - vor allem von seiten der Gemeinden - zweimal erhoben werden konnten und deren Beurteilung nicht immer der selben Instanz zufiel (vgl.
BGE 108 Ib 249
E. 2c).
Diese Unzulänglichkeiten haben den Gesetzgeber zunächst bei der Schaffung des Bundesgesetzes über die Nationalstrassen vom 8. März 1960 (NSG; SR 725.11) und hierauf bei der Einführung des Rohrleitungsgesetzes vom 4. Oktober 1963 (RLG; SR 746.1) bewogen, das Plangenehmigungs- und das enteignungsrechtliche Einspracheverfahren zusammenzulegen und das nachfolgende Enteignungsverfahren auf die Behandlung der Entschädigungsforderungen zu beschränken (
Art. 39 Abs. 2 NSG
,
Art. 26 Abs. 2 RLG
;
BGE 115 Ib 424 S. 432
BBl 1959 II S. 125 f., 1962 II). Das Verfahren zur Bereinigung und Genehmigung der Ausführungsprojekte (Art. 26/27 NSG, Art. 22/23 RLG) hat damit alle Aufgaben des enteignungsrechtlichen Einspracheverfahrens im engeren und weiteren Sinn (
Art. 35 lit. a und b EntG
) übernommen, denen es freilich nur gerecht werden kann, wenn die Werkpläne zusammen mit dem Enteignungsplan und der Grunderwerbstabelle aufgelegt werden (
BGE 106 Ib 21
E. 7b; s. a.
BGE 114 Ib 149
,
BGE 111 Ib 34
E. 2a). Das der Behandlung der Entschädigungsforderungen dienende Enteignungsverfahren, das auch die Möglichkeit einer vorzeitigen Besitzeinweisung eröffnet, kann beim Präsidenten der Eidgenössischen Schätzungskommission erst eingeleitet werden, wenn das zuständige Departement nach dem Einspracheentscheid der kantonalen Behörde die bereinigten Ausführungsprojekte genehmigt (
Art. 28, 39 Abs. 2 NSG
) bzw. wenn das Departement über die Einsprachen selbst rechtskräftig entschieden hat (
Art. 23 RLG
).
Art. 25 RLG
sieht ausdrücklich vor, dass vor der rechtskräftigen Genehmigung der Pläne mit dem Bau des Werkes nicht begonnen werden dürfe, während das Nationalstrassengesetz keine entsprechende Bestimmung enthält.
c) Die Regel, das technische Plangenehmigungsverfahren unter blosser Behördenbeteiligung durchzuführen, erlitt am 1. Januar 1967 einen ersten Einbruch mit dem Inkrafttreten von
Art. 12 NHG
, der den Gemeinden und den sich dem Natur- und Heimatschutz widmenden schweizerischen Organisationen das Beschwerderecht gegenüber Verfügungen gewährt, die in Erfüllung von Bundesaufgaben ergehen. Dazu gehören auch die Planung von Werken und Anlagen der Schweizerischen Bundesbahnen und der anderen konzessionierten Bahnen (
Art. 2 lit. a und b NHG
).
Vollends zu Fall gekommen ist die genannte Regel indessen mit der Einführung des Bundesgesetzes über das Verwaltungsverfahren vom 20. Dezember 1968 und der Revision des V. Titels des OG, beide in Kraft seit 1. Oktober 1969: Einerseits finden nun nach
Art. 4 VwVG
- abgesehen von den Ausnahmefällen gemäss
Art. 2 und 3 VwVG
- die in den Spezialgesetzen enthaltenen Verfahrensvorschriften nur noch Anwendung, soweit sie das Verfahren eingehender regeln als das VwVG und diesem nicht widersprechen. Damit hat der Gesetzgeber die den Anforderungen des VwVG nicht genügenden früheren Verfahrensregeln aufgehoben und prozessuale Mindestgarantien für alle Beteiligten geschaffen. Andererseits ist der Rechtsschutz beträchtlich
BGE 115 Ib 424 S. 433
erweitert worden.
Art. 6 VwVG
erkennt die Parteistellung nicht nur jenen Personen zu, deren Rechte und Pflichten durch die umstrittene Verfügung berührt werden sollen, sondern auch den Personen, Organisationen oder Behörden, denen ein Rechtsmittel gegen die Verfügung zusteht. Nach den gleichlautenden
Art. 48 lit. a VwVG
und 103 lit. a OG ist nun zur Beschwerde berechtigt, wer durch die angefochtene Verfügung berührt ist und ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung oder Änderung hat. In Auslegung dieser neuen Bestimmungen hat das Bundesgericht festgehalten, dass auch ein bloss tatsächliches Interessen schutzwürdig sein könne und die Beschwerdelegitimation zu begründen vermöge und es in diesem Falle nicht nötig sei, dass die Norm, die nach Meinung des Beschwerdeführers verletzt sei, gerade dieses tatsächliche Interesse hätte schützen sollen (
BGE 104 Ib 248
ff.;
BGE 108 Ib 250
ff. E. 2d mit Hinweis auf Lehre und Rechtsprechung). Demzufolge kann der Kreis der im Plangenehmigungsverfahren Anzuhörenden nicht mehr nur auf die Behörden und auch nicht mehr auf jene Private beschränkt werden, die an das öffentliche Werk Rechte abzutreten haben.
Diese Neuordnung hat allerdings die Bundesbehörden - darunter auch das Bundesgericht - nicht daran gehindert, noch während einiger Jahre zu erklären, dass die Beteiligung am technischen Plangenehmigungsverfahren den Behörden vorbehalten sei (vgl. VPB 176 Nr. 84, 1977 Nr. 111). Erst im Entscheid Bircher (
BGE 108 Ib 247
ff.) ist klargestellt worden, dass Bestimmungen wie
Art. 18 Abs. 2 EBG
in der Fassung von 1957 (der nur die Anhörung der beteiligten Bundesbehörden, der Kantone und allenfalls der Gemeinden vorsah) im Hinblick auf
Art. 4 VwVG
keinen Bestand mehr haben könnten. Übrigens kommt
Art. 4 VwVG
zwar in erster Linie gegenüber älteren Gesetzen der Vorrang zu ("lex posterior derogat legi priori"), doch ist auch bei der Anwendung jüngerer Spezialvorschriften nicht aus den Augen zu verlieren, dass mit dem Verwaltungsverfahrensgesetz eine einheitliche und allgemein gültige Ordnung geschaffen worden ist, von der nur abgewichen werden darf, wo der spätere Gesetzgeber dies unmissverständlich erlaubt (vgl. PETER SALADIN, Das Verwaltungsverfahrensrecht des Bundes, S. 33 Ziff. 6.1 und S. 41 Ziff. 8.2, wo von "VwVG-konformer" Interpretation der jüngeren Verfahrensnormen gesprochen wird).
d) Bei der Revision des Enteignungsgesetzes vom 18. März 1971 sind die Voraussetzungen für die vorzeitige Besitzeinweisung,
BGE 115 Ib 424 S. 434
die den Baubeginn vor Abschluss der Enteignung möglich macht, wesentlich verändert worden.
Im neuen
Art. 76 EntG
, dem nunmehr ein eigener Gesetzes- Abschnitt gewidmet ist, wird die Bewilligung oder Verweigerung der vorzeitigen Inbesitznahme, die bisher endgültig war (Art. 76 Abs. 3 aEntG), der Verwaltungsgerichtsbarkeit unterstellt. Damit wird eine Verbesserung des Rechtsschutzes erzielt und die Kontrolle einheitlicher Rechtsanwendung ermöglicht. Im weiteren kann der Präsident nun über das Besitzeinweisungs-Gesuch allein befinden, falls er den Beizug der Schätzungskommissions-Mitglieder nicht für notwendig erachtet oder dieser nicht von einer Partei verlangt wird (
Art. 76 Abs. 2 EntG
). Schliesslich aber - und hierin liegt die wesentlichste Neuerung - ist die vorzeitige Besitzergreifung schon möglich, bevor über die Einsprachen gegen die Enteignung und die Begehren nach den Art. 7-10 rechtskräftig entschieden ist; sie muss, falls auch die übrigen Voraussetzungen gegeben sind, dem Enteigner insoweit gestattet werden, als keine bei nachträglicher Gutheissung der Einsprachen nicht wieder gutzumachende Schäden entstehen. Das Gesuch des Enteigners darf nur ausnahmsweise dann zurückgestellt werden, wenn die Einigungsverhandlung in Anwendung von
Art. 51 EntG
auszusetzen ist, weil ernsthaft mit namhaften Planänderungen infolge von Einsprachen gerechnet werden muss (vgl.
BGE 115 Ib 22
f. E. 5a, 110 Ib 42, 108 Ib 491).
An zwei Voraussetzungen zur vorzeitigen Besitzeinweisung, die sich aus dem Zweck und Wesen dieses Institutes selbst ergeben, hat sich dagegen im Jahre 1971 nichts geändert: Zum einen wird weiterhin verlangt, dass der Gesuchsteller bereits mit dem Enteignungsrecht ausgestattet sei. Falls dem Unternehmen das Enteignungsrecht - wie beim Bau von Starkstromanlagen - eigens noch erteilt werden muss und diese Übertragung erst im Rahmen der Behandlung der Einsprachen erfolgt, bleibt eine vorzeitige Besitzergreifung vor dem Einsprachenentscheid bzw. vor dem Verleihungsakt durch das zuständige Departement ausgeschlossen. Zum andern kommt die Anwendung von
Art. 76 EntG
nur in Frage, wenn das Werk, für welches enteignet wird, nach den massgebenden Spezialbestimmungen bewilligt und zum Bau freigegeben worden ist. Solange aus verwaltungsrechtlicher Sicht mit den Bauarbeiten noch gar nicht begonnen werden kann, hat der Enteigner kein Recht auf vorzeitige Inanspruchnahme der für das Werk benötigten Rechte. So fällt eine Besitzeinweisung für den
BGE 115 Ib 424 S. 435
Nationalstrassenbau nicht in Betracht, bevor das Ausführungsprojekt sowohl von der zur Behandlung der Einsprachen zuständigen kantonalen Behörde als auch - in seiner bereinigten Form - vom Eidgenössischen Verkehrs- und Energiewirtschaftsdepartement genehmigt worden ist (
Art. 27 und 28 NSG
); erst diese zweite Genehmigung durch das Departement berechtigt den Kanton überhaupt zur Eröffnung des Enteignungsverfahrens (
Art. 39 Abs. 2 NSG
;
BGE 114 Ib 145
). Dagegen bildet wie erwähnt der Umstand, dass beim Bundesgericht noch Verwaltungsgerichtsbeschwerden gegen den Einspracheentscheid der kantonalen Behörde hängig sind, grundsätzlich kein Hindernis für die vorzeitige Besitzeinweisung mehr (
BGE 105 Ib 97
;
BGE 115 Ib 96
).
5.
Vor diesem rechtlichen Hintergrund sind am 1. Januar 1985 die neuen Bestimmungen des Eisenbahngesetzes und die revidierten Vorschriften der Planvorlagenverordnung in Kraft getreten.
a) Die Änderung des Eisenbahngesetzes vom 8. Oktober 1982 geht auf eine Motion Kloter aus dem Jahre 1968 zurück, in der verlangt wurde, dass in der Eisenbahngesetzgebung ähnlich wie im Nationalstrassengesetz rechtliche Institute zur vorsorglichen Freihaltung von Boden für zukünftige Bahnbauten geschaffen würden. Im Mittelpunkt der Revision stand daher die Einführung von Vorschriften über die Projektierungszonen (Art. 18b-d), die Baulinien (Art. 18e-h) sowie über die Landumlegung (Art. 3 Abs. 2 und Art. 18k), doch wurde die Gelegenheit benützt, gleichzeitig auch die Zuständigkeiten zur Genehmigung von Bahnbauten klarer zu regeln und das Plangenehmigungs- und das Enteignungsverfahren besser zu koordinieren (vgl. Botschaft des Bundesrates vom 1. Dezember 1980, BBl 1981 I S. 327 ff.; HESS/WEIBEL, a.a.O. Bd. II S. 74, PHILIPPE GAUDERON, a.a.O. S. 346).
Was die Koordination der Verfahren anbelangt, so hat der Gesetzgeber allerdings davon abgesehen, das Plangenehmigungs- und das enteignungsrechtliche Einspracheverfahren gleich wie im Nationalstrassengesetz generell zusammenzulegen. In
Art. 18 Abs. 4 EBG
wird vielmehr vorgesehen, dass die gemeinsame Durchführung der beiden Verfahren durch die Aufsichtsbehörde angeordnet werden könne, welche in diesem Fall mit der Plangenehmigung auch über die enteignungsrechtlichen Einsprachen und Planänderungsbegehren entscheide. Diese Kompetenzerteilung an das Bundesamt für Verkehr, der erstinstanzlichen Aufsichtsbehörde in Eisenbahnsachen, weicht von der allgemeinen Norm von
BGE 115 Ib 424 S. 436
Art. 55 EntG
ab, welche den Entscheid über die enteignungsrechtlichen Einsprachen dem zuständigen Departement überträgt. Wie das Verfahren, das für Bauvorhaben von untergeordneter Bedeutung vereinfacht werden kann, im einzelnen auszugestalten sei, stellt
Art. 18 Abs. 5 EBG
dem Bundesrat als Verordnungsgeber anheim. Immerhin ergibt sich aus
Art. 11 EBG
, wonach gegen Verfügungen der Aufsichtsbehörde nach den allgemeinen Bestimmungen über die Bundesrechtspflege Beschwerde geführt werden kann, dass die Verfahrensordnung grundsätzlich dem VwVG und dem OG entsprechen soll. Weiter muss das Plangenehmigungsverfahren für den Fall, dass gemeinsam mit ihm die Enteignung eingeleitet wird, alle Funktionen des enteignungsrechtlichen Einspracheverfahrens übernehmen können (vgl. oben E. 4b und dort zitierte Entscheide).
b) Die am 26. November 1984 revidierte Planvorlagenverordnung sieht neu drei verschiedene Plangenehmigungsverfahren vor. Das im Einzelfall durchzuführende wird von der Plangenehmigungsstelle - in der Regel dem Bundesamt für Verkehr (Art. 7 Abs. 1 PVV) - nach Vorlage der Bau- und der allfälligen Enteignungspläne bezeichnet (Art. 19 und 23 PVV). Das vereinfachte Plangenehmigungsverfahren ist für Bauvorhaben auf Bahnterrain bestimmt, die keine wesentliche Veränderung des äusseren Erscheinungsbildes zur Folge haben, sowie für Detailpläne bereits bewilligter Projekte (Art. 20 lit. a). Im ordentlichen Verfahren werden Projekte genehmigt, wenn keine Enteignung nötig ist oder das Enteignungsverfahren ausnahmsweise der Plangenehmigung nachfolgt (Art. 20 lit. b). Das mit einem Enteignungsverfahren kombinierte Plangenehmigungsverfahren kommt schliesslich zur Anwendung bei Vorhaben, für die ein Enteignungsverfahren nötig ist und dieses gleichzeitig mit dem Plangenehmigungsverfahren durchgeführt werden kann (Art. 20 lit. c). Für wichtigere Projekte wird somit trotz des Namens das ordentliche Verfahren die Ausnahme und das kombinierte Verfahren die Regel bilden.
Im kombinierten Verfahren leitet der Präsident der Eidgenössischen Schätzungskommission das Enteignungsverfahren aufgrund noch nicht genehmigter Projektpläne ein, die von der Behörde lediglich auf Vollständigkeit hin geprüft worden sind (Art. 19 PVV). Die Bekanntmachung der Pläne und Verzeichnisse erfolgt stets durch öffentliche Auflage, da nicht nur den Enteigneten, sondern allen im Sinne von
Art. 6 und 48 VwVG
Betroffenen Gelegenheit zur Einsprache gegeben werden muss (Art. 25 PVV);
BGE 115 Ib 424 S. 437
die Durchführung eines abgekürzten Verfahrens gemäss
Art. 33 EntG
ist daher ausgeschlossen (vgl.
BGE 108 Ib 252
). Nach Abschluss der Einigungsverhandlung sind die Pläne und Unterlagen für das - noch nicht bewilligte - Projekt in jedem Falle, selbst wenn keine Einsprachen erhoben worden sind oder sich der Widerstand gegen das Werk gelegt hat, dem Bundesamt für Verkehr zur Genehmigung vorzulegen. Insofern ist Art. 26 Abs. 3 PVV, der nur davon spricht, dass der Präsident der Schätzungskommission die strittig gebliebenen Einsprachen der Behörde zum Entscheid zu übermitteln habe, ungenau. Der richtige Verfahrensablauf ergibt sich jedoch aus den folgenden Art. 29 und 33 PVV, gemäss welchen das kombinierte wie die anderen Plangenehmigungsverfahren durch eine Verfügung der Behörde abzuschliessen ist und das Dossier nach deren Rechtskraft zur Behandlung der Entschädigungsforderungen an den Präsidenten der Schätzungskommission zurückgehen muss.
6.
Über den Baubeginn bestimmt Art. 34 PVV folgendes:
"Die Bahn kann die Bauarbeiten beginnen, sobald die Plangenehmigungsverfügung rechtskräftig ist und über die allfällige Inanspruchnahme vom Grundstücken Dritter eine Einigung vorliegt. Beim kombinierten Verfahren darf erst mit dem Bau begonnen werden, wenn eine der in den Artikeln 76, 86 Absatz 2 und 91 EntG vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt ist oder wenn der Enteignete der Bahn in einer gütlichen Vereinbarung, die nach Einleitung des Enteignungsverfahrens innerhalb oder ausserhalb des Einigungsverfahrens abgeschlossen worden ist, die vorzeitige Besitznahme des Gegenstandes der Enteignung gestattet hat."
Nach Auffassung des Präsidenten der Eidgenössischen Schätzungskommission, Kreis 12, ist Absatz 2 dieser Bestimmung so zu verstehen, dass im kombinierten Plangenehmigungsverfahren im Gegensatz zum vereinfachten oder zum ordentlichen Verfahren mit dem Bau der Bahnanlage bereits begonnen werden dürfe, wenn einer vorzeitigen Besitzeinweisung gemäss
Art. 76 EntG
nichts mehr im Wege stehe, ohne dass die Rechtskraft der Plangenehmigungsverfügung abgewartet werden müsse. Dagegen wenden die Beschwerdeführer ein, die Inanspruchnahme von Privateigentum könne unmöglich gestattet werden, solange die Realisierbarkeit des Bahnprojektes nicht feststehe; ein Baubeginn komme daher frühestens nach rechtskräftigem Entscheid über die umstrittene Genehmigung in Frage. Durch eine solche Auslegung würde aber, so befürchtet die Rhätische Bahn, das Institut der vorzeitigen Besitzeinweisung gänzlich ausgehöhlt.
BGE 115 Ib 424 S. 438
Wie Art. 34 Abs. 2 PVV zu interpretieren sei, ist tatsächlich nicht leicht zu entscheiden.
a) Im Laufe der Vorarbeiten für die Änderung der Planvorlagenverordnung haben die beteiligten Bundesstellen mit dem Bundesgericht über verschiedene Revisionspunkte einen Gedankenaustausch gepflegt. Über die Frage des Baubeginns ist indessen nicht beraten worden, da damals der Text des heutigen Art. 34 PVV noch nicht entworfen war. Das Bundesgericht hat lediglich darauf hingewiesen, dass auch in dieser Hinsicht die nötigen Anpassungen vorzunehmen seien. Für die Auslegung von Art. 34 Abs. 2 PVV ergibt sich daher aus diesen Materialien nichts.
b) Der Wortlaut von Art. 34 Abs. 2 PVV erweckt den Eindruck, dass die Frage, in welchem Stadium des kombinierten Verfahrens mit dem Bau begonnen werden dürfe, abschliessend beantwortet werde. Danach würde für den Baubeginn einzig vorausgesetzt, dass die für den Bahnbau benötigten Grundstücke und andere Rechte Dritter vom Enteigner bereits erworben worden sind (
Art. 86 Abs. 2,
Art. 91 EntG
) oder dass die vorzeitige Inbesitznahme dieser Rechte entweder durch den Schätzungskommissions-Präsidenten erlaubt (
Art. 76 EntG
) oder gütlich vereinbart worden ist.
Die allein auf den Text von Art. 34 Abs. 2 PVV gestützte Auslegung führt jedoch zu einem unhaltbaren Resultat:
Da der Präsident der Schätzungskommission, falls die Voraussetzungen von
Art. 76 Abs. 1 EntG
gegeben sind, nach der Einigungsverhandlung die vom Enteigner verlangte vorzeitige Besitzeinweisung gewähren muss und hängige Einsprachen oder Planänderungsgesuche diese an sich nicht hindern, sofern bei nachträglicher Gutheissung der frühere Zustand wiederhergestellt werden kann (
Art. 76 Abs. 4 EntG
), wäre im kombinierten Verfahren die vorzeitige Besitzergreifung und der Baubeginn schon möglich, bevor dem Projekt noch irgendeine Genehmigung erteilt worden ist. Dies widerspräche nicht nur dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit (s. E. 4d), sondern würde auch gegen die ausdrückliche Bestimmung von
Art. 18 EBG
verstossen, nach welcher die Pläne für die Erstellung und Änderung von Bauten, Anlagen und Fahrzeugen "vor ihrer Ausführung" von der Aufsichtsbehörde zu genehmigen sind. Die u.a. von HEINZ HESS vertretene Auffassung, für den Baubeginn genüge, dass die in
Art. 76 EntG
umschriebenen Voraussetzungen gegeben seien, kann daher nicht richtig sein (vgl. HESS/WEIBEL, a.a.O. Bd. II S. 80, während WEIBEL eine andere Meinung vertritt; s. unten E. 6c).
BGE 115 Ib 424 S. 439
Vielmehr ergibt sich, dass Art. 34 Abs. 2 PVV die Frage, wann bei Durchführung eines kombinierten Verfahrens die Bauarbeiten frühestens in Angriff genommen werden könnten, bloss unvollständig, nur aus enteignungsrechtlicher Sicht regelt, und sich nicht darüber ausspricht, wie weit das eigentliche Plangenehmigungsverfahren gediehen sein müsse. Diese Lücke ist vom Richter an Stelle des Verordnungsgebers auszufüllen.
c) Der Gedanke liegt nahe, bei der Ergänzung von Art. 34 Abs. 2 PVV auf die für das vereinfachte und das ordentliche Verfahren geltende Regelung von Art. 34 Abs. 1 PVV abzustellen, wonach mit den Bauarbeiten erst begonnen werden kann, wenn die Plangenehmigungsverfügung rechtskräftig ist. Übertragen auf das kombinierte Verfahren würde das bedeuten, dass die Bahn mit der vorzeitigen Besitzeinweisung und dem Baubeginn zuwarten müsste, bis der Plangenehmigungs- und Einspracheentscheid des Bundesamtes für Verkehr in Rechtskraft erwachsen wäre, d.h. bis allfällige Beschwerden vom Departement und vom Bundesrat bzw. Bundesgericht endgültig beurteilt worden wären. Die Idee, Art. 34 Abs. 1 PVV beizuziehen, erscheint umso bestechender, als dieser von seinem Wortlaut und seiner Stellung her als allgemeine, für alle drei Arten des Plangenehmigungsverfahrens gültige Norm betrachtet werden könnte. Eine solche Auffassung hat sich wohl HEINRICH WEIBEL zu eigen gemacht (HESS/WEIBEL, a.a.O. Bd. I N. 41 zu
Art. 76 EntG
) und liegt offenbar auch den angefochtenen Entscheiden des Bundesamtes für Verkehr und des Departementes zugrunde, da anders nicht zu verstehen wäre, weshalb den gegen die Plangenehmigungsverfügung gerichteten Beschwerden die aufschiebende Wirkung entzogen worden ist; eine solche Massnahme hat nur einen Sinn, wenn der Baubeginn an die Voraussetzung der Rechtskraft der Plangenehmigung geknüpft wird.
Zwei Gründe sprechen jedoch klar dagegen, Art. 34 Abs. 1 PVV als generelle, auch auf das kombinierte Verfahren anwendbare Norm zu betrachten:
Einerseits würde Art. 34 Abs. 2 PVV durch eine solche Auslegung jeder konkreten Bedeutung und eigenen Tragweite beraubt. Es versteht sich nämlich von selbst, dass im Verfahren, das der gemeinsamen und gleichzeitigen Behandlung jeglicher - eisenbahnrechtlicher, enteignungsrechtlicher oder sonstiger öffentlichrechtlicher - Einwendungen gegen das Projekt und der hiefür erforderlichen Enteignungen dient, mit der rechtskräftigen Beurteilung dieser Vorbringen alle dem Bau des Werkes entgegenstehenden
BGE 115 Ib 424 S. 440
Hindernisse beseitigt werden und die Bahn nur noch die verlangten Rechte zu erwerben braucht. Die Bestimmung von Art. 34 Abs. 2 PVV erwiese sich als völlig überflüssig.
Entscheidend ist aber andererseits, dass eine Anwendung von Art. 34 Abs. 1 PVV im kombinierten Verfahren mit der im Jahre 1971 neu gefassten Bestimmung von
Art. 76 Abs. 4 EntG
unvereinbar wäre und den Hauptzweck der Gesetzesrevision vereiteln würde. Mit
Art. 76 Abs. 4 Satz 2 EntG
hat der Gesetzgeber - wie bereits dargelegt (E. 4d) - die Möglichkeit geschaffen, die vorzeitige Besitzeinweisung unter gewissen Voraussetzungen schon vor der Erledigung der Einsprachen und der Begehren nach
Art. 7-10 EntG
zu verfügen. Damit sollten die Verfahren beschleunigt und Druckversuche von seiten der Enteigneten unterbunden werden (vgl.
BGE 115 Ib 22
E. 5a,
BGE 111 Ib 20
E. 5b, 108 Ib 491). Müsste nun der Enteigner auch im kombinierten Verfahren gemäss Art. 34 Abs. 1 PVV stets die Rechtskraft der Plangenehmigungsverfügung abwarten, um die Besitzeinweisung zu verlangen - was angesichts des dreistufigen Instanzenzuges (Bundesamt für Verkehr, EVED, Bundesrat oder Bundesgericht) lange dauern kann -, so käme
Art. 76 Abs. 4 Satz 2 EntG
überhaupt nie zum Zuge. Dieser Gesetzesnorm kommt jedoch generelle Bedeutung zu, die durch eine Verordnungsbestimmung nicht beschränkt werden kann.
Dass sich neben den Enteigneten auch die weiteren Betroffenen im Sinne von
Art. 6 und 48 VwVG
am kombinierten Plangenehmigungsverfahren beteiligen können, vermag übrigens an der Geltung von
Art. 76 Abs. 4 Satz 2 EntG
nichts zu ändern, ist doch nicht einzusehen, weshalb die Bahn infolge der Erweiterung des Einsprecherkreises der Vorteile verlustig gehen sollte, die der Gesetzgeber allen Enteignern verschaffen wollte (vgl. zur gleichen Frage im Einspracheverfahren nach Nationalstrassengesetz:
BGE 115 Ib 95
f.). Die Erfahrung lehrt denn auch, dass die Einwendungen der bloss in ihren tatsächlichen Interessen Betroffenen in der Regel nicht anders lauten als jene der Enteigneten, und dass diese Rügen kaum je speziell eisenbahn- oder enteignungsrechtlicher Natur sind, sondern meist Fragen der Raumplanung, des Natur- und Heimat- oder des Umweltschutzes betreffen.
Demnach erweist sich nicht nur die Anwendung von Art. 34 Abs. 2 PVV nach seinem blossen Wortlaut, sondern auch die Berücksichtigung von Art. 34 Abs. 1 im kombinierten Verfahren als unvereinbar mit dem Gesetz, und ist die Bahn zwar vor Erlass der erstinstanzlichen Plangenehmigungsverfügung zur Inangriffnahme
BGE 115 Ib 424 S. 441
der Bauarbeiten nicht berechtigt, doch auch nicht gehalten, bis zur Rechtskraft der Verfügung zuzuwarten.
d) Somit bieten sich immer noch zwei Möglichkeiten der Lückenfüllung an:
Entweder wird für den Baubeginn im kombinierten Verfahren vorausgesetzt, dass das Bundesamt für Verkehr als untere Aufsichtsbehörde die Pläne unter gleichzeitiger Beurteilung der enteignungsrechtlichen Einsprachen und Planänderungsbegehren genehmigt habe (
Art. 18 Abs. 4 EBG
), und spielt es keine Rolle, ob der Entscheid weitergezogen werde oder nicht. Oder es muss im Fall der Anfechtung der Plangenehmigungsverfügung abgewartet werden, bis auch das EVED als Beschwerdeinstanz und obere Aufsichtsbehörde (
Art. 10 Abs. 2 EBG
) entschieden habe. Diese zweite Lösung ist der Minimallösung vorzuziehen, da sie zwischen den unterschiedlichen Interessen von Bahn und Opponenten einen Ausgleich schafft und am ehesten der Ordnung des Nationalstrassengesetzes entspricht. Dazu ist im einzelnen folgendes festzuhalten:
aa) Könnte schon nach dem Entscheid des Bundesamtes für Verkehr mit dem Bau an der Bahnanlage begonnen werden, so würde dem Interesse der Bahn an der unverzüglichen Verwirklichung des Projektes ein kaum zu rechtfertigendes überwiegendes Gewicht eingeräumt. Insbesondere wäre nicht einzusehen, weshalb die Bahn im kombinierten Verfahren, das der Genehmigung von Grossprojekten dient, durch welche einschneidend in Rechte Dritter eingegriffen wird, die Bauarbeiten schon nach der erstinstanzlichen Verfügung anhand nehmen könnte, während sie sich aufgrund von Art. 34 Abs. 1 PVV im ordentlichen Verfahren, wenn keine Enteignung nötig ist, bis zur Rechtskraft der Plangenehmigungsverfügung, das heisst allenfalls bis zum Entscheid der dritten und letzten Instanz, gedulden muss. Ein derartiger Unterschied wäre unangemessen und würde die Bahn nicht nur begünstigen: Solange noch Einsprachen hängig sind, kann der Bahn die vorzeitige Besitzergreifung nur mit dem Vorbehalt gestattet werden, dass sie bei allfälliger Gutheissung der Begehren den früheren Zustand wieder herstellen oder das bereits begonnene Werk abändern muss. Nun nimmt das Risiko nachträglicher Aufhebung oder Änderung der Plangenehmigungsverfügung mit der Länge des noch zu durchlaufenden Rechtsmittelweges zweifellos zu, insbesondere wenn - wie hier - zumindest eine der Instanzen sowohl in technischer wie in enteignungsrechtlicher Hinsicht auch über Ermessensfragen
BGE 115 Ib 424 S. 442
frei befindet. Die umsichtig handelnde Bahn würde daher ohnehin von selbst darauf verzichten, für umstrittene Projekte die vorzeitige Besitzeinweisung schon nach Erlass der erstinstanzlichen Verfügung zu verlangen.
Eine derart frühzeitige Besitzergreifung widerspräche aber vor allem den Interessen der Enteigneten. Wohl darf nach bundesgerichtlicher Praxis die Tatsache, dass mit dem Bau des Werkes bereits begonnen worden ist, den Entscheid über die Einsprachen und die Planänderungsbegehren nicht präjudizieren, da der Enteigner das mit der Besitzergreifung verbundene Risiko allein zu tragen hat (
BGE 111 Ib 93
,
BGE 108 Ib 491
). Sind aber schon beträchtliche Summen in das Werk investiert worden und müssten noch weitere nutzlos für die Wiederherstellung des früheren Zustandes ausgegeben werden, so mag dies, wenn auch unbewusst, im einen oder andern Fall bei der Beurteilung der gegen das Projekt erhobenen Einwände zum Nachteil der Einsprecher mitspielen.
Das an sich verständliche und berechtigte Bestreben nach zügiger Erstellung öffentlicher Werke muss daher jedenfalls dort eine Schranke finden, wo es darum geht, den betroffenen Privaten und den zur Einsprache legitimierten Organisationen eine wirksame Verteidigung ihrer Interessen zu gewährleisten. Der Auseinandersetzung mit ihren Anliegen ist sowohl bei der Festlegung des gesetzlichen Verfahrensablaufs als auch im Einzelfall bei der Aufstellung des Bauprogramms gebührende Zeit zu widmen.
bb) Die Lösung, eine vorzeitige Besitzeinweisung erst zuzulassen, wenn im Rechtsmittelverfahren der Departementsentscheid vorliegt, entspricht im Ergebnis der im Bundesgesetz über die Nationalstrassen getroffenen Ordnung. Dieses Gesetz ist bei der Lückenfüllung nicht nur beizuziehen, weil es analoge Fragen beschlägt(vgl.
BGE 108 Ib 151
E. 4a,
BGE 105 Ib 13
E. 3c) - findet doch für den Nationalstrassenbau stets ein "kombiniertes Verfahren" statt - sondern vor allem auch, weil es bei der Revision des Eisenbahngesetzes im Jahre 1982 als Vorbild diente (vgl. oben E. 5a). Nach dem Bundesgesetz über die Nationalstrassen fällt eine vorzeitige Besitzergreifung erst in Betracht, wenn sich die letzte kantonale Instanz über die Einsprachen und Planänderungsbegehren ausgesprochen hat und das bereinigte Ausführungsprojekt zusätzlich vom zuständigen eidgenössischen Departement genehmigt worden ist, womit der Weg für die Einleitung des auf die Behandlung der Entschädigungsfragen beschränkten Enteignungsverfahrens freigegeben wird (Art. 27/28 und 39 NSG s. oben
BGE 115 Ib 424 S. 443
E. 4d). Mit dem Bau an der Nationalstrasse kann daher erst begonnen werden, wenn einzig noch die Möglichkeit besteht, das Ausführungsprojekt beim Bundesgericht oder Bundesrat anzufechten. Das gleiche Ergebnis wird mit der hier zur Ergänzung von Art. 34 Abs. 2 PVV ausgewählten Regelung erreicht.
An der Zweckmässigkeit einer übereinstimmenden Ordnung für den Baubeginn an Nationalstrassen einerseits und Bahnanlagen andererseits ändert im übrigen nichts, dass das Projektierungsverfahren für Nationalstrassen und das kombinierte eisenbahnrechtliche Verfahren nicht in allen Punkten identisch sind. So ist unerheblich, dass das EVED im eisenbahnrechtlichen Verfahren als eigentliche Rechtsmittelinstanz, im Verfahren nach Nationalstrassengesetz dagegen als ausserhalb des Instanzenzuges stehende Genehmigungsbehörde auftritt. Dass nach Nationalstrassengesetz der Einigungsverhandlung, an der frühestens über die Besitzeinweisung entschieden wird, eine zusätzliche zweite Planauflage zur Anmeldung der Entschädigungsforderungen voranzugehen hat, während für Eisenbahnbauten nur eine einzige Publikation der Pläne vorgesehen wird, bestärkt nur im Gedanken, dass in diesem konzentrierten Verfahren der Baubeginn nicht noch vorgezogen, sondern eher hinausgeschoben werden soll. Hiefür spricht schliesslich auch, dass für Nationalstrassen ein generelles Projekt geschaffen und genehmigt werden muss und im eisenbahnrechtlichen Verfahren eine entsprechende Phase völlig fehlt.
cc) Allerdings könnte gegen den Aufschub des Baubeginns bis zur Vorliegen des Departementsentscheides eingewendet werden, es bestehe ja aufgrund von
Art. 51 EntG
schon die Möglichkeit, dass der Präsident der Schätzungskommission, falls Einsprachen voraussichtlich namhafte Planänderungen zur Folge haben, die Einigungsverhandlung und damit auch den Entscheid über das Besitzeinweisungs-Gesuch bis zur Erledigung der Einsprachen ganz oder teilweise aussetzt. Dem Schätzungskommissions-Präsidenten - der in diesem Verfahrensabschnitt praktisch über keine Entscheidungsbefugnisse verfügt (
BGE 111 Ib 282
, 110 Ib 42 E. 3a) - kann jedoch die Verantwortung nicht aufgebürdet werden, in jedem Fall durch Anwendung der Ausnahmevorschrift von
Art. 51 EntG
an Stelle des Gesetzgebers darüber entscheiden zu müssen, wann die technische Plangenehmigung für einen Baubeginn genügend weit gediehen sei. Dass die Schätzungskommission im kombinierten Verfahren für Eisenbahnbauten, im Gegensatz zum Verfahren für den Nationalstrassenbau, bereits im Rahmen
BGE 115 Ib 424 S. 444
der Planauflage zum Einsatz kommt, hat denn auch keine rechtlichen, sondern nur praktische Gründe; damit wird eine Entlastung des Bundesamtes für Verkehr von Organisationsaufgaben auf dem Gebiet der ganzen Schweiz durch bereits bestehende, dezentralisierte eidgenössische Behörden erreicht, welche im fraglichen Bereich - der Kontrolle der Pläne und Aussteckungen, der Anordnung der Planauflage und Publikationen - schon über die nötige Erfahrung verfügen.
e) Nach dem Gesagten ist Art. 34 Abs. 2 PVV derart zu vervollständigen, dass beim kombinierten Verfahren erst mit dem Bau begonnen werden darf, wenn die genannten enteignungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind und die Plangenehmigungsverfügung des Bundesamtes für Verkehr in Rechtskraft erwachsen oder der Beschwerdeentscheid des EVED ergangen ist. Diese Ergänzung hält sich im gesetzlichen Rahmen von
Art. 18 Abs. 4 EBG
sowie
Art. 76 Abs. 4 EntG
und darf in dem Sinne als ausgewogene Lösung betrachtet werden, als sie sowohl dem Wunsch nach zügiger Bauausführung als auch dem Bedürfnis nach Rechtsschutz und Rechtssicherheit entgegenkommt. Sie berücksichtigt überdies, dass durch das kombinierte eisenbahnrechtliche Verfahren der Verfahrensablauf wohl äusserst gestrafft und die Befugnis zum erstinstanzlichen Einsprachenentscheid an ein Bundesamt delegiert, dadurch aber am angestammten Kompetenzbereich des Departementes als Genehmigungsbehörde nichts geändert worden ist. Schliesslich erlaubt sie dem Bundesgericht, auf Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen die vorzeitige Besitzeinweisung hin von den noch nicht erledigten Einsprachen und Planänderungsbegehren ohne weiteren Aufwand Kenntnis zu nehmen, da diese im fraglichen Zeitpunkt ebenfalls schon beim Bundesgericht angelangt sein müssen.
7.
Gemäss der in diesem Sinne ergänzten Bestimmung von Art. 34 Abs. 2 PVV hätte im vorliegenden Fall der Präsident der Eidgenössischen Schätzungskommission der Rhätischen Bahn die vorzeitige Besitzergreifung, da der Beschwerdeentscheid des EVED noch nicht ergangen ist, zur Zeit verweigern müssen. Das EVED hätte seinerseits in seiner Zwischenverfügung festhalten sollen, dass den bei ihm eingereichten Beschwerden nach spezialgesetzlicher Regelung aufschiebende Wirkung zukomme, die auch in Anwendung von
Art. 55 Abs. 2 VwVG
grundsätzlich nicht aufgehoben werden könne.
Zwar ist einzuräumen, dass sich in Sonderfällen zur Abwehr schwerer und unmittelbarer Gefährdung öffentlicher Interessen, insbesondere von wichtigen Polizeigütern, ein sofortiger Baubeginn
BGE 115 Ib 424 S. 445
bzw. die sofortige Vollstreckung der Plangenehmigungsverfügung aufdrängen kann (vgl. FRITZ GYGI, Aufschiebende Wirkung und vorsorgliche Massnahmen in der Verwaltungsrechtspflege, ZBl 77/1976 S. 6 f.); zu denken ist etwa an Lawinenniedergänge, Erdrutsche Oder Überschwemmungen, die den unverzüglichen Bau von Schutzvorrichtungen und Notverbindungen erforderlich machen. Ein solcher Fall ist jedoch hier, wo es um die Erweiterung des Streckennetzes der Rhätischen Bahn geht, offensichtlich nicht gegeben. Dass der Bau längere Zeit in Anspruch nehmen und mit hohen Kosten verbunden sein wird, ist heute für jedes grössere Bahnprojekt die Regel und noch kein Grund, Anordnungen zu treffen, die für den Ausnahmefall vorbehalten bleiben sollen.
Das EVED bringt allerdings in seinem Entscheid über die aufschiebende Wirkung auch vor, weil nur den Anlagen für die "rollende Strasse", nicht aber einer blossen Eisenbahnverbindung Widerstand erwachsen sei, spreche nichts dagegen, dass mit der Erstellung der eigentlichen Bahn- und Tunnelbauten - ohne die Verladeanlagen - schon jetzt begonnen werde. Damit geht das Departement jedoch völlig darüber hinweg, dass mit der neuen Eisenbahnlinie eine auch für den Autoverkehr wintersichere Verbindung mit dem Unterengadin geschaffen werden soll und die "rollende Strasse" das Kernstück der Vereinalinie bildet, ohne das der Bundesrat und das Parlament dem Projekt nicht zugestimmt hätten. Zudem wird übersehen, dass eine allfällige Verlegung des Verladebahnhofes, wie sie von verschiedenen Einsprechern verlangt worden ist, Auswirkungen auf die Strecken- und Tunnelführung haben könnte und mit Sicherheit Folgen für die Verwendung bzw. den Abtransport des Aushubmaterials hätte. Auch aus dieser Sicht lässt sich der vom Departement für gewisse Arbeiten zugelassene sofortige Baubeginn nicht rechtfertigen.
Die Besitzeinweisungs-Verfügungen des Präsidenten der Eidgenössischen Schätzungskommission, Kreis 12, sind demnach als verfrüht aufzuheben, ohne dass zu prüfen wäre, ob
Art. 76 EntG
richtig angewendet worden sei. Da sich die Enteigneten und weiteren Beteiligten zum Besitzeinweisungs-Gesuch bereits haben äussern können, wird der Präsident nach dem Beschwerdeentscheid des EVED auch ohne zusätzliche Anhörung der Parteien eine neue Verfügung treffen können. Ebenfalls aufzuheben ist der Zwischenentscheid des EVED insoweit, als der Entzug der aufschiebenden Wirkung bestätigt worden ist. Nach dem hier Gesagten erübrigt sich die ausdrückliche Wiederherstellung des Suspensiveffektes. | de |
df82b0ea-a1e0-4486-9106-013dd0d99c02 | Erwägungen
ab Seite 713
BGE 129 III 713 S. 713
Aus den Erwägungen:
2.
In ihrer Berufungsbegründung anerkennt die Klägerin ausdrücklich eine Anzeigepflichtverletzung im Sinne von
Art. 6 VVG
(SR 221.229.1) ihres verstorbenen Ehemannes. Sie beschränkt ihre Berufungsbegründung auf die Geltendmachung von drei Mängeln der Rücktrittserklärung: Notwendigkeit einer Rücktrittserklärung der Beklagten gegenüber der Klägerin, verspätete Abgabe der Rücktrittserklärung der V. und mangelhafter Inhalt der Rücktrittserklärung.
BGE 129 III 713 S. 714
2.1
Unter Hinweis auf ein nicht veröffentlichtes Urteil des Bundesgerichts vom 18. März 1994 (5C.229/1993) macht die Klägerin geltend, die vorsorgliche Rücktrittserklärung der V. vom 15. Juli 1994 habe nicht den bundesrechtlichen Anforderungen an den Inhalt einer solchen Erklärung entsprochen und sei daher unwirksam.
Gemäss diesem Urteil (erwähnt bei URS CH. NEF, Basler Kommentar zum VVG, N. 16 und 18 zu
Art. 6 VVG
) muss eine derartige Rücktrittserklärung, um beachtlich zu sein, ausführlich ("de façon circonstanciée") auf die verschwiegene oder ungenau mitgeteilte Gefahrstatsache hinweisen. Eine Rücktrittserklärung, welche die ungenau beantwortete Frage nicht erwähnt, ist zu wenig ausführlich (E. 5b des erwähnten Urteils des Bundesgerichts vom 18. März 1994, unter Hinweis auf
BGE 110 II 499
, seit welchem Urteil die entscheidende Erwägung in publizierter Form vorliegt; abweichend - aber ausschliesslich unter Hinweis auf ältere Praxis - E. 3a des Urteils 5C.149/2000 vom 30. Oktober 2000).
Den genannten Anforderungen genügt die Rücktrittserklärung vom 15. Juli 1994 nicht, wird doch daselbst lediglich von "Einsichtnahme in den ärztlichen Bericht über die Todesursache" und von "in casu eine Anzeigepflichtverletzung" gesprochen. Nähere Angaben werden erst in der - bestätigenden - Rücktrittserklärung der V. vom 6. September 1994 gemacht. Dem steht auch der Inhalt des erwähnten ärztlichen Berichts über die Todesursache vom 16. Juni 1994, auf welchen sich die Beklagte in ihrer Berufungsantwort beruft, nicht entgegen. Gemäss den einlässlichen - und verbindlichen (
Art. 63 Abs. 2 OG
) - Feststellungen der Vorinstanz weist dieser Arztbericht nur einen ganz rudimentären Inhalt auf, wobei insbesondere "jegliche Details, die für die Beurteilung einer Anzeigepflichtverletzung wesentlich wären, ... fehlen". Es kann somit offen bleiben, ob die Auffassung der Beklagten zutreffend ist, die Behauptung der Klägerin, weder ihr noch der Beklagten sei der Arztbericht bekannt gegeben worden, sei vor Bundesgericht neu vorgetragen worden.
Der Vollständigkeit halber ist noch festzuhalten, dass die - bestätigende - Rücktrittserklärung vom 6. September 1994 verspätet war. Angesichts des Umstandes, dass der Arztbericht vom 3. August 1994 spätestens am 8. August 1994 bei der V. eingegangen ist, erfolgte die Rücktrittserklärung vom 6. September 1994 nicht binnen der vierwöchigen Frist gemäss
Art. 6 VVG
(vgl.
Art. 77 Abs. 1 Ziff. 2 OR
).
2.2
Ist mithin die vorliegend allein in Betracht fallende Rücktrittserklärung vom 15. Juli 1994 inhaltlich ungenügend, so liegt
BGE 129 III 713 S. 715
keine gültige Rücktrittserklärung im Sinne von
Art. 6 VVG
vor. Entgegen der von der Beklagten in ihrer Berufungsantwort vertretenen Auffassung erweist es sich auch nicht als rechtsmissbräuchlich im Sinne von
Art. 2 Abs. 2 ZGB
, dass sich die Klägerin auf diesen Mangel berufen hat. | de |
076b2cfa-3edf-41f8-bd63-ec4a5ab015b0 | Sachverhalt
ab Seite 138
BGE 137 II 136 S. 138
Mit Verfügung vom 19. Dezember 2001 bewilligte der Nachlassrichter des Bezirksgerichts Y. der X. AG die provisorische und am 15. Februar 2002 die definitive Nachlassstundung. Gleichzeitig wurde der Sachwalter ernannt resp. bestätigt.
Am 27. März 2002 reichte die Nachlassschuldnerin der Eidgenössischen Steuerverwaltung die Mehrwertsteuer-Abrechnung für das 4. Quartal 2001 (Umsätze vom 1. Oktober bis 19. Dezember) mit einer geschuldeten Steuer von Fr. 789'506.90, einem Vorsteuerabzug von Fr. 1'383'082.65 und einem daraus resultierenden Vorsteuerguthaben von Fr. 593'575.75 ein. Die Eidgenössische Steuerverwaltung lehnte den Vorsteuerabzug ab. Sie begründete das damit, dass Firmen vor dem Konkurs oder der Nachlassstundung erfahrungsgemäss ihre Lieferanten nicht oder nicht mehr vollumfänglich bezahlen, weshalb der Vorsteuerabzug nicht zu gewähren sei. Dementsprechend setzte sie die Steuerforderung für die betreffende Steuerperiode ohne Berücksichtigung eines Vorsteuerguthabens auf Fr. 789'506.90 fest und korrigierte die von ihr im Nachlassverfahren eingegebene Mehrwertsteuerforderung.
Am 20. August 2002 bestätigte das Bezirksgericht Y. den Nachlassvertrag mit Vermögensabtretung (
Art. 317 ff. SchKG
) und ernannte den Sachwalter als Liquidator.
Mit Eingabe vom 23. Januar 2004 ersuchte der Liquidator die Eidgenössische Steuerverwaltung um:
1. eine Bestätigung, dass der Schuldnerin ein Anspruch auf Rückerstattung der Vorsteuern zustehe, soweit mit Abschlagszahlungen und Schlusszahlung (Dividende) an die Nachlassgläubiger vorsteuerbelastete Rechnungen beglichen werden;
2. einen Vorschlag für eine "pragmatische Lösung" des Problems, welches sich daraus ergebe, dass die Höhe der Schlussdividende von der Höhe der Vorsteuerrückerstattung und diese wiederum von der Höhe der Schlussdividende abhänge ("Zirkelrechnung");
3. eine Bestätigung, dass die Eidgenössische Steuerverwaltung ihre Steuerforderung nicht mit dem Vorsteuerguthaben der Nachlassschuldnerin verrechnen könne, weil der Anspruch auf Rückforderung der Vorsteuer erst zum Zeitpunkt der Abschlagszahlungen und der Schlusszahlung an die Nachlassgläubiger entstehe.
Mit Schreiben vom 26. April 2004 teilte die Eidgenössische Steuerverwaltung dem Liquidator mit, dass die Dividendenzahlungen an die Nachlassgläubiger die Schuldner nicht zum Abzug zusätzlicher Vorsteuern berechtigten. Dies bestätigte sie mit Entscheid vom 4. April 2005.
BGE 137 II 136 S. 139
Im Einspracheverfahren änderte die Eidgenössische Steuerverwaltung ihre Rechtsauffassung und anerkannte einen Anspruch auf Rückerstattung der Vorsteuer im Umfang der im Nachlassverfahren geleisteten Abschlagszahlungen (Dividenden). Die abziehbare Vorsteuer setzte sie ausgehend von einem maximal möglichen Vorsteuerabzug von Fr. 1'436'876.45 auf allen im Nachlassverfahren eingegebenen Forderungen und einer voraussichtlichen Dividende von 35 % auf Fr. 502'906.76 fest. Dementsprechend korrigierte sie ihre im Nachlassverfahren eingegebene Mehrwertsteuer-Forderung per 19. Dezember 2001 auf Fr. 980'057.40. Nach Ansicht der Eidgenössischen Steuerverwaltung wäre der auf dieser Schätzung beruhende Vorsteuerabzug definitiv und entstünde auch dann kein weiterer Anspruch auf Vorsteuerabzug, wenn die Nachlassschuldnerin eine Gesamtdividende von mehr als 35 % ausschütten würde.
Mit Urteil vom 22. Juni 2009 hiess das Bundesverwaltungsgericht eine Beschwerde der X. AG in Nachlassliquidation teilweise gut und wies die Sache antragsgemäss an die Eidgenössische Steuerverwaltung zurück, damit diese die Steuerforderung und das Vorsteuerguthaben nach Massgabe der am Ende des Nachlassverfahrens vorhandenen Aktiven und Passiven und den daraus resultierenden Abschlags- und Dividendenzahlungen ermittle (und nicht schätze). Die von der Eidgenössischen Steuerverwaltung geltend gemachte Verrechnung der Umsatzsteuerforderung mit dem Vorsteuerguthaben der Nachlassschuldnerin liess das Gericht nur bis zur Höhe der auf die Umsatzsteuerforderung entfallende Dividende zu.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten hält die Eidgenössische Steuerverwaltung an der Rechtmässigkeit ihres Vorgehens (Festsetzung der Korrektur des Vorsteuerabzugs aufgrund einer Schätzung) fest. Sie verlangt zudem, dass das Vorsteuerguthaben der Nachlassschuldner vollumfänglich mit der im Nachlassverfahren eingegebenen Umsatzsteuerforderung verrechnet werde.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde hinsichtlich der Verrechnung gut. Im Übrigen weist es die Beschwerde ab.
(Zusammenfassung) Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
3.1
Beim Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs (SchKG; SR 281.1) und beim Bundesgesetz über die Mehrwertsteuer (in der hier anwendbaren Fassung vom 2. September 1999, aMWSTG; AS
BGE 137 II 136 S. 140
2000 1300) handelt es sich um Erlasse gleicher Stufe. Das Nachlassverfahren als Institut der Zwangsvollstreckung untersteht den Bestimmungen des SchKG, soweit nicht andere Bundesgesetze (betreibungs- und vollstreckungsrechtliche) Spezialbestimmungen enthalten. Das Verhältnis zwischen der steuerpflichtigen Person und der Eidgenössischen Steuerverwaltung wird demgegenüber durch das Mehrwertsteuergesetz geregelt.
Daran ändert auch die Bewilligung der Nachlassstundung nichts. Während des Nachlassverfahrens bleibt die Steuerpflicht bestehen. Sie endet bei der Vermögensliquidation und insbesondere beim Nachlassvertrag mit Vermögensabtretung erst mit dem Abschluss des Liquidationsverfahrens (Art. 29 lit. a aMWSTG). Das gilt sowohl in Bezug auf die objektive und subjektive Steuerpflicht wie auch die Steuerforderung und den Vorsteuerabzug oder die Pflicht zur periodischen Abrechnung der Steuer. Bereits der Warenumsatzsteuerbeschluss sah die Besteuerung von Grossistenlieferungen im Konkurs oder anlässlich eines Nachlassvertrages mit Vermögensabtretung vor (
Art. 13 Abs. 2 WUStB
[BS 6 178];
BGE 107 Ib 303
E. 2c;
BGE 96 I 244
E. 1; vgl. BLUMENSTEIN/LOCHER, System des schweizerischen Steuerrechts, 6. Aufl. 2002, S. 497).
Zuständig zum Entscheid über Bestand und Umfang der Umsatzsteuer ist im Konkurs- oder Nachlassverfahren die Steuer- oder Steuerjustizbehörde und nicht die Konkursverwaltung bzw. der Liquidator (vgl.
BGE 120 III 147
E. 4a,
BGE 120 III 153
E. 2a für Steuerforderungen im allgemeinen;
BGE 107 Ib 303
E. 1a für die Warenumsatzsteuer; s. auch
BGE 125 III 293
). Ist die Steuerforderung bestritten und noch nicht rechtskräftig festgesetzt, so unterbleibt nach ausdrücklicher Bestimmung in Art. 69 Abs. 2 aMWSTG (jetzt
Art. 89 Abs. 2 MWSTG
[SR 641.20]) ihre endgültige Kollokation (
Art. 321 SchKG
), bis ein rechtskräftiger Entscheid vorliegt. Das zeigt, dass die Steuerforderung auch während eines Konkurs- oder Nachlassverfahrens im Steuerverfahren festzusetzen ist. Davon gehen auch die Vorinstanz und die Parteien aus.
3.2
Während der Dauer der Nachlassstundung bleibt der Schuldner grundsätzlich über sein Vermögen verfügungsberechtigt und zur Fortführung des Geschäfts berechtigt, sofern der Nachlassrichter nichts weiter anordnet (vgl.
Art. 298 Abs. 1 SchKG
). Der Schuldner kann insbesondere sämtliche Geschäfte abschliessen und Rechtshandlungen vornehmen, soweit sie zum täglichen Geschäftsbetrieb gehören, wobei er unter Aufsicht des Sachwalters steht
BGE 137 II 136 S. 141
(PIERRE-ROBERT GILLIÉRON, Poursuite pour dettes, faillite et concordat, 4. Aufl. 2005, Rz. 3120 S. 476; ALEXANDER VOLLMAR, in: Kommentar zum Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs, Bd. III, 1998, N. 1 zu
Art. 298 SchKG
). Mit Ermächtigung des Nachlassrichters können in diesem Stadium auch bereits Vermögenswerte oder Unternehmensteile veräussert werden (Art. 298 Abs. 2 e contrario SchKG). Das ist namentlich dann von Bedeutung, wenn sich die Verkaufsverhandlungen bereits in einem fortgeschrittenen Stadium befinden und von einer sofortigen Veräusserung ein besseres Ergebnis für die Gläubiger zu erwarten ist (vgl. VOLLMAR, a.a.O., N. 17, 19 f., 23 ff. zu
Art. 298 SchKG
; einschränkend: JAEGER/WALDER/KULL/KOTTMANN, Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs, 4. Aufl. 1997, N. 11 und 13 zu
Art. 298 SchKG
). Nach rechtskräftiger Bestätigung des Nachlassvertrages mit Vermögensabtretung (
Art. 317 SchKG
) ist das vom Nachlassvertrag erfasste Vermögen abzutreten bzw. zu liquidieren (zum Ganzen AMONN/WALTHER, Grundriss des Schuldbetreibungs- und Konkursrechts, 8. Aufl. 2008, S. 503 ff., 524 ff.).
3.2.1
Soweit nach Bewilligung der Nachlassstundung und auch noch im Rahmen der Verwertung bis zur Beendigung der Liquidation Vermögenswerte im Inland gegen Entgelt veräussert oder abgetreten werden, handelt es sich grundsätzlich um steuerbare Umsätze (Art. 5 aMWSTG) und unterliegt das Entgelt der Mehrwertsteuer. Es handelt sich um Umsätze, welche mit Einwilligung des Sachwalters (und des Nachlassrichters) erfolgen, weshalb die daraus erwachsenen Steuerforderungen die Masse belasten. Die Vorsteuer kann abgezogen werden (Art. 38 aMWSTG). Ein allfälliges Vorsteuerguthaben (ein "Vorsteuerüberschuss") steht der Masse zu.
Solche Umsätze tätigte auch die Beschwerdegegnerin während des Nachlassverfahrens. Im Gesuch um Gewährung der provisorischen Nachlassstundung beabsichtigte sie, einen Teil ihrer Geschäftsbereiche aus Liquiditätsgründen zu veräussern und den Kernbereich weiterzuführen. Bereits während der provisorischen Nachlassstundung veräusserte sie ihre drei Hauptgeschäftsbereiche. Da sie nicht in der Lage war, auch den Kernbereich weiter zu betreiben, und um einen Wertzerfall zu verhindern, veräusserte sie die Bereiche Q., R. sowie S. an verschiedene Offerenten. Der Nachlassrichter erteilte seine Zustimmung zu diesen Verträgen am 3. Februar bzw. 25. Februar 2002. Diese Umsätze betreffen den Zeitraum nach Bekanntgabe der Nachlassstundung und berechtigen und belasten die Masse. Solche Umsätze sind hier nicht streitig.
BGE 137 II 136 S. 142
3.2.2
Im vorliegenden Fall geht es allein um Umsätze aus Lieferungen und Dienstleistungen, welche die Beschwerdegegnerin bis zum Datum der Nachlassstundung (19. Dezember 2001) bezogen hatte und die unbezahlt geblieben oder erst im Nachlassverfahren bezahlt worden sind. Der Liquidator reichte diesbezüglich eine Aufstellung über die Kreditoren (Leistungserbringer) ein. Er unterschied dabei drei Gruppen: a) Kreditoren per 19. Dezember 2001, b) Kreditoren für Leistungen vor dem 19. Dezember 2001, welche die Rechnung nach dem 19. Dezember 2001 stellten und c) Kreditoren per 19. Dezember 2001, die nach dem 19. Dezember 2001 bezahlt wurden.
4.
4.1
Art. 40 aMWSTG bestimmt:
"Sind die von der steuerpflichtigen Person aufgewendeten Entgelte niedriger als die vereinbarten oder sind ihr Entgelte zurückerstattet worden, so ist die Vorsteuer entweder nur vom tatsächlich geleisteten Entgelt zu berechnen oder in der Abrechnung über die Periode, in der die Entgeltsminderung eintritt, herabzusetzen."
Die Vorschrift ist im Zusammenhang mit Art. 44 Abs. 2 aMWSTG zu lesen. Danach kann der Erbringer einer Lieferung oder Dienstleistung einen Abzug beim steuerbaren Umsatz vornehmen, wenn das Entgelt aus irgendeinem Grund geringer ausfällt, als es vereinbart oder in Rechnung gestellt worden ist. Da der Leistungserbringer eine geringere Steuer abführt, vermindert sich dadurch automatisch auch die Vorsteuer beim Leistungsempfänger. Daher bestimmt Art. 40 aMWSTG, dass der Leistungsempfänger in der Steuerabrechnung die Vorsteuer herabzusetzen hat, wenn die von ihm aufgewendeten Entgelte niedriger sind als die vereinbarten.
4.2
Mit Recht hat die Vorinstanz erkannt, dass mit der Bewilligung der Nachlassstundung gegenüber der Beschwerdegegnerin ein Fall von Entgeltsminderung im Sinne von Art. 40 aMWSTG eingetreten ist:
Ein Schuldner, der um Nachlassstundung ersucht, wird in der Regel schon einige Zeit vor dem Gesuch Rechnungen nicht mehr bezahlt haben. Mit dem Gesuch um Nachlassstundung gibt er zu erkennen, dass er überschuldet oder zumindest illiquid ist (HANS ULRICH HARDMEIER, in: Kommentar zum Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs, Bd. III, N. 1 zu
Art. 309 SchKG
). Die Lieferanten und Leistungserbringer des Schuldners werden daher in der Regel spätestens zu diesem Zeitpunkt ihre Forderungen als uneinbringlich abschreiben. Sie können gemäss Art. 44 Abs. 2 aMWSTG in der Periode, in
BGE 137 II 136 S. 143
welcher die Entgeltsminderung verbucht wird, einen Abzug vom steuerbaren Umsatz vornehmen. Weil in diesem Umfang die Steuer entfällt, hat auch der Nachlassschuldner mangels Vorsteuerbelastung den Vorsteuerabzug im gleichem Betrag herabzusetzen (Art. 40 aMWSTG; s. auch CAMENZIND/HONAUER/VALLENDER, Handbuch zum Mehrwertsteuergesetz, 2. Aufl. 2003, Rz. 1433 ff. S. 487 f.). Eine gleichartige Regelung enthält beispielsweise auch das deutsche Umsatzsteuerrecht (vgl. HELGA SCHLOSSER-ZEUNER, in: Umsatzsteuergesetz, Bunjes/Geist [Hrsg.], 9. Aufl. 2009, N. 41 ff. zu § 17 D-UStG).
Mit der Bewilligung der Nachlassstundung durfte daher die Beschwerdegegnerin die Vorsteuer nur noch vom tatsächlich geleisteten Entgelt berechnen und hatte sie den Vorsteuerabzug zu korrigieren. Das hat die Vorinstanz zutreffend erwogen. Aus dem gleichen Grund verlangt auch die Beschwerdeführerin in ihrer Praxis im Falle eines Konkurses oder Nachlasses per Datum der Konkurseröffnung bzw. Nachlassstundung eine Umstellung von der Abrechnung nach vereinbarten Entgelten zur Abrechnung nach vereinnahmten Entgelten (vgl. Art. 44 Abs. 1 und 4 aMWSTG, jetzt
Art. 39 Abs. 1 und 2 MWSTG
), wie ihrer Vernehmlassung an die Vorinstanz zu entnehmen ist.
4.3
Über die Steuer und Vorsteuer hat die steuerpflichtige Person gegenüber der Eidgenössischen Steuerverwaltung unaufgefordert in der vorgeschriebenen Form abzurechnen (Art. 46 aMWSTG). Dementsprechend hat sie bei einer Entgeltsminderung im Sinne von Art. 40 aMWSTG auch ohne weiteres den Vorsteuerabzug in ihrer Abrechnung zu korrigieren. Nachdem die Beschwerdegegnerin in der Abrechnung für das vierte Quartal 2001 den Vorsteuerabzug nicht berichtigt hatte, nahm die Beschwerdeführerin die entsprechende Korrektur selbst vor und meldete die gesamte noch offene Steuerforderung per 19. Dezember 2001 - ohne Berücksichtigung des Vorsteuerabzugs für die Abrechnungsperiode des 4. Quartals 2001 - zur Kollokation im Nachlassverfahren an.
Gegen dieses Vorgehen ist nichts einzuwenden. Aus den Steuerabrechnungen, welche der Steuerpflichtige der Eidgenössischen Steuerverwaltung periodisch einzureichen hat, geht nicht hervor, ob im Falle eines nicht solventen Schuldners die Leistungserbringer das Entgelt erhalten haben oder nicht und ob ein Anspruch auf Vorsteuerabzug besteht. Zu genaueren Abklärungen über allenfalls erfolgte Zahlungen an Lieferanten und Leistungserbringer mit
BGE 137 II 136 S. 144
entsprechender Korrektur beim Vorsteuerabzug war die Beschwerdeführerin zum damaligen Zeitpunkt nicht in der Lage. Es kann von ihr auch nicht verlangt werden, dass sie diese Abklärungen vornimmt. Das ist vielmehr Sache der Steuerpflichtigen bzw. des Sachwalters im Nachlassverfahren (Art. 40 und 46 aMWSTG).
Insofern handelt es sich bei der Forderungseingabe der Beschwerdeführerin zur Kollokation im Nachlassverfahren ohne Berücksichtigung der Vorsteuerabzugs für das 4. Quartal 2001 um eine pauschale Festsetzung der Steuer und Vorsteuer, um eine Einschätzung nach pflichtgemässem Ermessen, wie sie nach Art. 60 aMWSTG (jetzt
Art. 79 MWSTG
) zulässig ist, wenn "keine oder nur unvollständige Aufzeichnungen vorliegen". Der Nachlassschuldnerin muss aber die Möglichkeit offenstehen, den Nachweis über erfolgte Abschlagszahlungen zu erbringen. Die Beschwerdeführerin stellte im Nachlassverfahren denn auch zu Recht in Aussicht, den Vorsteuerabzug zuzulassen, falls Zahlungen erfolgt sein sollten. Nachdem die Beschwerdegegnerin die Bezahlung eines Teils der Lieferantenrechnungen anhand von Belegen nachgewiesen hatte, anerkannte die Beschwerdeführerin hierfür den Vorsteuerabzug, indem sie ihre im Nachlassverfahren eingegebene Forderung entsprechend korrigierte.
5.
Nach dem Gesagten ist das Vorgehen der Beschwerdeführerin bei der Eingabe ihrer Forderung im Nachlassverfahren - und namentlich die "pauschale" Kürzung des Vorsteuerabzugs - nicht zu beanstanden. Zu prüfen ist im Folgenden, wie Abschlags- und Dividendenzahlungen im Nachlassverfahren mehrwertsteuerrechtlich zu behandeln sind.
5.1
Die Verteilung des Liquidationserlöses an die Gläubiger erfolgt im Nachlassverfahren mit Vermögensabtretung in Form von Abschlags- und Dividendenzahlungen, soweit den Gläubigern nicht einzelne Vermögenswerte unter Anrechnung an ihre Forderungen abgetreten werden (
Art. 317 Abs. 1 SchKG
). Aus der gestützt auf den Kollokationsplan erstellten Verteilungsliste (
Art. 326 SchKG
) ergibt sich, welcher Anteil jedem Gläubiger aus dem Erlös der Verwertung der Aktiven zukommt. Umsatzsteuerrechtlich sind Abschlags- und Dividendenzahlungen, soweit sie an mehrwertsteuerpflichtige Gläubiger für Leistungen im Sinne von Art. 5 aMWSTG erfolgen, als Leistungsentgelt nach Art. 33 aMWSTG zu qualifizieren.
Der Lieferant oder Leistungserbringer, der aufgrund der Insolvenz des Leistungsempfängers nach Art. 44 Abs. 1 aMWSTG einen
BGE 137 II 136 S. 145
Abzug beim steuerbaren Umsatz vorgenommen hat (vgl. vorn E. 4.2), muss daher die Bemessungsgrundlage erneut berichtigen, wenn er im Nachlassverfahren eine Abschlags- oder Dividendenzahlung erhält. Diese Berichtigung ist analog Art. 44 Abs. 3 aMWSTG in derjenigen Periode vorzunehmen, in der die Abschlagszahlung oder Dividende vereinnahmt wird. Die Vorschrift betrifft zwar ihrem Wortlaut nach den Fall, wo das bezahlte Entgelt höher ist als das vereinbarte Entgelt. Die sinngemässe Anwendung von Art. 44 Abs. 3 aMWSTG im vorliegenden Fall entspricht jedoch dem Gesetzeszweck, wie er in dieser Norm zum Ausdruck kommt (so auch die ausdrückliche Regelung im deutschen Umsatzsteuergesetz [D-UStG], § 17 Abs. 1 Satz 8 in Verbindung mit Abs. 2 Ziff. 1, und dazu SCHLOSSER-ZEUNER, a.a.O., N. 41 f., besonders N. 42 in fine zu § 17 D-UStG).
5.2
Andererseits entsteht beim steuerpflichtigen Nachlassschuldner von Gesetzes wegen ein Anspruch auf Vorsteuerabzug, wenn im Nachlassverfahren vorsteuerbelastete Kreditorenrechnungen beglichen werden. Der Vorsteuerabzug muss auch im Nachlassverfahren zugelassen werden, soll er den Entlastungseffekt erfüllen; es geht um die Vorsteuer, die durch den Gläubiger bezahlt und auf den Nachlassschuldner überwälzt worden ist (vgl. auch WOLFRAM BIRKENFELD, in: Das grosse Umsatzsteuer-Handbuch, Köln 1996, Stand: Juli 2009, § 209a Rz. 171 ff., besonders Rz. 211 ff. und Rz. 241). Der Anspruch auf Vorsteuerabzug ist an die geschuldete Steuer anzurechnen, ein allfälliger Überschuss auszuzahlen (Art. 48 Abs. 1 aMWSTG).
Sofern bei der Beschwerdegegnerin der Vorsteuerabzug gekürzt wurde (Art. 40 aMWSTG), ist daher der Vorsteuerabzug erneut zu korrigieren. Das betrifft allerdings nur die per 19. Dezember 2001 offenen Kreditorenrechnungen des 4. Quartals 2001. Für das 3. Quartal 2001 nahm die Eidgenössische Steuerverwaltung nach dem Stand der Akten keine Vorsteuerkorrektur vor.
5.3
Fraglich und umstritten ist, ob die Beschwerdeführerin dieser erneuten Vorsteuerkorrektur genügend Rechnung getragen hat.
Nachdem die Beschwerdeführerin im Entscheid vom 4. April 2005 einen Anspruch auf Vorsteuerabzug bei Abschlags- und Dividendenzahlungen noch ganz verneint hatte, räumte sie im Einspracheentscheid ein, dass ein Vorsteuerabzugsrecht der Beschwerdegegnerin grundsätzlich bestehe, soweit die vorsteuerbelasteten Kreditorenrechnungen im Nachlassverfahren noch bezahlt werden. Für die Berechnung des Vorsteuerabzugs ging sie von einer Gesamtdividende aus, die sie durch Schätzung auf 35 % festsetzte.
BGE 137 II 136 S. 146
An dieser Schätzung hält sie auch in der vorliegenden Beschwerde fest. Sie begründet dies damit, dass im Nachlassverfahren die Nachlassdividende nicht exakt ermittelt werden könne. Sie gehe daher in einem Konkurs- oder Nachlassverfahren in der Weise vor, dass sie gemäss Art. 40 aMWSTG einen Teil der zum Abzug geltend gemachten Vorsteuern eines Quartals oder mehrerer Quartale zurückbelaste. Auf diese Weise werde zwar der Vorsteuerabzug nur ungenügend korrigiert (da der Beginn der Liquiditätsprobleme nicht mit den berücksichtigten Mehrwertsteuerperioden zusammenfallen muss und u.U. weiter in die Vergangenheit zurückreicht). Doch werde dies durch die mit den Dividendenzahlungen neu entstehenden Vorsteueransprüche kompensiert. Es könne daher für diese Dividendenzahlungen nicht erneut der Vorsteuerabzug gewährt werden, ansonsten die Vorsteuer zweimal abgezogen würde.
Es handelt sich aus der Sicht der Beschwerdeführerin um ein vereinfachtes Verfahren, eine Schätzung (die der Steuerpflichtige auch widerlegen könne), die aber in der Handhabung effizient sei und erfahrungsgemäss dem effektiven Ergebnis sehr nahe komme, auch wenn sie "verfahrenstechnisch (...) nicht ganz korrekt" erscheinen möge. Die Beschwerdeführerin macht vor allem erhebungswirtschaftliche Gründe geltend.
Demgegenüber bestreitet die Beschwerdegegnerin sowohl die Zulässigkeit der Schätzung in grundsätzlicher Hinsicht wie auch deren Höhe. Im angefochtenen Entscheid hat die Vorinstanz eine Pflicht der Beschwerdeführerin, die Vorsteuer aufgrund der resultierenden Abschlags- und Dividendenzahlungen zu ermitteln, bejaht.
5.4
Dazu ist zu bemerken, dass die Korrektur des Vorsteuerabzugs in der Steuerabrechnung (über eine oder mehrere zurückliegende Abrechnungsperioden) durch die Beschwerdeführerin auf einer nicht weiter begründeten Annahme beruht: Ob der Vorsteuerabzug für einen Teil des Quartals, das ganze Quartal oder mehre Quartale zu korrigieren sei, ist weitgehend dem Zufall (oder der Willkür) überlassen. Die Beschwerdeführerin macht nicht geltend, dass sie sich in diesem Bereich auf gesicherte Erkenntnisse, auf Praxiserfahrung oder Rechnungsmodelle stützen könne. Es bleibt aufgrund der Eingaben der Beschwerdeführerin auch unklar, nach welchen Richtlinien oder Kriterien sie entscheidet, wann Dividendenzahlungen zum erneuten Vorsteuerabzug berechtigen und wann nicht.
Diese Unsicherheiten zeigen sich im vorliegenden Verfahren besonders deutlich: Mit Schreiben vom 26. April 2004 teilte die
BGE 137 II 136 S. 147
Beschwerdeführerin dem Liquidator kategorisch mit, dass die Dividendenzahlungen an die Nachlassgläubiger die Schuldner nicht zum Abzug zusätzlicher Vorsteuern berechtige. Nachdem die Beschwerdeführerin dies mit Entscheid vom 4. April 2005 noch bekräftigt hatte, korrigierte sie ihre Haltung im Einspracheentscheid vom 9. Juni 2006 und gewährte neu einen Vorsteuerabzug für eine geschätzte Gesamtdividende von 35 %. In der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten anerkennt sie offenbar dann auch die zweite Abschlagszahlung als für den Vorsteuerabzug anspruchsbegründend. Aufgrund welcher Umstände die Beschwerdeführerin ihre Ansicht änderte, ist aber nicht zu erkennen, zumal sie von Anfang an aufgrund der Angaben des Liquidators von einer Dividende in etwa der gleichen Grössenordnung ausging.
5.5
Diese Praxis braucht hier aber nicht weiter untersucht zu werden. Wenn die Beschwerdeführerin geltend macht, die Vorsteuerkorrektur und die erneute Berichtigung des Vorsteuerabzugs beruhe auf einer Schätzung und dürfe ermessensweise vorgenommen werden, so ist dies nur unter den Voraussetzungen des Artikels 60 aMWSTG (jetzt
Art. 79 MWSTG
) richtig, das heisst, wenn die steuerpflichtige Person ihren Obliegenheiten zur Mitwirkung und Feststellung der Steuerschuld nicht nachkommt und die Verwaltung eine Schätzung nach pflichtgemässem Ermessen vornehmen muss. Ein auf Schätzung beruhendes Verfahren mag allenfalls auch statthaft sein, wenn sich daraus eine wesentliche Vereinfachung ergibt und die Betroffenen - namentlich die Gläubiger - damit einverstanden sind.
Diese Voraussetzungen sind hier offensichtlich nicht erfüllt. Der Liquidator hat zuhanden der Eidgenössischen Steuerverwaltung die offenen Kreditoren per 19. Dezember 2001 bekannt gegeben. Ebenfalls lässt sich im Fall der späteren Befriedigung der Lieferanten und Dienstleistungserbringer durch Abschlags- und Dividendenzahlungen der Anspruch auf Rückerstattung der Vorsteuer auf entsprechenden Nachweis hin grundsätzlich konkret bestimmen und bedarf es keiner Schätzung im Sinne von Art. 60 aMWSTG. Es steht auch ausser Frage, dass sich die Beschwerdegegnerin mit der Vorgehensweise der Eidgenössischen Steuerverwaltung zu keinem Zeitpunkt einverstanden erklärt hat.
5.6
Wenn daher die Vorinstanz im angefochtenen Erkenntnis die Beschwerdeführerin verpflichtet hat, die abziehbare Vorsteuer
BGE 137 II 136 S. 148
anhand der "gesamten Nachlassdividende" bzw. aufgrund des "Ergebnisses des Nachlassverfahrens" zu bestimmen, verletzt dies Bundesrecht nicht. Zu ergänzen ist lediglich, dass Dividendenleistungen an Kreditoren des 3. Quartals 2001, für welche der Vorsteuerabzug nicht korrigiert wurde, kein zusätzliches Vorsteuerabzugsrecht begründen (s. oben E. 5.2 in fine). In diesem Punkt ist den vorinstanzlichen Erwägungen beizupflichten und erweist sich die Beschwerde als unbegründet.
5.7
Ein Vorbehalt ist nur insofern anzubringen, dass wegen der "Zirkelrechnung" - die Dividendenzahlung beeinflusst die Höhe des Vorsteuerabzuges, dieser wiederum wirkt sich auf die Höhe der Dividende aus usf. - die schliesslich resultierende Vorsteuer nicht mathematisch exakt, sondern nur annäherungsweise bestimmt werden kann. Insofern muss der Vorsteuerabzug in der Tat geschätzt werden, wobei die Wahl der dabei anzuwendenden, sachgerechten Methode der Eidgenössischen Steuerverwaltung zu überlassen ist. Auch hierin ist der vorinstanzliche Entscheid zu bestätigen.
6.
Zwischen den Parteien ist weiter umstritten, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang die Beschwerdeführerin ihre im Nachlassverfahren eingegebene Umsatzsteuerforderung mit dem Vorsteuerguthaben der Beschwerdegegnerin (Nachlassschuldnerin) verrechnen darf.
6.1
Die Vorinstanz erklärte die Verrechnung grundsätzlich als zulässig, jedoch nur bis zur Höhe der Dividende, welche der Beschwerdeführerin für die im Nachlassverfahren eingegebene Mehrwertsteuerforderung zustehe. Sie begründet dies damit, dass der Gläubiger mit der rechtskräftigen Bestätigung des Nachlassvertrags mit Vermögensabtretung auf den durch die Liquidationsdividende nicht gedeckten Teil der Forderung definitiv verzichte. Der nicht gedeckte Teil der Forderung gehe in diesem Umfang unter, es verbleibe keine Restschuld, und die Gläubiger erhielten keine Verlustscheine (
Art. 318 Abs. 1 Ziff. 1 SchKG
). Nach Publikation des Nachlassvertrags sei daher eine Verrechnung nur noch im Betrag der Dividende zulässig. Aus den Akten ergebe sich, dass die Beschwerdeführerin Verrechnung erstmals im Einspracheentscheid (im Jahre 2006) und damit lange nach Bestätigung des Nachlassvertrags vom 20. August 2002 geltend gemacht habe. Eine Verrechnung des Vorsteuerguthabens mit der gesamten im Nachlassverfahren eingegebenen Steuerforderung sei unzulässig.
BGE 137 II 136 S. 149
Dem hält die Beschwerdeführerin entgegen, dass wohl die bis 19. Dezember 2001 (Datum der Nachlassstundung) aufgelaufenen Umsatzsteuerforderungen in den Nachlass fielen, dass jedoch für die Festsetzung von Umsatzsteuerforderung und Vorsteuerguthaben gleichwohl die besonderen Vorschriften der Mehrwertsteuergesetzgebung Anwendung fänden. Die Verrechnung von Umsatzsteuerforderung mit dem Vorsteuerguthaben trete von Gesetzes wegen ein, eine Verrechnungserklärung sei hierfür nicht erforderlich. Massgebend sei vielmehr der Zeitpunkt der Entstehung von Forderung und Gegenforderung. Dieser Zeitpunkt sei hier schon vor der Nachlassstundung eingetreten.
Die Beschwerdegegnerin stimmt der Vorinstanz im Ergebnis zu, wenn auch mit abweichender Begründung: Weil das Vorsteuerguthaben aufgrund der Dividendenzahlungen erst im Nachlassverfahren entstehe, handle es sich um eine Masseforderung, welche nur mit Masseschulden, namentlich der Dividende, verrechnet werden könne.
Die hier zu entscheidende Frage lautet somit, ob der durch die Dividendenzahlungen bewirkte Anspruch auf Rückerstattung der Vorsteuer unter den Nachlassvertrag fällt, ob es um eine Masseforderung geht oder ob die Verrechnung nach anderen (mehrwertsteuerrechtlichen) Grundsätzen zu erfolgen habe.
6.2
Gemäss Art. 46 aMWSTG gilt, wie bereits erwähnt, das Selbstveranlagungsprinzip. Es besagt, dass die steuerpflichtige Person über die geschuldete Steuer selbst abrechnen muss und die alleinige Verantwortung für die umsatzsteuerlich richtige Behandlung der Geschäfte trägt. Die Selbstveranlagung beinhaltet nicht nur die richtige und vollständige Berechnung der Steuerforderung, sondern auch des Vorsteuerguthabens (CAMENZIND/HONAUER/VALLENDER, a.a.O., Rz. 1579 ff. S. 531 f.; RIVIER/ROCHAT/PAUCHARD, Droit fiscal suisse, La taxe sur la valeur ajoutée, 2000, S. 167; s. auch Urteil 2A.546/2000 vom 31. Mai 2002 E. 6b, in: ASA 72 S. 727 und StR 58/2003 S. 209).
Abzurechnen ist in der Regel vierteljährlich (Art. 45 Abs. 1 lit. a aMWSTG), wobei die steuerpflichtige Person der Eidgenössischen Steuerverwaltung die Abrechnung innert 60 Tagen nach Ablauf der Abrechnungsperiode einzureichen hat (Art. 46 Satz 1 aMWSTG). Doch entsteht die Steuerforderung bereits zu einem früheren Zeitpunkt. Bei der Abrechnung nach dem vereinbarten Entgelt, was den Normalfall darstellt, entsteht die Steuerforderung bei Lieferungen
BGE 137 II 136 S. 150
und Dienstleistungen mit der Rechnungsstellung (Art. 43 Abs. 1 lit. a Ziff. 1 aMWSTG). Im Falle der Abrechnung nach vereinnahmten Entgelten ist der Zeitpunkt der Vereinnahmung des Entgelts massgebend (Art. 43 Abs. 1 lit. b aMWSTG). Der Anspruch auf Vorsteuerabzug entsteht nach Art. 38 Abs. 7 lit. a aMWSTG entweder am Ende der Abrechnungsperiode, in welchem die steuerpflichtige Person die Rechnung erhalten (Abrechnung nach vereinbartem Entgelt) oder in welcher sie die Rechnung bezahlt hat (Abrechnung nach vereinnahmtem Entgelt).
6.3
Steuerforderung und Vorsteuerguthaben entstehen somit von Gesetzes wegen und unabhängig davon, ob Steuer und Vorsteuerabzug durch die steuerpflichtige Person rechtzeitig und richtig abgerechnet werden. Die Mehrwertsteuer ist eine Allphasensteuer mit Vorsteuerabzug auf allen Stufen. Vom Steuerbetrag des Bruttoumsatzes wird der auf die Vorleistung entfallende Teil der Steuer - die Vorsteuer - abgezogen. Als Zahllast (Steuerschuld) erscheint die Differenz zwischen Bruttosteuer und Vorsteuer (vgl. CAMENZIND/HONAUER/VALLENDER, a.a.O., Rz. 98 S. 48 f.). Diese Festsetzung erfolgt im Rahmen der Selbstveranlagung durch den Steuerpflichtigen in der Steuerabrechnung (Art. 46 aMWSTG). Die Folgen treten aber von Gesetzes wegen ein. Einer ausdrücklichen Verrechnungserklärung der Eidgenössischen Steuerverwaltung bedarf es daher, entgegen der Ansicht der Vorinstanz, nicht. Die Eidgenössische Steuerverwaltung ermittelt die Steuer anstelle des Steuerpflichtigen nur dann, wenn dieser seiner Abrechnungspflicht nicht nachkommt (Art. 60 aMWSTG; CAMENZIND/HONAUER/VALLENDER, a.a.O., Rz. 1580 S. 532).
6.4
Die Vorinstanz beruft sich für ihre gegenteilige Ansicht auf
Art. 213 Abs. 2 Ziff. 2 SchKG
, der gemäss
Art. 297 Abs. 4 SchKG
auch bei der Nachlassstundung Anwendung findet. Danach ist die Verrechnung ausgeschlossen, wenn ein Gläubiger des Gemeinschuldners erst nach der Konkurseröffnung Schuldner desselben oder der Konkursmasse wird. Im Nachlassvertrag mit Vermögensabtretung tritt an die Stelle der Konkurseröffnung die Bekanntmachung der Nachlassstundung (
Art. 297 Abs. 4 SchKG
).
Art. 213 SchKG
muss aber seiner ratio legis entsprechend ausgelegt werden. Dessen Absatz 1 erklärt die Verrechnung grundsätzlich als zulässig. Das Verrechnungsverbot von Absatz 2 will lediglich verhindern, dass sich ein Gläubiger des Gemeinschuldners nach Konkurseröffnung durch neu erworbene Verrechnungsmöglichkeiten Deckung verschafft (
BGE 107 III 139
E. 3 S. 143 f. mit Hinweisen).
BGE 137 II 136 S. 151
Die Vorschrift ist offensichtlich auf die Verrechnung nach dem Obligationenrecht zugeschnitten.
Vorliegend geht es indessen um eine Kompensation öffentlich-rechtlicher Forderungen, die von Gesetzes wegen eintritt. Die spezialgesetzliche Ordnung, insbesondere Art. 69 Abs. 2 aMWSTG, der die rechtskräftige Erledigung des Mehrwertsteuerverfahrens in dem dafür vorgesehenen Verfahren vorbehält, geht dem Konkurs- oder Nachlassverfahren vor. Das hat die Vorinstanz nicht in Betracht gezogen und daher zu Unrecht die Verrechnung auf den Betrag der Dividende, welche der Beschwerdeführerin zusteht, beschränkt.
6.5
Zu prüfen bleibt, ob es sich beim Vorsteuerguthaben, das sich aus Abschlags- und Dividendenzahlungen im Konkurs oder Nachlassverfahren ergibt, um eine Masseforderung handelt, wie die Beschwerdegegnerin geltend macht. Denn Masseforderungen können, wie die Beschwerdegegnerin mit Recht bemerkt, nur mit Masseschulden, insbesondere mit der Konkursdividende, verrechnet werden (vgl. AMONN/WALTHER, a.a.O., § 40 Rz. 59 S. 370).
In der Tat stellt ein allfälliges Vorsteuerguthaben eine Masseforderung dar. Dies aber erst, wenn Mehrwertsteuerforderung und Vorsteuerabzug nach den Vorgaben des Mehrwertsteuerrechts verrechnet worden sind. Erst dann ist die Steuerforderung gemäss spezialgesetzlicher Bestimmung definitiv zu kollozieren (Art. 69 Abs. 2 aMWSTG) und fällt ein allfälliges Vorsteuerguthaben, ein "Vorsteuerüberschuss", in die Masse. Es bleibt somit bei der gesetzlichen Ordnung, wonach das Mehrwertsteuerverfahren vorab rechtskräftig erledigt werden muss.
6.6
Es kann auch offenbleiben, ob der durch die Nachlassdividende bewirkte Anspruch auf Vorsteuerabzug bereits zum Zeitpunkt der Bekanntgabe der Nachlassstundung bestand und durch die Dividendenzahlung wieder auflebt, wie die Vorinstanz annimmt, oder ob er zum Zeitpunkt der Dividendenzahlung neu entsteht, welche Ansicht die Beschwerdegegnerin verficht. So oder so bildet dieser Anspruch hier keine Masseforderung. Es entspricht einem in der bundesgerichtlichen Rechtsprechung feststehenden Grundsatz, dass Steuerforderungen dann eine Verbindlichkeit der Masse darstellen, wenn sich die für ihre Entstehung massgebenden Tatsachen nach der Konkurseröffnung bzw. nach Bewilligung der Stundung verwirklicht haben (so bereits für die Warenumsatzsteuer:
BGE 107 Ib 303
E. 2,
BGE 96 I 244
E. 3; ferner
BGE 120 III 153
E. 2b, 128; je für die Grundstückgewinnsteuer;
BGE 122 II 221
E. 4c und d betreffend die
BGE 137 II 136 S. 152
Liquidationsgewinnsteuer nach
Art. 53 BdBSt
; s. auch
BGE 100 III 30
für Sozialversicherungsbeiträge). In Bezug auf die hier in Frage stehende Vorsteuerrückerstattung ist das nicht der Fall. Sie betrifft nicht die mit Zustimmung des Sachverwalters nach der Stundung fortgeführten Geschäfte (
Art. 298 Abs. 1 SchKG
) resp. die Verwertung von Vermögenswerten im Rahmen der Liquidation (vgl. oben E. 3.2 f.). Der Anspruch auf Vorsteuerabzug ist hier vielmehr die Folge der Verteilung des Liquidationserlöses und steht in Verbindung mit Lieferungen und Dienstleistungen, die ihren Rechtsgrund vor Bekanntgabe der Nachlassstundung haben. Sie gehören in die Abrechnung über die Mehrwertsteuerforderung per Datum der Nachlassstundung und sind in dem dafür vorgesehenen Verfahren rechtskräftig festzusetzen, bevor die Steuerforderung definitiv kolloziert werden kann (Art. 69 Abs. 2 aMWSTG) und ein allfälliger Vorsteuerüberschuss an die Masse fällt. | de |
8fa2c7dd-5add-42bb-a88b-d0fe928537ad | Sachverhalt
ab Seite 494
BGE 110 II 494 S. 494
A.-
Am 6. Juni 1966 vermietete die Fürsorgestiftung für das Personal des Schweizerischen Serum- und Impfinstituts der Esso-Standard eine Tankstelle, Wohnungen und Service-Station auf
BGE 110 II 494 S. 495
ihrem Grundstück in Lyss zu einem jährlichen Zins von Fr. 20'000.--. Der Vertrag ist erstmals kündbar auf den 31. Dezember 1987, und der Mietzins konnte frühestens nach Ablauf der ersten zehn Kalenderjahre der Entwicklung des Schweizerischen Index der Konsumentenpreise angepasst werden, sofern der Durchschnittsindex eines vollen Kalenderjahres sich mindestens um sechs Punkte verändert hatte. 1971 trat die Aral (Schweiz) AG in den Mietvertrag ein.
Die Fürsorgestiftung forderte ab 1979 gestützt auf die Indexklausel erhöhte Mietzinse; die Aral AG bezahlte sie bis und mit 1981. Am 13. Dezember 1982 teilte die Vermieterin die Mietzinserhöhungen erstmals auf amtlichem Formular mit, und zwar für die Jahre 1981, 1982 und 1983.
Vor der Schlichtungsstelle focht die Mieterin die Erhöhungen an, ohne dass indes eine Einigung zustande gekommen wäre.
B.-
Daraufhin klagte die Fürsorgestiftung auf Feststellung, dass die Mietzinse von Fr. 35'280.-- für das Jahr 1981, von Fr. 37'600.-- für das Jahr 1982 und von Fr. 39'660.-- für das Jahr 1983 nicht missbräuchlich seien. Die Aral AG verlangte widerklageweise Feststellung, dass die Mietzinserhöhungen für die Jahre 1979 bis 1982 nichtig und ausserdem gleich wie die Erhöhung für 1983 missbräuchlich seien.
Der Gerichtspräsident von Aarberg wies die Klage ab und stellte in Gutheissung der Widerklage die Nichtigkeit der Mietzinserhöhungen für die Jahre 1979 bis 1983 fest.
Auf Appellation der Klägerin hin wies der Appellationshof des Kantons Bern am 27. Februar 1984 die Widerklage zurück. Die Mietzinserhöhung für das Jahr 1983 erkannte er als nicht missbräuchlich, wobei er sich am 14. März 1984 dahin berichtigte, dass die Klage "soweit weitergehend" abgewiesen werde.
C.-
Die Klägerin hat Berufung eingelegt mit dem Antrag festzustellen, dass die Mietzinserhöhungen für 1981 und 1982 nicht missbräuchlich seien.
Das Bundesgericht weist die Berufung ab, soweit es auf sie eintritt. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Der Gerichtspräsident, dessen Erwägungen der Appellationshof übernahm, fand, dass die am 13. Dezember 1982 mit amtlichem Formular mitgeteilte Mietzinserhöhung nicht auf die
BGE 110 II 494 S. 496
Jahre 1981 und 1982 zurückwirken könne und deshalb verspätet und nichtig sei. Die Klägerin erblickt darin eine Verletzung von
Art. 9 und 18 BMM
, weil Mitteilungen von Mietzinserhöhungen durchaus nachgeholt werden könnten; ausserdem bewirke bei indexierten Mietzinsen die Nichtverwendung des amtlichen Formulars keine Nichtigkeit der Erhöhung, sondern verhindere bloss, dass die Anfechtungsfrist zu laufen beginne.
a) Die Frage, ob die Erhöhung indexierter Mietzinse auf amtlichem Formular anzuzeigen ist, wurde in
BGE 103 II 270
E. 2 gestreift, jedoch nicht eindeutig beantwortet. Einerseits erwähnte das Bundesgericht den Grundsatz, dass gemäss
Art. 18 Abs. 2 BMM
der Vermieter Zinserhöhungen mittels amtlichen Formulars geltend zu machen habe (E. 2), anderseits warf es die Frage auf, ob die Mietzinserhöhung ohne besondere Ankündigung eintrete (E. 4). Der Formularzwang ergibt sich indes aus
Art. 18 Abs. 2 BMM
in Verbindung mit
Art. 13 Abs. 2 VMM
. In
BGE 108 II 323
wurde das erstmals klar festgehalten, und auch die Lehre bejaht ihn (RENÉ MÜLLER, Der Bundesbeschluss über Massnahmen gegen Missbräuche im Mietwesen vom 30. Juni 1972, Diss. Zürich 1976, S. 112 f., 126 und 134; RAISSIG/SCHWANDER, Massnahmen gegen Missbräuche im Mietwesen, 4. Aufl., S. 94; BASTIAN, Pratique récente en matière d'AMLS, in 3e séminaire sur le bail à loyer, Université de Neuchâtel, 1984, S. 2). Die Klägerin hätte daher entgegen ihrer Behauptung durchaus erkennen können, dass auch für sie Formularzwang galt.
b) Ganz offengelassen wurde in
BGE 103 II 273
E. 4 die hier umstrittene, weitere Frage, ob die Erhöhungen rückwirkend erfolgen können. Die vorstehend genannten Autoren verneinen das mehrheitlich und sinngemäss, indem sie bloss erwägen, ob die 10tägige Frist von
Art. 18 Abs. 1 BMM
einzuhalten sei und ob die Erhöhung vor Ablauf der 30tägigen Anfechtungsfrist nicht in Kraft treten könne. Mit ZR 1977 Nr. 51 nehmen GMÜR/CAVIEZEL (Mietrecht-Mieterschutz, 2. Aufl., S. 93/94) eine unzulässige Rückwirkung dann an, wenn der Vermieter mit der Mitteilung über die Erhöhung ungewöhnlich lange zuwartet. Andeutungsweise sprach sich auch die nationalrätliche Kommission in diesem Sinne aus (Prot. Komm. NR vom 29./30. Mai 1972). Eine vorbehaltlose Rückwirkung scheinen lediglich RAISSIG/SCHWANDER (S. 94) für zulässig zu halten. Sie begründen ihre Ansicht indes nicht und lassen vor allem die entscheidenden Gesichtspunkte unberücksichtigt.
BGE 110 II 494 S. 497
Der Zweck des BMM besteht darin, den Mieter vor missbräuchlichen Mietzinsen und anderen missbräuchlichen Forderungen des Vermieters zu schützen. Diesem Zweck widerspricht es, dass der Vermieter mit der Geltendmachung der Erhöhungen beliebig zuwarten kann. Die Rückwirkung führt zu Unsicherheiten im Verhältnis zwischen den Vertragsparteien; sie zu vermeiden war für das Bundesgericht bereits entscheidend bei der Antwort auf die Frage, wann Begehren um Änderung der Bestimmungen von Mietverträgen, die erstreckt werden sollen, spätestens vorzubringen sind (
BGE 102 II 16
E. c). Die Befugnis des Vermieters, durch Mitteilung den Zins zu erhöhen, ist ein Gestaltungsrecht; Gestaltungsrechte wirken in der Regel allein für die Gegenwart oder Zukunft. Wirkungen für die Vergangenheit sind erst dann anzunehmen, wenn sich dafür im Gesetz selbst oder im Vertrag eine Grundlage finden lässt (L'HUILLIER, La notion du droit formateur en droit privé suisse, Genf 1947, S. 157 ff.; VON TUHR, Der allgemeine Teil des deutschen bürgerlichen Rechts, Bd. II/1, S. 21 f.). Fehlen wie im vorliegenden Fall derartige Grundlagen, so bleibt die rückwirkende Erhöhung von Mietzinsen grundsätzlich ausgeschlossen. Ob diese Regel eine Ausnahme erleidet, wenn der Vermieter vertragliche Anpassungstermine nicht ausnutzen kann, weil er gemäss
Art. 13 Abs. 2 VMM
die Erhöhung frühestens nach der öffentlichen Bekanntmachung des neuen Indexstandes mitteilen darf, mag hier offenbleiben.
Die Anzeige der Klägerin vom 13. Dezember 1982, mit der sie nachträglich die Mietzinse für die Jahre 1981 und 1982 erhöhen wollte, ist daher wirkungslos, womit das angefochtene Urteil insofern im Ergebnis zu bestätigen ist.
4.
Die Zahlung der erhöhten Mietzinse bis und mit 1981 schloss es nach Ansicht der Vorinstanz nicht aus, dass die Beklagte sich nachträglich auf die Nichtigkeit der Erhöhungen für die Jahre 1981 und 1982 berief. Die Begründung im angefochtenen Urteil, ein widersprüchliches Verhalten sei nicht hinreichend glaubhaft gemacht, hält die Klägerin freilich für aktenwidrig. Sie übersieht dabei aber, dass das Berufungsverfahren die Rüge der Aktenwidrigkeit nicht kennt. Zulässig wäre allenfalls die Geltendmachung eines offensichtlichen Versehens (Art. 55 Abs. 1 lit. d, 63 Abs. 2 OG;
BGE 104 II 74
E. b, 113 E. a). Die Klägerin nennt aber keine Aktenstelle, die übersehen oder unrichtig wahrgenommen worden sein soll. Sollte sie der Auffassung sein, der Tatbestand sei unter dem Gesichtspunkt des widersprüchlichen Verhaltens zu ergänzen
BGE 110 II 494 S. 498
(
Art. 64 Abs. 1 OG
), so hätte sie darlegen müssen, dass sie sich auf die entsprechenden Tatsachen bereits vor kantonaler Instanz berufen und im Bestreitungsfall dafür Beweis angeboten hat. Auch an diesem Nachweis fehlt es indes, so dass die Frage des widersprüchlichen Verhaltens allein aufgrund der im angefochtenen Urteil festgehaltenen Tatsachen zu überprüfen ist (
Art. 63 Abs. 2 OG
).
Widersprüchliches Verhalten liegt dann vor, wenn durch das frühere Verhalten bei einem Partner schutzwürdiges Vertrauen begründet worden ist, das diesen zu Handlungen veranlasst hat, die ihm angesichts der neuen Situation nunmehr zum Schaden gereichen (
BGE 106 II 323
E. 3a mit Hinweisen). Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt. Offen bleibt namentlich, ob die Beklagte im Wissen um die Ungültigkeit der Zinserhöhung geleistet hat (dazu
BGE 104 II 103
E. b und c; MERZ, N. 475 zu
Art. 2 ZGB
; KNOEPFLER, Problèmes posés par les loyers payés à tort, in 2e séminaire sur le bail à loyer, Université de Neuchâtel, 1982, S. 8 f.). Insofern unterscheidet sich der vorliegende Fall von dem in Nr. 11 der Mitteilungen des Bundesamtes für Wohnungswesen zum Mietrecht veröffentlichten Entscheid Nr. 9, wo der Mieter in Kenntnis der Formschrift von
Art. 18 BMM
ausdrücklich auf deren Innehaltung verzichtet und die getroffene Vereinbarung freiwillig erfüllt hat. | de |
cd72bb78-e22d-4086-9620-5653fba74e95 | Sachverhalt
ab Seite 442
BGE 136 II 441 S. 442
Die im Detailhandel tätige Coop Genossenschaft (nachfolgend: Coop) führte im Jahr 2000 das neue Kundenbindungsprogramm SUPERCARD ein. Durch Vorweisen der SUPERCARD an der Kasse erhält der Kunde je nach Höhe seines Einkaufs SUPERCARD-Punkte gutgeschrieben, die er zu einem beliebigen Zeitpunkt gegen eine Ware oder Dienstleistung (Prämie) aus dem Prämienkatalog einlösen kann. Die Prämien werden den Kunden durch Drittparteien erbracht. Diese stellen der Coop die ausgehändigten Prämien zuzüglich Mehrwertsteuer in Rechnung.
Die Eidgenössische Steuerverwaltung vertrat die Ansicht, dass es sich bei den Treueprämien um umsatzabhängige Geschenke handle, die aufgrund einer Vereinbarung abgegeben werden und Naturalrabatte darstellen. Da die Umsätze von Coop, für welche die Punkte vergeben werden, überwiegend dem reduzierten Steuersatz für Lebensmittel unterliegen, während die durch die Drittparteien erbrachten Treueprämien überwiegend zum Normalsatz steuerbar seien, müsse das steuerbare Entgelt für die zum reduzierten Satz gelieferten Waren (Prämien) nachträglich auf die verschiedenen Steuersätze aufgeteilt werden. Die Eidgenössische Steuerverwaltung forderte daher mit Ergänzungsabrechnungen für die Jahre 2000 bis 2003 die zu wenig bezahlte Mehrwertsteuer nach.
Die Coop bestritt die Nachforderungen. Mit Entscheiden je vom 7. Juni 2007, bestätigt auf Einsprachen hin am 18. August 2008, hielt die Eidgenössische Steuerverwaltung an den Nachforderungen fest.
Gegen die Einspracheentscheide führte die Coop je Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht. Mit Urteil vom 16. September 2009
BGE 136 II 441 S. 443
vereinigte das Bundesverwaltungsgericht die Verfahren, hiess die Beschwerden gut und hob die Einspracheentscheide vom 18. August 2008 auf. Das Gericht erachtete zwar die Nachforderungen der Eidgenössischen Steuerverwaltung als materiellrechtlich begründet, gab jedoch den Beschwerden aus anderen Gründen (Vertrauensschutz) statt.
Hiergegen führt die Eidgenössische Steuerverwaltung Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Die Coop schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde vollumfänglich gut.
(Zusammenfassung) Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
Zu prüfen bleiben die mit den beiden Einspracheentscheiden vom 18. August 2008 bestätigten Leistungsentscheide der Beschwerdeführerin.
3.1
Wie erwähnt erhalten Coop-Kunden bei Einkäufen in Coop-Geschäften SUPERCARD-Punkte, wenn sie eine solche Karte vorweisen. Die gutgeschriebenen Punkte berechtigen den Kunden zum Bezug von Waren oder Dienstleistungen (sog. Treueprämien). Diese Leistungen werden den Kunden im Auftrag der Beschwerdegegnerin durch die Firma A. AG und allenfalls weitere Drittparteien geliefert. Die Fakturierung der ausgehändigten Prämien zuzüglich Mehrwertsteuer erfolgt durch die A. AG direkt an die Beschwerdegegnerin. Dieser steht hierfür der Vorsteuerabzug zu.
Die Beschwerdeführerin geht in ihren Leistungsentscheiden davon aus, dass es sich bei der Abgabe der Treueprämien um Naturalrabatte handelt. Da die Treueprämien vorwiegend aus Gütern bestünden, die mehrheitlich der Mehrwertsteuer zum Satz von 7,5 % resp. 7,6 % unterliegen, während die zum Erwerb der SUPERCARD-Punkte erforderlichen Verkaufsumsätze vorwiegend zum reduzierten Satz von 2,3 % resp. 2,4 % (Lebensmittel) steuerbar seien, habe eine Aufteilung des Entgelts aus den Verkaufsumsätzen auf die verschiedenen Steuersatzkategorien zu erfolgen.
Demgegenüber vertritt die Beschwerdegegnerin die Ansicht, die hier in Frage stehenden Treueprämien stellten umsatzabhängige Geschenke dar, die aufgrund einer Vereinbarung abgegeben werden und aus diesem Grund als Naturalrabatte zu qualifizieren sind. Wirtschaftlich gesehen wolle die Beschwerdegegnerin die Treueprämien nicht
BGE 136 II 441 S. 444
verkaufen, sondern aus Werbungsgründen verschenken. Es fehle damit an einem Leistungsaustausch. Da es sich um unentgeltliche Zuwendungen handle, seien sie im Eigenverbrauch zu versteuern, sofern der Freibetrag für Geschenke überschritten werde (Art. 9 Abs. 1 aMWSTG [AS 2000 1300 ff.],
Art. 8 Abs. 1 MWSTV
[AS 1994 1464 ff.]).
3.2
Der Vorinstanz ist beizupflichten, dass von einem eigentlichen Rabatt (Naturalrabatt) nicht gesprochen werden kann. Rabatte, Skonti u. dgl. stellen Entgeltsminderungen dar, die gemäss Art. 44 Abs. 2 aMWSTG (bzw.
Art. 35 Abs. 2 MWSTV
) vom vereinbarten Entgelt in Abzug gebracht werden können (s. auch Ziff. 251 der Wegleitung 2001 für Mehrwertsteuerpflichtige). Der Abzug setzt deshalb einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem getätigten Umsatz voraus, der das steuerbare Entgelt auslöst (vgl. CAMENZIND/HONAUER/VALLENDER, Handbuch zum Mehrwertsteuergesetz, 2. Aufl. 2003, Rz. 271 f., 1188 ff., 1433 ff.). Weder ist hier eine solche Abzugsmöglichkeit beim Entgelt gegeben, noch besteht ein solcher unmittelbarer Zusammenhang zwischen Verkaufsumsatz und Prämienbezug. Es geht bei der Prämie vielmehr um eine
Mehrleistung
(
Mehrlieferung
) bei gleichbleibendem Entgelt. Aus diesem Grund ist eine Entgeltsminderung im Sinne von Art. 44 Abs. 2 aMWSTG (
Art. 35 Abs. 2 MWSTV
) ausgeschlossen.
Mehrwertsteuerrechtlich sind vorliegend allerdings zwei Umsätze auseinanderzuhalten. Beim ersten erwirbt der Coop-Kunde in einem Verkaufsgeschäft der Beschwerdegegnerin Waren und Artikel, vornehmlich Nahrungsmittel, die zum reduzierten Steuersatz abgerechnet werden. Hierfür erhält er gegen Vorweisen der SUPERCARD eine Anzahl SUPERCARD-Punkte gutgeschrieben. Beim zweiten, unter Umständen erst sehr viel später erfolgenden Umsatz handelt es sich um die Einlösung der SUPERCARD-Punkte durch Bezug der im Prämienkatalog aufgeführten Artikel. Diese sind vornehmlich zum Normalsatz abzurechnen. Da nicht im Voraus feststeht, ob und wann der Kunde die Punkte einlösen wird und ob er sie allenfalls verschenkt oder verfallen lässt, handelt es sich um einen zweiten selbständigen Umsatz, für den der Kaufpreis vorausbezahlt wird. Der Einkauf in einer Coop-Filiale und der Leistungsbezug beim späteren Prämiengeschäft bilden somit zwei eigenständige mehrwertsteuerliche Vorgänge.
3.3
Die Abgabe der Prämien gegen Punkte kann offensichtlich auch nicht als Geschenk qualifiziert werden mit der Folge, dass die
BGE 136 II 441 S. 445
Regeln über den Eigenverbrauch anzuwenden wären (Art. 9 aMWSTG,
Art. 8 MWSTV
). Ein Eigenverbrauchstatbestand liegt schon deshalb nicht vor, weil ein mehrwertsteuerrechtlicher Leistungsaustausch stattfindet. Das Entgelt besteht aus dem Gegenwert der Prämienpunkte, die der Käufer durch seine Einkäufe bei Coop erworben und vorausbezahlt hat. Dass es sich um ein Entgelt handelt, bestätigt die Beschwerdegegnerin selbst mit der Feststellung, "dass die entsprechenden Aufwendungen in die Bemessung der Produktepreise einfliessen".
3.4
Es ist unbestritten, dass die Erstumsätze, nämlich die Verkaufsumsätze in den Detailhandelsgeschäften von Coop, steuerbar vornehmlich zum reduzierten Satz, durch die Beschwerdegegnerin mehrwertsteuerrechtlich korrekt abgerechnet wurden. Mit dem Warenerwerb beim Erstumsatz erfolgt auch die Bezahlung für die damit erhaltenen SUPERCARD-Punkte, gleichgültig ob der Kunde diese je einlöst oder nicht. Werden diese Punkte später eingelöst, so ist hierfür der Kaufpreis bereits
vorausbezahlt
. Abzurechnen ist über die
Vorauszahlung
sowohl bei Ist- wie auch bei Sollversteuerung in jedem Fall mit der Vereinnahmung des Entgelts (Art. 43 Abs. 1 lit. a Ziff. 3 und lit. b aMWSTG,
Art. 34 lit. a Ziff. 1 MWSTV
). Für die quartalsweisen Abrechnungen der Beschwerdegegnerin über die Verkaufsumsätze spielt es daher keine Rolle, ob die SUPERCARD-Punkte eingelöst werden oder nicht.
Werden die Punkte eingelöst, ist indes zu unterscheiden: Sofern als Treueprämien Gegenstände oder Leistungen bezogen werden, die dem gleichen Steuersatz unterliegen wie die Erstumsätze, hat dies mehrwertsteuerlich keine weiteren Folgen, weil die Steuer auf der Vorauszahlung (Bemessungsgrundlage, Art. 33 aMWSTG,
Art. 26 MWSTV
) bereits mit dem richtigen Steuersatz abgerechnet worden ist. Zeigt sich hingegen wie im vorliegenden Fall, dass die Einlösung der Punkte überwiegend für Gegenstände erfolgt, die zum Normalsatz versteuert werden müssen, während die Erstkäufe vornehmlich einem reduzierten Steuersatz unterliegen, so ist der Steuersatz nachträglich zu korrigieren.
3.5
Die Beschwerdeführerin nahm in den Ergänzungsabrechnungen die Steuersatzkorrektur in der Weise vor, dass sie die Verkaufsumsätze der Beschwerdegegnerin, für welche Punkte vergeben wurden, auf die einzelnen Steuersatzkategorien aufteilte. Sie zog hierfür die kalkulatorischen Verkaufspreise heran. Nach diesem Schlüssel nahm sie auch auf dem Einkaufswert der Prämien eine Aufteilung
BGE 136 II 441 S. 446
vor. Auf dem Anteil, der prozentual dem Anteil des zum reduzierten Satz besteuerten Verkaufsumsatzes entspricht, rechnete sie sodann die Steuersatzdifferenz (Normalsatz abzüglich reduzierter Satz) auf.
Diese Art der Berechnung ist nicht zu beanstanden. Damit wird die Bemessungsgrundlage (Art. 33 aMWSTG) nicht geändert oder gar erweitert. Es handelt sich beim nachbelasteten Betrag lediglich um denjenigen Teil der Steuer, der auf dem ursprünglichen Verkaufsumsatz prozentual geschuldet wäre, wenn Einkauf und Prämiengeschäft zeitlich und örtlich zusammengefallen wären, wenn also von Anfang an auf dem Prämienanteil der richtige Steuersatz angewendet worden wäre. Da das Prämiengeschäft separat und erst viel später abgewickelt wird, muss die Steuersatzdifferenz beim Bezug der Prämienleistung nachträglich erhoben werden. Es wird somit die Steuerforderung auf einem Teil der Bemessungsgrundlage anhand des korrigierten Steuersatzes neu berechnet. Das entspricht dem Gesetz, das die Abrechnung der Steuer zum richtigen Steuersatz vorschreibt (Art. 36 aMWSTG,
Art. 27 MWSTV
).
Es wird offensichtlich auch kein zusätzlicher Umsatz besteuert, da die Prämienleistung bereits mit der Vorauszahlung besteuert worden ist und die Steuersatzdifferenz auf der gleichen Bemessungsgrundlage nacherhoben wird. Die Vorbringen der Beschwerdegegnerin, die Nachforderung beruhe nicht auf einer gesetzlichen Grundlage und es würden zusätzliche Umsätze besteuert, ist daher falsch.
Unbehelflich ist der Einwand, dass die Steuersatzberichtigung gegen das Selbstveranlagungsprinzip verstosse. Auch wenn der Argumentation der Beschwerdegegnerin, wonach "als Ausfluss des Selbstveranlagungsprinzips die steuerliche Konsequenz für den Steuerpflichtigen im Zeitpunkt der Transaktion klar sein müsse", gefolgt wird, ist ihr Schluss daraus nicht richtig. Die Transaktion ist nämlich erst abgeschlossen, wenn die SUPERCARD-Punkte eingelöst sind. In diesem Zeitpunkt ist für den Steuerpflichtigen die Situation auch insofern klar, dass ein allenfalls von der Vorauszahlung abweichender Steuersatz berichtigt werden muss.
3.6
Dass für die Berechnung der Steuersatzdifferenz der Einkaufswert der Prämien (Aufwand der Beschwerdegegnerin für die Prämienleistungen) herangezogen wird, ist im Übrigen sachlich richtig. Auch bei der Bemessung der Steuer vom Eigenverbrauch wird bei neuen Gegenständen auf den Einkaufswert abgestellt (Art. 34 Abs. 1 lit. a aMWSTG, Art. 26 Abs. 3 lit. a Ziff. 1 MWSTV). Da der hier
BGE 136 II 441 S. 447
vorliegende Fall der Korrektur des Steuersatzes bei nachträglicher Mehrlieferung nicht ausdrücklich geregelt ist, muss sich die Praxis an Grundsätze halten, die das Gesetz für verwandte Tatbestände, hier über den Eigenverbrauch, aufstellt.
3.7
Die beiden Einspracheentscheide der Eidgenössischen Steuerverwaltung vom 18. August 2008 erweisen sich nach dem Gesagten als rechtmässig. Die Beschwerde ist gutzuheissen, das angefochtene Urteil ist aufzuheben und die beiden Einspracheentscheide der Eidgenössischen Steuerverwaltung vom 18. August 2008 sind zu bestätigen. | de |
574dc5b8-cf7e-4673-a257-643ae9fa37b1 | Sachverhalt
ab Seite 77
BGE 118 Ib 76 S. 77
Im Amtsblatt des Kantons Schwyz vom 14. Januar 1983 publizierte der Gemeinderat Freienbach folgende öffentliche Planauflagen: "Verlegung der Etzelstrasse bis zur Churerstrasse inkl. Anschlussbauwerk" sowie "Verlängerung der Poststrasse bis Churerstrasse inkl. Anschlussbauwerk". Die beiden Strassenbauvorhaben sollen u.a. auf den Parzellen Kat. Nr. 748 (unmittelbar nördlich der Churerstrasse) und Kat. Nr. 747 (unmittelbar südlich der Churerstrasse) realisiert werden. Die beiden Projekte bezwecken hauptsächlich die Entlastung der Strassenknoten im Ortszentrum von Pfäffikon, insbesondere der Löwenkreuzung, und überdies die Erschliessung der noch unüberbauten Gebiete südlich und nördlich der Churerstrasse.
Am 18. Januar 1983 erhoben die Erben O. gegen die beiden genannten Projekte Einsprache, welche vom Gemeinderat Freienbach am 14. Januar 1984 abgewiesen wurde. Im anschliessenden Verwaltungsbeschwerdeverfahren hiess der Regierungsrat des Kantons Schwyz die Beschwerde der Erben O. mit Beschluss vom 5. März 1985 teilweise gut und hob den Einspracheentscheid des Gemeinderats Freienbach vom 14. Januar 1984 in bezug auf das Projekt "Verlegung der Etzelstrasse bis zur Churerstrasse inkl. Anschlussbauwerk" auf. Im übrigen wies er die Beschwerde ab und bestätigte den Einspracheentscheid des Gemeinderats hinsichtlich des Projekts "Verlängerung der Poststrasse bis zur Churerstrasse inkl. Anschlussbauwerk". Der Regierungsrat vertrat die Auffassung, das Auflageprojekt für die Verlegung der Etzelstrasse, welches vom Gemeinderat als Detailprojekt im Sinne der kantonalen Verordnung über den Bau und Unterhalt der Strassen vom 2. April 1964 (StrV) ausgeschrieben worden war, genüge höchstens den Anforderungen eines generellen Projekts oder eines Überbauungsplans, nicht aber denjenigen eines detaillierten Bauprojekts.
Gegen diesen Entscheid des Regierungsrats erhoben die Erben O. Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz. Während der Pendenz dieses Verfahrens liess der Gemeinderat Freienbach die öffentliche Planauflage für das Detailprojekt "Umlegung Etzelstrasse, inkl. Anschlussbauwerke und Personenunterführung Churerstrasse" im kantonalen Amtsblatt vom 20. November 1987 publizieren. Mit Einsprache vom 9. Dezember
BGE 118 Ib 76 S. 78 1987 beantragten die Erben O., auf das Projekt sei zu verzichten und vom Bau der geplanten Erschliessungsstrasse sei Umgang zu nehmen. Der Gemeinderat wies die Einsprache mit Beschluss vom 14. Juli 1989 im Sinne der Erwägungen ab. Die Erben O. zogen diesen Beschluss mit Verwaltungsbeschwerde vom 4. November 1989 an den Regierungsrat weiter. Am 10. Oktober 1989 überwies der Regierungsrat diese Beschwerde als Sprungbeschwerde an das Verwaltungsgericht. Mit Entscheid vom 20. November 1990 wies dieses die Beschwerde gegen den Einspracheentscheid des Gemeinderats vom 14. Juli 1989 betreffend Ausbau/Verlegung der Etzelstrasse ab. Gleichzeitig hiess es die gegen den Regierungsratsentscheid vom 5. März 1985 gerichtete Beschwerde der Erben O. insoweit teilweise gut, als es das im Amtsblatt vom 14. Januar 1983 publizierte Projekt "Verlängerung der Poststrasse bis Churerstrasse inkl. Anschlussbauwerk" im Sinne der Erwägungen an den Gemeinderat Freienbach zurückwies. Im übrigen wies es die Verwaltungsgerichtsbeschwerde vom 12. April 1985 ab. Gegen diesen Entscheid des Verwaltungsgerichts vom 20. November 1990 führen die Erben O. Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Bundesgericht und beantragen die Aufhebung des angefochtenen Entscheids, soweit damit die geplante Verlegung der Etzelstrasse zugelassen wird. Das Bundesgericht weist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde im Sinne der Erwägungen ab.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
Von der heute durch den motorisierten Privatverkehr überlasteten Löwenkreuzung im Zentrum von Pfäffikon führt in östlicher Richtung die Churerstrasse zum Anschluss des Seedamms. Die heutige Etzelstrasse führt vom Zentrum von Pfäffikon in südöstlicher Richtung u.a. zur Schützenstrasse und von dort zu den Grossverteilzentren des Seedamm-Centers, zu einem grossen Schwimmbad und zu den kantonalen Schulen. Aus dem Verkehrsrichtplan der Gemeinde Freienbach, Stand 1988, geht hervor, dass das Zentrum von Pfäffikon über den nördlich gelegenen Bahnhof mit zwei "Spangen", einer Spange Ost und einer Spange West, umfahren werden soll. Überdies soll die Etzelstrasse nicht mehr direkt das Ortszentrum erschliessen, sondern vor dem Ortszentrum in nördlicher Richtung über das Land der Beschwerdeführer zunächst zur Churerstrasse und dann weiter in die Gegend von Post und Bahnhof geführt werden und
BGE 118 Ib 76 S. 79
in diesem Bereich an die Spange Ost angeschlossen werden, welche ihre Fortsetzung in der Spange West finden soll. Nach dem ursprünglichen Verkehrskonzept sollte die Etzelstrasse über die Grundstücke der Erben O. eine direkte Verbindung zur Churerstrasse erhalten (Umlegung Etzelstrasse), und von dort hätte eine Fortsetzung lediglich zur Post (Poststrasse) erfolgen sollen. Doch soll nach dem kommunalen Verkehrsrichtplan die Poststrasse nun zur "Spange Ost" ausgebaut werden.
a) Die Beschwerdeführer bringen vor, es sei unklar, ob die Spange Ost und die Verbindung zur bestehenden Poststrasse (PTT) oder nur die Spange Ost verwirklicht werden solle. Diese Frage werde auch vom Verwaltungsgericht offengelassen. Die Gemeinde beabsichtige, mit der Umfahrung Etzelstrasse die Löwenkreuzung und damit das Ortszentrum von Pfäffikon zu entlasten. Der Verkehr auf der Etzelstrasse und auf ihren Zubringern (insbesondere der zum Teil sehr stark befahrenen Schützenstrasse) solle nicht mehr ins Ortszentrum, sondern über das Grundstück der Beschwerdeführer (Kat. Nr. 747) direkt in die Churerstrasse geleitet werden. Werde auch die Poststrasse und zusätzlich die Spange Ost erstellt, so entstünde eine direkte Verkehrsverbindung über die ebenfalls den Beschwerdeführern gehörende Parzelle Kat. Nr. 748 zur Post und zum Bahnhof. Falls zudem die Gesamtplanung ausgeführt werde, also die Spangen Ost und West, welche als Einheit zu betrachten seien, so sei in jedem Fall mit einem bedeutsamen Mehrverkehr auch auf der Umfahrung Etzelstrasse zu rechnen.
Die Beschwerdeführer vertreten die Auffassung, das Verwaltungsgericht habe es zu Unrecht abgelehnt, die zwei bzw. drei Strassen (Umlegung Etzelstrasse südlich der Churerstrasse, Poststrasse/Spange Ost Richtung Norden mit Spange West) aus der Sicht des Bundesgesetzes über den Umweltschutz vom 7. Oktober 1983 (USG) gesamtheitlich zu beurteilen. Dies sei umso unverständlicher, als im angefochtenen Entscheid die Errichtung der neuen Strassenverbindungen im Norden (Spange Ost, Poststrasse) als praktisch sicher bezeichnet worden sei.
b) Gemäss
Art. 8 USG
werden Einwirkungen sowohl einzeln als auch gesamthaft und nach ihrem Zusammenwirken beurteilt. Der Vorwurf der Beschwerdeführer, das Verwaltungsgericht habe diesen Grundsatz verletzt, ist unbegründet. Die zur Diskussion stehenden Einwirkungen durch das Strassenprojekt "Umlegung Etzelstrasse" wurden im angefochtenen Entscheid sowohl für sich als auch gesamthaft und nach ihrem Zusammenwirken beurteilt. Das
BGE 118 Ib 76 S. 80
Verwaltungsgericht hat lediglich darauf verzichtet, weiteren geplanten Strassenbauvorhaben Rechnung zu tragen. Wann und ob diese weiteren Projekte verwirklicht werden, ist ungewiss. Das zeigt sich schon daran, dass für keines dieser Vorhaben mit Einschluss der hier umstrittenen Umlegung der Etzelstrasse ein Baukredit bewilligt worden ist. Ist die Umlegung der Etzelstrasse für sich betrachtet umweltschutzrechtlich zulässig und hat ihre isolierte Verwirklichung auch einen Sinn, so kann die Strasse nicht mit umweltschutzrechtlichen Argumenten verhindert werden. Will die Gemeinde jedoch später weitere Bauvorhaben ausführen, so sind für die Bewilligung dieser weiteren Projekte die umweltschutzrechtlichen Fragen unter Einschluss der Einwirkungen der bewilligten Umlegung der Etzelstrasse zu beurteilen. Das kann dazu führen, dass die Verwirklichung weiterer in Aussicht stehender Strassenprojekte aus umweltschutzrechtlichen Gründen erschwert oder mitunter gar verunmöglicht wird. Baut die Gemeinde die für sich betrachtet umweltschutzrechtlich zulässige Umlegung der Etzelstrasse, ohne sich um die Probleme weiterer von ihr geplanter Strassenbauvorhaben zu kümmern, so geht sie in bezug auf spätere Strassenprojekte ein gewisses Risiko ein. Ein etappenweises Verwirklichen von Strassenprojekten ist jedoch aus umweltschutzrechtlicher Sicht nicht absolut unzulässig; nur darf dies nicht dazu führen, dass dadurch die Rechtsstellung der davon betroffenen Bürger beeinträchtigt wird. | de |
71d35fde-e014-4f25-ac1d-002d2b8093b7 | Sachverhalt
ab Seite 249
BGE 120 II 248 S. 249
Frau F. suchte am 6. Juni 1986 ihren Hausarzt Dr. med. W. wegen Schmerzen in der rechten Schulter auf. Dieser injizierte ihr periartikulär und drei Tage später intraartikulär eine Mischung von Xyloneural und Monocortin. Da die Beschwerden nicht zurückgingen, injizierte er am 1. Juli 1986 erneut intraartikulär ein Cortisonpräparat. Am 5. August 1986 überwies der Hausarzt die nach wie vor unter grossen Schmerzen leidende Patientin an einen Spezialarzt für orthopädische Chirurgie am Regionalspital X. zur weiteren Behandlung. Dort unterzog sie sich am 2. September 1986 einer Mobilisation der rechten Schulter. Am 6. November 1986 musste das rechte Schultergelenk operativ revidiert werden. Bei diesem Eingriff stellte sich heraus, dass der Oberarmkopf und die Gelenkpfanne des rechten Schultergelenkes zufolge einer Infektion weitgehend zerstört waren. Wegen der schmerzhaften, praktisch funktionsunfähigen Schulter konnte Frau F. ihren Beruf als selbständige Damenschneiderin in der Folge nicht mehr ausüben. Sie ist seither teilweise arbeitsunfähig und wird dies zeitlebens bleiben.
Am 20. Februar 1991 reichte Frau F. beim Appellationshof des Kantons Bern Klage gegen W. ein. Der Appellationshof liess im Rahmen des Beweisverfahrens ein medizinisches Gutachten ausarbeiten und nahm mehrere, bereits vorprozessual erstellte Gutachten zu den Akten. Mit Urteil vom 11. Oktober 1993 verpflichtete er den Beklagten, der Klägerin Fr. 510'260.-- zu bezahlen. Der Beklagte focht dieses Urteil mit Berufung an, die vom Bundesgericht abgewiesen wird, soweit es auf sie eintritt. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
c) Mit den erwähnten Rügen wirft der Beklagte der Vorinstanz in Wirklichkeit vor, sie sei von einem falschen Begriff der Vertragsverletzung ausgegangen. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass die vertragliche Sorgfaltspflicht des Arztes nach objektiven Kriterien zu beurteilen ist. Die Frage der Vertragsverletzung muss sodann unterschieden werden von jener des Verschuldens, das vermutet wird, falls der Arzt nicht den Exkulpationsbeweis erbringen kann. Die Anforderungen an die ärztliche Sorgfaltspflicht lassen sich nicht allgemeingültig festlegen; sie richten sich vielmehr nach den Umständen des Einzelfalles, namentlich nach der Art des Eingriffs oder der Behandlung, den damit verbundenen Risiken, dem Ermessensspielraum und der Zeit, die dem Arzt zur Verfügung steht, sowie nach Ausbildung und Leistungsfähigkeit,
BGE 120 II 248 S. 250
die objektiv von ihm zu erwarten sind. Zu beachten ist, dass die Haftung des Arztes nach der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichts nicht auf grobe Verstösse gegen Regeln der ärztlichen Kunst beschränkt ist. Er hat Kranke vielmehr stets fachgerecht zu behandeln, zum Schutz ihres Lebens oder ihrer Gesundheit die nach den Umständen gebotene und zumutbare Sorgfalt aufzuwenden und grundsätzlich für jede Pflichtverletzung einzustehen (
BGE 116 II 519
E. 3a S. 521 mit Hinweis,
BGE 115 Ib 175
E. 2b S. 180 mit Hinweis).
Als Beauftragter schuldet der Arzt dem Patienten nicht die Wiederherstellung der Gesundheit, sondern lediglich eine darauf ausgerichtete Behandlung nach den Regeln der ärztlichen Kunst. Eine durch die Behandlung verursachte neue gesundheitliche Beeinträchtigung ist indessen vom blossen Ausbleiben des Behandlungserfolgs zu unterscheiden (vgl.
BGE 113 Ib 420
E. 2 S. 423 f.). Zwar kann ein solches Ergebnis nicht an sich schon als Vertragsverletzung qualifiziert werden, da medizinische Behandlungen und Eingriffe in einem gewissen Mass mit Risiken verbunden sind, die auch bei Anwendung aller notwendigen Sorgfalt nicht vermeidbar sind (HONSELL, die zivilrechtliche Haftung des Arztes, ZSR 1990 I S. 136 f.; FELLMANN, Berner Kommentar, N. 389 zu
Art. 398 OR
). Soweit die Möglichkeit negativer Auswirkungen der Behandlung aber erkennbar ist, muss der Arzt alle Vorkehren treffen, um deren Eintritt zu verhindern (GROSS, Haftung für medizinische Behandlung im Privatrecht und im öffentlichen Recht der Schweiz, S. 178). Deren Eintritt begründet dann eine tatsächliche Vermutung, dass nicht alle gebotenen Vorkehren getroffen worden sind und somit eine objektive Sorgfaltspflichtverletzung vorliegt (RASCHEIN, Widerrechtlichkeit und Verschulden in der Arzthaftpflicht, Zeitschrift für Gesetzgebung und Rechtsprechung des Kantons Graubünden, 3/1989, S. 64). Diese Vermutung dient der Beweiserleichterung, hat aber keine Umkehr der Beweislast zur Folge (vgl.
BGE 117 II 256
E. 2b S. 258 mit Hinweisen). Die daraus gezogenen Schlüsse stellen grundsätzlich Beweiswürdigung dar, weshalb sie im Berufungsverfahren nicht überprüft werden. Die Vermutung kann vom Arzt erschüttert werden, indem er zum Beispiel dartut, welche konkreten Vorkehren er im einzelnen getroffen hat, und nachweist, dass nach dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft auch bei Anwendung aller Sorgfalt ein nicht beherrschbares Restrisiko verbleibt oder eine ernstzunehmende konkrete Möglichkeit eines atypischen Kausalverlaufs besteht (vgl. FELLMANN, Berner Kommentar, N. 389 zu
Art. 398 OR
; GIESEN, Arzthaftungsrecht, S. 219).
BGE 120 II 248 S. 251
Eine solche tatsächliche oder natürliche Vermutung liegt der Annahme einer Vertragsverletzung im angefochtenen Urteil zugrunde. Die festgestellte Sterilitätslücke wird als solche nicht als Vertragsverletzung qualifiziert. Vielmehr wird daraus im Sinne einer tatsächlichen Vermutung auf das Vorliegen eines Sterilitätsfehlers geschlossen. Dieser Schluss kann hier, wie bereits festgehalten, nicht überprüft werden. Im übrigen wäre er aber auch dann nicht zu beanstanden, wenn er auf allgemeiner Lebenserfahrung beruhen würde und deshalb mit der Berufung anfechtbar wäre (
BGE 118 II 366
). Dass bei Injektionen das Risiko einer Infektion besteht, ist allgemein bekannt. Besonders ernst zu nehmen ist die Infektionsgefahr nach den Feststellungen der Vorinstanz bei intraartikulären Injektionen, weshalb in diesen Fällen die Regeln der Asepsis peinlich genau zu befolgen seien. Unter diesen Umständen erscheint der Schluss auf einen Fehler des Beklagten bei der Sterilisation als naheliegend. In der Literatur wird denn auch befürwortet, bei solchen Sachverhalten allgemein einen Fehler des Arztes zu vermuten (JOËL CRETTAZ, De l'inexécution des obligations contractuelles du médecin: Quelques aspects, Diss. Lausanne 1990, S. 184; vgl. dazu auch das Urteil des BGH vom 14. Februar 1989 in NJW 1989, 1533 ff.). Die Vorinstanz durfte somit von einer objektiven Sorgfaltspflichtverletzung des Beklagten ausgehen, obwohl sein Vorgehen bei der Injizierung der Cortison-Präparate nicht in allen Einzelheiten beweismässig abgeklärt werden konnte. Anzumerken ist allerdings, dass die hier zur Diskussion stehende natürliche Vermutung nicht ohne weiteres übertragen werden darf auf Infektionsfälle, die mit einer anders gearteten ärztlichen Behandlung zusammenhängen (vgl. dazu KUHN, in Handbuch des Arztrechts, S. 90 und 99).
Mit der Berufung wird eingewendet, das Einbringen von Staphylokokken-Keimen ins Gewebe könne bei jeder Injektion eines beliebigen Medikamentes auftreten. Dies ist jedoch nicht entscheidend. Um die natürliche Vermutung zu erschüttern, hätte der Beklagte dartun müssen, dass er alle Vorkehren getroffen hatte, die nach den Regeln der ärztlichen Kunst bei der Vornahme peri- und intraartikulärer Injektionen von Cortison-Präparaten geboten sind, und dass selbst bei Anwendung dieser Sorgfalt eine Infektion solcher Art nicht vermieden werden konnte. Darüber enthält das angefochtene Urteil nichts, und der Beklagte macht auch keinerlei Hinweise auf entsprechende Vorbringen im kantonalen Verfahren. In der gerichtlichen Expertise wird zwar erwähnt, Komplikationen der aufgetretenen Art könnten sich mit einer Häufigkeit von etwa 1:10'000 ergeben. In
BGE 120 II 248 S. 252
wie vielen dieser Fälle mit Komplikationen eine Verletzung der Sorgfaltspflicht vorliegt, wird aber nicht gesagt und ist offenbar auch nicht untersucht worden. Es ist deshalb nicht dargetan, dass es sich bei der angegebenen statistischen Wahrscheinlichkeit um das auch bei aller Sorgfalt nach dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft nicht beherrschbare Risiko handelt. Wenn die Vorinstanz deshalb aus der Verursachung der Infektion im Schultergelenk durch die Cortisoninjektionen auf eine Vertragsverletzung des Beklagten geschlossen hat, kann ihr nicht vorgeworfen werden, sie sei von einem unzutreffenden Begriff der Vertragsverletzung ausgegangen. | de |
3cb93805-9fa8-4213-8ddc-2b0f4dd9d4b9 | Sachverhalt
ab Seite 363
BGE 141 III 363 S. 363
A.
B. (Klägerin, Beschwerdegegnerin) wurde im Rahmen ihrer Schwangerschaft und nach der Geburt der Tochter vom Gynäkologen A. (Beklagter, Beschwerdeführer) betreut. Im Verlaufe des Geburtsvorgangs nahm der Beklagte bei der Klägerin einen medianen
BGE 141 III 363 S. 364
Dammschnitt (mediane Episiotomie) vor und beendete die Geburt mittels Saugglocke (sog. Vakuumextraktion). Bei der Geburt kam es zu einem Dammriss, der vom Beklagten unmittelbar nach der Geburt genäht wurde.
Die Klägerin wirft dem Beklagten vor, er habe durch unsorgfältige Vorgehensweise während und nach der Geburt bei ihr einen Sphinkterriss (Riss des Schliessmuskels im Anus) und dadurch eine heute nach wie vor bestehende Stuhlinkontinenz verursacht.
B.
B.a
Mit Klage vom 28. November 2005 beim Bezirksgericht Zürich beantragte die Klägerin, der Beklagte sei zur Zahlung einer Genugtuung von Fr. 100'000.- nebst Zins zu 5 % seit dem 23. Juni 1993 zu verpflichten. Im Rahmen eines umfassenden Beweisverfahrens holte das Bezirksgericht unter anderem ein interdisziplinäres (chirurgisches und gynäkologisches) Gutachten ein.
Mit Urteil vom 21. Oktober 2014 schützte das Bezirksgericht die Klage teilweise und verpflichtete den Beklagten zur Zahlung einer Genugtuung von Fr. 60'000.- nebst Zins.
B.b
Das Obergericht des Kantons Zürich wies mit Urteil vom 23. Januar 2015 die vom Beklagten gegen das bezirksgerichtliche Urteil erhobene Berufung ab und bestätigte den angefochtenen Entscheid.
Es erwog insbesondere, der Beklagte sei verpflichtet gewesen, nach der Geburt eine Rektaluntersuchung durchzuführen; eine solche sei jedoch nicht dokumentiert. Aus dem Fehlen der Dokumentation dürfe nicht zu Lasten der Klägerin davon ausgegangen werden, der Beklagte habe eine solche Untersuchung vorgenommen; vielmehr müsse angenommen werden, er habe die Klägerin nach der Geburt rektal nicht untersucht und deshalb den höhergradigen Dammriss nicht erkannt, womit ihm eine Sorgfaltspflichtverletzung vorzuwerfen sei.
C.
Mit Beschwerde in Zivilsachen beantragt der Beschwerdeführer dem Bundesgericht, es sei das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich vom 23. Januar 2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen. Eventualiter sei die Sache zur weiteren Abklärung des Sachverhalts an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, es hebt das angefochtene Urteil auf und weist die Klage ab.
(Zusammenfassung)
BGE 141 III 363 S. 365 Erwägungen
Aus den Erwägungen:
5.
Unbestrittenermassen wurde eine Rektaluntersuchung nach der Geburt nicht dokumentiert. Der Beschwerdeführer bestreitet eine Pflicht zur Dokumentation dieses Vorgangs und wirft der Vorinstanz vor, sie sei zu Unrecht gestützt auf eine angebliche Dokumentationspflichtverletzung davon ausgegangen, er habe die Beschwerdegegnerin rektal nicht untersucht.
5.1
Der Umfang der Dokumentationspflicht ergibt sich aus ihrem Zweck. Die Lehre verweist - zumeist ohne Differenzierung - auf folgende Zwecke: Die Dokumentation solle die korrekte Behandlung sicherstellen, namentlich auch bei der Behandlung durch mehrere Personen oder bei Arztwechsel. Mit ihr erfülle der Arzt seine auftragsrechtliche Rechenschaftspflicht (
Art. 400 Abs. 1 OR
) und schliesslich diene sie auch der Beweissicherung (LANDOLT/HERZOG- ZWITTER, Arzthaftungsrecht, 2015, Rz. 1061; WALTER FELLMANN, Arzt und das Rechtsverhältnis zum Patienten, in: Arztrecht in der Praxis, Kuhn/Poledna [Hrsg.], 2. Aufl. 2007, S. 136 f.; HAUSHEER/ JAUN, Unsorgfältige ärztliche Behandlung - Arzthaftung, in: Haftung und Versicherung, Weber/Münch [Hrsg.], 2. Aufl. 2015, Rz. 19.107 ff. S. 936 f.; LAURA JETZER, Die ärztliche Dokumentationspflicht und der Beweis des Behandlungsfehlers, ZBJV 148/2012 S. 311; MARKUS SCHMID, Dokumentationspflichten der Medizinalpersonen - Umfang und Folgen ihrer Verletzung, HAVE 4/2009 S. 354; vgl. auch Urteil 9C_567/2007 vom 25. September 2008 E. 4.2). Indessen ist von Bedeutung, ob man diesen Zwecken - namentlich dem medizinischen der Sicherstellung einer ordnungsgemässen Behandlung und dem prozessualen der Beweissicherung - den gleichen Stellenwert einräumt. Geht man davon aus, der Zweck der Dokumentation sei vorrangig die Behandlungssicherheit, bestimmt sich das, was aufzuzeichnen ist, nach medizinischen Kriterien, weshalb das Unterbleiben medizinisch nicht relevanter Aufzeichnungen in juristischen Auseinandersetzungen keine beweisrechtlichen Nachteile für den Arzt zur Folge haben kann (zutreffend: SUSANNE BOLLINGER HAMMERLE, Die vertragliche Haftung des Arztes für Schäden bei der Geburt, 2004, S. 156). In diesem Fall dient die Dokumentation zwar auch der Beweissicherung, diese ist aber eine Folge daraus und nicht der primäre Zweck. Erachtet man die Beweissicherung dagegen als selbständigen Zweck, kann sich daraus ein weiterer Umfang der Dokumentationspflicht ergeben.
BGE 141 III 363 S. 366
Die Lehre - mangels schweizerischer Rechtsprechung oft unter Hinweise auf deutsche Judikate - konkretisiert den Umfang der Dokumentationspflicht wie folgt: Aufzeichnungspflichtig seien aus medizinischer Sicht die für die ärztliche Behandlung wesentlichen medizinischen Fakten (LANDOLT/HERZOG-ZWITTER, a.a.O., Rz. 1064; URSINA PALLY, Arzthaftung mit den Schwerpunkten Schwangerschaftsbetreuung und Geburtshilfe, 2007, S. 259 f. und bei Fn. 1706). Nur erhebliche Tatsachen seien zu vermerken. "Gewöhnliche bzw. übliche Massnahmen" seien nicht zwingend zu dokumentieren. Nicht dokumentationspflichtig seien "medizinische Selbstverständlichkeiten". "Reine Routinemassnahmen" seien nicht zu dokumentieren (LANDOLT/HERZOG-ZWITTER, a.a.O., Rz. 1066; vgl. auch JETZER, a.a.O., S. 313).
Diese Umschreibungen basieren auf dem Verständnis, dass das medizinisch Notwendige zu dokumentieren ist, d.h. dass die Dokumentationspflicht primär der Erfüllung des Behandlungsauftrags dient, und sie folgen insofern der höchstrichterlichen deutschen Rechtsprechung, die zwar eine strenge Dokumentation verlangt, jedoch ausgerichtet auf medizinische Üblichkeit und Erforderlichkeit und nicht zum Zweck, dem Patienten die Beweisführung zu sichern (GERHARD H. SCHLUND, in: Handbuch des Arztrechts, Laufs/Kern [Hrsg.], 4. Aufl., München 2010, § 55 Rz. 9 S. 688 f.; GOTTFRIED BAUMGÄRTEL, Die Beweisvereitelung im Zivilprozess, in: Festschrift für Winfried Kralik, Verfahrensrecht - Privatrecht, Wien 1986, S. 69; ANTOINE ROGGO, Aufklärung des Patienten, 2002, S. 209; Urteil des BGH vom 6. Juli 1999 E. II.2a., in: Versicherungsrecht [VersR] 30/1999 S. 1283: "[...] den Zweck der Dokumentationspflicht, die der Sicherung wesentlicher medizinischer Daten und Fakten für den Behandlungsverlauf dient und deshalb nach ihrem Zweck nicht auf die Sicherung von Beweisen für einen späteren Haftungsprozess des Patienten gerichtet ist. Deshalb ist [...] eine Dokumentation, die aus medizinischer Sicht nicht erforderlich ist, auch aus Rechtsgründen nicht geboten", mit Hinweisen; unter Bezugnahme auf diesen Entscheid auch das Urteil des OLG Oldenburg vom 30. Januar 2008 E. 3a, in: VersR 15/2008 S. 692).
Geht man von diesem Verständnis der Dokumentationspflicht aus, ergibt sich im Hinblick auf die vorliegend relevante Frage, dass Kontrolluntersuchungen dann nicht dokumentationspflichtig sind, wenn es medizinisch üblich ist, bei Ausbleiben eines positiven Befundes keine Aufzeichnungen vorzunehmen. Diesfalls kann aus einer
BGE 141 III 363 S. 367
fehlenden Dokumentation nicht auf das Unterbliebensein entsprechender Untersuchungen geschlossen werden (so explizit: Urteil des BGH vom 23. März 1993 E. 1a, in: VersR 20/1993, S. 837; SCHLUND, a.a.O., § 111 Rz. 8 S. 1290).
5.2
Das Bundesgericht hat sich zu Inhalt und Umfang der Dokumentationspflicht noch nicht im Einzelnen geäussert. In dem von der Vorinstanz und den Parteien angerufenen Urteil 4C.378/1999 vom 23. November 2004 stellte es fest, die Beweislast für das Vorliegen eines Behandlungsfehlers und der damit ursächlich zusammenhängenden Schädigung obliege der Patientin. Es würden jedoch Beweiserleichterungen zugestanden, insbesondere bei fehlender oder mangelhafter Dokumentation durch den Arzt. Im dort beurteilten Fall wurde das Regelbeweismass herabgesetzt, weil den operierenden Chirurgen Dokumentationsmängel vorzuwerfen waren, nämlich ein lückenhafter und irreführender Operationsbericht sowie die Beseitigung von Operationsvideos. Selbst wenn das Verhalten der für den Beklagten handelnden Personen nicht als eigentliche Beweisvereitelung qualifiziert werden könnte, so der Entscheid weiter, liege jedenfalls ein von deren Seite verschuldeter Dokumentationsmangel vor, der eine Herabsetzung des Beweismasses rechtfertige (zit. Urteil 4C.378/1999 E. 3.2 und 6.3 a.E.). Zum (notwendigen) Inhalt der Dokumentation führte das Bundesgericht aus, um ihren Zweck zu erfüllen, müsse die Krankengeschichte vollständig sein. Sie dürfe keine Lücken aufweisen und müsse so abgefasst sein, dass über die wirklichen Geschehnisse informiert und Irreführungen oder Missverständnisse vermieden werden. Konkret war umstritten, ob überhaupt eine Verpflichtung zur Aufnahme eines Operationsvideos bestand, d.h. ob solche von der Dokumentationspflicht erfasst werden. Das Bundesgericht bezeichnete die Auffassung des Beklagten, der diesen Umfang der Dokumentationspflicht bestritt, als fraglich, "angesichts der Feststellung des gerichtlichen Experten, dass die Dokumentation dieses Eingriffs mittels Videoaufnahme allgemein üblich ist" (zit. Urteil 4C.378/1999 E. 3.3).
In seiner Besprechung dieses Entscheids wies TREZZINI darauf hin, dass eine eigentliche Beweisvereitelung im prozessrechtlichen Sinn voraussetzt, dass einerseits eine gesetzliche oder vertragliche Pflicht zur Bewahrung des betreffenden Beweismittels besteht und dass andererseits die Bedeutung für den zukünftigen Prozess erkennbar sei (FRANCESCO TREZZINI, Nota FT - "caso del trimestre", SZZP 2/2005 S. 168 unter Hinweis auf BAUMGÄRTEL, a.a.O., S. 71). Das
BGE 141 III 363 S. 368
Bundesgericht habe aber mit der oben zitierten Formulierung in E. 6.3 auf das zweite Kriterium, die Erkennbarkeit der Beweiseignung für den künftigen Prozess verzichtet und eine Beweiserleichterung bereits wegen der objektiven Verletzung der (medizinisch notwendigen) Dokumentation bejaht. Damit betont TREZZINI zu Recht die Unterscheidung zwischen der prozessrechtlich begründeten Beweisvereitelung und der materiell-rechtlichen Dokumentationspflicht als auftragsrechtlicher Nebenpflicht. Vertragsrechtlich lässt sich nicht spezifisch für den Behandlungsauftrag des Arztes eine Beweissicherungspflicht gleichsam als Nebenpflicht der Behandlungspflicht begründen, die über die zur Behandlung erforderlichen Aufzeichnungen hinausgehen würde (a.M. wohl WALTER FELLMANN, Berner Kommentar, 1992, N. 453 i.V.m. N. 455 zu
Art. 398 OR
, v.a. N. 455: "gehört zur Rechenschaftsablegung [...] die lückenlose Aufklärungüber die Hintergründe und die möglichen Ursachen eines Schadens";
derselbe
, Arzt und das Rechtsverhältnis zum Patienten, a.a.O., S. 136 ff.). Dass die (als Nebenpflicht) geschuldete medizinisch begründete Dokumentationspflicht im Ergebnis auch der Beweissicherung dient, ändert nichts daran.
5.3
Massgeblich ist somit, ob die Dokumentation der Rektaluntersuchung im Jahr 1993 aus medizinischen Gründen notwendig und üblich war. Diesbezüglich hielt die Vorinstanz fest, gemäss dem Gutachten gehöre die Rektaluntersuchung zur Standarduntersuchung. Der Gutachter habe auch festgestellt, dass sie vorliegend im Partogramm nicht dokumentiert sei, jedoch: "Insgesamt sei es nicht absolut üblich und gefordert, dass diese Rektaluntersuchung dokumentiert werde". War die Dokumentation der Rektaluntersuchung nach den Feststellungen im angefochtenen Entscheid aus medizinischen Gründen nicht notwendig und üblich, kann mit deren Fehlen nicht eine Beweiserleichterung begründet und der Nachweis einer Sorgfaltspflichtverletzung wegen nicht durchgeführter Rektaluntersuchung als erbracht erachtet werden. | de |
000d17d7-3ad9-4227-8ae3-39f258ea368f | Sachverhalt
ab Seite 113
BGE 114 Ib 112 S. 113
X. ist Eigentümerin der Parzelle Nr. 377, Plan 3 und 4 (gemäss neuer Vermessung: Parzelle Nr. 614), welche südwestlich der protestantischen Kirche von Trimmis liegt. Dieses Grundstück befindet sich nach der Ortsplanung vom 19. Dezember 1972, die am 18. Juni 1973 vom Regierungsrat genehmigt worden ist, zum Teil in der Zone für öffentliche Bauten und Anlagen und zum Teil in der Dorfzone. Zuvor bestand in Trimmis keine Zonenplanung, sondern nur ein interimistisches Baugesetz.
Im Jahre 1983 verhandelte der Gemeindevorstand mit X. über den Erwerb des in der Zone für öffentliche Bauten und Anlagen gelegenen Parzellenteils, den die Gemeinde für eine Friedhoferweiterung benötigt. Am 15. Februar 1983 gelangte er mit einem Übernahmebegehren an sie. Weil keine Einigung zustande gekommen
BGE 114 Ib 112 S. 114
war, beschloss die Gemeindeversammlung am 19. Oktober 1984, das Land auf dem Enteignungswege zu erwerben. Die Gemeinde gelangte daher am 28. Juni 1985 an die Enteignungskommission I und stellte das Begehren, es sei das Schätzungsverfahren durchzuführen. Mit Entscheid vom 5. Mai/9. Oktober 1986 setzte die Enteignungskommission die Entschädigung auf Fr. 80.-- /m2 fest. Die Gemeinde Trimmis zog diesen Entscheid an das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden weiter und beantragte, die zugesprochene Entschädigung auf Fr. 20.-- /m2 zu reduzieren. X. gelangte mit einem Rekurs ebenfalls an das Verwaltungsgericht und stellte die folgenden Anträge:
"1. Der Entscheid der Enteignungskommission I des Kantons Graubünden vom 5. Mai/9. Oktober 1986 sei aufzuheben.
2. Die Entschädigung für materielle Enteignung des in der Zone für öffentliche Bauten und Anlagen (ZöBA) befindlichen Landes von X. sei auf Fr. 200.-- pro m2 Land festzusetzen.
3. Die Entschädigung für materielle Enteignung sei mit 6% Zins ab 18.6.1973, eventualiter ab 1.1.1977 zu verzinsen.
4. Die Entschädigung für formelle Enteignung des in der Zone für öffentliche Bauten und Anlagen (ZöBA) befindlichen Landes von X. sei auf Fr. 600.-- pro m2 Land minus Entschädigung für materielle Enteignung festzusetzen.
5. Als Minderwert für den Teil des Grundstückes Parz. Nr. 614 (neue Vermessung), welcher in die Dorfzone eingeteilt wurde, sei die Gemeinde Trimmis zu verpflichten, X. Fr. 300.-- /m2 zu bezahlen.
6. Alles unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten der Gemeinde Trimmis."
Sie machte geltend, das Land, das in den Jahren 1972/1973 in die Zone für öffentliche Bauten und Anlagen eingeteilt worden sei, wäre ansonsten, wie der Rest der Parzelle, zur Dorfzone geschlagen worden. Es liege auch im Bereiche des alten Dorfkernes und sei vollständig erschlossen. Wäre die ganze Parzelle Nr. 377 in der Dorfzone gelegen, so wäre eine Arealüberbauung möglich gewesen, weshalb sich ein Preis von Fr. 600.-- /m2 erzielen liesse. Die in der Dorfzone gelegene Restparzelle sei jedoch nur noch beschränkt überbaubar.
Mit Entscheid vom 18. Februar 1987 wies das Verwaltungsgericht beide Rekurse ab.
Gegen diesen Entscheid führt X. Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Bundesgericht, die in bezug auf den vom Verwaltungsgericht
BGE 114 Ib 112 S. 115
festgesetzten Restwert für landwirtschaftliches Kulturland gutgeheissen wird. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
a) Mit dem angefochtenen Entscheid hat das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden als kantonal letztinstanzliches Enteignungsgericht die von der Gemeinde Trimmis zu leistende Entschädigung für die Übernahme des in der Zone für öffentliche Bauten und Anlagen gelegenen Teils des der Beschwerdeführerin gehörenden Grundstücks Nr. 377 festgesetzt und es überdies abgelehnt, für den in der Dorfzone gelegenen Teil der genannten Parzelle eine Minderwertsentschädigung zuzusprechen. Das Übernahmebegehren der Gemeinde stützt sich auf Art. 27 Abs. 3 des Raumplanungsgesetzes für den Kanton Graubünden vom 20. Mai 1973 (KRG). Danach kann die Gemeinde nach der Genehmigung des Zonenplans durch schriftliche Bekanntgabe ihres Angebotes die Übertragung des Eigentums an sie verlangen (Heimschlagsrecht). Die Zuweisung eines Teils des Grundstücks Nr. 377 zur Zone für öffentliche Bauten und Anlagen im Sinne von
Art. 27 KRG
stellt nach der Praxis des Bundesgerichtes eine Planungsmassnahme im Sinne des Bundesgesetzes über die Raumplanung vom 22. Juni 1979 (RPG) dar (
BGE 110 Ib 257
;
BGE 107 Ib 229
). Wird das Heimschlagsrecht als Folge einer Planungsmassnahme gemäss Raumplanungsgesetz, in welcher eine enteignungsähnliche Eigentumsbeschränkung liegt oder liegen kann, gewährt und ist umstritten, ob und in welchem Masse eine Entschädigung für den planerischen Eingriff geschuldet sei, so ist nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung die Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht gegeben. Dies gilt auch dann, wenn sich die umstrittene Frage - wie im vorliegenden Fall - im Rahmen eines formellen Enteignungsverfahrens stellt, beziehungsweise wenn eine materielle durch eine formelle Enteignung ergänzt wird (
BGE 112 Ib 516
E. 1a mit Hinweisen). Die Beschwerdeführerin als betroffene Grundeigentümerin ist zur Beschwerde berechtigt (
Art. 103 lit. a OG
). Auf die im übrigen form- und fristgerecht eingereichte Beschwerde ist daher grundsätzlich einzutreten.
2.
a) Die Beschwerdeführerin rügt, das Verwaltungsgericht habe im angefochtenen Entscheid trotz rechtlicher Verpflichtung gemäss
Art. 35 Abs. 1 VwVG
keine Rechtsmittelbelehrung angebracht. Das verstosse gegen
Art. 4 BV
. Der erwähnte Vorwurf der
BGE 114 Ib 112 S. 116
Beschwerdeführerin ist zwar berechtigt. Da sie jedoch rechtzeitig das zutreffende Rechtsmittel erhoben hat, ist ihr aus der beanstandeten Unterlassung kein Nachteil erwachsen. Diese bleibt somit ohne Folgen. Auf die Rüge der fehlenden Rechtsmittelbelehrung ist daher nicht einzutreten (
BGE 104 V 166
/167 E. 3 mit Hinweis).
b) Die Gemeinde Trimmis verlangt eine Abweisung der Beschwerde schon aus formellen Gründen. Sie wirft dem Verwaltungsgericht vor, es habe die von der Beschwerdeführerin im vorinstanzlichen Verfahren eingereichte Eingabe vom 3. November bzw. 11. November 1986 zu Unrecht als "Anschlussrekurs" behandelt und sei deshalb zu Unrecht auf dieselbe eingetreten. Die Umdeutung der genannten Eingabe sei willkürlich und verletze die im Verwaltungsgerichtsprozess geltenden Verfahrensgrundsätze. Insbesondere seien die Art. 22 Abs. 1 und 2 des kantonalen Enteignungsgesetzes in Verbindung mit
Art. 52 VGG
verletzt. Es wäre insoweit das Urteil des Verwaltungsgerichtes aufzuheben und zu modifizieren gewesen, was allerdings die Erhebung einer staatsrechtlichen Beschwerde vorausgesetzt hätte. Im vorliegenden Fall sei dieses Rechtsmittel jedoch nicht zur Verfügung gestanden, denn das Verwaltungsgericht habe den Anschlussrekurs vollumfänglich abgewiesen. Es habe deshalb an der Beschwerde gefehlt, ohne die ein Weiterzug an das Bundesgericht nicht möglich sei. Weil der Entscheid des Verwaltungsgerichtes nun aber von der Gegenpartei weitergezogen worden sei, könne dieser Einwand erneut vorgetragen werden. Wenn die Vorinstanz indessen zu Unrecht auf den Anschlussrekurs eingetreten sei, dann führe dies zu einer Abweisung der jetzt erhobenen Beschwerde, da in diesem Fall das Fundament des Rechtsmittels fehle.
Diese Argumentation ist unzutreffend. Die von der Beschwerdegegnerin vorgetragene Rüge kann - wie sie selbst schreibt - nur im Rahmen einer staatsrechtlichen Beschwerde vorgebracht werden. Sie kann daher nicht Gegenstand des zu beurteilenden verwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahrens bilden. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde stützt sich im vorliegenden Fall auf
Art. 34 Abs. 1 RPG
, wonach sie unter anderem gegen "Entscheide letzter kantonaler Instanzen über Entschädigungen als Folge von Eigentumsbeschränkungen (Art. 5)" zulässig ist. Auch auf
Art. 34 RPG
gestützte Verwaltungsgerichtsbeschwerden können nur eine Überprüfung des Bundesrechts, nicht dagegen kantonaler Vorschriften zum Gegenstand haben. Die Frage der Voraussetzungen der Zulässigkeit eines Anschlussrekurses bei einem kantonalen
BGE 114 Ib 112 S. 117
Verwaltungsgericht ist dagegen eine solche des kantonalen Rechts, die der staatsrechtlichen und nicht der Verwaltungsgerichtsbeschwerde unterliegt. Weil die Gemeinde Trimmis durch diese Frage weder wie eine Privatperson noch in ihrer Autonomie betroffen ist, hätte sie gegen die erwähnte Behandlung der genannten Eingabe somit selbst dann nicht staatsrechtliche Beschwerde führen können, wenn sie vom angefochtenen Entscheid hinsichtlich der Behandlung des Anschlussrekurses beschwert gewesen wäre. Sie wäre dazu nicht legitimiert gewesen. Deshalb ist sie erst recht nicht befugt, diese Rüge im Rahmen des vorliegenden Verfahrens mit ihrer Beschwerdeantwort zu erheben.
3.
Es ist unbestritten, dass ein Teil des Grundstückes Nr. 377 mit der Schaffung der Ortsplanung am 19. Dezember 1972 der Zone für öffentliche Bauten und Anlagen zugewiesen wurde. Die regierungsrätliche Genehmigung dieser Planungsmassnahme erfolgte am 18. Juni 1973. Daraufhin verlangte die Gemeinde Trimmis am 15. Februar 1983 gestützt auf
Art. 27 Abs. 3 KRG
durch schriftliche Bekanntgabe ihres Angebotes die Übertragung des Eigentums dieses Parzellenteils an sie.
Das Verwaltungsgericht hat angenommen, der Einbezug eines Teils von Parzelle Nr. 377 in die Zone für öffentliche Bauten und Anlagen habe eine materielle Enteignung bewirkt. Es ist somit davon ausgegangen, dass der der Zone für öffentliche Bauten und Anlagen zugewiesene Teil des Grundstückes Nr. 377 im Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Planung, d.h. am 18. Juni 1973, Bauland im enteignungsrechtlichen Sinn gewesen ist.
Dieser Annahme widerspricht die Gemeinde ausdrücklich, und das Bundesamt für Raumplanung fordert das Bundesgericht auf, den angefochtenen Entscheid auch in diesem Punkte zu überprüfen. Streitgegenstand sei zwar nicht die Entschädigungspflicht, sondern die Entschädigungshöhe. Die Frage der Entschädigungspflicht sei aber trotzdem zu prüfen. Denn wenn keine materielle Enteignung gegeben sei, sei die Forderung der Beschwerdeführerin nach einer Erhöhung der Entschädigungssumme von vornherein unbegründet.
Im verwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren gilt der Grundsatz der Rechtsanwendung von Amtes wegen. Das Bundesgericht darf zwar weder zugunsten noch zuungunsten der Parteien über deren Begehren hinausgehen. An die Begründung der Begehren ist es aber nicht gebunden (
Art. 114 Abs. 1 OG
). Angesichts dieser Rechtslage erscheint es in der Tat geboten, zunächst zu
BGE 114 Ib 112 S. 118
prüfen, ob der zur Diskussion stehende Teil der Parzelle Nr. 377 am 18. Juni 1973 Bauland im enteignungsrechtlichen Sinn darstellte. Sollte der Baulandcharakter verneint werden, so würde es gleichwohl bei einer Entschädigung von Fr. 70.-- aus materieller Enteignung bleiben, weil die Gemeinde Trimmis diese vom Verwaltungsgericht zugesprochene Entschädigung nicht mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde angefochten hat (
Art. 114 Abs. 1 OG
,
Art. 34 Abs. 2 RPG
).
4.
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes (die ausführlich in
BGE 112 Ib 389
f. E. 3 wiedergegeben ist) liegt eine materielle Enteignung dann vor, wenn einem Eigentümer der bisherige oder ein voraussehbarer künftiger Gebrauch seiner Sache untersagt oder besonders stark eingeschränkt wird, weil ihm eine wesentliche, aus dem Eigentum fliessende Befugnis entzogen wird. Geht der Eingriff weniger weit, so wird gleichwohl eine materielle Enteignung angenommen, falls ein einziger oder einzelne Grundeigentümer so betroffen werden, dass ihr Opfer gegenüber der Allgemeinheit unzumutbar erschiene und es mit der Rechtsgleichheit nicht vereinbar wäre, wenn hierfür keine Entschädigung geleistet würde. In beiden Fällen ist die Möglichkeit einer zukünftigen besseren Nutzung der Sache indessen nur zu berücksichtigen, wenn im massgebenden Zeitpunkt anzunehmen war, sie lasse sich mit hoher Wahrscheinlichkeit in naher Zukunft verwirklichen. Unter besserer Nutzung eines Grundstückes ist in der Regel die Möglichkeit seiner Überbauung zu verstehen.
5.
Im angefochtenen Entscheid hält die Vorinstanz fest, die Ortsplanung vom 19. Dezember 1972, welche am 18. Juni 1973 genehmigt worden ist, sei die erste Ortsplanung der Gemeinde Trimmis. Vorher habe lediglich ein interimistisches Baugesetz bestanden.
Dieses Baugesetz genügte den Anforderungen des Bundesgesetzes vom 8. Oktober 1971 über den Schutz der Gewässer gegen Verunreinigung (Art. 19/20 GSchG), das am 1. Juli 1972 in Kraft getreten ist, nicht. Die am 18. Juni 1973 genehmigte Zuordnung eines Teils der Parzelle Nr. 377 zur Zone für öffentliche Bauten und Anlagen stellt somit keine Auszonung aus der Bauzone dar. Es handelt sich vielmehr um eine Nichteinzonung in das Baugebiet, im Sinne von mit privaten Bauten überbaubarem Gebiet (vgl.
BGE 112 Ib 400
E. 5b;
BGE 112 Ib 110
ff. E. 3).
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes kann auch die Nichteinzonung eines Grundstückes den Eigentümer enteignungsähnlich
BGE 114 Ib 112 S. 119
treffen. Das ist etwa dann der Fall, wenn es um baureifes oder grob erschlossenes Land geht, das von einem gewässerschutzrechtskonformen Kanalisationsprojekt erfasst wird, und der Eigentümer für dessen Erschliessung und Überbauung schon erhebliche Kosten aufgewendet hat. In einem solchen Fall können Umstände vorliegen, welche die Einzonung des Landes geboten hätten (
BGE 112 Ib 401
E. 6 mit Hinweisen).
Die landwirtschaftlich genutzte Parzelle Nr. 377 der Beschwerdeführerin grenzt im Norden an die Obergass (Kantonsstrasse) und steigt von da gegen Süden hin an. Nördlich der Kantonsstrasse besitzt die Beschwerdeführerin eine weitere überbaute Liegenschaft. Im Osten grenzt die Parzelle an Land der reformierten Kirchgemeinde, auf welchem im unteren Teil das Pfarrhaus steht. Weiter oben befindet sich die Kirche und nach oben anschliessend der Friedhof. Auf der Höhe der südlichen Friedhofsmauer durchquert ein Mäuerchen das Grundstück der Beschwerdeführerin von Osten nach Westen. Von da an steigt die Parzelle weiter nach Süden an. In der südwestlichen Ecke steht ein grosser, neu gebauter Stall. Im unteren Teil der Parzelle gegen die Obergass hin, stehen ca. in der Mitte des Grundstückes eine landwirtschaftlich genutzte Scheune, in der nordwestlichen Ecke ein Wohnhaus und etwas weiter oben ein Stall. Der nordwestliche Teil der Parzelle Nr. 377 liegt gemäss dem Zonenplan aus dem Jahre 1973 in der Dorfzone, der nordöstliche Teil in der Zone für öffentliche Bauten und Anlagen. Die Grenze verläuft senkrecht zur Obergass, mitten durch die Scheune. Der südliche Teil der Parzelle, d.h. ab dem erwähnten Mäuerchen, liegt in der Wohnzone W2. Der der Zone für öffentliche Bauten und Anlagen zugeschiedene Teil von Parzelle Nr. 377 ist somit rundherum von Bauzonenland umgeben. Was die Erschliessung betrifft, so kann der zur Diskussion stehende Teil der Parzelle Nr. 377 in bezug auf Wasser, Kanalisation und Elektrizität als groberschlossen betrachtet werden. Umstritten ist die Frage, ob das Land auch strassenmässig erschlossen sei. Aufgrund der am Augenschein gemachten Feststellungen ist dies ohne weiteres zu bejahen. Eine Zufahrt, zum Beispiel verbunden mit einer grösseren Einstellgarage, ist von der im Norden gelegenen Kantonsstrasse aus ohne weiteres möglich. Es dürften zwar grössere Terrainveränderungen vorzunehmen sein, doch bilden diese kein Hindernis zur Annahme, das Land sei hinreichend erschlossen. Auf weitere Möglichkeiten der strassenmässigen Erschliessung ist bei dieser Sachlage nicht einzugehen.
BGE 114 Ib 112 S. 120
Wie sich am Augenschein ergeben hat, liegt der zur Diskussion stehende Teil von Parzelle Nr. 377 eindeutig innerhalb des engeren Baugebietes. Wäre der der Zone für öffentliche Bauten und Anlagen zugeschiedene Grundstücksteil nicht dieser Zone zugeteilt worden, so wäre er offensichtlich in eine Bauzone einbezogen worden, wurde doch sogar der südlich der erwähnten kleinen Mauer gelegene Teil derselben Parzelle der Wohnzone W2 zugewiesen. Eine Zuteilung zu einer Nichtbauzone kann ausgeschlossen werden und wäre angesichts der Planungs- und Erschliessungssituation auch sachlich nicht vertretbar gewesen. Die Gemeinde erwägt denn auch bezeichnenderweise heute lediglich die Auszonung des südlich des schon mehrfach erwähnten Mäuerchen gelegenen Landes. Der Nichteinbezug des in unmittelbarer Nähe des Dorfkerns gelegenen Landes, welches in der Zone für öffentliche Bauten und Anlagen liegt, in eine Bauzone bewirkte angesichts der vorliegenden Umstände am 18. Juni 1973 für die Beschwerdeführerin eine materielle Enteignung.
6.
a) Die Beschwerdeführerin hält die Voraussetzungen für eine materielle Enteignung auch in bezug auf den der Dorfzone zugeschiedenen Teil von Parzelle Nr. 377 für erfüllt, da diese zur Hälfte nicht mehr überbaut werden könne. Abgesehen davon könne die Reduktion der Ausnützungsziffer eine materielle Enteignung ergeben.
Dieser Anspruch fällt nach Auffassung des Verwaltungsgerichtes nicht unter die für Zone für öffentliche Bauten und Anlagen geschaffene Spezialregelung von
Art. 27 Abs. 3 KRG
. Deshalb sei für seine Geltendmachung die Vorschrift von Art. 18 Abs. 2 der Vollzugsverordnung zum Enteignungsgesetz des Kantons Graubünden vom 29. Mai 1958 in der Fassung vom 2. Juni 1978 (VVzEntG) anwendbar. Danach verjährt der Anspruch aus materieller Enteignung in fünf Jahren seit Inkrafttreten der Eigentumsbeschränkung, sofern keine besondere gesetzliche Regelung besteht. Bei dieser Frist handelt es sich nach Auffassung des Verwaltungsgerichtes um eine Verwirkungsfrist, die von Amtes wegen zu berücksichtigen sei. Der Anspruch gehe nämlich als solcher unter, weil die Geltendmachung des Rechtes befristet werde. Da der angebliche Anspruch am 18. Juni 1973 entstanden wäre und er erstmals mit der Vernehmlassung der Beschwerdeführerin vom 23. September 1985 geltend gemacht worden sei, sei die gesetzliche Frist längst verstrichen und der Anspruch damit verwirkt. Die fünfjährige Frist gemäss Art. 18 VVzEntG gelte zwar erst seit dem
BGE 114 Ib 112 S. 121
1. Januar 1979. Sie habe daher auch erst ab diesem Zeitpunkt zu laufen beginnen können. Da der Anspruch aber erst 1985 geltend gemacht worden sei, sei sie jedoch offensichtlich abgelaufen. Die Beschwerdeführerin hält diese Betrachtungsweise des Verwaltungsgerichtes für willkürlich. Ob dem so ist oder ob die Auslegung von Art. 18 Abs. 2 VVzEntG durch das Verwaltungsgericht verfassungsrechtlich noch haltbar ist, kann, wie die nachfolgenden Ausführungen zeigen, im vorliegenden Fall offen bleiben. Der Wortlaut der erwähnten Bestimmung lässt jedenfalls die Rüge der Beschwerdeführerin als verständlich erscheinen.
b) Das Verwaltungsgericht führt im vorliegenden Zusammenhang weiter aus, die Aufteilung der Parzelle Nr. 377 in einen der Zone für öffentliche Bauten und Anlagen und einen der Dorfzone zugewiesenen Teil bewirke für das in der Bauzone verbliebene Land jedenfalls keine materielle Enteignung. Auf dieser Restparzelle bestünden nämlich aufgrund von Form und Ausdehnung noch erhebliche Überbauungsmöglichkeiten. Insbesondere vermöge eine Ausnützungsziffer von 0,6 statt 0,8 keine materielle Enteignung zu bewirken. Diese Auffassung erscheint zutreffend.
Für die Abgrenzung zwischen entschädigungslosen und entschädigungspflichtigen Eigentumsbeschränkungen ist nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung darauf abzustellen, ob auf der betroffenen Parzelle eine bestimmungsgemässe, wirtschaftlich gute Nutzung weiterhin möglich ist (
BGE 111 Ib 264
mit Hinweisen). So erblickte das Bundesgericht weder in der Auszonung eines Viertels einer Parzelle noch darin, dass ein Grundstück zu einem Drittel mit einem Bauverbot belegt wurde, einen enteignungsähnlichen Tatbestand, da es zum Schluss gelangte, die Eigentümer könnten ihre Parzellen auch nach dem Eingriff in angemessener, wirtschaftlich sinnvollerweise nutzen (
BGE 111 Ib 264
;
112 Ib 268
E. 4). Das trifft nun für den der Dorfzone zugeschiedenen Teil von Parzelle Nr. 377, wie das Verwaltungsgericht zutreffend annimmt, zu. Die von der Beschwerdeführerin erwähnten Einschränkungen in den Überbauungsmöglichkeiten schliessen eine angemessene und wirtschaftlich durchaus noch sinnvolle Nutzung des Dorfzonenlandes keineswegs aus. Das geht nicht zuletzt aus den von der Beschwerdeführerin dem Verwaltungsgericht am 15. Dezember 1986 selbst eingereichten Akten hervor. Dass das Verwaltungsgericht zusätzlich zum Augenschein nicht noch eine Expertise für die Abklärung der Überbauungsmöglichkeiten machen liess,
BGE 114 Ib 112 S. 122
bedeutet deshalb keineswegs eine Verweigerung des rechtlichen Gehörs.
7.
a) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes findet beim Einbezug von Bauland im enteignungsrechtlichen Sinn in eine Zone für öffentliche Bauten und Anlagen in jenem Zeitpunkt, in dem die Eigentumsbeschränkung formell in Rechtskraft erwächst, eine materielle Enteignung statt (
BGE 112 Ib 390
E. 3 mit Hinweisen). In diesem Moment verliert das derart belastete Land seinen vormaligen Wert als Bauland; es hat nur noch einen Restwert, der bei nicht überbauten Grundstücken in der Regel dem landwirtschaftlichen Wert entspricht. Da es seit Inkrafttreten der Eigentumsbeschränkung kein Bauland mehr ist, macht das Grundstück keine Baulandpreissteigerungen mehr mit. Für die Berechnung der Entschädigung aus materieller Enteignung ist somit vom Landwert in jenem Zeitpunkt auszugehen, in dem die Eigentumsbeschränkung in Kraft getreten ist. Der Restwert, der dem Grundstück nach Inkrafttreten der Eigentumsbeschränkung verbleibt, macht die Preissteigerung mit, die sich von diesem Zeitpunkt an für landwirtschaftlichen Boden ergibt. Wird das Heimschlagsrecht erst Jahre nach der materiellen Enteignung ausgeübt, so hat die Entschädigung für die formelle Enteignung dem Wert im Zeitpunkt des Heimschlags zu entsprechen. Nur wenn zwischen dem Zeitpunkt der materiellen und jenem der formellen Enteignung keine nennenswerte Preisentwicklung stattgefunden hat, kann davon abgesehen werden, die Schätzungstage auseinanderzuhalten (BGE vom 17. Dezember 1986 i.S. Erbengemeinschaft Benoit c. Einwohnergemeinde Biel, publiziert in: Pr 76/1987 Nr. 182 E. 10b). Es besteht kein Anlass, von dieser Rechtsprechung abzuweichen.
b) Das Verwaltungsgericht ist für die Berechnung der Entschädigung aus materieller Enteignung in zutreffender Weise vom Baulandwert im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Eigentumsbeschränkung, also vom Wert am 18. Juni 1973 ausgegangen. Es hat dabei zu Recht die statistische Methode angewendet und erklärt, da es in Trimmis vor dem Erlass der Ortsplanung noch keine Zonenordnung gegeben habe, sei die Ausnützungsmöglichkeit im Prinzip bei allen Grundstücken gleich gewesen. Der Vergleich mit Grundstücken, die heute nicht in der Dorfzone, sondern in einer Wohnzone mit geringer Ausnützung lägen, sei demnach statthaft, da im massgebenden Zeitpunkt im ganzen Gemeindegebiet noch keine Ausnützungsziffern bestanden hätten. Das Grundstück sei
BGE 114 Ib 112 S. 123
von seiner Qualität und Lage her als durchschnittlich zu beurteilen. Es befinde sich zwar im Zentrum der Gemeinde, habe aber keine besondere Aussichtslage und sei zwischen bestehenden Gebäuden und einer Felswand eingeklemmt. In Trimmis seien für Baugrundstücke in der fraglichen Zeit folgende Preise bezahlt worden: 1971: Fr. 34.-- bis 50.-- /m2; 1972: Fr. 51.-- bis 75.-- /m2; 1973: Fr. 52.-- bis 80.-- /m2. Die Durchschnittspreise lauteten wie folgt: 1971 Fr. 41.-- /m2; 1972 Fr. 57.-- /m2; 1973 Fr. 71.-- /m2 und als Durchschnitt 1971 bis 1973 ergäbe sich Fr. 59.-- /m2. Bei diesen Marktpreisen dürfte darauf abgestellt werden, dass die Parzelle Nr. 377 Mitte 1973 einen Baulandwert von etwa Fr. 70.-- /m2 aufgewiesen habe, wobei dies angesichts der eher durchschnittlichen Qualität an der oberen Grenze liege.
Nach der bis zum Stichtag geltenden interimistischen Bauordnung für die Gemeinde Trimmis waren im Dorfkern und im unmittelbar daran grenzenden Baugebiet Bauten bis zu zwei Vollgeschossen gestattet (Art. 6 dieser Bauordnung). Das Verwaltungsgericht hat die interimistische Bauordnung der Gemeinde Trimmis seiner Entschädigungsbemessung in zutreffender Weise zugrunde gelegt. Die von ihm zugezogenen Vergleichspreise erscheinen im Lichte der damals bestehenden Überbauungsmöglichkeiten auf der Parzelle Nr. 377 durchaus in Ordnung. Überbauungsmöglichkeiten, auf denen die Verkehrswertberechnungen der Beschwerdeführerin beruhen, fehlt jegliche rechtliche Grundlage. Ihre Kritik an der von der Vorinstanz beschriebenen geographischen Lage der Parzelle ist zwar ein Stück weit berechtigt. Wie der Augenschein aber deutlich gezeigt hat, erscheint ein Baulandwert von Fr. 70.-- /m2 für die Parzelle Nr. 377 bezogen auf den 18. Juni 1973 als durchaus angemessen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass für deren Überbauung noch erhebliche Erschliessungsaufwendungen hätten getätigt werden müssen. Mit Ausnahme des Verkaufs einer Liegenschaft vom 21. August 1973 waren bei den übrigen am Augenschein besichtigten Parzellen keine derart grossen Erschliessungsarbeiten nötig, wie sie bei der Parzelle Nr. 377 angefallen wären. Die vom Verwaltungsgericht erhobenen Grundstückspreise ergeben eine genügende Schätzungsgrundlage, so dass die von der Beschwerdeführerin dem vorinstanzlichen Entscheid gegenüber erhobene Kritik in diesem Punkt als unbegründet erscheint. Ist genügend statistisches Material für eine Verkehrswertschätzung vorhanden, besteht kein Anspruch seitens der Beschwerdeführerin
BGE 114 Ib 112 S. 124
auf einen Amtsbericht des Grundbuchamtes Landquart mit weiteren Angaben über Landverkäufe.
c) Schliesslich kritisiert die Beschwerdeführerin die Ermittlung des Restlandwertes durch das Verwaltungsgericht. Sie erklärt, im Jahre 1983 hätten die landwirtschaftlichen Bodenpreise in Trimmis und Umgebung Fr. 20.-- bis 30.-- betragen. Das Verwaltungsgericht führt hiezu lediglich aus, nach den ihm bekannten Erfahrungswerten im Raume Churer Rheintal-Domleschg sei der landwirtschaftliche Restwert im Zeitpunkt der Übernahme auf Fr. 10.-- /m2 festzusetzen. Dabei dürfe auch dieser Preis eher als hoch bezeichnet werden, da sich die Parzelle von ihrer Form und Grösse her nicht besonders gut für die Bewirtschaftung eigne. Diese Ausführungen des Verwaltungsgerichtes sind offensichtlich ungenügend. Auch Restlandwerte sind nach der statistischen Methode zu berechnen. Im angefochtenen Entscheid fehlt jeglicher Hinweis auf Vergleichspreise für landwirtschaftliches Kulturland im Raume Trimmis. Die vom Verwaltungsgericht verwendeten Schätzungskriterien für den Kulturlandwert der Parzelle Nr. 377 sind zu pauschal, zuwenig aussagekräftig und beziehen sich offenbar auf das Jahr 1983. Einer Liste des Grundbuchamtes Landquart vom 30. April 1976 sind Kulturlandpreise ausserhalb der Bauzone für die Zeit von 1969 bis 1973 von Fr. 6.-- bis 17.-- zu entnehmen. Für den Zeitpunkt des Heimschlages sind in den Akten jedoch keinerlei Vergleichspreise enthalten. Unter diesen Umständen liegt eine Verletzung des rechtlichen Gehörs vor, weil das Verwaltungsgericht bloss mit einer pauschalen Verweisung auf ihm bekannte Erfahrungswerte das Begehren der Beschwerdeführerin auf Einholung eines Amtsberichts des Grundbuchamtes Landquart über landwirtschaftliche Bodenkäufe abgetan hat. Aus diesen Gründen ist die Beschwerde in bezug auf die Festlegung des landwirtschaftlichen Restwertes gutzuheissen. Da es nicht Sache des Bundesgerichtes sein kann, die notwendigen Erhebungen hinsichtlich der Kulturlandpreise als erste und einzige Instanz durchzuführen, ist die Sache in diesem Punkt an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Für das weitere Verfahren gilt es zu beachten, dass das Verwaltungsgericht zwar die bundesgerichtliche Rechtsprechung richtig wiedergegeben hat, wonach die volle Entschädigung aus zwei Elementen besteht. Nämlich einerseits aus dem Minderwert wegen materieller Enteignung (= Baulandwert abzüglich landwirtschaftlicher Restwert, beides bemessen nach den Verhältnissen im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Eigentumsbeschränkung), andererseits
BGE 114 Ib 112 S. 125
aus dem landwirtschaftlichen Restwert im Zeitpunkt der Übernahme (= Urteil der Enteignungskommission vom 9. Oktober 1986). Die Vorinstanz unterliess es jedoch trotz Wiedergabe dieser Rechtsprechung, den landwirtschaftlichen Restwert im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Eigentumsbeschränkung (18. Juni 1973) vom Baulandwert von Fr. 70.-- /m2 abzuziehen. Sie hat vielmehr zusätzlich zu diesem Baulandwert den landwirtschaftlichen Restwert im Zeitpunkt der Übernahme aus formeller Enteignung zugesprochen. Dadurch hat das Verwaltungsgericht - abgesehen von einer allfälligen Wertsteigerung - den Wert des landwirtschaftlichen Kulturlandes doppelt vergütet. Die Vorinstanz wird deshalb die geeigneten Vergleichspreise für Kulturland in den Jahren 1973 und 1986 unter Wahrung des rechtlichen Gehörs der Beschwerdeführerin ermitteln müssen. Danach hat sie vom Baulandwert von Fr. 70.-- /m2 den landwirtschaftlichen Restwert von 1973 abzuziehen und denjenigen von 1986 dazuzuzählen. Sollte dies eine Gesamtentschädigung von weniger als die vom Verwaltungsgericht zugesprochenen Fr. 80.-- /m2 ergeben, könnte diese nicht herabgesetzt werden, weil das Bundesgericht weder zugunsten noch zuungunsten der Parteien über deren Begehren hinausgehen kann und die Gemeinde Trimmis die Verpflichtung zur Bezahlung von Fr. 80.-- /m2 akzeptiert hat. Andernfalls hätte das Verwaltungsgericht die Entschädigungssumme entsprechend zu erhöhen. Die Vorinstanz wird ausserdem zu berücksichtigen haben, dass die Entschädigung für materielle Enteignung ab 15. Februar 1983 zu verzinsen ist (
BGE 113 Ib 33
E. 3 mit Hinweisen), diejenige für formelle Enteignung hingegen erst ab Rechtskraft des Urteils (Art. 23 des kantonalen Enteignungsgesetzes). | de |
4f6fa7ec-03fe-4bcb-b858-86501784f82a | Sachverhalt
ab Seite 253
BGE 105 II 253 S. 253
A.-
Karl und Flora Lüthy-Pfund schlossen am 26. Mai 1924 einen Erbvertrag, in dem sie unter anderem sich gegenseitig zu Erben ihrer Hinterlassenschaft einsetzten und bestimmten: "Das Vermögen ist von der Kantonalbank von Bern zu verwalten" (Ziff. 3 und 4). In Ziffer 5 bis 7 des Erbvertrags richtete Karl Lüthy verschiedene Vermächtnisse aus und
BGE 105 II 253 S. 254
regelte die Modalitäten für deren Auszahlung. Ziffer 8 des Erbvertrags hatte folgenden Wortlaut:
"Der Kantonalbank von Bern, ein Legat von Fr. 500'000.-, schreibe:
Fünfhunderttausend Franken.
Die Kantonalbank von Bern wird beauftragt, dieses Legat zur Errichtung einer Stiftung, mit Sitz in Biel, unter dem Namen "Lüthy-Pfund" zu verwenden, unter den nachfolgenden nähern Bestimmungen:
1. Das Stiftungsvermögen beträgt Fr. 500'000.-, schreibe:
Fünfhunderttausend Franken.
2. Zweck der Stiftung:
Der jährliche Zins des Stiftungsvermögens soll dienen:
a) Zur Hälfte zur Bestreitung der Kosten von Ferienaufenthalten armer kränklicher schulpflichtiger Kinder in Biel.
b) Zur Hälfte zur Bestreitung von Auslagen von Ferienreisen des Ober-Gymnasiums und der obern Klassen der Mädchensekundarschule in Biel und zum Ankauf von literarischen Werken, vorwiegend schweizerischer Autoren, für die Schulbibliothek des Gymnasiums in Biel. Zu letzterem Zwecke sollen jährlich mindestens Fr. 2'000.- verwendet werden.
Das Stiftungsvermögen soll unangetastet bleiben.
3. Organisation Die Stiftung wird verwaltet durch einen Stiftungsrat von drei Mitgliedern, die vom Regierungsrat des Kantons Bern zu wählen sind. Der Stiftungsrat erhält das Recht, die nötigen Vorschriften zur Erreichung des Stiftungszweckes zu erlassen.
Dem Stiftungsrat wird ebenfalls die Vorsorge für die zweckdienliche Geldanlage überbunden; dabei ist dem Grundsatze Rechnung zu tragen, dass das Stiftungsvermögen möglichst in mündelsichern Papieren anzulegen ist. Die Wertpapiere sind auf der Kantonalbank von Bern zu deponieren. Das Legat ist innerhalb Jahresfrist nach dem Todestage des überlebenden Ehegatten Lüthy-Pfund in barem Gelde oder in Wertpapieren auszurichten und auf der Kantonalbank von Bern zu deponieren.
Sollte die in diesem Erbvertrag erfolgte Stiftungserrichtung von irgend einer Seite angefochten werden, so verfügt Herr Karl Lüthy-Pfund, dass aus seinem Nachlass innerhalb Jahresfrist nach dem Todestage des überlebenden Ehegatten Lüthy-Pfund der Kantonalbank von Bern in barem Gelde oder in Wertpapieren ein Legat von Fr. 500'000.- (Fünfhunderttausend Franken) auszurichten ist.
Mit dem Vermächtnis wird die Auflage verbunden, dass der jährliche Zins desselben verwendet werden soll:
a) Zur Hälfte zur Bestreitung der Kosten von Ferienaufenthalten armer kränklicher schulpflichtiger Kinder in Biel;
b) Zur Hälfte zu Bestreitung der Auslagen von Ferienreisen des Ober-Gymnasiums und der Obern Klassen der
BGE 105 II 253 S. 255
Mädchensekundarschule in Biel und zum Ankauf von literarischen Werken, vorwiegend schweizerischer Autoren, für die Schulbibliothek des Gymnasiums in Biel.
Zu letzterem Zwecke sollen jährlich mindestens Fr. 2'000.- verwendet werden.
Das Kapital des Vermächtnisses soll unangetastet bleiben."
In Ziffer 9 des Erbvertrags wurde Flora Lüthy ermächtigt, die Vermächtnisse zugunsten ihrer Verwandten durch letztwillige Verfügung aufzuheben oder abzuändern und über die entsprechenden Vermögensteile anderweitig zu verfügen sowie weitere Vermächtnisse auszurichten und nach dem allfälligen Vorversterben ihres Mannes einen oder mehrere Erben einzusetzen, wobei jedoch
"die unter Ziffer fünf und acht dieses Erbvertrages ausgesetzten Legate zu Gunsten der Verwandten des Herrn Karl Lüthy und der Kantonalbank von Bern unter allen Umständen zu Recht bestehen bleiben und aus der Erbschaft ausgerichtet werden sollen." Am 27. Dezember 1932 ordnete Karl Lüthy durch letztwillige Verfügung an:
"Sollte durch die Folgen der Wirtschaftskrisis nach dem Ableben des überlebenden Ehegatten das Vermögen unter Fr. 900'000.- ... fallen, so wird das zu wohltätigen Zwecken bestimmte Legat von Fr. 500'000.- verkleinert bis zur Hälfte des übrigbleibenden Vermögens."
Dieser Anordnung stimmte die Ehefrau schriftlich zu.
Am 5. September 1935 starb Karl Lüthy in Conches GE und am 22. Februar 1972 Flora Lüthy in Zürich. Diese hatte durch Testament vom 10. Mai 1966 Rechtsanwalt Dr. Staehelin zu ihrem Willensvollstrecker eingesetzt. Der Erbvertrag vom 26. Mai 1924 wurde nicht angefochten.
Nach dem Ableben von Flora Lüthy wählte der Regierungsrat des Kantons Bern H. Kern, F. Pellaton und W. Bernhard zu Mitgliedern des Stiftungsrates der Lüthy-Pfund Stiftung (im folgenden Stiftung genannt). Diese errichteten am 3. März 1976 vor dem Notar die Stiftungsurkunde. Die Gründung der Stiftung wurde am 20. März 1976 im Handelsamtsblatt publiziert.
Am 20. April 1972, also rund zwei Monate nach dem Tod Flora Lüthys, teilte der Willensvollstrecker Dr. Staehelin der Kantonalbank von Bern mit, das ihr ausgesetzte Vermächtnis betrage Fr. 500'000.-, abzüglich die von Frau Lüthy bereits bezahlten Erbschaftssteuern von Fr. 77'650.45, mithin also Fr. 422'349.55. Gleichzeitig ersuchte er die Bank, diejenigen Wertschriften, welche den Betrag von Fr. 422'349.55 überstiegen,
BGE 105 II 253 S. 256
an die Privatbank & Verwaltungsgesellschaft Zürich zu überweisen. Mit Schreiben vom 16. Mai 1972 äusserte die Kantonalbank Zweifel daran, ob die Erbschaftssteuern vom Legat abzuziehen seien. In der Folge schloss sie sich jedoch der Betrachtungsweise des Willensvollstreckers an und überwies von den damals noch bei ihr liegenden Vermögenswerten in der Höhe von Fr. 505'953.10 (nach Abzug des um die Erbschaftssteuern reduzierten Vermächtnisses von Fr. 422'349.55) Fr. 83'603.55 an die Privatbank & Verwaltungsgesellschaft Zürich.
Im Jahre 1976 stellte die Kantonalbank von Bern der Stiftung den Betrag von Fr. 422'349.55 zur Verfügung. Diese verlangte jedoch die Auszahlung des vollen Stiftungsvermögens von Fr. 500'000.-. Eine Einigung kam nicht zustande.
B.-
Mit Klageschrift vom 12. Februar 1979 stellte die Stiftung beim Appellationshof des Kantons Bern das Begehren, die Kantonalbank von Bern sei zu verpflichten, ihr Fr. 77'650.45 (Differenz zwischen dem ausgesetzten Stiftungsvermögen von Fr. 500'000.- und dem zur Verfügung gestellten Betrag von Fr. 422'349.55) nebst 5% Zins seit 6. Mai 1977 sowie einen Betrag in richterlich zu bestimmender Höhe mit Zins zu 5% ab 27. Januar 1978 und Fr. 110.- Betreibungskosten zu zahlen.
Der Appellationshof des Kantons Bern hiess die Klage am 21. Juni 1979 im wesentlichen gut und verpflichtete die Beklagte, der Klägerin Fr. 77'650.45 nebst 5% Zins seit 6. Mai 1977 sowie Fr. 110.- Betreibungskosten zu zahlen. Soweit die Klage weiterging, wurde sie abgewiesen.
C.-
Gegen diesen Entscheid erhebt die Beklagte Berufung an das Bundesgericht mit dem Antrag auf Abweisung der Klage. Die Klägerin beantragt die Abweisung der Berufung.
Das Bundesgericht weist die Berufung ab. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
Nach
Art. 81 Abs. 1 ZGB
kann eine Stiftung entweder in der Form einer öffentlichen Urkunde oder durch letztwillige Verfügung errichtet werden. Ob die Stiftung im vorliegenden Fall schon durch den Erbvertrag vom 26. Mai 1924 oder erst nach dem Ableben Flora Lüthy durch die Handlungen des Regierungsrats bzw. der von diesem gewählten Stiftungsratsmitglieder errichtet worden sei, kann offenbleiben.
BGE 105 II 253 S. 257
a) Nimmt man das Letzte an, dann wurde die Stiftung formgemäss errichtet. Etwas anderes behauptet auch die Beklagte nicht.
b) Geht man jedoch davon aus, dass die Stiftung durch den Erbvertrag vom 26. Mai 1924 errichtet worden ist, dann wendet die Beklagte ein, eine so errichtete Stiftung sei nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung (
BGE 96 II 273
ff.) nichtig.
Nach Rechtsprechung und Lehre können Verfügungen von Todes wegen, die in der Form des Erbvertrags getroffen wurden, neben Bestimmungen vertraglicher Art, welche beide Parteien binden, auch letztwillige Verfügungen enthalten, die gemäss
Art. 509 ZGB
frei widerruflich sind (
BGE 101 II 309
/310,
BGE 96 II 281
E. 3 mit Hinweisen). Das von der Beklagten angeführte Präjudiz bezieht sich nun lediglich auf einen Fall, in dem eine Stiftung durch vertragliche (beidseitig bindende) Bestimmungen eines Erbvertrags errichtet worden war. Nur für diesen Fall hielt das Bundesgericht fest,
Art. 81 Abs. 1 ZGB
schliesse die Errichtung einer Stiftung durch einen Erbvertrag im materiellen Sinne, das heisst durch eine den Stifter vertraglich bindende Verfügung von Todes wegen, aus. Den andern Fall, die Gründung einer Stiftung durch eine in einem Erbvertrag enthaltene (frei widerrufliche) letztwillige Verfügung, hatte das Bundesgericht nicht zu entscheiden. In den Erwägungen führte es diesbezüglich immerhin aus,
Art. 81 Abs. 1 ZGB
stehe der Gründung einer Stiftung durch eine in einem Erbvertrag enthaltene letztwillige Verfügung, wie sie vorkommen könne, nicht entgegen (
BGE 96 II 286
/87).
Nun hat aber Karl Lüthy eine Ersatzverfügung getroffen für den Fall, dass "die in diesem Erbvertrag erfolgte Stiftungserrichtung von irgend einer Seite angefochten werden" sollte. Für diesen Fall richtete er der Beklagten aus seinem Nachlass ein Vermächtnis von Fr. 500'000.- aus mit der Auflage, das Kapital des Vermächtnisses unangetastet zu lassen und die Zinsen für bestimmt umschriebene Zwecke zu verwenden. Diese Bestimmung stellt, obschon im Rahmen eines Erbvertrags getroffen, materiell eine letztwillige (frei widerrufliche) Verfügung von Todes wegen dar, durch welche der Beklagten ein Vermächtnis ausgerichtet wurde. Nimmt man an, die Stiftung sei damit bereits errichtet worden, dann war dies gemäss
Art. 81 Abs. 1 ZGB
nach den gemachten Ausführungen zulässig. Nimmt man dagegen an, die Stiftung sei durch diese testamentarische Anordnung
BGE 105 II 253 S. 258
noch nicht errichtet worden, dann wurde sie jedenfalls in der Folge durch den Regierungsrat und die von diesem gewählten Stiftungsräte gegründet. Dass dieser Gründungsakt an einem Formmangel leide, behauptet die Beklagte nicht. Es ist deshalb davon auszugehen, dass die Stiftung auch in diesem Falle rechtsgültig zustande gekommen ist. Die Beklagte hat ihr denn auch in der Folge den Betrag von Fr. 422'349.55 zur Verfügung gestellt und dadurch deren Existenz konkludent anerkannt. Wenn sie heute behauptet, die Stiftung sei nichtig, setzt sie sich mit ihrem eigenen früheren Verhalten in Widerspruch. Wäre die Errichtung der Stiftung tatsächlich nichtig, müsste die Beklagte ja die der Klägerin überwiesene Summe von Fr. 422'349.55 zurückverlangen. Soweit geht sie aber selbst nicht.
c) Zusammenfassend ist also festzuhalten, dass die Stiftung unter jeder rechtlichen Annahme in jedem Fall rechtsgültig errichtet worden ist.
2.
a) Streitig ist zwischen den Parteien, unter welchem Titel und in welcher rechtlichen Stellung die Klägerin aktivlegitimiert sei und Anspruch auf das Stiftungsvermögen erheben könne. Die Vorinstanz ist der Meinung, die Klägerin sei (Nach-)Vermächtnisnehmerin und als solche aktivlegitimiert. Die Beklagte behauptet dagegen, die Klägerin sei weder Vermächtnis- noch Nachvermächtnisnehmerin, sondern lediglich Auflageberechtigte und habe als solche kein Klagerecht.
b) Nach den Ausführungen des angefochtenen Urteils und den Rechtsschriften fallen hinsichtlich der Rechtsstellung der Klägerin im vorliegenden Prozess drei Möglichkeiten in Betracht:
- Der Erblasser setzte die Beklagte als Vor- und die Klägerin als Nachvermächtnisnehmerin ein;
- Der Erblasser setzte die Beklagte als Vermächtnisnehmerin ein und machte ihr die Auflage, den Betrag des Vermächtnisses vollumfänglich der Klägerin zur Verfügung zu stellen; dieser kommt darnach nicht die Stellung einer Nachvermächtnisnehmerin, sondern nur diejenige einer Auflagebegünstigten zu;
- Der Erblasser setzte die Klägerin als Vermächtnisnehmerin ein und wies der Beklagten lediglich die Funktion einer "Durchgangsstation", bzw., die Rolle eines Willensvollstreckers oder Beauftragten zu.
BGE 105 II 253 S. 259
Welche dieser drei Möglichkeiten bei der Errichtung der letztwilligen Anordnungen gewollt war, kann wiederum offenbleiben, weil unter jeder Annahme die Klägerin aktiv- und die Beklagte passivlegitimiert ist.
c) Nimmt man an, die Beklagte sei Vor- und die Klägerin Nachvermächtnisnehmerin der Fr. 500'000.-, ist folgendes zu bemerken: ESCHER vertrat in der 2. Auflage seines Kommentars die Auffassung, nach schweizerischem Recht (und im Gegensatz zum deutschen Recht) richte sich die Forderung eines Nachvermächtnisnehmers grundsätzlich nicht gegen den Vorvermächtnisnehmer, weil er zu diesem in keinem Rechtsverhältnis stehe. Anderseits sei der Beschwerte bzw. der Erbe, der das Vermächtnis dem Vorvermächtnisnehmer bereits ausgehändigt habe, nicht mehr in der Lage, den Anspruch des Nachvermächtnisnehmers zu erfüllen. Die Lösung müsse in der Weise gesucht werden, dass dem Beschwerten oder Erben mit dem Eintritt des Nachvermächtnisfalles ein Rückleistungsanspruch gegen den Vorvermächtnisnehmer entstehe, den er geltend machen könne und müsse, um das Vermächtnis dem Nachvermächtnisnehmer ausliefern zu können (ESCHER, 2. Aufl., N. 8 der Vorbemerkungen zu
Art. 488-493 ZGB
; auch TUOR, N. 16 zu
Art. 488 ZGB
). In der 3. Auflage des Kommentars kam ESCHER jun. jedoch von dieser Lösung ab, die er als umständlich bezeichnete. Er führte aus,
Art. 488 Abs. 1 ZGB
, wonach der Erblasser den Vorerben verpflichten könne, eine Erbschaft einem Nacherben auszuliefern, könne entsprechend auch auf den Vor- und Nachvermächtnisnehmer angewendet werden, was zur Annahme eines direkten Forderungsrechts des Nachvermächtnisnehmers gegenüber dem Vorvermächtnisnehmer führe, wobei sich die Forderung auf die Aushändigung des zugewiesenen Vermögensvorteils richte (ESCHER, 3. Aufl., N. 8 der Vorbemerkungen zu
Art. 488-493 ZGB
). Dieser Auffassung scheint sich PIOTET angeschlossen zu haben, wenn er schreibt, das Nachvermächtnis sei immer vom (Vor-)Vermächtnisnehmer und nicht von einem Erben geschuldet (Schweizerisches Privatrecht, IV/1, S. 141).
Dieser Ansicht ist beizupflichten. Steht danach dem Nachvermächtnisnehmer ein direktes Forderungsrecht gegenüber dem Vorvermächtnisnehmer zu, dann ist im vorliegenden Fall die Klägerin aktiv- und die Beklagte passivlegitimiert.
d) Geht man davon aus, der Beklagten sei ein Vermächtnis
BGE 105 II 253 S. 260
in der Höhe von Fr. 500'000.- ausgerichtet worden mit der Auflage, den fraglichen Betrag der Klägerin zur Verfügung zu stellen, dann erweist sich die Beklagte als auflagebeschwerte Vermächtnisnehmerin und die Klägerin als Begünstigte. Nach
Art. 482 Abs. 1 ZGB
kann die Vollziehung einer Auflage von jedermann verlangt werden, der an ihr ein Interesse hat. Ein solches berechtigtes Interesse hat in erster Linie der Begünstigte. Die Aktivlegitimation der Klägerin ist demnach auch unter diesem Gesichtspunkt gegeben.
Die Beklagte legt grosses Gewicht auf die Unterscheidung zwischen Vermächtnis und Auflage und macht geltend, die Auflage bezwecke zwar eine Begünstigung, gewähre aber dem Begünstigten (im Gegensatz zum Vermächtnisnehmer) kein Forderungsrecht und mache ihn nicht zum Gläubiger. Zur Begründung dieser Ansicht stützt sie sich auf die Lehre (ESCHER, 3. Aufl., N. 19 zu
Art. 482 ZGB
und N. 8 Ziff. 3 zu
Art. 493 ZGB
; PIOTET, Schweizerisches Privatrecht, IV/1, S. 148/49), die sie jedoch unvollständig zitiert. Wohl führt ESCHER am angegebenen Ort aus, dass der aus einer Auflage Begünstigte nicht Gläubiger werde, weil sonst der Unterschied gegenüber dem Vermächtnisnehmer verwischt würde. Er fährt aber unmittelbar anschliessend fort, dagegen könne jedermann, der ein Interesse habe, also insbesondere auch der Begünstige, die Vollziehung der Auflage verlangen. Der Gesetzgeber war in der Tat bestrebt, durch die allgemeine Formulierung von
Art. 482 Abs. 1 ZGB
jedem, der ein berechtigtes Interesse hat, die Erfüllung der ihn begünstigenden Auflage zu sichern. Der Begünstigte erhält dadurch zwar keine obligatorische Forderungsklage, wohl aber einen Anspruch besonderer Art, der auf die Vollziehung des in der Auflage zu Tage getretenen erblasserischen Willens gerichtet ist (
BGE 99 II 379
, 382 oben; ESCHER, 3. Aufl., N. 20, und TUOR, N. 13 ff. zu
Art. 482 ZGB
; PIOTET, a.a.O., S. 149). Die Klägerin ist demnach als aus der Auflage Begünstigte befugt, von der Beklagten als Auflagebelasteten die Vollziehung der Auflage zu verlangen (vgl. dazu mit Bezug auf die Widmung eines Vermögens an eine Stiftung gemäss
Art. 493 ZGB
auch TUOR, N. 9c zu
Art. 493 ZGB
).
Im Falle der vom Belasteten zu vertretenden Nichterfüllung stände der Klägerin gegenüber der Beklagten allerdings kein Schadenersatzanspruch zu (
BGE 99 II 379
, 382 oben). Dies ist im vorliegenden Fall jedoch ohne Bedeutung, weil die Klägerin keine Schadenersatzklage angestrengt hat.
BGE 105 II 253 S. 261
e) Nimmt man schliesslich an, durch die erblasserischen Anordnungen sei die Klägerin als Vermächtnisnehmerin eingesetzt worden, während der Beklagten lediglich die Funktion einer "Durchgangsstation", das heisst die Rolle eines Willensvollstreckers oder Beauftragten zugedacht und sie beauftragt worden sei, die bisher verwalteten Fr. 500'000.- der Klägerin zu übereignen, dann fällt folgendes in Betracht: Aufträge, die erst nach dem Tod des Auftraggebers oder eines Dritten ausgeführt werden können und sollen (mandata post mortem), sind zulässig. Ihr Hauptanwendungsfall ist der Willensvollstreckerauftrag (GAUTSCHI, N. 90a zu
Art. 395 OR
). Derartige Aufträge beurteilen sich deshalb nach den Sonderregeln über den Willensvollstrecker.
Dass im Streit um die Ausrichtung eines Vermächtnisses die Klägerin als Vermächtnisnehmerin aktivlegitimiert ist, kann im Ernste nicht bezweifelt werden. Ihre Klage darf sie nicht nur gegen die Erben, sondern auch gegen den beauftragten Willensvollstrecker als Treuhänder richten, der im Streit darüber, ob gemäss Verfügung von Todes wegen einem Bedachten gewisse Rechte zustehen, neben den Erben passivlegitimiert ist (ESCHER und TUOR,je N. 33 zu
Art. 518 ZGB
; PIOTET, a.a.O., S. 164/65; dazu auch
BGE 94 II 142
).
f) Die Aktivlegitimation der Klägerin und die Passivlegitimation der Beklagten sind demnach im vorliegenden Fall gegeben, gleichgültig welche der erwähnten Rechtsstellungen der Klägerin im Prozess zukommt.
Soweit die Beklagte geltend macht, der Klägerin fehle das Klagerecht, weil die Errichtung einer Stiftung keine erzwingbare Vermögensleistung darstelle, stösst ihre Rüge ins Leere, da mit der vorliegenden Klage nicht die Errichtung einer Stiftung, sondern lediglich die Übertragung der von der Beklagten bisher verwalteten Fr. 500'000.- auf die bereits bestehende Stiftung, das heisst die Auszahlung eines vom Erblasser ausgesetzten Vermächtnisses, bzw., die Erfüllung einer von ihm gemachten Auflage verlangt wird. Soweit die Beklagte die Aktivlegitimation der Klägerin bestreitet, ist ihre Berufung somit unbegründet.
3.
a) Beim Tode Karl Lüthys im Jahre 1935 fiel der gesamte Nachlass (ausgenommen die bereits damals fälligen Vermächtnisse) an die überlebende Ehefrau. Diese erhielt somit auch Eigentum an den Fr. 500'000.-, welche nach ihrem Ableben der Beklagten bzw. der Klägerin auszuzahlen waren. Das
BGE 105 II 253 S. 262
ergibt sich im übrigen auch daraus, dass sie gemäss der Zusatzverfügung ihres Mannes vom 27. Dezember 1932 in einer allfälligen Notlage die Substanz dieser Fr. 500'000.- für sich hätte verwenden dürfen. Wurde Frau Lüthy aber Eigentümerin des ganzen Vermögens (einschliesslich der Fr. 500'000.-), dann war dieses gesamte Vermögen damals Erbschaftssteuerobjekt. Frau Lüthy zahlte für das ganze Vermögen, mithin auch für den Teil von Fr. 500'000.-, Erbschaftssteuern.
Nach dem Ableben Frau Lüthys im Jahre 1972 trat bezüglich der erwähnten Fr. 500'000.- ein zweiter Steuerfall (allerdings mit Steuerbefreiung) ein, der im vorliegenden Prozess jedoch nicht von Bedeutung ist.
b) Zwischen den Parteien ist vor allem streitig, ob die Klägerin Anspruch auf den vollen ihr zugesprochenen Betrag von Fr. 500'000.- habe oder ob von dieser Summe die von der überlebenden Ehefrau bezahlten Erbschaftssteuern abgezogen werden dürfen und der Klägerin demzufolge nur Fr. 422'349.55 auszurichten seien. Bei der Beantwortung dieser Frage ist durch Auslegung der vorliegenden letztwilligen Anordnungen zu erforschen, was die Eheleute Lüthy seinerzeit beabsichtigt hatten. Das Bundesgericht ist dabei nach ständiger Rechtsprechung an die vorinstanzliche Auslegung nicht gebunden, sondern prüft frei, was der Erblasser letztwillig verfügen wollte. Verbindlich sind für das Bundesgericht nur die tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils, aus denen dieser Wille erschlossen wird (
BGE 103 II 92
,
BGE 100 II 446
,
BGE 91 II 99
,
BGE 90 II 480
).
c) Im Erbvertrag vom 26. Mai 1924 wurde der Beklagten "ein Legat von Fr. 500'000.-" ausgesetzt und die Kantonalbank wurde verpflichtet, "dieses Legat" zur Errichtung einer Stiftung zu verwenden. Dabei wurde ausdrücklich bestimmt, dass das Stiftungsvermögen Fr. 500'000.- betrage, die jährlichen Zinsen "des Stiftungsvermögens" in bestimmter Weise zu verwenden seien und "das Stiftungsvermögen" unangetastet bleiben müsse. Auch in seinen testamentarischen Anordnungen verfügte Karl Lüthy, dass der Beklagten "in barem Geld oder in Wertpapieren ein Legat von Fr. 500'000.-" auszurichten sei, dass "der jährliche Zins desselben" zu bestimmten Zwecken verwendet werden solle und dass "das Kapital des Vermächtnisses" unangetastet bleiben müsse.
BGE 105 II 253 S. 263
Aus dem Wortlaut dieser Anordnungen leitete die Vorinstanz ab, die beiden Eheleute seien seinerzeit davon ausgegangen und hätten gewollt, dass der Stiftung nach dem Tod des überlebenden Gatten ein Kapital von Fr. 500'000.- ohne jeden Abzug zur Verfügung gestellt werde (vorbehältlich natürlich einer allfälligen Erbschaftssteuer beim Eintritt des zweiten Steuerfalles, welche durch Parteiabrede nicht ausgeschlossen werden konnte, im Hinblick auf die Bestimmungen der kantonalen Steuergesetze zu Gunsten wohltätiger Institutionen jedoch eher unwahrscheinlich war). Dieser Auslegung ist beizutreten; jedenfalls stellt sie, entgegen der Meinung der Beklagten, keine Verletzung von Bundesrecht dar. Wer für die Errichtung einer gemeinnützigen Stiftung einen bestimmten Betrag aussetzt und diesen noch ausdrücklich als Stiftungsvermögen bezeichnet, von dem ist anzunehmen, sein Wille gehe dahin, dass die Stiftung diesen vollen Betrag, ohne jeden Abzug, auch wirklich erhalten solle.
Wohl enthielten die letztwilligen Anordnungen der Eheleute Lüthy keine Bestimmung über die Tragung der Erbschaftssteuern; dies offenbar deshalb, weil beide Ehegatten und der Notar davon ausgingen, der für die Stiftung vorgesehene Betrag sei steuerfrei. Aus dem Fehlen testamentarischer Anweisungen über die Erbschaftssteuern kann jedoch entgegen der Meinung der Beklagten nicht abgeleitet werden, die beiden Ehegatten hätten seinerzeit der Stiftung nicht Fr. 500'000.-, sondern nur einen Betrag zukommen lassen wollen, der sich um jene Summe reduziere, welche Frau Lüthy für die zunächst auf sie übergegangenen Fr. 500'000.- als Erbschaftssteuer hatte bezahlen müssen.
Die Klägerin hatte daher Anspruch auf die vollen ihr zugesprochenen Fr. 500'000.-. Die Beklagte anderseits war entweder als Vorvermächtnisnehmerin oder als mit einer Auflage beschwerte Vermächtnisnehmerin oder als Beauftragte bzw. Willensvollstreckerin verpflichtet, der Klägerin als Nachvermächtnisnehmerin oder Auflageberechtigten oder Vermächtnisnehmerin diesen Betrag zur Verfügung zu stellen. Da sie dieser Pflicht nicht in vollem Umfange nachgekommen ist, hat die Vorinstanz die Klage zu Recht gutgeheissen. | de |
a452eab8-e277-4947-a495-3754556ac66e | Sachverhalt
ab Seite 188
BGE 143 I 187 S. 188
A.
Mit Verfügung vom 25. Januar 2016 stellte das Regionale Arbeitsvermittlungszentrum Oberwallis den 1984 geborenen A. wegen ungenügender Arbeitsbemühungen während der Arbeitslosigkeit für den Monat November 2015 für fünf Tage in der Anspruchsberechtigung ein. Die dagegen erhobene Einsprache wies die Dienststelle für Industrie, Handel und Arbeit (nachfolgend: DIHA) mit Einspracheentscheid vom 5. April 2016 ab.
B.
Am 6. Mai 2016 reichte A. bei der sozialversicherungsrechtlichen Abteilung des Kantonsgerichts Wallis auf dem elektronischen Weg Beschwerde ein. Mit Entscheid vom 16. Juni 2016 trat das Kantonsgericht auf die Beschwerde nicht ein.
C.
A. führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben, und die Sache sei zur materiellen Prüfung der gegen den Einspracheentscheid erhobenen Beschwerde und neuem Entscheid an das kantonale Gericht zurückzuweisen. Der Sachverhalt sei durch das Bundesgericht dahingehend zu ergänzen, dass seine Eingabe vom 6. Mai 2016 mit einer anerkannten SuisseID-Signatur qualifiziert elektronisch signiert und in PDF-Format auf der anerkannten Zustellplattform IncaMail der Schweizerischen Post zu Handen der Vorinstanz auf deren durch die Bundeskanzlei publizierten Email-Adresse [email protected] eingereicht worden sei, deren Abgabe die Schweizerische Post durch die Abgabequittung vom 6. Mai 2016, 23.52 Uhr, bestätigt habe. Weiter wird um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege ersucht; eventualiter sei auf die Erhebung einer Gerichtsgebühr zu verzichten oder diese zu ermässigen.
Mit Verfügung vom 16. November 2016 wies das Bundesgericht das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege mangels Nachweises der Bedürftigkeit ab.
Die DIHA, das Kantonsgericht und das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) verzichten auf eine Vernehmlassung. Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
2.1
Die Vorinstanz hat festgehalten, der Beschwerdeführer habe seine Beschwerde am 6. Mai 2016 um 23.52 Uhr elektronisch signiert übermittelt. Der 6. Mai 2016 sei zugleich der letzte Tag der Beschwerdefrist gewesen.
BGE 143 I 187 S. 189
2.2
Das kantonale Gericht hat erwogen, die Zulässigkeit elektronischer Eingaben mit anerkannter elektronischer Signatur sei für die Zivil- und Strafangelegenheiten seit dem 1. Januar 2011 in
Art. 130 ZPO
und
Art. 110 Abs. 2 StPO
geregelt. Für das Verwaltungsverfahren (des Bundes) gelte
Art. 21a Abs. 1 VwVG
(SR 172.021; vgl. zudem die Verordnung vom 18. Juni 2010 über die elektronische Übermittlung im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens [VeÜ-VwV; SR 172.021.2]).
2.3
Das kantonale Gericht verwies sodann darauf, dass im Bereich der Arbeitslosenversicherung die Bestimmungen des ATSG anwendbar sind, soweit das AVIG nicht ausdrücklich etwas anderes bestimmt (
Art. 1 Abs. 1 AVIG
[SR 837.0]). Das ATSG enthalte keineBestimmungen über den elektronischen Verkehr. Der Bundesrat könne gemäss
Art. 55 Abs. 1
bis
ATSG
(SR 830.1) vorsehen, dass die Bestimmungen des VwVG über den elektronischen Verkehr mit Behörden auch für das Verfahren nach diesem Gesetz gelten. Von der ihm übertragenen Kompetenz habe er jedoch bisher keinen Gebrauch gemacht. Es liege insoweit kein nicht abschliessend geregelter Verfahrensbereich im Sinne von
Art. 55 Abs. 1 ATSG
vor, weshalb nicht ergänzend auf die Bestimmungen des VwVG zurückgegriffen werden könne. Lediglich in Verfahren vor Bundesbehörden seien im Rahmen von
Art. 42 Abs. 4 BGG
elektronische Eingaben an die Sozialrechtliche Abteilung des Bundesgerichts zugelassen.
2.4
Weiter hat die Vorinstanz festgehalten, dass auf kantonaler Ebene weder das Gesetz vom 11. Februar 2009 über die Rechtspflege (RPflG; SGS 173.1) noch das Verfahrensreglement vom 2. Oktober 2001 des kantonalen Versicherungsgerichtes (SGS 173.400; nachfolgend: RVG) eine entsprechende Regelung enthalten. Während auf dem Gebiet des Zivil- und Strafprozesses
Art. 130 ZPO
und
Art. 110 StPO
direkt anwendbar seien, habe der Grosse Rat für die kantonale Verwaltungsrechtspflege darauf verzichtet, eine dem Bundesrecht entsprechende Regelung zu treffen. Die von Ständerat Pirmin Bischof am 12. Dezember 2012 eingereichte Motion Nr. 12.4139 betreffend die gesamtschweizerische Einführung des in ZPO, StPO, SchKG und Bundesverwaltungsrecht vorgesehenen elektronischen Rechtsverkehrs habe der Bundesrat im Februar 2013 abgelehnt, da die Bundesverfassung dem Bund keine allgemeine Kompetenz einräume, den Kantonen zur Schaffung einer einheitlichen elektronischen Verwaltungslandschaft generelle technische und organisatorische Vorgaben zu machen.
BGE 143 I 187 S. 190
2.5
Gemäss Art. 81 des Gesetzes des Kantons Wallis vom 6. Oktober 1976 über das Verwaltungsverfahren und die Verwaltungsrechtspflege (VVRG; SGS 172.6) finden die Bestimmungen der Zivilprozessordnung subsidiär Anwendung. Laut Vorinstanz kommt eine subsidiäre Anwendung der Bestimmungen der ZPO jedoch nur dort in Frage, wo eine Lücke vorliegt. Bezüglich der elektronischen Eingaben liege kein nicht abschliessend geregelter Verfahrensbereich vor. Nach der Botschaft vom 28. Februar 2001 zur Totalrevision der Bundesrechtspflege (BBl 2001 4202 Ziff. 2.6) bedürfe der elektronische Verkehr im Rahmen von Gerichts- und Verwaltungsbehörden einer spezifischen gesetzlichen Regelung.
2.6
Aufgrund der fehlenden gesetzlichen Grundlage für den elektronischen Schriftenverkehr im Sozialversicherungsverfahren schloss das kantonale Gericht, dass auf die Eingabe des Beschwerdeführers vom 6. Mai 2016 nicht eingetreten werden könne. Auf die geltende Rechtslage sei dieser im Übrigen im Entscheid vom 13. Mai 2014 ausdrücklich hingewiesen worden.
3.
3.1
Der Beschwerdeführer macht unter Hinweis auf die grosse Normendichte zum elektronischen Rechtsverkehr auf Bundesebene geltend, die Vorinstanz habe übersehen, dass der Bundesgesetzgeber diesem nachhaltig zum Durchbruch habe verhelfen wollen. Dies ändert jedoch nichts daran, dass für den elektronischen Verkehr im Rahmen von Gerichts- und Verwaltungsverfahren eine spezifische gesetzliche Regelung notwendig ist (
BGE 142 V 152
E. 2.4 S. 156). Solange eine entsprechende Gesetzesgrundlage fehlt, kommt von vornherein auch
Art. 14 Abs. 2
bis
OR
nicht zum Zuge, welcher die eigenhändige Unterschrift der qualifizierten elektronischen Signatur auf einem qualifizierten Zertifikat einer anerkannten Anbieterin von Zertifizierungsdiensten gleichstellt. Mit seinen Vorbringen vermag der Beschwerdeführer keine Bundesrechtswidrigkeit aufzuzeigen hinsichtlich der Feststellung der Vorinstanz, das geltende Recht enthalte keine spezifische Vorschrift, die den elektronischen Verkehr im Sozialversicherungsverfahren des Kantons Wallis regeln würde. Sein Einwand, entgegen den Erwägungen des angefochtenen Entscheids finde
Art. 55 ATSG
aufgrund der Gesetzessystematik auf das im 2. Abschnitt des 4. Kapitels geregelte Sozialversicherungsverfahren, nicht aber auf das im 3. Abschnitt normierte Rechtspflegeverfahren Anwendung und der Verweis in
Art. 60 Abs. 2 ATSG
sehe einzig die sinngemässe Anwendung der Art. 38 bis 41 ATSG
BGE 143 I 187 S. 191
des 2. Abschnitts vor, ist unbehelflich. Das kantonale Gericht hat unter Hinweis auf UELI KIESER (ATSG-Kommentar, 3. Aufl. 2015, N. 25 zu
Art. 55 ATSG
) einzig festgehalten, dass
Art. 55 Abs. 1
bis
ATSG
zutreffend davon ausgehe, dass im ATSG selber über den elektronischen Verkehr überhaupt keine Regelung enthalten sei. Nach
Art. 61 ATSG
bestimmt sich das Verfahren vor dem kantonalen Versicherungsgericht - unter Vorbehalt von
Art. 1 Abs. 3 VwVG
- nach kantonalem Recht, das bestimmten bundesrechtlich umschriebenen Anforderungen zu genügen hat (
Art. 61 lit. a bis i ATSG
). Das Verfahren muss unter anderem einfach und rasch sein (lit. a). Auch wenn die Zulassung von elektronischen Eingaben im Geschäftsverkehr zwischen Gerichten und den Verfahrensbeteiligten zunehmend einem Bedürfnis entspricht, ist nicht ersichtlich, inwiefern dem Anliegen von
Art. 61 lit. a ATSG
damit besser entsprochen würde als mit Eingaben in Papierform. Eine bundesrechtliche Verpflichtung zur Entgegennahme elektronischer Beschwerden kann darin jedenfalls nicht gesehen werden. Auch aus dem Hinweis der Vorinstanz auf
Art. 42 Abs. 4 BGG
vermag der Beschwerdeführer nichts zu seinen Gunsten abzuleiten. Diese Bestimmung findet auf Beschwerden in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten gegen Entscheide der in
Art. 86 Abs. 1 BGG
erwähnten Vorinstanzen des Bundesgerichts Anwendung.
3.2
Das Fehlen einer Rechtsgrundlage für den elektronischen Rechtsverkehr in den kantonalen Verfahrensordnungen VVRG, RPflG und RVG wird vom Beschwerdeführer ausdrücklich nicht bestritten. Eine Lücke im Gesetz besteht, wenn eine Regelung unvollständig ist, weil sie jede Antwort auf die sich stellende Rechtsfrage schuldig bleibt. Hat der Gesetzgeber eine Rechtsfrage nicht übersehen, sondern stillschweigend - im negativen Sinn - mitentschieden (qualifiziertes Schweigen), bleibt kein Raum für richterliche Lückenfüllung. Eine echte Gesetzeslücke, die vom Gericht zu füllen ist, liegt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts vor, wenn der Gesetzgeber etwas zu regeln unterlassen hat, was er hätte regeln sollen, und dem Gesetz diesbezüglich weder nach seinem Wortlaut noch nach dem durch Auslegung zu ermittelnden Rechtssinn eine Vorschrift entnommen werden kann (zum Ganzen
BGE 141 V 481
E. 3.1 S. 485;
BGE 141 IV 298
E. 1.3.1 S. 299;
BGE 140 III 636
E. 2.1 S. 637). Von einer unechten oder rechtspolitischen Lücke ist demgegenüber die Rede, wenn dem Gesetz zwar eine Antwort, aber keine befriedigende, zu entnehmen ist. Echte Lücken zu füllen, ist dem Gericht aufgegeben, unechte zu korrigieren, ist ihm nach traditioneller Auffassung
BGE 143 I 187 S. 192
grundsätzlich verwehrt (
BGE 141 V 481
E. 3.1 S. 485;
BGE 139 II 404
E. 4.2 S. 417).
Wie das kantonale Gericht richtig festgestellt hat, hat der kantonale Gesetzgeber darauf verzichtet, eine dem Bundesrecht (
Art. 130 ZPO
) entsprechende Regelung einzuführen. Der Bund hat den Kantonen keine Vorgaben zur Schaffung eines einheitlichen elektronischen Rechtsverkehrs gemacht. Lediglich im Rahmen seiner bestehenden Rechtsetzungskompetenz hat er unter anderem im Bereich des Zivilrechts Regelungen erlassen (vgl.
Art. 130 ZPO
). Aus dem generellen Verweis in Art. 81 VVRG auf die subsidiäre Anwendbarkeit der Bestimmungen der ZPO in Verbindung mit Art. 81
bis
Abs. 2 VVRG kann daher nicht geschlossen werden,
Art. 130 ZPO
finde in der Sozialversicherungsgerichtsbarkeit des Kantons Wallis Anwendung.
3.3
Das Erfordernis einer gesetzlichen Regelung für die hier fragliche Form der Beschwerdeeinreichung schliesst die Auslegung aus, erlaubt sei, was das Gesetz nicht ausdrücklich verbiete. Etwas anderes ergibt sich auch nicht mit Blick auf Art. 60 Abs. 1 und Abs. 2 in Verbindung mit
Art. 39 Abs. 1 ATSG
, wonach schriftliche Eingaben spätestens am letzten Tag der Frist unter anderem der Schweizerischen Post zu übergeben sind. Daran ändert nichts, dass die Schweizerische Post auch elektronische Zustellungen vornimmt und die Gerichte des Kantons Wallis über eine von der Bundeskanzlei publizierte Sammel-Email-Adresse verfügen. An diese konnte der Beschwerdeführer nach dem Gesagten nicht rechtsgültig mittels anerkannter SuisseID-Signatur eine Beschwerde in sozialversicherungsrechtlichen Angelegenheiten einreichen. Die vom Beschwerdeführer beantragte Ergänzung des vorinstanzlich festgestellten Sachverhalts dahingehend, dass er seine Beschwerde am 6. Mai 2016 den Anforderungen an eine elektronische Eingabe entsprechend mit einer anerkannten SuisseID-Signatur auf der anerkannten Zustellplattform IncaMail der Schweizerischen Post zu Handen der Vorinstanz auf deren publizierte Mail-Adresse übergeben habe, erübrigt sich somit (
Art. 97 Abs. 1 BGG
). Aufgrund des Hinweises im Entscheid vom 13. Mai 2014 (vgl. auch Urteil 8C_471/2014 vom 16. März 2015) durfte der Beschwerdeführer zudem nicht darauf vertrauen, dass das Kantonsgericht seine Eingabe als zulässig erachten würde. Im Beharren des kantonalen Gerichts auf der vom Gesetz vorgesehenen Form einer Eingabe kann weder überspitzter Formalismus (
Art. 29 Abs. 1 BV
; vgl. dazu
BGE 142 V 152
E. 4.2 S. 158) noch Willkür (
Art. 9 BV
) gesehen werden. Da es dem Beschwerdeführer offengestanden wäre,
BGE 143 I 187 S. 193
sich innerhalb der Beschwerdefrist in Papierform an das kantonale Gericht zu wenden, kann auch von einer Verletzung des rechtlichen Gehörs, des Verhältnismässigkeitsprinzips und des Gebots der rechtsgleichen Behandlung nicht die Rede sein. Die Eingabe des Beschwerdeführers traf erst unmittelbar vor Ablauf der Beschwerdefrist beim kantonalen Gericht ein, weshalb dieses ihn nicht mehr im Rahmen der richterlichen Fürsorgepflicht auf das Schrifterfordernis hinweisen konnte (vgl. auch
Art. 61 lit. b ATSG
). Im Vorgehen der Vorinstanz liegt keine Verletzung der Rechtsweggarantie nach
Art. 29a BV
begründet. Soweit die Verletzungen von verfassungsmässigen Verboten überhaupt genügend konkretisiert werden (
Art. 106 Abs. 2 BGG
), erweisen sich die Rügen als unbehelflich.
3.4
Zusammenfassend hat das kantonale Gericht kein Bundesrecht verletzt, wenn es auf die Eingabe nicht eingetreten ist. Die Beschwerde ist daher abzuweisen. (...) | de |
c6361082-bcde-43ae-b3ec-4bc14e6c110e | Sachverhalt
ab Seite 137
BGE 105 IV 136 S. 137
A.-
Aufgrund einer polizeilichen Radarmessung wurde festgestellt, dass Maurus Renz am 17. April 1978 im Dorf Baldegg LU mit seinem Personenwagen die dort zulässige Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h überschritt. Da er nach der Messstelle nach rechts abbog, um auf seinem gewohnten Weg nach Geroldswil zu gelangen, konnte er von der etwas weiter Richtung Gelfingen wartenden Polizei weder angehalten noch zur Bezahlung der Ordnungsbusse aufgefordert werden.
B.-
Renz wurde darauf im ordentlichen Verfahren durch Strafverfügung des Amtsstatthalters zu einer Busse von Fr. 40.- verurteilt und mit Untersuchungskosten von Fr. 30.- belastet. Er anerkannte und bezahlte die Busse, erhob aber gegen die Kostenbelastung Einsprache.
Der Amtsstatthalter hielt am angefochtenen Kostenentscheid fest und auferlegte Renz im Einspracheentscheid die inzwischen auf Fr. 75.- angestiegenen Kosten.
C.-
Auf erneute Einsprache hob das Amtsgericht Hochdorf den Kostenentscheid des Amtsstatthalters auf und erklärte, der Fall sei mit der erfolgten Bezahlung der Busse erledigt; der Angeklagte habe Anspruch auf Durchführung
BGE 105 IV 136 S. 138
des Ordnungsbussenverfahrens gehabt und dürfe daher nicht mit den Kosten eines zu Unrecht eingeleiteten ordentlichen Verfahrens belastet werden.
Die hiegegen eingereichte Kassationsbeschwerde der Staatsanwaltschaft wurde vom Obergericht des Kantons Luzern am 14. Februar 1979 abgewiesen.
D.-
Die Staatsanwaltschaft ficht das Urteil des Obergerichtes mit Nichtigkeitsbeschwerde an. Sie beantragt die Aufhebung des angefochtenen Urteils und die Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zu neuer Beurteilung unter Kostenbelastung des Angeklagten. Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Die Staatsanwaltschaft ist der Auffassung, es bestehe kein Anspruch auf Anwendung des Ordnungsbussenverfahrens; dieses habe fakultativen, nicht obligatorischen Charakter. Dafür spreche in erster Linie
Art. 1 Abs. 1 des Bundesgesetzes über Ordnungsbussen im Strassenverkehr vom 24. Juni 1970 (OBG; SR 741.03)
, der folgenden Wortlaut hat:
"Übertretungen der Strassenverkehrsvorschriften des Bundes können nach
diesem Gesetz in einem vereinfachten Verfahren mit Ordnungsbussen bis zu
100 Franken geahndet werden (Ordnungsbussenverfahren)."
Diese mit der Überschrift "Grundsatz" versehene Bestimmung hat nicht den Sinn einer Kann-Vorschrift, welche die Anwendung des Gesetzes in das Ermessen der rechtsanwendenden Instanzen stellt. Sie will vielmehr Ziel und Tragweite des Gesetzes umschreiben. Danach wird der Anwendungsbereich des besonderen Ordnungsbussenverfahrens einerseits auf Übertretungen der Strassenverkehrsvorschriften des Bundes beschränkt und anderseits durch die maximale Bussenhöhe von Fr. 100.- abgegrenzt. Der Begriff "können" bedeutet nichts anderes, als dass die mit dem Erlass der notwendigen Ausführungsvorschriften betrauten Behörden (
Art. 3 OBG
) ermächtigt werden, im vorgesehenen Rahmen die für das Ordnungsbussenverfahren geeigneten Übertretungen auszuwählen. Hingegen ist aus dieser Wendung nicht abzuleiten, es sei Sache der Polizeiorgane, im konkreten Einzelfall zu bestimmen, ob das Ordnungsbussenverfahren zum Zuge komme oder nicht.
BGE 105 IV 136 S. 139
2.
Gemäss
Art. 3 Abs. 1 OBG
stellt der Bundesrat nach Anhören der Kantone "die Liste der Übertretungen auf, die durch Ordnungsbussen zu ahnden sind, und bestimmt den Bussenbetrag".
Diese Vorschrift lässt keinen Zweifel darüber offen, dass der Bundesrat im Rahmen des Grundsatzes von
Art. 1 Abs. 1 OBG
eine abschliessende, obligatorisch anzuwendende Regelung zu treffen hat. Dies stimmt auch überein mit den
Art. 6-10 OBG
, welche für die kantonalen Polizeiorgane verbindlich festlegen, wie in den durch Ordnungsbussen zu erledigenden Fällen vorzugehen ist. Art. 10 regelt sodann die Voraussetzungen, unter denen auf das Ordnungsbussenverfahren verzichtet werden kann: Einerseits kann der Täter die vereinfachte Erledigung ablehnen und die ordentliche Beurteilung verlangen, anderseits haben die Polizeiorgane die Möglichkeit, bei mehrfacher Wiederholung der Widerhandlung das ordentliche Verfahren einzuleiten, wenn eine strengere Strafe in Betracht fällt. Auch aus dieser Regelung muss der Umkehrschluss gezogen werden, dass in andern Fällen die Polizei nicht nach ihrem Ermessen eine Verzeigung vornehmen darf, sondern dass die vom Bundesrat bezeichneten Übertretungen grundsätzlich im Ordnungsbussenverfahren zu erledigen sind.
3.
Ebensowenig kann die Beschwerdeführerin ihre Auffassung auf
Art. 11 Abs. 1 OBG
stützen, der vorsieht, dass eine Ordnungsbusse auch im ordentlichen Verfahren ausgefällt werden kann. Diese Bestimmung überlässt es nicht dem Ermessen der Polizeiorgane, von der Durchführung des Ordnungsbussenverfahrens einfach abzusehen und durch Verzeigung die Bestrafung des Täters im ordentlichen Verfahren zu veranlassen, ohne dass eine der dazu erforderlichen gesetzlichen Voraussetzungen gegeben ist. Nur im Hinblick auf die vorgesehenen Ausnahmefälle, in denen eine grundsätzlich dem Ordnungsbussenrecht unterstehende Übertretung im ordentlichen Verfahren zu ahnden ist (Art. 7 Abs. 2, 10 Abs. 2 und 3 OBG,
Art. 2 lit. a und b OBV
), wird in
Art. 11 Abs. 1 OBG
die Möglichkeit vorbehalten, allenfalls auch im ordentlichen Verfahren das ordentliche Strafrecht nicht anzuwenden und aufgrund des Ordnungsbussenrechts bloss eine (kostenfreie) Ordnungsbusse auszusprechen. Eine darüber hinausgehende Bedeutung hat die Bestimmung nicht.
BGE 105 IV 136 S. 140
4.
Im vorliegenden Fall war es der Polizei nicht möglich, den Beschwerdegegner nach der Radarmessung anzuhalten und an Ort und Stelle auf seine Verfehlung aufmerksam zu machen.
a)
Art. 2 lit. b der Verordnung über Ordnungsbussen im Strassenverkehr vom 22. März 1972 (OBV)
bestimmt, dass die Polizeiorgane von einer Ordnungsbusse abzusehen und Anzeige zu erstatten haben, wenn dem Täter, der eine Übertretung im rollenden Verkehr begangen hat, der Sachverhalt nicht an Ort und Stelle vorgehalten werden kann. Diese Vorschrift käme hier zur Anwendung, wenn das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement keine abweichenden Weisungen über Geschwindigkeitskontrollen im Strassenverkehr erlassen hätte, die in
Art. 2 lit. b OBV
ausdrücklich vorbehalten werden.
b) In Ziff. 7 der Weisungen des EJPD vom 11. September 1972 über Geschwindigkeitskontrollen im Strassenverkehr wird für Fälle, in denen ein sofortiger Vorhalt der Verfehlung nicht möglich ist, angeordnet, dass dem Halter des Fahrzeugs möglichst rasch, spätestens innert zehn Tagen, die Ahndung gemäss Ordnungsbussengesetz bzw. die Verzeigung in Aussicht zu stellen ist. Diese Regel kann, wie im angefochtenen Entscheid zutreffend ausgeführt wird, nur dahin verstanden werden, dass dort, wo nach der Schwere der Übertretung das Ordnungsbussengesetz zur Anwendung kommen kann, nach diesem Gesetz vorzugehen ist, während in den übrigen Fällen (z.B. Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit um mehr als 15 km/h, mehrfache Wiederholung) die Verzeigung Platz greifen muss. Den Polizeiorganen wird damit nicht die freie Wahl zwischen der Anwendung des besonderen Ordnungsbussenrechts und der ordentlichen Verzeigung eingeräumt; sie sind im Gegenteil auch dann, wenn dem Fehlbaren die Übertretung nicht an Ort und Stelle vorgehalten werden kann, verpflichtet, die Bestimmungen des OBG anzuwenden, wenn die Ausfällung einer Ordnungsbusse in Betracht fällt. Dass Geschwindigkeitsübertretungen (bis 15 km/h) grundsätzlich gemäss OBG zu ahnden sind, selbst wenn ein Vorhalt an Ort und Stelle nicht möglich ist, ergibt sich auch klar aus den Weisungen des EJPD über Geschwindigkeitskontrollen ohne Anhalteposten vom 11. Dezember 1973 (Ziff. 1.5 und 1.6).
BGE 105 IV 136 S. 141
c) Die vom EJPD in den Weisungen niedergelegten Richtlinien stimmen mit der ratio legis des OBG überein, das eine einheitliche bundesrechtliche Ordnung für die vereinfachte Verfolgung und Bestrafung leichter Verkehrswiderhandlungen geschaffen hat. Wie in der Botschaft zum OBG ausgeführt wurde, steht es nicht im Belieben der Kantone, darüber zu entscheiden, ob sie ihr ordentliches oder das Ordnungsbussenverfahren zur Anwendung bringen wollen. Dieselben leichten Übertretungen müssen im ganzen Land auf gleiche Weise mit den gleichen Ordnungsbussen geahndet werden (BBl 1969, S. 1092).
5.
Ist somit davon auszugehen, dass die vom Beschwerdegegner begangene Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von Bundesrechts wegen mit einer Ordnungsbusse von Fr. 40.- zu ahnden ist und dass im Ordnungsbussenverfahren gemäss
Art. 6 Abs. 1 OBG
und
Art. 6 OBV
keine Kosten erhoben werden dürfen, so erweist sich das angefochtene Urteil auch inbezug auf den Kostenentscheid als bundesrechtskonform. | de |
e803df87-e6b8-412d-8d60-c96010675c9e | Erwägungen
ab Seite 221
BGE 135 IV 221 S. 221
Aus den Erwägungen:
2.
2.1
Umstritten ist, ob gestützt auf Art. 6 des Ordnungsbussengesetzes vom 24. Juni 1970 (OBG; SR 741.03) das ordentliche
BGE 135 IV 221 S. 222
Verfahren einzuleiten ist, wenn der Gebüsste innert Zahlungsfrist in Aussicht stellt, die Busse ratenweise zu tilgen.
2.2
Art. 6 OBG
steht unter der Marginalie "Bezahlung". Nach dessen Abs. 3 erhält der Täter, wenn er die Busse nicht sofort bezahlt, ein Bedenkfristformular. Zahlt er innert Frist, so wird das Formular vernichtet. Andernfalls leitet die Polizei das ordentliche Verfahren ein. Der Wortlaut der genannten Bestimmung hält somit fest, dass das ordentliche Verfahren einzuleiten ist, wenn der Täter weder sofort noch innert (dreissigtägiger) Frist bezahlt. Die Möglichkeit von Fristerstreckungen oder Ratenzahlungen sieht der Gesetzeswortlaut nicht vor. Dementsprechend wird der Gebüsste gemäss lit. B Ziff. 1 Anhang 2 der Ordnungsbussenverordnung vom 4. März 1996 (OBV; SR 741.031) auf die Folgen der Nichtbezahlung hingewiesen.
Gemäss den Ausführungen in der Botschaft erachtet der Bundesrat die Einräumung einer Zahlungsfrist, trotz der Einfachheit und Schnelligkeit des Ordnungsbussenverfahrens, als sinnvoll, um den Verkehrssünder, der den erforderlichen Geldbetrag gerade nicht auf sich trägt, nicht schlechter zu stellen als denjenigen, der die Busse sofort begleichen kann (Botschaft vom 14. Mai 1969 zum Entwurf eines Bundesgesetzes über Ordnungsbussen im Strassenverkehr, BBl 1969 I 1097 Ziff. 6). Die Einführung einer Zahlungsfrist erfolgte demnach nicht, um Zahlungserleichterungen zu gewähren, sondern vielmehr aus Praktikabilitätsgründen.
Art. 6 OBG
(in der seit 1. September 1996 gültigen Fassung) sieht neu eine Zahlungsfrist von 30 Tagen (vorher 10 Tage) vor. Damit wird die Tatsache berücksichtigt, dass die Rechnungen oftmals nur einmal im Monat beglichen werden und dass der Maximalbetrag der Busse von Fr. 100.- auf Fr. 300.- erhöht wurde (Botschaft vom 8. September 1993 über die Änderung des Bundesgesetzes über Ordnungsbussen im Strassenverkehr, BBl 1993 III 774 Ziff. 2). Längere Zahlungsfristen oder die Möglichkeit von Ratenzahlungen werden in der Botschaft nicht erwähnt. Dass die Erhöhung des Maximalbetrages zu einer längeren Zahlungsfrist geführt hat, ist zumindest ein Hinweis dafür, dass der Gesetzgeber Ratenzahlungen im Ordnungsbussenverfahren nicht vorsehen wollte.
Die Möglichkeit, eine Ordnungsbusse innerhalb einer längeren als 30-tägigen Frist oder in Raten zu begleichen, findet auch im Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuchs keine Stütze. Gemäss
Art. 35
BGE 135 IV 221 S. 223
Abs. 1 StGB
bestimmt die Vollzugsbehörde dem zu einer Geldstrafe Verurteilten eine Zahlungsfrist von einem bis zu zwölf Monaten. Sie kann Ratenzahlung anordnen und auf Gesuch die Fristen verlängern. Diese Bestimmung im Abschnitt "Geldstrafe, gemeinnützige Arbeit, Freiheitsstrafe" gilt sinngemäss auch für die im Strafgesetzbuch geregelten Übertretungsbussen kraft ausdrücklichen Verweises in
Art. 106 Abs. 5 StGB
. Sie gilt ebenso für die in andern Bundesgesetzen geregelten Übertretungen, sofern diese Bundesgesetze keine abweichenden Bestimmungen enthalten (Grundsatz der Subsidiarität; vgl.
Art. 333 Abs. 1 StGB
). Auf das Ordnungsbussenverfahren findet
Art. 35 Abs. 1 StGB
hingegen keine Anwendung.
Art. 6 OBG
, der explizit einzig eine Zahlungsfrist von 30 Tagen vorsieht, geht als speziellere Bestimmung vor. Das Ordnungsbussengesetz dispensiert von der Anwendung der Strafzumessungsgrundsätze des Strafgesetzbuchs (vgl.
Art. 1 Abs. 3 OBG
, wonach Vorleben und persönliche Verhältnisse des Täters unberücksichtigt bleiben) und regelt darüber hinaus auch wenige rein verfahrensrechtliche Fragen der vereinfachten Ahndung von Übertretungen der Strassenverkehrsvorschriften. Beim Ordnungsbussenverfahren handelt es sich somit um ein formalisiertes und rasches Verfahren. Als schematisiertes Verfahren sieht es für die gleichen Verstösse für alle schuldhaft handelnden Täter die gleichen Bussen und Vollzugsmodalitäten vor. Die in diesem Sinne fehlende Differenzierung ist dem Ordnungsbussenverfahren immanent und zeichnet es gegenüber dem Geldsummensystem und dem Tagessatzsystem aus.
Zweck von
Art. 6 OBG
ist es demnach, innert kurzer Frist eine vollständige Tilgung der Busse sicherzustellen und somit eine rasche und sinnvolle Handhabung der Übertretungen im Ordnungsbussenverfahren zu ermöglichen. Damit wird im Bereich der Massendelinquenz auf den Strassen der Verwaltungsaufwand gering gehalten und ein ordentliches Justizverfahren vermieden, wodurch das Prinzip der Kostenfreiheit (
Art. 7 OBG
) seine Berechtigung erfährt. Dies setzt jedoch die vollständige, fristgerechte Bezahlung der Busse voraus. Das Bundesgericht hat erwogen, dass die Busse erst durch eine vollständige Bezahlung rechtskräftig werde und dadurch das ordentliche Verfahren entfalle. Werde die Busse innert Zahlungsfrist lediglich zur Hälfte beglichen, sei das ordentliche Verfahren einzuleiten (Urteil 6S.395/2005 vom 11. Dezember 2005 E. 2). Ebenso sei das ordentliche Verfahren einzuleiten, wenn
BGE 135 IV 221 S. 224
die Frist verpasst worden sei (Urteil 6B_484/2007 vom 14. November 2007 E. 3.2; vgl. auch YVAN JEANNERET, Procédures simplifiées et infractions routières, Journées du droit de la circulation routière 5-6 juin 2008, S. 192 ff.).
Nichts anderes gilt, wenn der Gebüsste innert Zahlungsfrist in Aussicht stellt, die Busse ratenweise zu begleichen. Soweit der Beschwerdeführer vorbringt, das ordentliche Verfahren sei zu Unrecht eingeleitet worden, da er anerboten habe, die Busse in fünf monatlichen Raten zu bezahlen, geht seine Rüge fehl. Das Ordnungsbussengesetz nennt einzig eine Zahlungsfrist von 30 Tagen. Eine längere Frist und die Möglichkeit von Ratenzahlungen sieht das Gesetz nicht vor und lässt sich auch nicht den Materialien entnehmen. Ob eine ratenweise Zahlung der Busse im Einklang mit
Art. 6 OBG
stünde, wenn sämtliche Raten innerhalb der dreissigtägigen Frist bezahlt würden, kann an dieser Stelle offengelassen werden. | de |
08c6b750-9c00-425b-9c56-6430e92dd910 | Sachverhalt
ab Seite 359
BGE 111 II 358 S. 359
A.-
Die Max Beerli AG, Balterswil, betreibt ein Geschäft für Maler- und Verputzarbeiten. Sie ist die Rechtsnachfolgerin der gleichnamigen Einzelfirma, die von Mitte März bis Mitte Dezember 1979 die Gebrüder Carmine und Bernardino Rinaldi beschäftigt hat.
Der Thurgauische Malermeisterverband und drei Gewerkschaften haben die Paritätische Berufskommission für das Maler- und Gipsergewerbe des Kantons Thurgau beauftragt, für die gemeinsame Durchführung und die Einhaltung des bestehenden Gesamtarbeitsvertrages zu sorgen. Im Mai 1982 klagten diese Berufsorganisationen, vertreten durch die Kommission, gegen die Max Beerli AG auf Feststellung, dass die Beklagte ihren früheren Arbeitnehmern Carmine und Bernardino Rinaldi noch Fr. 5'938.80 bzw. 15'031.85 nebst Zins schulde. Sie verlangten ferner, dass die Beklagte zur Zahlung einer Konventionalstrafe von Fr. 5'250.-- an die Kläger verurteilt werde.
Das Bezirksgericht Münchwilen wies die Klage am 10. April 1984 ab. Die Kläger appellierten an das Obergericht des Kantons Thurgau, das am 29. Januar 1985 ihr Feststellungsbegehren betreffend Carmine Rinaldi im Betrag von Fr. 3'400.-- nebst 5% Zins
BGE 111 II 358 S. 360
seit 27. Oktober 1980 guthiess, ihre Rechtsbegehren im übrigen aber ebenfalls abwies.
B.-
Die Kläger haben gegen das Urteil des Obergerichts Berufung eingelegt, mit der sie an ihrem Rechtsbegehren betreffend Carmine Rinaldi im Betrag von Fr. 5'983.80 und an demjenigen betreffend Bernardino Rinaldi im Betrag von Fr. 12'438.-- nebst Zins festhalten; eventuell sei die Sache insoweit zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Mit der Weigerung des Obergerichts, ihnen eine Konventionalstrafe zuzusprechen, haben sie sich abgefunden.
Die Beklagte beantragt, die Berufung abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei. Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Die Kläger werfen dem Obergericht Willkür vor, weil es die Klage betreffend Carmine Rinaldi trotz Anerkennung durch die Beklagte nicht im vollen Betrag von Fr. 5'938.80 geschützt habe. Das widerspreche dem Grundsatz, dass ein Gericht nicht weniger zusprechen dürfe, als eine Partei anerkannt habe. Die Willkürrüge sei zwar grundsätzlich mit staatsrechtlicher Beschwerde zu erheben; davon werde aber im Sinn eines Aufsatzes SCHUBARTH (BJM 1985 S. 57 ff.) abgesehen, um das Verfahren nicht zu spalten. Im Berufungsverfahren gehe es nämlich vor allem um
Art. 8 ZGB
, den das Obergericht bezüglich des Bernardino Rinaldi verletzt habe.
Dem widerspricht die Beklagte zu Recht. Es ist eine Frage des kantonalen Rechts, ob der Richter von den Begehren der Parteien abweichen, insbesondere einer Partei weniger zusprechen darf, als die Gegenpartei anerkannt hat (
BGE 89 II 62
/63,
BGE 81 II 147
mit Hinweisen). Die Verletzung kantonalen Rechts kann aber mit der Berufung nicht gerügt werden (
Art. 55 Abs. 1 lit. c OG
), auch nicht wegen Willkür, die als Verstoss gegen
Art. 4 BV
mit staatsrechtlicher Beschwerde geltend zu machen ist (
Art. 43 Abs. 1 Satz 2 OG
;
BGE 109 II 132
E. 2a,
BGE 107 II 157
E. 5a). Dass sich daraus eine Aufspaltung des Rechtsmittelweges ergibt, rechtfertigt keine Ausnahme. Gewiss ist es nach der Rechtsprechung gestattet, Berufung und staatsrechtliche Beschwerde in einer einzigen Rechtsschrift zu vereinigen, wenn die beiden Rechtsmittel äusserlich klar auseinandergehalten und auch inhaltlich nicht vermengt werden (
BGE 103 II 218
mit Hinweisen). Diese Voraussetzungen sind hier jedoch
BGE 111 II 358 S. 361
nicht erfüllt. Soweit es um den Anspruch des Carmine Rinaldi geht, ist daher auf die Berufung nicht einzutreten.
2.
Das Obergericht geht davon aus, dass die Kläger durch einen Gesamtarbeitsvertrag vom 1. Juli 1974 und Rahmenverträge von 1977, 1979 und 1981 verbunden seien und vereinbart hätten, die gemeinsame Durchführung der Verträge im Sinn von
Art. 357b OR
der Paritätischen Berufskommission zu überlassen. Die Beklagte sei zwar nicht Mitglied des Thurgauischen Malermeisterverbandes gewesen, habe aber den Rahmenverträgen, die vom 1. September 1977 bis 31. März 1979 und vom 25. Juni 1979 bis 31. März 1982 allgemeinverbindlich gewesen seien, während dieser Zeit ebenfalls unterstanden. Die Aktivlegitimation der Kläger sei daher einzig für die Zeitspanne vom 31. März bis 25. Juni 1979 zu verneinen, im übrigen dagegen gestützt auf
Art. 357b Abs. 1 lit. a OR
zu bejahen. Die "Anschlusserklärung" der Firma Beerli vom 14. Dezember 1972 ändere daran nichts.
a) Die Beklagte hält die Feststellungsklage mangels eines entsprechenden Interesses der Kläger noch im Berufungsverfahren für unzulässig. Sie äussert sich dazu aber nur für die Zeitspanne vom 31. März bis 25. Juni 1979 und sagt mit keinem Wort, weshalb die Parteien eines Gesamtarbeitsvertrages ein zusätzliches Interesse nachweisen müssten, wenn sie gemäss
Art. 357b Abs. 1 lit. a OR
auf Feststellung eines Anspruches klagen. Das ist auch nicht zu ersehen, anerkennt das Gesetz mit dieser Bestimmung doch offenkundig ein Interesse der Vertragsparteien an einer Klarstellung durch den Richter, wenn es wie hier in einem Einzelfall um die Auslegung von Bestimmungen des Gesamtarbeitsvertrages geht.
Wie es sich mit der Zeitspanne vom 31. März bis 25. Juni 1979 verhält, hat die Vorinstanz nur für Carmine Rinaldi, nicht aber für seinen Bruder Bernardino entschieden, weil sie angenommen hat, ein Anspruch des letzteren sei schon grundsätzlich zu verneinen. Darauf ist nur einzutreten, wenn der Auffassung der Vorinstanz nicht gefolgt werden kann.
b) Die Kläger fechten diese Erwägung des Obergerichts nicht an, sondern begründen ihren Feststellungsanspruch damit, dass die Bestimmungen des Rahmenvertrages im Maler- und Gipsergewerbe allgemeinverbindlich erklärt worden seien. Ergänzend meinen sie freilich, der Anspruch der Verbände ergebe sich schon aus der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, wonach neben einer solchen Erklärung noch andere Möglichkeiten beständen, Verbandsinteressen zu wahren (
BGE 75 II 310
). Ein Anspruch der
BGE 111 II 358 S. 362
Vertragsparteien auf Feststellung gegenüber einem einzelnen Arbeitgeber kann sich indes nur auf
Art. 357b Abs. 1 lit. a OR
stützen.
Da vom 31. März bis 25. Juni 1979 der Rahmenvertrag nicht allgemein galt, entfällt ein Feststellungsanspruch der Kläger für diese Zeitspanne. Es ist deshalb auch nicht zu prüfen, ob Überstundenarbeit in der gleichen Zeit nach Bestimmungen des OR oder des Arbeitsgesetzes zu vergüten wären oder nicht. Was die Kläger dazu in tatsächlicher Hinsicht vorbringen, ist somit gegenstandslos.
3.
Nach dem angefochtenen Urteil hat sich Bernardino Rinaldi bei der Anstellung bereit erklärt, neben seiner Hauptbeschäftigung als Chauffeur und Magaziner der Beklagten täglich die Pferde des Firmeninhabers Max Beerli zu pflegen und nach dessen Weisungen an Samstagen im Wald oder in Haus und Stall zu arbeiten. Es sei zuerst von Fr. 2'300.-- Lohn gesprochen worden, der damals nicht nur dem üblichen Grundlohn für einen Chauffeur/Magaziner, sondern auch den Leistungen des Arbeitnehmers entsprochen habe. Der Lohn sei dann mit Rücksicht auf die zusätzlichen Arbeiten auf Fr. 3'000.-- erhöht worden. Die Differenz sei deshalb als Pauschalentschädigung für die Nebenbeschäftigungen anzusehen, die sich aber nicht als Überstunden im Hauptberuf ausgeben liessen, folglich auch keinen Anspruch auf eine Vergütung für Überzeitarbeit gemäss Gesamtarbeitsvertrag ergäben. Die Kläger lassen weder das eine noch das andere gelten.
a) Nach der zwingenden Vorschrift des
Art. 321c Abs. 3 OR
ist Überzeitarbeit mit einem Zuschlag von mindestens einem Viertel des Normallohnes zu entschädigen, wenn die Überstunden nicht durch Freizeit ausgeglichen werden und nichts anderes schriftlich vereinbart oder durch Normal- oder Gesamtarbeitsvertrag bestimmt ist. Es ist unbestritten, dass hier keine solchen Ausnahmen vorliegen, der Gesamtarbeitsvertrag insbesondere den gleichen Zuschlag für Überzeitarbeit vorsieht. Was sodann unter Überstunden zu verstehen ist, ergibt sich aus der Überschreitung der Normalarbeitszeit, die damals nach dem Rahmenvertrag angeblich auf 46 1/4 Std. in der Woche und auf 9 1/4 Std. im Tag beschränkt worden ist.
Das Obergericht stützt seine Auffassung zu Recht nicht darauf, dass Bernardino Rinaldi die zusätzlichen Arbeiten nicht für die Einzelfirma, sondern für deren Inhaber persönlich ausgeführt hat. Die Klage richtet sich zwar gegen die Max Beerli AG, welche aber
BGE 111 II 358 S. 363
offensichtlich aus der Einzelfirma Max Beerli hervorgegangen ist und eine allfällige Haftung aus dem streitigen Arbeitsverhältnis übernommen hat (
Art. 333 OR
). Kläger und Obergericht weisen denn auch darauf hin, dass im allein massgebenden Jahr 1979 nur die Einzelfirma bestanden hat. Das kann nur heissen, dass damals Max Beerli sowohl im geschäftlichen wie im privaten Bereich allein als Arbeitgeber aufgetreten ist. Die Auffassung des Obergerichts beruht deshalb ausschliesslich auf seiner Feststellung, dass die zusätzlichen Arbeiten für Max Beerli nichts mit der Beschäftigung des Arbeitnehmers als Chauffeur und Magaziner zu tun hatten.
Dem kann nicht beigepflichtet werden. Ob Überstundenarbeit im Sinn von
Art. 321c OR
und des Gesamtarbeitsvertrages vorliegt, entscheidet sich nicht nach der Art der Tätigkeit, sondern allein nach der Normalarbeitszeit und deren Überschreitung im Interesse des Arbeitgebers (STAEHELIN und REHBINDER, je N. 1 zu
Art. 321c OR
). Es wäre in der Tat gefährlich, die Anwendung dieser Normen davon abhängig zu machen, dass der Arbeitnehmer auch bei Überschreitung der Normalarbeitszeit nur eigentliche Berufsarbeiten ausführt; wo aussergewöhnliche Verhältnisse Überstunden erfordern, kann es sich sehr wohl auch um eine andere Beschäftigung handeln. Von einer besonderen Nebenbeschäftigung, die eine Ausnahme rechtfertigen würde, kann hier umso weniger die Rede sein, als ein Gesamtlohn vereinbart und von der Beklagten bezahlt worden ist. Das Obergericht hat daher zu Unrecht angenommen, ein Anspruch des Arbeitnehmers auf eine Entschädigung für angeblich geleistete Überzeitarbeit sei zum vornherein zu verneinen.
b) Daraus folgt indes noch nicht, dass bei der Berechnung einer Entschädigung für Überzeitarbeit auf einen Grundlohn von Fr. 3'000.-- abzustellen sei, wie die Kläger geltend machen. Sie verkennen, dass nach der verbindlichen Feststellung des Obergerichts der übliche Grundlohn für eine Arbeit, wie die von Bernardino Rinaldi als Chauffeur und Magaziner übernommene, damals Fr. 2'300.-- betragen und den Fähigkeiten des Arbeitnehmers entsprochen hat. Das Obergericht stellt ferner fest, dass mit der Erhöhung dieses Lohnes um Fr. 700.-- die Nebenbeschäftigung des Arbeitnehmers abgegolten werden sollte. Angenommen, Bernardino Rinaldi habe während der Normalarbeitszeit ausschliesslich als Chauffeur oder Magaziner gearbeitet, so hätte seine Nebenbeschäftigung aus Überzeitarbeit bestanden. Weil er dafür mit Fr. 700.-- monatlich entschädigt worden ist, wäre somit nur noch
BGE 111 II 358 S. 364
zu prüfen, ob dieser Betrag auch dem Normallohn samt Zuschlag gemäss
Art. 321c Abs. 3 OR
entsprochen hat. Den Feststellungen des Obergerichts ist indes nicht zu entnehmen, ob Bernardino Rinaldi die Normalarbeitszeit nur für eigentliche Berufsarbeiten verwendet und, wenn ja, wie viele Stunden er darüber hinaus für Nebenbeschäftigungen aufgewendet hat.
Das angefochtene Urteil ist daher gestützt auf
Art. 64 Abs. 1 OG
aufzuheben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Das Obergericht wird - prozesskonforme Behauptungen und Beweisanträge vorbehalten - den Sachverhalt weiter abklären und allenfalls auch das Beweisverfahren ergänzen müssen. Es hat alsdann je nach dem Ergebnis neu zu urteilen und sich dabei nicht nur zur Behauptung der Kläger, die Beklagte habe durch Entgegennahme der Überstundenrapporte den Anspruch anerkannt, sondern auch zum Einwand der Beklagten zu äussern, Bernardino Rinaldi habe durch sein Verhalten auf einen solchen Anspruch wirksam verzichtet (vgl.
BGE 105 II 39
ff.).
c) Bei diesem Ausgang des Berufungsverfahrens ist die Rüge der Kläger, das Obergericht habe sich mit ihren Vorbringen nicht auseinandergesetzt und dadurch
Art. 8 ZGB
verletzt, gegenstandslos, zumal es sich dabei entgegen ihrer Annahme nicht um eine "Beweiswürdigungsregel" handelt (
BGE 102 II 279
und
BGE 85 II 455
mit Hinweisen). Mit ihren Ausführungen zum Ausmass der Überstunden, zur angeblichen Nachtarbeit und zum 13. Monatslohn hat sich zudem nun das Obergericht zu befassen. Was schliesslich ihr Vorwurf angeht, das Obergericht habe ihnen das rechtliche Gehör verweigert und dadurch auch
Art. 4 BV
verletzt, ist auf bereits Gesagtes zu verweisen.
4.
Die Vorinstanz hielt die Verjährungseinrede der Beklagten für unerheblich, weil es vorliegend nur um die Feststellung des Anspruches gehe. Nach Ansicht der Beklagten ist eine Klage auf Feststellung, dass eine verjährte Forderung geschuldet sei, indes zum vornherein ausgeschlossen. Die Kläger sind dagegen der Meinung, die Verjährung sei durch ihr Vorgehen jedenfalls unterbrochen worden.
a) Eine Klage auf Feststellung einer bestimmten Forderung kann, wie eine Leistungsklage, die Verjährung gemäss
Art. 135 Ziff. 2 OR
unterbrechen (
BGE 101 II 79
und
BGE 100 II 344
mit Hinweisen). Erforderlich ist, wie aus dem französischen Text der Bestimmung erhellt, dass die Klage vom Gläubiger oder einem bevollmächtigten Vertreter, nicht aber von einem beliebigen Dritten
BGE 111 II 358 S. 365
erhoben wird. Vorliegend ist weder dem angefochtenen Urteil noch den Vorbringen der Parteien zu entnehmen, dass die klagenden Berufsorganisationen von Bernardino Rinaldi bevollmächtigt wären; sie haben denn auch nicht in seinem Namen geklagt.
Nach Auffassung der Kläger ergibt sich die unterbrechende Wirkung ihrer Feststellungsklage unmittelbar aus
Art. 357b Abs. 1 lit. a OR
. Das lässt sich schon deshalb nicht sagen, weil die Bestimmung den Anspruch auf Feststellung ausdrücklich auf den Abschluss, den Inhalt und die Beendigung des Arbeitsverhältnisses beschränkt. Diese Umschreibung ist abschliessend (VISCHER, in Schweiz. Privatrecht VII/1 S. 469 Anm. 3b); die Bestimmung lässt sich zwangslos auf die Frage anwenden, ob die Nebenbeschäftigungen des Arbeitnehmers unter die Überstundenregelung des Gesamtarbeitsvertrages fallen, nicht aber auf die Feststellung ausdehnen, wieviel die Beklagte ihm nach dieser Regelung schuldet.
Dazu kommt, dass das Gesetz mit der Bestimmung in erster Linie das Kollektivinteresse der Verbände an der Einhaltung der Verträge wahren will; der Leistungsklage des Arbeitnehmers wird damit nicht vorgegriffen, weil ihm die persönliche Freiheit, den Anspruch durchzusetzen oder darauf zu verzichten, belassen werden soll (BBl 1954 I S. 168 zum gleichlautenden
Art. 323ter OR
; VISCHER N. 17/18 und SCHWEINGRUBER/BIGLER N. 6a zu
Art. 357b OR
). Die Feststellungsklage der Verbände bedeutet daher nicht, dass der Arbeitnehmer seinen Anspruch ebenfalls geltend macht; sie hat vielmehr gerade dann einen Sinn, wenn jener auf seine Leistungsklage verzichtet. Auch
Art. 357b OR
erlaubt daher nicht den Schluss, die Feststellungsklage der Verbände vermöge die Verjährung eines streitigen Anspruchs zu unterbrechen.
b) Ob allfällige Ansprüche des Bernardino Rinaldi verjährt wären, kann das Bundesgericht mangels tatsächlicher Feststellungen der Vorinstanz nicht beurteilen. Die Einrede zu widerlegen, wäre übrigens Sache des Arbeitnehmers im Leistungsprozess, wenn die Beklagte sich auch darin auf Verjährung berufen sollte (
Art. 142 OR
); im vorliegenden Verfahren ist sie so oder anders nicht von Belang, weil der streitige Anspruch nicht auf Zahlung eines Betrages geht, folglich auch nicht wie eine Geldforderung verjähren kann. Das Kollektivinteresse der Verbände an einer richterlichen Klärung der Streitfrage hängt zudem nicht davon ab, ob die Forderung vollstreckt werden kann. Sollte die Feststellungsklage sich als begründet erweisen, so dürfte das Obergericht deshalb durch seinen Urteilsspruch nicht den Eindruck erwecken,
BGE 111 II 358 S. 366
es werde der Bestand einer Forderung im Sinn von
Art. 137 Abs. 2 OR
festgestellt. | de |
fda62b73-cb42-4da5-a09f-ede3ca272e5a | Sachverhalt
ab Seite 5
BGE 81 I 5 S. 5
A.-
Die Basler Freilager AG betreibt in Münchenstein ein Zollfreilager. Sie hat die dem Betriebe dienenden Gebäulichkeiten auf einer Landparzelle errichtet, die Eigentum der Chr. Merian'schen Stiftung in Basel ist. Diese hatte zugunsten der Einwohnergemeinde der Stadt Basel ein Baurecht bestellt, das in der Folge auf die Basler Freilager AG übertragen worden war.
Bei der Veranlagung der Basler Freilager AG zur basellandschaftlichen Staatssteuer für 1947 wurden die Gegenstand des Baurechts bildenden Immobilien im Betrage der Katasterschatzung in die Berechnung der Kapitalsteuer einbezogen; die Differenz zwischen diesem Betrage und
BGE 81 I 5 S. 6
dem niedrigeren Buchwert wurde als stille Reserve betrachtet. Die Steuerpflichtige stellte sich auf den Standpunkt, dass bloss der Buchwert der Besteuerung unterliege, da die Immobilien wegen des vertraglich vorgesehenen Heimfallrechtes für den Betrieb zunehmend an Wert verlören, so dass Abschreibungen notwendig seien. Im Einspracheverfahren bestätigte jedoch die kantonale Steuerverwaltung die Veranlagung, und der Rekurs der Pflichtigen hiegegen wurde von der Steuerrekurskommission Baselland am 11. Juli 1951 abgewiesen.
B.-
Bei den folgenden, gleichzeitig für die Staatssteuern 1948-1952 vorgenommenen Veranlagungen der Basler Freilager AG wurde wiederum die Differenz zwischen Kataster- und jeweiligem Buchwert als stille Reserve für die Kapitalsteuer aufgerechnet. Die Steuerpflichtige erhob gegen den bestätigenden Einspracheentscheid erneut Rekurs. Die Steuerrekurskommission trat darauf mit Entscheid vom 19. Dezember 1953 nicht ein. Sie führte aus, sie habe die Sache bereits im früheren Rekursverfahren beurteilt. Aus den damals und jetzt gestellten Rekursbegehren und ihrer Begründung ergebe sich in der Tat, dass man es mit dem gleichen Steuerstreit zu tun habe. Es sei eine blosse Äusserlichkeit, dass die beiden Rekurse verschiedene Steuerperioden beträfen; der Rekurrentin gehe es heute wie früher um die grundsätzliche Berücksichtigung gewisser Abschreibungen. Die materielle Rechtskraft der früheren Entscheidung schliesse eine neue Beurteilung aus.
C.-
Mit staatsrechtlicher Beschwerde beantragt die Basler Freilager AG, den Rekursentscheid vom 19. Dezember 1953 wegen Verletzung des
Art. 4 BV
(Rechtsverweigerung, Willkür) aufzuheben. Sie macht geltend, das Objekt des ersten Rekursverfahrens sei nicht identisch mit dem des zweiten; denn jenes Verfahren betreffe die Kapitalsteuer für 1947, dieses die Kapitalsteuern für 1948-1952. Hier wie dort sei nicht allein die grundsätzliche Frage, ob die Katasterschatzung gleichzeitig als Steuerwert
BGE 81 I 5 S. 7
zu gelten habe, zu entscheiden gewesen. Losgelöst von einer bestimmten Steuerforderung könnte nach dem Steuerrecht des Kantons Baselland, der die Staatssteuer periodisch erhebe, eine solche Streitfrage überhaupt nicht Gegenstand eines Rekursverfahrens sein. Die materielle Rechtskraft des Rekursentscheides vom 11. Juli 1951 gehe nicht über die Steuerforderung für das Jahr 1947 hinaus. Den Motiven eines Entscheides fehle auch im Steuerrecht die Rechtskraft.
D.-
Die Steuerrekurskommission Baselland schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
In Lehre und Rechtsprechung ist allgemein anerkannt, dass Steuerentscheide, die in einem besonders geregelten Verfahren ergehen, an dem der Steuerpflichtige zur Erzielung eines sachlich richtigen Ergebnisses mitzuwirken hat, mit der formellen grundsätzlich auch materielle Rechtskraft erlangen, d.h. für den Steuerpflichtigen wie für das besteuernde Gemeinwesen verbindlich werden und nur ausnahmsweise, unter besonderen Voraussetzungen, revidiert werden können (
BGE 71 I 103
;
BGE 74 I 405
;
BGE 75 I 63
, 309;
BGE 76 I 7
;
BGE 78 I 200
, 206). Die materielle Rechtskraft eines früheren Entscheides kann aber in einem neu angehobenen Verfahren nur dann mit Grund angerufen werden, wenn die beiden Verfahren den gleichen Gegenstand betreffen. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn hier wie dort dasselbe Forderungsverhältnis vorliegt, namentlich wenn eine Steuer vom nämlichen Steuersubjekt für dasselbe Steuerobjekt, für die gleiche Steuerperiode und aus demselben Rechtsgrunde gefordert wird (BLUMENSTEIN, System des Steuerrechts, 2. Aufl., S. 358).
Der Steuerrekurskommission Baselland ist zuzugeben, dass die Beschwerdeführerin in beiden in Frage stehenden Rekursverfahren ein und dieselbe grundsätzliche Rechtsfrage, diejenige der Behandlung der im Hinblick auf das Heimfallrecht vorgenommenen Abschreibungen auf Immobilien
BGE 81 I 5 S. 8
bei der Veranlagung der Kapitalsteuer, zur Entscheidung gestellt hat. Gleichwohl fehlt es aber an der Identität der Streitsache; denn Gegenstand des Streites war im früheren Rekursverfahren die Höhe der Kapitalsteuer für 1947, im späteren dagegen diejenige der Kapitalsteuern für 1948-1952. Die Beurteilung jener Rechtsfrage hatte lediglich die Bedeutung eines Motivs; an der materiellen Rechtskraft der Entscheidung nehmen aber die Motive nicht teil. Die Rechtskraft des Rekursentscheides vom 11. Juli 1951 ist auf das Steuerjahr 1947 beschränkt. Der Standpunkt, sie stehe dem Eintreten auf den Rekurs betreffend die Steuerjahre 1948-1952 entgegen, ist abwegig. Er widerspricht offensichtlich dem System des kantonalen Gesetzes, wonach die für die jeweilige Steuerperiode getroffenen Veranlagungen immer wieder durch Einsprache und Beschwerde angefochten werden können. Indem die Rekurskommission es im angefochtenen Entscheid vom 19. Dezember 1953 abgelehnt hat, auf den neuen Rekurs einzutreten, hat sie der Beschwerdeführerin gegenüber eine formelle Rechtsverweigerung begangen.
Gewiss gibt es Fälle, wo Steuerentscheide über eine bestimmte Steuerperiode hinaus Rechtskraftwirkung entfalten. So verhält es sich nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts bei Aussprüchen der Militärsteuerbehörden über die Frage der Ersatzbefreiung nach Art. 2 lit. b des Militärsteuergesetzes (
BGE 71 I 103
ff., 110 f.). Das sind aber Entscheide, durch die eine dauernde, von den besondern Verhältnissen des einzelnen Veranlagungsjahres grundsätzlich unabhängige Rechtslage festgestellt wird (
BGE 56 I 195
;
BGE 71 I 104
, 106 Erw. 3). Sie können ausserhalb eines Veranlagungsverfahrens getroffen werden, sei es von Amtes wegen, sei es auf Gesuch des betreffenden Wehrmannes hin (
BGE 61 I 202
;
BGE 74 I 479
Erw. 2), und es sind dafür nach den kantonalen Vollziehungsverordnungen auch nicht durchweg die gleichen Behörden wie für die Einschätzung zuständig. Sie haben auch dann selbständige Bedeutung, wenn sie formell mit einer bestimmten Veranlagung
BGE 81 I 5 S. 9
verbunden sind. Im vorliegenden Fall dagegen handelt es sich um eine Frage der Taxation, die zudem nicht für jede Steuerperiode die gleiche Tragweite haben wird, da es auf die besonderen Verhältnisse in den einzelnen Jahren ankommt. Sie kann denn auch nach dem kantonalen Recht von den Steuerbehörden nicht losgelöst vom Verfahren, in dem die Steuerforderungen für die einzelnen Perioden festgestellt werden, beurteilt werden. Dass sie sich, jedenfalls im Grundsatz, immer wieder stellen kann, ist kein zureichender Grund, dem früheren Rekursentscheid Rechtskraftwirkung über das Steuerjahr 1947 hinaus beizulegen. | de |
b43b2bc0-d59f-4390-a9ac-a98f0b2560d0 | Sachverhalt
ab Seite 92
BGE 143 IV 91 S. 92
A.
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zug führte gegen den deutschen Staatsbürger X. eine Strafuntersuchung wegen gewerbsmässigen Betrugs und mehrfacher ungetreuer Geschäftsbesorgung. Als dieser seinen Wohnsitz nach Deutschland verlegte, ersuchte die Staatsanwaltschaft des Kantons Zug den Leitenden Oberstaatsanwalt in Köln darum, die Strafverfolgung zu übernehmen. Nach Abtretung der Strafverfolgung an die deutschen Strafverfolgungsbehörden wurde das in Zug anhängige Verfahren sistiert. Der Leitende Oberstaatsanwalt in Köln stellte das Ermittlungsverfahren gegen X. am 24. August 2012 mangels hinreichenden Tatverdachts ein. Mit Verfügung vom 11. Februar 2015 stellte die Staatsanwaltschaft des Kantons Zug das wieder aufgenommene Verfahren gegen X. ein und auferlegte ihm die Kosten der Untersuchung von Fr. 116'613.10.
Dagegen erhob X. Beschwerde. Das Obergericht des Kantons Zug hiess diese am 21. Oktober 2015 teilweise gut. Es auferlegte X. die Kosten des Untersuchungsverfahrens nur zu sechs Zehntel und nahm den Rest auf die Staatskasse. Für die Kosten des Beschwerdeverfahrens nahm es dieselbe Aufteilung vor.
B.
X. beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, das obergerichtliche Urteil sei in Bezug auf die Kostenverlegung aufzuheben und die gesamten Kosten des Verfahrens seien auf die Staatskasse zu nehmen.
C.
Das Obergericht des Kantons Zug beantragt die Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei, und verweist auf die
BGE 143 IV 91 S. 93 Erwägungen im angefochtenen Entscheid. Die Staatsanwaltschaft schliesst ebenfalls auf Abweisung der Beschwerde.
X. erhielt Gelegenheit, zu den Vernehmlassungen Stellung zu nehmen.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1.
(...)
1.3
Für die Rechtshilfe zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweiz sind in erster Linie die Bestimmungen des Europäischen Übereinkommens vom 20. April 1959 über die Rechtshilfe in Strafsachen (SR 0.351.1; nachfolgend: EUeR), dem beide Staaten beigetreten sind, das Zweite Zusatzprotokoll vom 8. November 2001 zum Europäischen Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen (SR 0.351.12; nachfolgend: Zweites Zusatzprotokoll) und der Vertrag vom 13. November 1969 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Bundesrepublik Deutschland über die Ergänzung des Europäischen Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 20. April 1959 und die Erleichterung seiner Anwendung (SR 0.351.913.61; nachfolgend: Zusatzvertrag) massgebend. Soweit diese Staatsverträge bestimmte Fragen nicht abschliessend regeln, kommt das schweizerische Landesrecht - namentlich das Bundesgesetz vom 20. März 1981 über internationale Rechtshilfe in Strafsachen (Rechtshilfegesetz, IRSG; SR 351.1) und die dazugehörige Verordnung (IRSV; SR 351.11) - zur Anwendung (
Art. 1 Abs. 1 IRSG
; Urteil 1A.63/2007 vom 28. Februar 2008 E. 1.1; vgl. auch
Art. 54 StPO
).
1.4
1.4.1
Das EUeR, das Zweite Zusatzprotokoll und der Zusatzvertrag sehen vor, dass die Rechtshilfe leistenden Staaten die in ihrem Land angefallenen Kosten grundsätzlich nicht beim jeweils anderen Staat einfordern können (vgl.
Art. 20 EUeR
; Art. 5 Zweites Zusatzprotokoll; Art. XII Abs. 8 Zusatzvertrag; vgl. auch ROBERT ZIMMERMANN, La coopération judiciaire internationale en matière pénale, 4. Aufl. 2014, N. 462 ff.). Ob die schweizerischen Strafbehörden die in der Schweiz angefallenen Kosten nach Abtretung des Verfahrens einer Partei auferlegen dürfen, ergibt sich aus diesen Staatsverträgen nicht ausdrücklich. Massgebend für die Beurteilung dieser Frage ist somit insbesondere das IRSG (vorne E. 1.3). Gemäss
Art. 31 IRSG
werden ausländische Ersuchen in der Regel unentgeltlich ausgeführt
BGE 143 IV 91 S. 94
(Abs. 1). Der Bundesrat bestimmt die Voraussetzungen, unter denen die Kosten ganz oder teilweise dem ersuchenden Staat in Rechnung gestellt werden können (Abs. 2). Die Kosten für ein schweizerisches Ersuchen, die einem anderen Staat erstattet werden, gehen zu Lasten des Verfahrens, das zu dem Ersuchen Anlass gegeben hat (Abs. 3). Für die Kosten der stellvertretenden Strafverfolgung stellt
Art. 93 IRSG
besondere Regeln auf. Demnach werden die vom ersuchenden Staat festgesetzten Verfahrenskosten zu den Kosten des Verfahrens in der Schweiz geschlagen und eingefordert; sie werden dem ersuchenden Staat nicht erstattet (Abs. 1). Im umgekehrten Fall werden dem ersuchten Staat, wenn er die Verfolgung übernimmt, die in der Schweiz aufgelaufenen Verfahrenskosten gemeldet; ihre Erstattung wird nicht verlangt (Abs. 3).
1.4.2
Für die internationale Rechtshilfe in Strafsachen gelten sodann einige Bestimmungen, welche den Grundsatz "ne bis in idem" konkretisieren. Gemäss
Art. 5 Abs. 1 lit. a IRSG
wird einem Rechtshilfeersuchen nicht entsprochen, wenn in der Schweiz oder im Tatortstaat der Richter aus materiellrechtlichen Gründen den Verfolgten freigesprochen oder das Verfahren eingestellt hat (Ziff. 1), oder auf eine Sanktion verzichtet oder einstweilen von ihr abgesehen hat (Ziff. 2). Umgekehrt bestimmt
Art. 89 Abs. 1 lit. b IRSG
, dass bei Übernahme der Strafverfolgung durch einen anderen Staat die schweizerischen Behörden gegen den Verfolgten wegen derselben Tat keine weiteren Massnahmen ergreifen dürfen, wenn aufgrund des im ersuchten Staat ergangenen Entscheides die Voraussetzungen nach Art. 5 [Abs. 1] lit. a oder b IRSG erfüllt sind (
BGE 129 II 449
E. 2.1 S. 451). Diese Bestimmungen sind gemäss
Art. 1 Abs. 1 IRSG
nur anwendbar, soweit internationale Vereinbarungen nichts anderes bestimmen. Die vorliegend in erster Linie massgebenden Staatsverträge (vgl. vorne E. 1.3) enthalten keine anderslautenden Bestimmungen. Die Schweiz hat vielmehr einen entsprechenden Vorbehalt zu
Art. 2 lit. a EUeR
gemacht und behält sich das Recht vor, die Rechtshilfe auch dann abzulehnen, wenn wegen der dem Ersuchen zu Grunde liegenden Handlung gegen denselben Beschuldigten in der Schweiz ebenfalls ein Strafverfahren durchgeführt wird oder eine strafrechtliche Entscheidung ergangen ist, mit der diese Tat und seine Schuld materiell beurteilt worden sind (vgl. bereits Urteil 1A.107/1995 vom 21. August 1995 E. 4c). Art. XII Abs. 6 des Zusatzvertrags enthält ebenfalls eine entsprechende Regelung, wonach die Behörden des ersuchenden Staates von weiteren Verfolgungs- oder
BGE 143 IV 91 S. 95
Vollstreckungsmassnahmen gegen den Beschuldigten wegen derselben Tat u.a. absehen, wenn eine Straverfolgung eingeleitet wurde und wenn das Verfahren von einem Gericht oder einer Strafverfolgungsbehörde aus materiellrechtlichen Gründen endgültig eingestellt worden ist, insbesondere wenn die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt oder der Beschuldigte ausser Verfolgung gesetzt worden und die Frist für die Einlegung eines Rechtsmittels abgelaufen ist (lit. a), oder wenn er rechtskräftig freigesprochen worden ist (lit. b).
1.5
Vorliegend ergibt sich aus den Akten, dass der überwiegende Teil der dem Beschwerdeführer vorgeworfenen Sachverhalte nach deutschem Recht verjährt war. Es stellt sich deshalb die Frage, ob insoweit eine "res iudicata" vorliegt, die der Wiederaufnahme des in der Schweiz zunächst sistierten Verfahrens entgegenstünde. Dies kann indes offengelassen werden, da die Kostenauflage an den Beschwerdeführer ohnehin nicht mit dem massgebenden Bundesrecht vereinbar ist. Die Beschwerdegegnerin hat der Oberstaatsanwaltschaft Köln die in der Schweiz aufgelaufenen Kosten gemeldet, wie dies
Art. 93 Abs. 3 IRSG
vorsieht. Da deren Erstattung gemäss dieser Bestimmung nicht verlangt wird, oblag der Entscheid über die Überbindung der Kosten damit der Oberstaatsanwaltschaft Köln. Diese verzichtete implizit darauf, indem sie dem Beschwerdeführer mit der Einstellungsverfügung vom 24. August 2012 keinerlei Verfahrenskosten auferlegte, was sowohl in Deutschland als auch der Schweiz dem Normalfall entspricht (vgl. § 467 Abs. 1 und 2 D-StPO sowie
Art. 426 Abs. 1 und 2 StPO
). Daran ist die Beschwerdegegnerin gebunden. Nach der Übertragung der Strafverfolgung an das Ausland dürfen die schweizerischen Strafverfolgungsbehörden über eine allfällige Kostenauflage nicht mehr selber befinden. Unzulässig ist es insbesondere, der verfolgten Person die schweizerischen Verfahrenskosten aufzuerlegen, wenn das Verfahren im Ausland zufolge Verjährung eingestellt wurde (LEA UNSELD, in: Basler Kommentar, Internationales Strafrecht, 2015, N. 8 zu
Art. 89 IRSG
sowie N. 9 zu
Art. 93 IRSG
mit Verweis auf TPF 2010 79 E. 2.3 S. 82 ff.). Für eine Kostenauflage an den Beschwerdeführer gestützt auf
Art. 426 Abs. 2 StPO
verbleibt demnach vorliegend kein Raum. (...) | de |
59d62f77-3c41-4275-bd62-965bcba21b33 | Sachverhalt
ab Seite 7
BGE 101 II 7 S. 7
A.-
Franziska Karli, geb. 1927, ist als Folge eines 1966 erlittenen Autounfalles teilinvalid. Sie führt indessen weiterhin einen eigenen Haushalt in Wohlen und arbeitet zeitweise bei der Firma Gertsch & Co. AG in Zürich. Während der Wochenenden hält sie sich bei der 1902 geborenen, kinderlosen Witwe Agatha Burri in Horw auf, mit der sie gelegentlich auch Erholungsurlaube verbringt.
B.-
Mit Eingabe vom 1. August 1974 stellte Agatha Burri gestützt auf
Art. 266 Abs. 1 Ziff. 1 ZGB
beim Regierungsstatthalter des Amtes Luzern das Gesuch, es sei ihr zu bewilligen, Franziska Karli, die sie während fünf Jahren gepflegt habe, zu adoptieren. Der Regierungsstatthalter wies das Gesuch am 4. Oktober 1974 ab. Hiegegen führte die Gesuchstellerin Verwaltungsbeschwerde an den Regierungsrat des Kantons
BGE 101 II 7 S. 8
Luzern, welche indessen am 23. Dezember 1974 ebenfalls abgewiesen wurde. Zur Begründung seines Entscheides führte der Regierungsrat aus, das Erfordernis der fünfjährigen Pflege im Sinne von
Art. 266 Abs. 1 Ziff. 1 ZGB
sei nicht erfüllt, da keine Hausgemeinschaft zwischen Adoptiveltern und Adoptivkind bestanden habe. Es brauche daher nicht geprüft zu werden, ob Franziska Karli infolge körperlicher oder geistiger Gebrechen dauernd hilfsbedürftig sei.
C.-
Mit der vorliegenden Berufung ans Bundesgericht beantragt die Gesuchstellerin, der Entscheid des Regierungsrates sei aufzuheben und das Adoptionsgesuch gutzuheissen. Sie macht geltend, bei der Gebrechlichenadoption im Sinne von
Art. 266 Abs. 1 Ziff. 1 ZGB
sei keine Hausgemeinschaft zwischen Adoptiveltern und Adoptivkind erforderlich, und sie rügt als Verletzung von
Art. 8 ZGB
, dass sie zum Beweis der Hilfsbedürftigkeit der zu Adoptierenden und des Pflegeverhältnisses nicht zugelassen worden sei. Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Wie in
BGE 101 II 5
E. 3 ausgeführt wurde, war bei der Revision des Adoptionsrechts umstritten, ob die Adoption Mündiger, die in verschiedenen Rechtsordnungen grundsätzlich ausgeschlossen ist (Botschaft des Bundesrates vom 12. Mai 1971, BBl 1971 I 1223), überhaupt zugelassen werden sollte. Nach der heute herrschenden Auffassung besteht der Sinn der Adoption darin, einem elternlosen Kind die Erziehung in einer Familie zu ermöglichen und zugleich kinderlosen Eltern das Erlebnis der Elternschaft zugänglich zu machen (HEGNAUER, N. 9 der Einleitung zu Art. 264 ff. n. F. ZGB). Dieser Sinn entfällt bei der Erwachsenenadoption (HEGNAUER, N. 3 zu Art. 266 n. F. ZGB). Aus diesem Grund wurde die Adoption Mündiger nur ausnahmsweise zugelassen, nämlich dann, wenn eine der Unmündigenadoption vergleichbare Situation besteht und sich deshalb die Herstellung eines ehelichen Kindesverhältnisses rechtfertigt (Botschaft des Bundesrates, a.a.O.). Im Laufe der parlamentarischen Beratungen wurde der Ausnahmecharakter der Erwachsenenadoption mehrfach hervorgehoben, und es wurde betont, dass diese nur dann gestattet sein sollte, wenn besondere, mit der Adoption von Unmündigen vergleichbare Verhältnisse vorliegen (Amtl.
BGE 101 II 7 S. 9
Bull. N 1972 I S. 588/589, 608, S 1971 S. 724/725). Diese Erwägungen gebieten eine einschränkende Auslegung von
Art. 266 ZGB
.
2.
Gemäss
Art. 266 Abs. 1 Ziff. 1 ZGB
darf eine gebrechliche mündige Person adoptiert werden, wenn ihr die künftigen Adoptiveltern während wenigstens fünf Jahren Pflege erwiesen haben. Demgegenüber wird bei der Adoption Unmündiger verlangt, dass die Adoptiveltem dem Kind während wenigstens zwei Jahren Pflege und Erziehung gewährt haben (
Art. 264 ZGB
). Sieht man vom Erfordernis der Erziehung ab, das bei der Erwachsenenadoption der Natur der Sache nach nicht in Frage kommt, so decken sich die Voraussetzungen der beiden Adoptionsarten insoweit, als bei beiden der Adoption ein mehrjähriges Pflegeverhältnis vorauszugehen hat. Nun versteht sich aber von selbst, dass die Adoptiveltern bei der Adoption Unmündiger dem Kind die Pflege im eigenen Haushalt erwiesen haben müssen (HEGNAUER, N. 29 zu Art. 264 n. F. ZGB; EICHENBERGER, Die materiellen Voraussetzungen der Adoption Unmündiger nach neuem schweizerischem Adoptionsrecht, Diss. Freiburg 1974 S. 133 ff.). Das Pflegeverhältnis hat den Sinn einer Probezeit (Botschaft des Bundesrates, a.a.O. S. 1217); es soll zeigen, ob es zu einer dauerhaften seelisch-geistigen Beziehung zwischen Adoptiveltern und Adoptivkind gekommen ist, wie sie in der Regel dem ehelichen Kindesverhältnis eigen ist, so dass die Adoption als gerechtfertigt erscheint (HEGNAUER, N. 28 zu Art. 264 n. F. ZGB; EICHENBERGER, a.a.O. S. 127 ff.). Diese Funktion kann das Pflegeverhältnis nur erfüllen, wenn die Adoptiveltern das Kind im eigenen Heim aufnehmen und es persönlich betreuen. Die Adoption eines unmündigen Kindes ist deshalb offensichtlich unstatthaft, wenn die Adoptiveltern das Kind lediglich finanziell unterstützt und es nur gelegentlich, etwa während der Ferien, zu sich genommen haben.
Bei der Adoption Mündiger kann der Begriff des Pflegeverhältnisses nicht anders verstanden werden. Auch hier heisst "Pflege erweisen" nicht bloss, der zu adoptierenden Person finanziell beizustehen, ihr gewisse Geschäfte zu besorgen oder sie an den Wochenenden aufzunehmen. Soll das Pflegeverhältnis gewährleisten, dass zwischen Adoptiveltern und Adoptivkind eine dermassen enge und dauernde Beziehung besteht, wie sie die Eltern mit ihren natürlichen Kindern verbindet, so
BGE 101 II 7 S. 10
muss bei der Erwachsenenadoption erst recht verlangt werden, dass die Parteien in Hausgemeinschaft zusammengelebt haben. Darauf deutet übrigens auch das Erfordernis der dauernden Hilfsbedürftigkeit in
Art. 266 Abs. 1 Ziff. 1 ZGB
hin. Die Pflege, die der zu adoptierenden Person erwiesen werden muss, besteht gerade darin, ihr jene Hilfe zu leisten, derer sie bedarf. Ist aber eine dauernde Hilfe nötig, so kann eine bloss "ambulante" Betreuung nicht genügen. Wer in der Lage ist, einen eigenen Haushalt zu führen und - wenn auch nur zeitweise - zu arbeiten, kann denn auch wohl kaum als dauernd hilfsbedürftig bezeichnet werden.
Daraus, dass in
Art. 266 Abs. 1 Ziff. 3 ZGB
das Erfordernis der Hausgemeinschaft ausdrücklich genannt ist, lässt sich nicht etwa e contrario ableiten, bei der Adoption wegen Gebrechlichkeit seien die Anforderungen weniger streng. Nach der bundesrätlichen Formulierung von
Art. 266 Abs. 1 Ziff. 3 ZGB
sollte die Erwachsenenadoption unter anderem dann zulässig sein, "wenn andere schwerwiegende Gründe die Herstellung eines ehelichen Kindesverhältnisses rechtfertigen". Den heutigen Wortlaut erhielt diese Bestimmung erst im Laufe der parlamentarischen Beratungen (vgl. Amtl. Bull. S 1971 S. 724/725;
BGE 101 II 5
E. 3). Wenn der Gesetzgeber neben einem wichtigen Grund als weitere Voraussetzung für die Adoption das Vorliegen einer fünfjährigen Hausgemeinschaft verlangte, so wollte er damit zweifellos nicht die Erfordernisse für die Gebrechlichenadoption gemäss
Art. 266 Abs. 1 Ziff. 1 ZGB
abschwächen.
Es ist daher davon auszugehen, dass auch bei der Adoption im Sinne von
Art. 266 Abs. 1 Ziff. 1 ZGB
das Pflegeverhältnis eine Hausgemeinschaft zwischen Adoptiveltern und Adoptivkind voraussetzt (HEGNAUER, N. 18 zu Art. 266 in Verbindung mit N. 29 zu Art. 264 n. F. ZGB; HEGNAUER ZVW 1973 S. 44). Wie es sich verhielte, Wenn eine Person dermassen gebrechlich ist, dass sie nur in einer Anstalt betreut werden kann und eine Hausgemeinschaft mit den Adoptiveltern deshalb gar nicht möglich ist, ist damit nicht entschieden und kann einstweilen offen bleiben.
3.
Franziska Karli wohnt nicht bei der Gesuchstellerin, sondern besucht sie bloss gelegentlich und verbringt mit ihr Erholungsurlaube. Die Vorinstanz hat daher das Adoptionsgesuch zu Recht abgelehnt. Da es bereits am Erfordernis der
BGE 101 II 7 S. 11
Hausgemeinschaft fehlte, brauchte sie nicht abzuklären, ob Franziska Karli wegen eines Gebrechens dauernd hilfsbedürftig sei und ob die Gesuchstellerin ihr während fünf Jahren auf irgendeine Art Pflege erwiesen habe. Eine Verletzung von
Art. 8 ZGB
liegt somit nicht vor, so dass die Berufung abzuweisen ist. | de |
167acb6a-b602-4871-b702-9d3e3555d274 | Sachverhalt
ab Seite 78
BGE 116 IV 78 S. 78
A.-
Der Kassationshof trat am 15. Februar 1989 auf eine von J. gegen ein Urteil der II. Gerichtskommission des Bezirksgerichts St. Gallen geführte Nichtigkeitsbeschwerde mit der Begründung nicht ein, die Gerichtskommission habe als unteres Gericht und einzige kantonale Instanz entschieden.
B.-
J. begehrt gestützt auf
Art. 136 lit. d OG
die Revision dieses Entscheids. Er macht geltend, es sei versehentlich nicht berücksichtigt worden, dass dem Urteil der Gerichtskommission ein Strafbescheid des Untersuchungsrichters vorausgegangen sei, der als erstinstanzliches Urteil zu gelten habe. Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Gemäss
Art. 268 Ziff. 1 BStP
ist die Nichtigkeitsbeschwerde gegen Urteile der Gerichte zulässig, die nicht durch ein kantonales
BGE 116 IV 78 S. 79
Rechtsmittel wegen Verletzung des eidgenössischen Rechts angefochten werden können; ausgenommen sind Urteile unterer Gerichte, wenn diese als einzige kantonale Instanz entschieden haben. Diese
Art. 48 Abs. 1 und 2 OG
entsprechend revidierte Bestimmung (BBl 1964 II 891;
BGE 92 IV 55
) ist erlassen worden, damit Strafurteile unterer Gerichte nicht mehr wie bisher unter Ausschaltung einer zweiten kantonalen Instanz direkt beim Bundesgericht angefochten werden können (BBl 1964 II 891;
BGE 94 IV 44
mit Hinweisen). Die Nichtigkeitsbeschwerde ist auf ihrer Grundlage gegen Urteile unterer Gerichte demzufolge nur noch zulässig, wenn diese als zweite, also als Rechtsmittelinstanz entschieden haben (BBl 1964 II 891/2;
BGE 92 IV 55
, 152 und 166). Das entspricht der durch
Art. 48 Abs. 2 OG
getroffenen Regelung (BBl 1943 121/2;
BGE 85 II 285
E. 2 und
BGE 71 II 184
; BIRCHMEIER, Bundesrechtspflege, S. 171, N 4 zu
Art. 48 OG
).
2.
Das Urteil der II. Gerichtskommission des Bezirksgerichts St. Gallen ist ein letztinstanzliches im Sinne von
Art. 268 Ziff. 1 Satz 1 BStP
; wie im Falle von
BGE 106 IV 95
ist auch hier die kantonale Berufung ausgeschlossen, da die verhängte Busse den für den Eintrag von Übertretungen des Schweizerischen Strafgesetzbuches in das Strafregister erforderlichen Betrag von Fr. 500.-- (Art. 9 Ziff. 2 der Verordnung über das Strafregister, SR 331) nicht erreicht und der Staatsanwalt keine schwerere Strafe beantragt hat (Art. 180 Abs. 2 StP/SG), und mit der kantonalen Nichtigkeitsbeschwerde die Verletzung von Bundesrecht nicht gerügt werden kann (Art. 190 Abs. 2 StP/SG). Der Beurteilung durch die Gerichtskommission, welche ein unteres Gericht im Sinne von
Art. 268 Ziff. 1 Satz 2 BStP
ist (Art. 5 f. und 11 f. GerG/SG; Art. 180 f. und 190 f. StP/SG), war ein Verfahren vorausgegangen, in welchem der Untersuchungsrichter eine provisorische Bussenverfügung (Art. 52 StP/SG) und - nach Einsprache durch den Gesuchsteller und durchgeführter Untersuchung - einen Strafbescheid (Art. 128 StP/SG) erlassen hatte, gegen den der Gesuchsteller wiederum einsprach, worauf die Sache an die Gerichtskommission zur gerichtlichen Beurteilung überwiesen wurde (Art. 131 Abs. 2 StP/SG). Provisorische Bussenverfügung wie Strafbescheid werden rechtskräftig, wenn keine Einsprache erhoben oder diese zurückgezogen worden ist (Art. 52 Abs. 3 und 131 Abs. 3 StP/SG). Sie bilden demzufolge zunächst nicht, sondern erst dann den richterlichen gleichgestellte Urteile, wenn sie unangefochten in Rechtskraft erwachsen; die Einsprache ist denn auch kein Rechtsmittel
BGE 116 IV 78 S. 80
im Sinne des kantonalen Prozessrechts (Art. 172 f. StP/SG; GVP 1967 Nr. 52;
BGE 92 IV 163
E. b). Provisorische Bussenverfügung und Strafbescheid stellen Rechtsinstitute dar, die zur vereinfachten Erledigung bestimmter Straffälle dem ordentlichen Gerichtsverfahren erster Instanz vorangestellt sind (GVP 1967 Nr. 52;
BGE 92 IV 163
E. b). Das Verfahren, in welchem sie erlassen werden, kann für sich allein daher nicht als Verfahren erster Instanz, sondern höchstens insoweit, als es mit jenem vor der Gerichtskommission eine prozessuale Einheit bildet, als solches gelten (GVP 1967 Nr. 52;
BGE 92 IV 163
E. b). Die Gerichtskommission hat somit in Fällen wie dem vorliegenden ohne Ausnahme (vgl.
BGE 106 IV 95
, wo offengelassen wurde, ob das auch bei ergangenem Strafbescheid zutreffe) als einzige kantonale Instanz entschieden; gegen ihr Urteil ist die Nichtigkeitsbeschwerde gemäss
Art. 268 Ziff. 1 Satz 2 BStP
nicht zulässig. Würde anders entschieden, so wäre der mit der Revision dieser Bestimmung verfolgte Zweck weitgehend vereitelt (
BGE 114 IV 75
und
BGE 92 IV 166
). | de |